Volker Sommer:Wir alle sind Afrikaner - Warum der Begriff "Rasse" sinnlos geworden ist.
Aula - .
Sendung am Sonntag, 12.08.2007, 08.30 bis 9.00 Uhr
Autor und Sprecher: Professor Volker Sommer *
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
Sendung: Sonntag, 12. August, 8.30 Uhr, SWR 2
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ÜBERBLICK
Gerade in Zeiten der modernen Molekulargenetik sind die zahlreichen Versuche, Menschen nach bestimmten inneren und äußeren Merkmalen zu klassifizieren, äußerst umstritten. Es gibt viel zu viele Paradoxien, die signalisieren, dass alle Konzepte, die mit dem Begriff "Rasse" operieren, letztlich unsinnig sind. Warum etwa steht in genetischer Hinsicht ein dunkelhäutiger Aborigine einem Thailänder näher als einem ebenso dunkelhäutigen Bantu?
Und schließlich: Da Afrika als Wiege der Menschheit gilt, sind wir sowieso alle Nachbarn. Volker Sommer, Primatologe, Professor für evolutionäre Anthropologie am University College London, schildert die Thematik aus seiner Sicht.
ZUM AUTOR*
Volker Sommer
geboren 1954; Studium der Biologie, Chemie und Theologie. 1986-88 Stipendiat der Humboldt-Stiftung; 1991-96 Heisenberg-Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft und Privatdozent für Anthropologie und Primatologie an der Universität Göttingen. Hat seither den Lehrstuhl für evolutionäre Anthropologie am University College in London inne. Er erforscht speziell das Sozialverhalten von Affen und Menschenaffen.
Bücher:
Die großen Menschenaffen; BLV.
Von Menschen und anderen Tieren; Hirzel-Verlag.
Die Affen- unsere wilde Verwandtschaft; Gruner&Jahr.
Das Grüne All. Ein Poem aus dem Regenwald; Radius-Verlag.
INHALT
Ansage:
Heute mit dem Thema: „Wir sind doch alle Afrikaner – Warum der Rassismus aus Sicht der modernen Biologie sinnlos geworden ist“.
Wir leben in einer globalisierten Welt. Das ist mittlerweile eine Binsenweisheit. In dieser Welt gilt es, nationale Grenzen zu überschreiten. Das hat nicht nur eine politische, sondern natürlich auch eine ethnische Dimension. Alle, die immer noch von Leitkultur reden, die immer noch von einer homogenen Nation mit einem möglichst homogenen Gen-Pool schwärmen, die sind eigentlich nicht mehr zu retten. Das zeigt vor allem auch die moderne Biologie.
Das wiederum meint Volker Sommer, Professor für evolutionäre Anthropologie am University College in London. Für ihn sind die Kategorie „Rasse“ und die damit verbundenen Versuche, Menschen einzuteilen, Unsinn. Denn es gibt nun mal keine Rasse, sondern nur den Rassismus. Warum das so ist, erklärt Volker Sommer in der SWR2 AULA.
Volker Sommer:
Stellen Sie sich vor, Ihnen würde mit Ihrem Einstellungsvertrag oder dem Mietkontrakt ein Fragebogen vorgelegt, auf dem Sie Ihre Rasse angeben müssten. Sie würden wohl zusammenzucken. Denn wer deutsch spricht, ist gegenüber dem Begriff „Rasse“ sensibilisiert. Und das ist auch richtig so nach all der Vergangenheit speziell der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Und all der Gegenwart, die wir immer wieder erleben müssen.
Das Formular mit der Rassefrage ist hingegen gängige Praxis etwa in den USA oder in Großbritannien. Noch nicht einmal verweigert werden darf die Antwort, jedenfalls nicht bei den Volkszählungen des Vereinigten Königreiches. Und auch nicht, als ich vor einigen Jahren meinen Arbeitsvertrag mit der Universität London unterschrieb. Allenfalls bestand die Option, „other“ anzukreuzen. Meine Rasse also: „Sonstige“. Das klang zwar entschieden nach Heimatlosigkeit, dünkte mir aber immer noch besser als „white“ (weiß) – zumal ich mir klammheimlich ja doch mehr Gesichtsbräune wünsche.
Bei den Farben gab es aber sonst keine Auswahl, denn irgendwer hatte das Bunte aus den Rassen getilgt, also das schwarz, gelb, rot, braun. Stattdessen wurden Kästchen angeboten für allerlei Zugehörigkeit rund um den indischen Subkontinent und für fast jeden Kricket-Platz im Meer der Karibik. Was sich zwanglos erklärt aus der Kolonialgeschichte Großbritanniens.
Etwas unglücklich meine „Sonstige“-Rasse reflektierend fiel mir ein, was mir als modernem Anthropologen gleich hätte einfallen können: Flugs kreuzte ich mich unter „African“ an, als Afrikaner, eine Wahlrasse, für die ich als eingeborenes Bleichgesicht natürlich noch Rechenschaft ablegen werde.
Zuvor sei jedoch darauf hingewiesen, dass die Fragebögen des Vereinigten Königreiches selbstverständlich nicht diskriminieren wollen gegen irgendwelche Minderheiten. Sie wollen ganz im Gegenteil diskriminieren gegen die Mehrheit. Was früher einmal Grund zur Furcht war, denn auch unter angelsächsischer Kulturhoheit konnte man und frau durchaus zur absolut falschen Rasse gehören, gereicht heute leicht zur Freude. Weil wer Mitglied einer seltenen Rasse ist, wird kraft Gesetz oft bevorzugt, etwa bei Jobsuche oder Wohnungsvergabe.
Die Frage nach der individuellen Rasse wird überdies entschärft durch die versöhnliche Note, die in der englischen Vokabel „human race“ schlummert. Die klingt nach Humanismus, nach Toleranz und Offenheit, weil damit einfach die Menschheit gemeint ist.
In den Hirnen von Deutschdenkern erweckt der Begriff Rasse hingegen weitaus ungute Assoziationen. Ohne Zweifel, deutsche Lande hielten und halten guten Boden bereit für das Gedeihen einer besonders handfesten Konsequenz des Begriffes von der Rasse, nämlich dem Rassismus, der im hölzernen Vokabular einer Enzyklopädie definiert ist als „Form des Biologismus, bei der für genetisch bedingt gehaltene, tatsächliche oder nur angenommene Differenzen zwischen Menschen als Anlass zu sozialer Trennung und Zurücksetzung bzw. Bevorzugung benutzt werden“.
Biologismus könnte es nicht geben ohne Biologen. Und selbst wenn die ihn genauso wenig erfunden haben mögen wie die Seismologen die Erdbeben, so haftet den Lebenswissenschaftlern, wie sie sich heute gerne nennen, nichts desto trotz noch immer leicht der Geruch rechtslastiger Ideologie an. Doch genau hier stimmt das Weltbild längst nicht mehr. Denn wenn es nach den heute maßgeblichen Biologen ginge, gehört der Begriff der Rasse schlicht abgeschafft, weil er nämlich jeder Grundlage entbehrt, speziell jeder biologischen.
Für jene also, die ihr Gehirn aus intellektueller Neugier zur rassefreien Zone erklären möchten, mag eine Rekonstruktion des Rasse-Begriffs nützlich sein. Ein Denkstück, das von Anfängen in der biologischen Systematik über Höhepunkte im Sozialdarwinismus und Faschismus bis zur Kannibalisierung durch eben jene Disziplin reicht, die den Begriff der Rasse propagierte und hätschelte: die Biologie.
Es war der Schwede Carolus Linnaeus, durch den die Klassifikation des Organismenreiches verbindlich wurde und der den Begriff der Rasse zumindest indirekt die Karriere erleichterte. In dem erstmals 1735 erschienen Werk „Systema Naturae“ benutzte Linné die übersichtliche zweiteilige Nomenklatur aus Gattungs- und Artname für die Benennung von Pflanzen und Tieren, weshalb etwa der Schimpanse heute pan troglodytes heißt.
Als Kategorie unterhalb der Art wurde und wird der Begriff Rasse verwendet, heute oft ersetzt durch den Terminus „Unterart“ oder „Subspezies“, und vierfach mit einem eigenen Unterart-Namen belegt. Dadurch erweitert sich der Bi-Nomen entsprechend zum Tri-Nomen. Bei Schimpansen etwa werden vier Subspezies unterschieden. Eine ist Ostafrika - pan troglodytes schweinfurthii; eine in Zentralafrika – p.t. troglodytes; eine in Nigeria - p.t. vellerosus; und eine in Westafrika – p.t. verus.
Die Menschheit wurde binär ab der 12. Auflage des Systema Naturae von 1766. Hier ordnete Carl von Linné den Menschen erstmals in das Tierreich ein. Die von ihm eingeführte Spezies homo sapiens vierteilte er entsprechend der Geografie, nicht ohne einige Charaktereigenschaften hinzuzufügen: Americanus - rot, cholerisch, aufrecht; europeus – weiß, sanguin, muskulös; asiaticus – bleichgelb, melancholisch, hartnäckig; afer – schwarz, phlegmatisch, gleichgültig.
Speziell die den Afrikaner zugeordneten Eigenschaften mögen uns vorurteilsbeladen vorkommen. Doch spiegelte die Einteilung lediglich klassisch mittelalterlich die Temperamente wider, denen kaum Wertung innewohnt. Zudem werden Europäer nicht zuerst genannt, wohl weil dem bibeltreuen Linnaeus alle Menschen als Kinder der Ureltern Adam und Eva galten.
Eine Hierarchisierung gewann erst in dem Maße an Dynamik wie die Weltauffassung säkularisiert wurde, also im Zuge der bibelkritischen Aufklärung. Theologische Bezüge wurden zunehmend ersetzt durch Orientierung an der Natur oder dem, was dafür gehalten wurde. Da es die Europäer waren, die sich im Zuge des aufstrebenden Kolonialismus des Globus bemächtigten, lag es nahe, das „Weiß“ zum Maß aller Dinge zu machen. Genügend Vergleiche existierten dank der zunehmenden Erzählungen über ferne Länder. So wurde im Rahmen der Macht- und Ausbeutungsverhältnisse selbstherrlich gedeutet, Menschen weißer Hautfarbe wären die zivilisiertesten und erfolgreichsten und stünden demnach an der Spitze der natürlichen Ordnung.
Es sollte jene erweiterte Farbpalette sein, die Johann Friedrich Blumenbach 1775 zusammenstellte, mit der über Jahrhunderte hinweg die stärksten rassistischen Stereotype illustriert wurden. Dass der wundersame Terminus Kaukasier für die weiße Variante bis in heutige Volkszählungen fortlebt, verdanken wir dem Entzücken des Göttinger Anthropologen an einem weiblichen Schädel aus Georgien, den er für das ästhetischste Stück seiner Sammlung hielt. Allerdings diagnostizierte Blumenbach, das kaukasische Schönheitsideal habe während der Erdbesiedelung mancherlei Degeneration erlitten. So sei eine Menschenlinie über rote Indianer zu gelben Orientalen abgestürzt, eine andere über braune Malaien zu schwarzen Afrikanern.
Im Unterschied zu Linné stellte also Blumenbach manche Menschengruppen wertend über andere. Eine Mischung von wissenschaftlichen und ideologischen Interessen brach dann jenem Rassismus Bahn, der das von Charles Darwin ab 1859 vorgestellte Modell der Evolution und des Überlebens der Tüchtigsten auf Gesellschaften übertrug. Linke wie rechte Politiker und Propheten befleißigten sich der Gedanken Darwins. Es war aber die Ideologie des Sozialdarwinismus, die sich in dem faschistischen Rassenwahn auswachsen sollte. Ausgehend von dem Kurzschluss, dass Selektion Fortschritt erzeugt, wurde das Ausbleiben der natürlichen Auslese mit Degeneration und Rückschritt gleichgesetzt. Und genau das stand zu befürchten für Gesellschaften, die sich über Verbesserungen in Hygiene, medizinischer Versorgung und Fürsorge um ihre Kranken und Unterprivilegierten kümmerten. Denn dies, so die Sozialdarwinisten, führt zur Vermehrung der Schwachen. Damit wurde das humanistische Ideal der Fürsorge und Förderung des Individuums abgelöst durch das Konzept des Volksgemeinschaftswohles.
Es entbehrte somit nicht einer gewissen Logik, wenn die Nationalsozialisten das Programm der Sozialdarwinisten mit dem von ihnen gepflegten Rasse-Mythos verbanden. Der Rassismus der Nationalsozialisten manifestierte sich in dreifacher Variante: Der Überlegenheits-Rassismus hielt hellhäutige Menschen europäischer Abstammung für höhergestellt; der Reinhalte-Rassismus postulierte, dass Rassenmischung die Kultur und Lebensfähigkeit eines Volkes zerstöre; der Erb-Gesundheits-Rassismus warnte vor gesellschaftlichem Verfall durch übermäßige Vermehrung von Minderwertigen.
Die erste Riege der physischen Anthropologie kam den Nazis zu Hilfe, indem sie Rassen zunehmend als unwandelbare Typen verstand. Dieser Gedanke, dass Rassen ewig seien und dass bei jeder Durchmischung der weisen Mutter Natur in die Suppe gespuckt wird, pervertierte den Darwinischen Aspekt des Wandels selbstverständlich vollkommen. Hätten übrigens die Faschisten ihr Programm konsequent durchziehen können, wäre ihr Projekt einer Reinheit der Rasse spektakulär schiefgegangen. Denn aus der Landwirtschaft ist bekannt, dass die Praxis, reine Stämme züchten zu wollen, schnell zur Unfruchtbarkeit führt. Auch die Idee, dass Rassenmischung schädlich sei, ist empirisch betrachtet Unsinn. Es ist in der Regel nämlich genau umgekehrt. Kreuzungen zwischen Individuen unterschiedlicher Herkunft erzeugen eine größere Robustheit. Speziell beim Menschen ist absolut kein biologischer Nachteil bekannt, der sich aus der Fortpflanzung verschiedener sogenannter Rassen ergäbe.
Ergo: Wer heute von Mischlingen redet, vor Überfremdung warnt und Leitkultur beschwört, schreibt im Grunde jene absurden Nazi-Gedanken fort, wonach Rassenkreuzung zu disharmonischen Kombinationen führt und ein Volk zum Aussterben bringt. Deutschsprachige Anthropologen und Humangenetiker lieferten aberwitzige Vorwände, damit Viehwaggons umso vollgestopfter die Selektionsrampen anliefen. Eben weil zahlreiche Wissenschaftler, speziell Anthropologen und Humangenetiker, den Rassismus bedient hatten, muss betont werden, dass es nicht etwa politische, sondern wissenschaftliche Argumente waren, die dem Rassekonzept den Boden entziehen. Paradoxerweise sollte gerade die einst nazifreundliche Populationsgenetik dem Rassenkonzept den Gnadenstoß versetzen.
Zunächst zerbröselte das Dogma, wonach Rassen ewig seien, weil sich prominente unwandelbare Merkmale als umweltabhängig erwiesen. Beispielsweise züchtete Sauerstoffarmut in Hochgebirgen bei Bergvölkern in Asien und Amerika parallel größere Lungenkapazitäten heran. Und es bildeten Völker in Äquatornähe unabhängig voneinander starke Tönungen der Haut aus, zunächst in Afrika, der Wiege der Menschheit, dann aber auch in Asien und Amerika.
Geographisch korreliert die Pigmentierung der Haut mit der Stärke ultravioletter Strahlung. Die nimmt beispielsweise von Mitteleuropa nach Zentralafrika entsprechend zu, und in gleichem Maße wird die Haut der Menschen dunkler. Die Varianz ist ganz offenbar das Resultat eines Auslesevorganges, weil das die Haut verdunkelnde Melaninpigment vor Hautkrebs schützt. Wie richtig diese Theorie ist, erfahren hellhäutige Texaner oder Australier, die eben nicht zur Urbevölkerung dieser Landstriche gehören. Denn wenn sie sich nicht konsequent vor der Sonne schützen, haben sie ein vielfach höheres Risiko als die ursprünglich Einheimischen.
Ähnliches trifft für die Augenfarbe zu, die in Äquatornähe dunkler ist. Denn mit dunkler Iris sieht es sich besser unter gleißender Sonne.
Die Vorfahren heutiger Bleichgesichter hingegen siedelten sich dort an, wo Winternächte lange währten. Helle Haut erlaubt dem Körper, das lebenswichtige Vitamin D auch bei wenig Sonne herzustellen.
Rassesystematiker vergötzen Farben und Formen, weil sie im wahrsten Wortsinn ins Auge fallen. Der Oldenburger Biologie-Didaktiker Ulrich Kattmann bringt dies so auf den Punkt: „Dass Oberflächenmerkmale von Menschen verschiedener geographischer Herkunft als wesentliche Unterschiede wahrgenommen werden, beruht auf sozialpsychologisch bestimmten Urteilen und nicht auf genetischer Differenz. Wenn wir nicht auf die Oberfläche blicken würden, sondern gleichsam auf innere Werte, also physiologische oder genetische Marker, könnten wir die Menschheit gänzlich anders einteilen.“
Ein gutes Beispiel sind Blutgruppenmerkmale. Denn die Verteilung der sogenannten Allele A, B und 0 nimmt absolut keine Rücksicht auf die grobe Dreiteilung Europide, Nigride, Mongolide. Somit ist das bon mot „race is skin deep“ tatsächlich berechtigt. Oder anders formuliert: Rasse geht nicht unter die Haut.
Jedenfalls sind Merkmale, die der Selektion, der Auslese unterliegen, komplett ungeeignet, um genetische Verwandtschaft anzuzeigen, eben weil sie sich mehrfach unabhängig voneinander entwickeln können. Um Verwandtschaft zu rekonstruieren, konzentriert sich die moderne Molekulargenetik deshalb auf selektionsneutrale Gensequenzen, vorzugsweise aus jener DNA, die keine Eiweiße kodiert, etwa die variablen Kontrollregionen der Mitochondrien, winziger Zellorganellen, die nur über die mütterliche Linie vererbt werden.
Ganz kontra-intuitiv kam dabei etwa heraus, dass die behaarten, sich im Knöchelgang bewegenden Schimpansen nicht am nächsten verwandt sind mit den behaarten, sich ebenfalls im Knöchelgang bewegenden Gorillas, sondern mit den recht nackten, aufrecht gehenden Menschen. Die heutigen Menschen und die heute lebenden Schimpansen hatten demnach vor fünf bis sieben Millionen Jahren noch einen gemeinsamen Vorfahren.
Bedeutender für unser Selbstverständnis dürfte sein, dass sich die vier Unterarten der Schimpansen trotz frappierender äußerer Ähnlichkeit genetisch sehr unterscheiden. Für Menschen hingegen gilt umgekehrt, der äußere Eindruck mag Vielfalt suggerieren, doch ist unsere genetische Varianz extrem gering. Denn im Grunde sind wir alle Afrikaner, weshalb ich meinen eingangs erwähnten Fragebogen durchaus wahrheitsgemäß beantwortet hatte.
Dies hat mit der Auswanderung des homo sapiens aus Afrika zu tun. DNA-Analysen stützen weitgehend das sogenannte „out of africa“-Modell, wonach der anatomisch moderne Mensch vor etwa 200.000 Jahren in Ostafrika entstanden ist. Erst vor 100.000 Jahren schwärmten dann erste Weltenbummler aus Afrika aus. Obwohl die genauen Zahlen mit jedem Fossilfund revidiert werden, gilt als Faustregel, dass Europa vor etwa 40.000 Jahren besiedelt wurde, Australien vor vielleicht 50.000 bis 60.000 Jahren, die Gegend des heutigen China vor etwa 70.000 Jahren, Nordamerika vor etwa 20.000 bis 30.000 Jahren und Südamerika vor vielleicht 13.000 Jahren.
Diese historische Abfolge erklärt, warum wiederum entgegen dem Augenschein, Schwarzafrika die genetisch diversesten Bevölkerungen beheimatet. Jüngere Gründerpopulationen, die ja aus weniger Individuen bestehen als ältere Bevölkerungen, brachten weniger genetische Varianten mit in ihre neuen Heimaten und hatten zudem weniger Zeit, sich durch Mutation zu verändern. Für die in Afrika Verbliebenen gilt umgekehrt, dass sie einen älteren Gen-Pool repräsentierten. Deshalb unterscheiden sie sich genetisch wesentlich stärker als Individuen junger Populationen. Eine Logik, die für Schimpansen in verstärkter Form gilt.
Ganz ähnlich ist das Erbgut durchschnittlich umso ähnlicher, je kleiner der geographische Abstand, ganz egal, wie jemand ausschaut. So ist die genetische Distanz der dunklen australischen Aborigines zu Thailändern geringer als der Abstand der Aborigines zu den ebenfalls sehr dunkelhäutigen Bantu. Umgekehrt gilt, dass ein Vergleich zwischen Nord- und Südasiaten, also etwa von Japanern und Mongolen mit Südchinesen oder Thailändern eine starke Ähnlichkeit suggeriert. Gleichwohl sind die Nordasiaten genetisch näher verwandt mit der europäischen Urbevölkerung. Der erste Eindruck mag also in mancherlei Hinsicht trügen, wie schon das Beispiel des Zuckers lehrt, der aussieht wie Salz, aber mehr gemeinsam hat mit Sirup.
Wenn sich aber bestimmte Gene in manchen Bevölkerungen häufen, was sollte uns dann hindern, neue Rassen einzuteilen? Zum ersten besteht das Problem, dass immer willkürlich ist, wie viel Prozent Differenz genügen sollen. Wer wollte etwa den Appenzellern das Recht auf eigenen Rassestatus verweigern? Gelten die Bewohner dieser Schweizer Halbkantone doch nicht nur als kleinwüchsig, sondern verfügen zudem über eigene Käse-, Likör- und Hundesorten. Und schließlich ließe sich auch der eine oder andere genetische Marker auftreiben, der die ziemliche Holzköpfigkeit in meiner nordhessischen Heimat erklären könnte. Dass immer wieder Völker oder solche, die sich dafür halten, ihre Unabhängigkeit ausrufen, ob es sich um Basken, Tschetschen, Kashmiris oder Yoruba handelt, zeugt davon, dass es nie Einigung darüber geben wird, ob das Glas an Gemeinsamkeiten mit den lieben Nachbarn halb voll ist oder halb leer.
Entsprechend gibt es auch keine Einigung unter Biologen, welche Unterschiede zur Anerkennung einer Unterart genügen sollen. Als Kompromiss wurde die 75-Prozent-Regel versucht, die verlangt, dass drei Viertel der Mitglieder einer Population von denen anderer unterscheidbar sein müssen. Nur – was gilt als Unterschied? Was wir mit bloßem Auge unterscheiden können? Oder was uns die Genetik liefert an Informationen? Wären dann die lediglich 0,4 Prozent Unterschied zwischen Schimpansen und Menschen nicht Grund genug, den Schimpansen als homo troglodytes zu bezeichnen? Oder Menschen als pan sapiens?
Da sich eine Trennung auf Gattungsebene damit überhaupt nicht mehr rechtfertigen lässt, sollten umgekehrt aufgrund ihrer durchschnittlich beträchtlichen genetischen Unterschiede nicht Männer und Frauen wenigstens als Subspezies bezeichnet werden? Etwa als homo sapiens marsiensis und homo sapiens venusiensis?
Zum zweiten überlappen die Erbgutprofile verschiedener Bevölkerungen ganz enorm, während gleichzeitig sehr verschiedenartige Menschen zum selben Volk zählen können. Deshalb gab sich auch das Arier-Ideal nur allzu leicht dem Gespött preis. Blond und blauäugig wie Hitler.
Letzterer Befund wird für gewöhnlich so umschrieben, dass statistische Unterschiede zwischen zwei Völkern viel kleiner sind als die zwischen den Menschen innerhalb eines Volkes. Der Journalist Stefan Klein drückt das so aus: „Mit dem Erbgut des homo sapiens verhält es sich ungefähr so wie mit Blumen auf zwei benachbarten Wiesen. Auf der einen mag durchaus etwas mehr Löwenzahn stehen als auf der anderen. Ein solcher Unterschied lässt sich durch Zählen erfassen. Trotzdem ähnelt eine Löwenzahnblüte einer Artgenössin auf der anderen Wiese ungleich mehr als der Dotterblume, die gleich neben ihr steht.“
Unter den Zürichern mögen bestimmte Gene häufiger auftreten als unter Buschmännern, die Erbfaktoren für eine Blutgruppe zum Beispiel. Aber weil in beiden Völkern die Gene so bunt durchgemischt sind wie die Gewächse auf einer Wiese, findet sich für jeden Züricher ein Aborigine, der ihm genetisch näher steht als sein Züricher Nachbar.
Das Konzept biologischer Rassen lässt sich mithin nur um den Preis wissenschaftlicher Demenz reanimieren. Gleichwohl werden Rassen stetig neu erfunden, selbst wenn es sich um Sprachgruppen handelt wie die zunehmend zahlreichen Hispanier den USA. Und dass Rasse klasse ist, finden keineswegs nur ewig gestrige Rassisten. Ganz im Gegenteil. Wer meint, zu einer Minderheit zu gehören, dem wird über positive Diskriminierung oft mehr als nur ein Quotenstückchen vom sozialen Kuchen zugeschoben, wie an der Universität Michigan, wo es bei der Bewerbung Pluspunkte für seltene Hautfarbe gibt. Statt Farbenblindheit zu fördern, erfindet die politische Korrektheit Rassismus unter umgekehrten Vorzeichen neu, als ausgleichende Gerechtigkeit für das von Vorfahren erlittene Unrecht.
Warum aber drängt es uns überhaupt, Eigenes von Fremdem unterscheiden zu wollen? Die evolutionäre Psychologie meint, diese Neigung, wie unsympathisch, wie bedauerlich sie sich entladen mag, sei tief in uns verwurzelt. Denn beim Güterstreit mit Nachbargruppen, der die Menschheitsgeschichte durchzieht, sei humanitäre Toleranz weniger nützlich gewesen als derbe Faustregeln über „wir“ und „sie“. Ethnozentrischer Nahkampf ließ eben keine Feinheiten zu. Dies ist die uralte Grammatik der Xenophobie, der Fremdenfurcht. Sie erklärt, warum wir die Welt so gerne in schwarz und weiß einteilen, warum uns ziemlich automatisch unwohl wird bei der Begegnung mit Andersartigen. Somit ist einem Kernsatz des Genetikers Hans Seidler unbedingt beizupflichten: „Was uns eint, sind die Gene. Was uns trennt, sind die Vorurteile.“
Stets darüber nachzudenken, wer vielleicht zur eigenen Gruppe gehört, war allerdings in unserer Urzeit ein ebenso gefährlicher Luxus wie das Reflektieren darüber, ob ein Höhlenbär sich vielleicht doch als Streicheltier eignet. Insofern können oder zumindest konnten wir ohne Vorurteile gar nicht auskommen, weil durch sie unser Leben erst ökonomisch vorstrukturiert wird. Vorurteile sind somit Faustregeln, die in der Regel nützlich sind, aber eben nur in der Regel. Ändern sich die Regeln, kann einstmals Nützliches zur Belastung werden. So war es in der Umwelt von Jägern und Sammlern, die 99,9 Prozent der Menschheitsgeschichte charakterisiert, sicherlich vorteilhaft, soviel Süßes wie möglich in sich reinzustopfen. Denn wann es wieder reife Früchte geben würde, war ziemlich ungewiss. Heute jedoch, wo jeder Supermarkt Schokoriegel und Brausegetränke im Überfluss feilhält, beschert uns diese Neigung Dickleibigkeit.
Ich bin in einem kleinen Dorf am Rande eines tiefen Waldes aufgewachsen, in dem meine Ahnen seit mindestens 1781 zuhause sind. Dementsprechend bin ich mit der Hälfte aller Einwohner verschwippt und verschwägert, und die andere Hälfte hatte garantiert die gleiche bleiche Hautfarbe. Meine Gene bereiteten mich bestimmt nicht vor für meine spätere Lehrtätigkeit in London, wo ich tagtäglich unterschiedlichst aussehenden Menschen, verwirrendsten Sprachen und Gepflogenheiten begegne. Das erzieht ungemein, bereichert mein Leben immens, und ich würde dieses kreative Durcheinander auf keinen Fall mehr missen wollen.
Sogar US-Amerikaner scheinen lernfähig zu sein. Jedenfalls gaben 73 Prozent der Amerikaner in einer Umfrage an, dass sie „interracial marriages“ (gemischtrassige Ehen) für okay halten. Im Jahre 1958 waren es gerade mal 4 Prozent.
Zum Schluss noch eine kleine Denkaufgabe: Wer will schon entscheiden, ab welchem Punkt ein Becher zur Tasse wird und ab wann eine flache Tasse als Schale anzusehen ist? Ganz ähnlich: Ab wann soll schwarze Haut als dunkelbraun gelten und braune als weiß? Angesichts solch fließender Übergänge sollte uns eigentlich intuitiv klar sein, dass das Konzept der Rasse nichts taugt. Und dass Rassen nicht wirklich existieren können, leuchtet auch im Lichte der Evolutionstheorie unmittelbar ein. Irgendwann waren unsere Vorfahren Afrikaner. Und noch ein bisschen früher waren wir alle Affen. Denn die biologische Perspektive ist nicht die von Konstanz und Essenz, sondern von stetigem Wandel. Ergo: Rassen gibt’s nicht, nur Rassismus