SWR2 Wissen: Aula-Wilhelm Vossenkuhl: Gegen den eigenen Willen . Die Ethik des Paternalismus (1-2)

Ethik-Paternalismus (Vossenkuhl)

http://www.swr.de/swr2/wissen/-/id=661224/1muyzmy/index.html
 

Autor: Professor Wilhelm Vossenkuhl*
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
Sendung: Sonntag, 23. August 2009, 8.30 Uhr, SWR 2
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen
Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

* Zum Autor:
Wilhelm Vossenkuhl, geboren 1945, studierte Philosophie, Neuere Geschichte und
Politikwissenschaft in München. 1972 Promotion zum Dr. phil. an der Universität
München;1980 Habilitation. Seit 1993 hat Vossenkuhl den Lehrstuhl für Philosophie
1 an der Ludwig-Maximilians-Universität in München inne. 2004-08 Mitglied des
Beraterkreises „Hochschulentwicklung 2020“ der Landesregierung Baden-
Württemberg, seit 2009 Ehrenmitglied der Sokratischen Gesellschaft.
Forschungsschwerpunkte: Praktische Philosophie und Handlungstheorie,
Grundlagen der Ethik, Philosophie der Sozialwissenschaften.
Buchauswahl:
- Philosophie für die Westentasche. Piper-Verlag.
- Die Möglichkeit des Guten. Ethik im 21. Jahrhundert. Beck-Verlag.
- Ludwig Wittgenstein. Becksche Reihe Denker.
- Stammzellenforschung und therapeutisches Klonen (zusammen m. Oduncu u.a.).
Verlag Vandenhoeck & Ruprecht.

ÜBERBLICK
Als paternalistisch wird eine Handlung bezeichnet, die gegen den Willen, aber auf das Wohl eines Anderen gerichtet ist, wenn sie also die Freiheit dieser Person einschränkt, um diese vor sich selbst zu schützen. In diesem Sinne wäre das Rauchverbot ein paternalistisches, weil es die Raucher vor sich selbst schützt. Paternalistische Normen und Probleme gibt es besonders im medizinischen Bereich, wenn es um Patientenautonomie, Sterbehilfe, Organspende geht. Wilhelm Vossenkuhl, Professor für Philosophie an der Universität in München, erläutert in zwei Teilen Grundlagen und Probleme der paternalistischen Ethik.

INHALT
Thema: „Gegen den eigenen Willen - Die Ethik des Paternalismus“,

TEIL 1 - 2
Ansage:
Wilhelm Vossenkuhl ist Professor für Philosophie an der Maximilians-Universität in
München und er wird heute und am nächsten Sonntag das Prinzip und die Probleme
des Paternalismus behandeln. Als paternalistisch gilt eine Handlung, die gegen den
Willen, aber zugleich auf das Wohl eines Anderen gerichtet ist, also wenn man etwa
Freiheitsrechte einer Person einschränkt, um diese gegen sich selbst zu schützen.
Das Rauchverbot ist in diesem Sinn ein paternalistisches.
Paternalismus ist nun kein Thema, an dem man sich wunderbar im akademischen
Elfenbeinturm abarbeiten kann, es betrifft alle möglichen gesellschaftlichen Bereiche,
das Arzt-Patient-Verhältnis, das Bürger-Staat-Verhältnis, das Eltern-Kind-Verhältnis.
Hören Sie nun also den ersten Teil von Wilhelm Vossenkuhl, in dem er beschreibt,
welche Arten es von Paternalismus gibt und warum dabei das Vertrauen eine
zentrale Rolle spielt-
Wilhelm Vossenkuhl:
Seit vielen Jahren wird, teilweise heftig und engagiert, über die Frage diskutiert, wie
das Verhältnis zwischen Ärztinnen und Ärzten auf der einen und Patientinnen und
Patienten auf der anderen Seite eigentlich aussehen sollte. Sie werden denken,
eigentlich ist das doch längst geregelt: Wir Patienten – ich zähle mich dazu- gehen
zum Arzt und der Arzt tut das, was er tun soll, nämlich uns helfen, möglichst heilen
usw.
So einfach ist es leider nicht, denn mir als Laien ist häufig unklar, was der Arzt
macht, welche Therapie er mir vorgeschlagen hat und wie das zu verstehen ist; auf
der anderen Seite ist natürlich die Ärztin oder der Arzt gehalten, mir die bestmögliche
Behandlung zukommen zu lassen. Das Bestmögliche schließt jedoch auch ein, was
der Arzt für das Beste hält. Das ist also eine recht komplizierte Angelegenheit. Man
spricht in diesem Zusammenhang häufig von „Paternalismus“.
Was bedeutet dieser Begriff? „Pater“ heißt Vater. Es handelt sich offenbar auch um
ein väterliches oder mütterliches Verhältnis zu Erwachsenen. Sie erinnern sich
vielleicht, als Sie noch klein waren, dass Ihre Mutter oder Ihr Vater sagte: „Zieh dich
doch warm an“, vor allem im Winter, „damit du nicht krank wirst.“ Oder: „Zieh deine
Handschuhe an, du frierst bestimmt an den Händen.“ Naja, man hat dann die
Handschuhe angezogen, ist rausgegangen und hat sie sich trotzig wieder
ausgezogen, nach dem Prinzip, „das geschieht der Mutter ganz recht, wenn ich
friere“.
So ähnlich verhält es sich bei der Arzt-Patienten-Beziehung. Das ist ein
asymmetrisches Verhältnis, ein Verhältnis zwischen einem gut informierten
Menschen – dem Arzt, der Ärztin auf der einen Seite, während wir Laien meist
weniger gut informiert sind, wir verstehen vieles einfach nicht richtig
Worum geht es nun eigentlich beim Paternalismus? Per definitionem ist
paternalistisches Verhalten, wenn es das Wohl einer Person, z. B. eines Patienten,
fördert, unabhängig davon, was diese Person selbst will. Das ist also so ähnlich wie
bei dem Kind mit den Handschuhen im Winter. Dahinter verbergen sich ganz
problematische Aspekte. Darf man denn überhaupt jemandem zumuten, dass man
etwas für eine Person entscheidet, unabhängig davon, was diese Person selbst will?
Die Philosophen stehen natürlich sofort auf den Barrikaden. Sie sagen, hier wird
doch die Wahlfreiheit, vielleicht sogar die Willensfreiheit und Autonomie der Person
eingeschränkt – oder zumindest wird diese Einschränkung in Kauf genommen. Sie
sehen schon, da gibt es Abstufungen, Grade. Es ist gar nicht so einfach, diese Grade
genau zu unterscheiden, aber grob können wir zwei Gruppen von Fällen
unterscheiden: starken und schwachen Paternalismus.
Was ist schwacher Paternalismus? Viele Menschen, die im Krankenhaus liegen und
ärztliche Hilfe dringend benötigen, sind bewusstlos. Sie werden bewusstlos
eingeliefert, sind vielleicht schon lange bewusstlos und können selbst nichts mehr
entscheiden. In solchen Fällen ist es doch ganz klar und scheinbar ohne Probleme,
wenn ein Arzt über die Behandlung entscheidet. Man geht vom „mutmaßlichen
Willen“ einer Person aus.
Was ist denn nun „mutmaßlicher Wille“? Ursprünglich stammt dieser Begriff aus der
Jurisprudenz und bedeutet: Der mutmaßliche Wille einer Person ist das, was eine
rationale Person (also eine Person, die bei Verstand ist, die Bewusstsein hat, die in
der Lage ist, ihre Zukunft zu planen, die entscheidungsfähig ist) gewollt hätte, wenn
sie gefragt worden wäre. Wir kennen das aus den Debatten über
Patientenverfügungen. Man kann sich übrigens streiten, ob das paternalistisch ist
oder nicht – der Bundestag hat kürzlich entschieden, dass Patientenverfügungen
gelten. Das heißt, wenn Sie oder ich eine Patientenverfügung unterschreiben, in der
geregelt wird, was passieren würde, wenn wir verunfallen, nicht mehr bei
Bewusstsein sind, auch nicht mehr auf die Frage „was sollen wir denn nun anfangen
mit Ihnen?“ antworten können- dann wird das gemacht, was in der Verfügung drin
steht, koste es, was es wolle, egal was das menschliche Empfinden oder die
ärztlicher Seite oder Angehörige einbringen könnten. Es wird das gemacht, was die
Patientenverfügung sagt.
Es ist auch eine Art von Paternalismus, wenn ich als betroffene Person, die nicht
mehr reden kann, einfach so behandelt wird, als hätte ich eine Art von mutmaßlichem
Willen. Man nimmt an, mein mutmaßlicher Wille besteht darin, ich würde auf jeden
Fall an meiner Patientenverfügung festhalten – auch wenn ein Arzt sagen würde,
wenn die Verfügung missachtet würde und der Patient beispielsweise nicht im Sinne
der Verfügung behandelt wird, so könnte er vielleicht überleben. Das ist also kein
einfaches Thema.
Was ist nun aber der starke Paternalismus? Dabei wird ausdrücklich gegen den
Willen einer Person entschieden, zum Beispiel von Erziehungsberechtigten. Es gibt
Fälle, die in der Rechtsprechung nachlesbar sind. Zum Beispiel ein berühmter Fall,
den alle Studentinnen und Studenten der Rechtswissenschaften irgendwann im
Laufe ihres Studium zu Gehör bekommen, nämlich das Problem der Blutspende bei
den Zeugen Jehovas. Die Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas ist der
Überzeugung, dass Blutspenden von fremden Personen für die eigenen Kinder aus
religiösen Gründen nicht richtig sind. Nun kann es sein, dass Kinder von Zeugen
Jehovas eine Blutspende dringend benötigen. Was passiert dann? Dürfen die Eltern,
also die Erziehungsberechtigten für diese Kinder, also paternalistisch, entscheiden,
dass ihre Kinder keine Blutspende bekommen? Unsere Rechtsprechung sagt ganz
klar: Nein. In diesem Falle übernimmt der Staat die Haftung bzw. anstelle des
Staates die Ärztinnen und Ärzte, die sagen, dieses Kind braucht unbedingt eine
Blutspende, und egal was die Eltern sagen, es bekommt diese Blutspende. Hier
haben wir es mit einem starken Paternalismus zu tun. Der Staat interveniert, egal
was die Personen, in dem Fall die Zeugen Jehovas, will oder nicht will.
Ein weiterer Fall betrifft alle Autofahrer: die Anschnallpflicht im Auto. Das ist starker
Paternalismus. Zu Beginn wollten viele der Gurtpflicht nicht nachkommen, denn sie
waren der Ansicht, sie seien sehr viel mehr gefährdet durch den Gurt. Einige haben
Unfälle tatsächlich überlebt, weil sie keinen Gurt anhatten, andere haben genau aus
dem gleichen Grund nicht überlebt. Wir wollen darüber nicht streiten, jedenfalls ist
das ein Beispiel für starken Paternalismus. Ein drittes Beispiel: das Rauchverbot.
Was heißt diesbezüglich starker Paternalismus? Wird der Raucher vor den
gesundheitlichen Schäden bewahrt? Nein, natürlich nicht, denn der Raucher darf
sich frei entscheiden, er darf sich selber schädigen, das wird ihm nicht verboten.
Aber es wird Nichtrauchern quasi verboten, dass sie den Rauch einatmen, egal ob
sie wollen oder nicht. Es kann ja sein, dass Leute – zum Beispiel, weil sie mit
Rauchern befreundet sind – sagen, ich nehme das in Kauf, ich möchte gerne mit
meinem Freund oder Freundin in die Kneipe gehen, ich bin zwar selber Nichtraucher
und gezwungenermaßen Mit-Raucher, aber das macht mir nichts aus. Gegenüber
diesen Personen gibt es in diesem Fall einen starken Paternalismus.
Oder ein anderes, etwas illustres Beispiel für starken Paternalismus: Am 15.
Dezember 1981 hat das Bundesverwaltungsgericht Peep Shows verboten. Eine
Peep Show ist eine Show, bei der der Zuschauer, fast immer sind es Männer, in
kleinen Kabinen einer nackten Frau zuschauen, die sich räkelt oder tanzt oder was
auch immer. Das wurde verboten mit dem Argument, dass die Frauen gegen ihre
Würdepflicht verstoßen. Wir haben natürlich eine Menschenwürde, aber haben wir
auch eine Würdepflicht? Ich bin mir nicht sicher, ob das Bundesverwaltungsgericht in
dem Urteil so richtig entschieden hat, zumindest muss man ein großes Fragezeichen
dahintersetzen, immerhin haben diese Frauen ja freiwillig gehandelt, und wenn man
schon Peep Shows verbietet, was ist dann mit Prostitution? Müsste man nicht
Frauen, die sich prostituieren, auch davor schützen, dass sie ihre Würde in dieser
Weise missbrauchen oder ihr nicht gerecht werden?
Das sind ziemlich viele Fragen, aber konzentrieren wir uns wieder auf das Arzt-
/Patienten-Verhältnis, darum ging es ja von Anfang an. Wie sollte das eigentlich
geregelt sein? Es gibt mehrere Prinzipien, eines davon ist die Autonomie
(Selbstbestimmung) des Patienten. Unter Patientenautonomie ist zu verstehen, wenn
ich als Patient eine bestimmte Behandlung, eine Injektion oder eine Transfusion zum
Beispiel, nicht möchte, dann bekomme ich sie auch nicht. Patientenautonomie
bedeutet also einfach das, was ich will. Demgegenüber stehen Prinzipien, die die
Pflichten des Arztes betreffen: Er soll mich vor Schaden bewahren, er soll mich
möglichst heilen, er soll mir nützen usw. Diese zwei Gruppen von Prinzipien stehen
sich gegenüber. Welche Gruppe hat nun mehr Gewicht?
Viele Menschen – auch Kollegen der Rechtswissenschaften – denken, die
Patientenautonomie trumpft alles andere. Wenn der Patient sagt: „Das will ich nicht“,
und der Arzt meint: „Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass Sie sich selbst schaden
und dass Sie mich in Gewissenskonflikte bringen, weil ich als Arzt Ihnen rate, lassen
Sie sich unbedingt operieren oder nehmen Sie unbedingt dieses Mittel“, dann gibt es
keine andere Lösung: Die Patientenautonomie setzt sich durch. Ist das wirklich in
Ordnung? Eigentlich ist es doch das Ziel der ganzen Überlegungen zum
Paternalismus, dass wir in der Lage sind, mit einem einzigen Prinzip klar und deutlich
zu sagen, wie man diesen Paternalismus verhindert, wie man also verhindert, dass
Ärzte „über meinen Verstand hinaus“ für mich, zu meinem Wohl entscheiden, was ich
gar nicht verstehe und vielleicht auch gar nicht will.
Um die Patientenautonomie zu „verbriefen“, wurde die sogenannte „informierte
Zustimmung“ eingeführt. Was heißt das? Sie werden das alle schon einmal erlebt
haben: Sie kommen zum Arzt oder in eine Klinik und bekommen ein Schriftstück
vorgelegt, das Sie unterschreiben sollen und in dem Sie allem zustimmen, was
darauf steht, was Sie wahrscheinlich bei dem schnellen Lesen gar nicht richtig
verstanden haben. Ich verstehe es jedenfalls meistens nicht, ich unterschreibe aber
trotzdem. Ich willige also in ein noch schwaches paternalistisches Verhältnis ein,
aber ich weiß nicht genau, worum es geht. Die informierte Zustimmung ist für mich
als Laien eigentlich eher eine Floskel, eine Art Feigenblatt, das die Möglichkeit einer
Entscheidung über meinen Kopf hinweg, zumindest was die Rechtsverhältnisse
angeht, vermeiden soll. Informierte Zustimmung ist also Vermeidung eines
paternalistischen Verhältnisses, zumindest im rechtlichen Sinne.
Ist damit das Arzt-Patienten-Verhältnis geklärt? Wird Paternalismus dadurch
vermieden? Wir wissen nun, es geht um ein paar Prinzipien. Prinzipien sind für uns ja
meist etwas mühselig zu bewältigen. Was also tun? Als Philosoph empfehle ich,
nach einem gemeinsamen Nenner der verschiedenen Prinzipien zu suchen. Ich will
einen Versuch wagen und schlage als gemeinsamen Nenner „Gerechtigkeit“ vor. Wie
komme ich darauf? Es geht nicht um ein Gleichheitsprinzip oder um übersetzte
Gleichheit oder etwas ähnliches. In diesem Fall definiere ich Gerechtigkeit
folgendermaßen: Gerecht ist das, was ich mir als Person und anderen schulde; was
bin ich mir schuldig, was sollte ich im Hinblick auf meine Würde usw. tun und was
sollte ich anderen gegenüber tun, was schulde ich ihnen – Aufmerksamkeit, Hilfe
usw. Das ist eine sehr sehr allgemeine, nicht besonders scharfe, dafür aber auf viele
Fälle schön anwendbare Definition von Gerechtigkeit.
Wenn wir nun diese Gerechtigkeit als gemeinsamen Nenner setzen, dann sieht man,
dass man diese Art der Auffassung von Gerechtigkeit sowohl im Hinblick auf die
Patienten und Patientinnen anwenden kann als auch im Hinblick auf den Arzt. Wenn
wir gerecht sind, dann tun wir das, was wir uns selber schulden und was wir anderen
schulden. Der Arzt schuldet mir Aufmerksamkeit, er schuldet mir die Einhaltung des
Prinzips der Schadensvermeidung, des Wohlförderns usw., und ich schulde mir
selbst natürlich die Selbstbestimmung. Man könnte doch sagen, das klingt wie eine
schöne Übereinkunft, wie ein guter gemeinsamer Nenner. All das sind ja
Gerechtigkeitsverhältnisse.
Aber natürlich ist die Sache damit nicht gelöst. Der Konflikt besteht weiterhin, und der
Vorschlag, Gerechtigkeit als gemeinsamen Nenner zu nehmen, ist ein Versuch, den
Konflikt besser in den Griff zu bekommen. Natürlich kann man sich fragen, wozu wir
das überhaupt tun sollen. Ist es nicht viel wichtiger, darüber zu reden, worum es
konkret geht: Gesundheitsvorsorge, das Vermeiden von Schäden usw.? Sicher,
eigentlich wäre das der erste Schritt, aber wir können uns nicht einfach in eine Klinik
begeben und sehen, was in der Intensivstation passiert. Wir müssen statt dessen
über Prinzipien reden.
Wir machen es jetzt mal ganz einfach: Wir haben zwei Prinzipien – die
Schadensvermeidung (das Wohl lassen wir beiseite, weil das ziemlich schwierig ist)
und die Selbstbestimmung (des Patienten). Legen wir diesen beiden Prinzipien
Gerechtigkeit als gemeinsamen Nenner zugrunde, würde das den Konflikt lösen?
Zunächst einmal wird der Konflikt überhaupt erst richtig sichtbar. Denn was gerecht
aus Sicht des Arztes ist, ist nicht identisch mit dem, was ich als Patient als gerecht
erachte. Gerechtigkeit kann also unterschiedlich betrachtet werden. Auf der einen
Seite steht der Arzt, der mich vielleicht nachdrücklich darauf aufmerksam macht,
dass ich Schaden nehmen könnte, wenn ich eine bestimmte Therapie nicht mache,
auf der anderen Seite stehe ich als Patient und überlege, ob ich dieser Behandlung
zustimmen soll oder nicht. Wenn ich meinen Arzt kenne und ihm vertraue, werde ich
seinem Rat sicherlich eher folgen. Und hier kommt eine neue Perspektive ins Spiel:
Vertrauen. Darauf haben Sie vielleicht schon gewartet, denn Vertrauen ist das A und
O, es verbindet die beiden Seiten: also Arzt und Patient. Die Gerechtigkeit selbst tut
das nicht, denn sie wird ja je nach Sichtweise unterschiedlich definiert. Wenden wir
uns also dem Vertrauen zu.
Jeder von uns, der schon einmal in einer Klinik war, wird sich stirnrunzelnd
überlegen, wie es eigentlich möglich ist, mit den Klinikärzten ein Vertrauensverhältnis
aufzubauen, zumal der Patient die Klinik in der Regel so schnell wie möglich wieder
verlassen will. Außerdem gibt es genaue Untersuchungen darüber, wie viele
verschiedene Ärztinnen und Ärzte der normale Patient, vor allem derjenige, der auf
der Intensivstation liegt, an nur einem einzigen Tag sieht! Wie soll da ein
Vertrauensverhältnis entstehen? Besser sieht es beim Hausarzt oder der Hausärztin
aus. Es gibt also prinzipiell ein Vertrauensverhältnis. Und das ist eigentlich des
Pudels Kern in der ganzen Problematik: Wie können wir das Vertrauen herstellen?
Die Leute, die die informierte Zustimmung erfunden haben, waren der Ansicht, auf
diese Weise würde – zumindest auf dem Papier – eine Art Vertrauensverhältnis
hergestellt. Heute weiß man aufgrund mehrerer Untersuchungen, das ist nur
vermeintlich so. Vertrauen ist durch informierte Zustimmung nicht herstellbar.
Lassen Sie uns nochmal zurückgehen zu den Prinzipien. Ich habe Ihnen die
Gerechtigkeit als gemeinsamen Nenner für die Ärzte- und Patientenprinzipien
vorgestellt und bin dann recht schnell zum Vertrauen übergegangen. Gehen wir noch
einen Schritt zurück. Meistens wird, das hatte ich vorhin schon angesprochen,
zugunsten der Patientenautonomie entschieden – so als wäre sie eine Art
Trumpfkarte, ein Oberprinzip. Wenn wir aber Gerechtigkeit als Prinzip für beide
Seiten anerkennen, dann kann Patientenautonomie nicht länger als Trumpfkarte
gelten. Dennoch bleibt natürlich das Prinzip erhalten. Was meine ich damit?
Wenn wir Vertrauen haben wollen, dann kann es nicht sein, dass ein Prinzip das
andere trumpft. Es kann auch nicht sein, dass die Ärzteschaft, die in dem Fall ja
potentieller Gegner ist, immer bestimmt. Genauso wenig kann es sein, dass die
Patientenautonomie immer trumpfen darf. Also wird wohl das Vertrauensverhältnis
nur einher gehen können mit einer Art Balance zwischen den beiden
Prinzipiengruppen. Wie könnte man diese Balance denn herstellen? Natürlich nur
durch wechselseitiges Vertrauen. Aber wie kann man das herstellen?
In Großbritannien, und da gibt es eine ganze Menge Untersuchungen dazu, hat man
sogenannte „hearings“ durchgeführt, in denen beide Seiten zusammengebracht
wurden zu Gesprächen. So hat man herausgefunden, warum das gegenseitige
Vertrauen so schwierig ist. Aber Vertrauen ist eigentlich etwas, über das man per
defintionem gar nicht reden kann. Denn Vertrauen ist so ähnlich wie Sympathie oder
Liebe – man bekommt es geschenkt, das bietet man an, das sind freie Akte. Und
eine ganze Menge von diesem Vertrauen ist ja gar nicht bewusst. Manchmal
vertrauen wir sogar Menschen, die wir kaum kennen, aber in der Regel braucht es
Zeit.
Ohne die Gewissheit, dass Arzt und Patienten einander vertrauen können – und das
ist die Quintessenz –, ist das Verhältnis nicht in Balance, auch die Prinzipien nicht.
Wenn wir Vertrauen herstellen – durch bessere Kenntnis, durch Austausch, durch
Kommunikation –, dann merken wir so langsam, es ist durchaus möglich, dass wir
uns selbst und einander gerecht werden im Arzt-Patienten-Verhältnis.
Klar ist, wenn das nicht möglich ist, wenn wir uns nicht in dieser Weise gerecht
verhalten, wenn wir kein Vertrauen zueinander aufbauen können, dann ist echte
Gerechtigkeit nicht denkbar, dann sind letztlich die ganzen Prinzipien unwichtig, denn
die allein bewirken gar nichts. Sie sehen, das A und O bei der Lösung des
Paternalismus-Problems, vor allem des schwachen Paternalismus, ist das Vertrauen.
Ohne das geht es nicht.

*****
TEIL 2

Wilhelm Vossenkuhl, Professor für Philosophie an der Universität in München,
erklärte im ersten Teil seines Vortrags, was Paternalismus genau ist, wie er unser
gesellschaftliches Leben bestimmt und wo die Probleme liegen. Paternalistisch sind
prinzipiell solche Handlungen, die die Freiheit einer Person einschränken, um diese
letztlich vor sich selbst zu schützen.
Im zweiten Teil geht es um die völkerrechtlichen Aspekte, etwa um die Frage, ist es
gerechtfertigt, wenn ein Staat in eine Diktatur eingreift, den Diktator tötet, um dann –
eventuell gegen den Willen der Bevölkerung – eine Demokratie einzuführen.
Vorbilder aus der Realität für solches Handeln sind der Irak oder Serbien.
Hören Sie also nun den zweiten Teil von Vossenkuhl über den Paternalismus und
das Völkerrecht.
Wilhelm Vossenkuhl:
Vielleicht erinnern Sie sich noch an dieses merkwürdige Wort „Paternalismus“, der
Begriff leitet sich vom vaterschaftlichen Verhältnis zu Kindern ab, meistens prägen
jedoch die Mütter dieses Verhältnis. Ein solches Verhältnis existiert auch zwischen
Patienten und Ärzten und genauso zwischen Völkern und Staaten. Es geht hier um
das Wohl eines Volkes, unabhängig davon, was dieses Volk selber will. Also: andere,
dritte Staaten beschließen, dieses Volk braucht das und das und bekommt es jetzt
auch, ob es will oder nicht. Das betroffene Volk hat keine Wahl. Es wird die
Wahlfreiheit eingeschränkt.
Man kann sich fragen, ob der Wille des Volkes nicht unerheblich ist, solange nur zu
seinem Wohl entschieden wird. Allerdings gibt es dabei einige Aspekte zu
berücksichtigen, z. B. die Souveränität des Volkes, die ja damit in Frage gestellt wird.
Souveränität heißt, die Integrität, die Unberührbarkeit eines Volkes wird in allen
Punkten gewahrt, Grenzen werden nicht überschritten, es werden keine
Zwangsmaßnahmen gegen dieses Volk eingeleitet usw. Es soll nicht gegen den
Willen eines Volkes gehandelt werden, das ist die Idee einer Volkssouveränität, eine
Idee, die sich über Jahrhunderte entwickelt hat. Inzwischen, das muss man leider
feststellen, wird die Idee der Volkssouveränität in Frage gestellt.
Lassen Sie uns zunächst wieder zwischen schwachem und starkem Paternalismus
unterscheiden. Gibt es das überhaupt, auch im Verhältnis der Völker untereinander?
Ja, das gibt es. Man kann das Wohl eines Volkes, unabhängig von seinem eigenen
Willen, fördern, dann nämlich, wenn das Volk selbst nicht in der Lage ist, selber zu
entscheiden, wenn es zum Beispiel in Agonie ist durch ein Ereignis, ein Naturereignis
wie ein Tsunami oder ein Erdbeben.
Man hat auch angenommen, dass Völker nicht so genau wissen können, was zu
ihrem Wohle gut wäre und deshalb gibt man ihnen dies und jenes. Das ist die Idee
der Entwicklungshilfe. Da gibt es einige köstliche Beispiele: etwa die Lieferung von
Schneefahrzeugen durch die damalige Sowjetunion an das afrikanische Ghana.
Ghana liegt ziemlich nah am Äquator. Solche Auswüchse kann Entwicklungshilfe
auch annehmen. Das ist jedenfalls eine schwache Form des Paternalismus – wenn
auch eine ziemlich unsinnige.
Starken Paternalismus finden wir beim Stichpunkt: Kolonialisation. Um den starken
Paternalismus soll es bei unseren heutigen Überlegungen gehen. Er liegt zum
Beispiel dann vor, wenn aufgrund von bestimmten Ereignissen in einem Land ein
anderes oder vielleicht sogar eine Gemeinschaft von anderen Ländern interveniert,
direkt militärisch oder indirekt durch Sanktionen. Sie werden sofort an die
entsprechenden Fälle denken, denn von denen gibt es ja wahrlich genug.
Als stark paternalistisch ist das Verhalten der intervenierenden Staaten zu
bezeichnen, weil sie davon ausgehen, ihr Handeln diene dem Wohle der Menschen.
Gleichzeitig wissen sie, dass sie gegen die Regierungen dieser Länder agieren, denn
diese Regierungen unterdrücken ja die Bevölkerung. Und sie wollen doch diese
armen Menschen von dem Unrechtsregime befreien.
Bevor eine Intervention stattfindet, wird das geplante Vorgehen meist erst in der
Staatengemeinschaft, in der Regel bei den Vereinten Nationen in New York,
diskutiert. Es geht dabei um Fragen wie: Was ist denn das Wohl, ist das Wohl
wirklich gefährdet, handelt es sich tatsächlich um einen Unrechtsstaat, was will die
Bevölkerung. Der mutmaßliche Wille eines Volkes ist also auch maßgeblich,
allerdings nicht in einem streng rechtlichen Sinne, aber man könnte doch annehmen,
alle Menschen, egal wo sie leben – ob in Alaska, im Iran oder in Deutschland – legen
großen Wert darauf, dass ihre Menschenrechte eingehalten werden. Manche
Menschen kennen gar keine Menschenrechte; wir jedoch wissen zum Beispiel, wie
unsere Würde verletzt wird. Wir wissen nie so ganz genau, wie Würde eingehalten
wird, aber wir wissen ganz genau, wann die Würde verletzt ist. In den internationalen
Verhältnissen sind die Menschenrechte das A und O.
Überall auf der Welt werden Menschenrechte verletzt, übrigens bei uns auch. Wir
dürfen also nicht immer nur auf die anderen zeigen. Nehmen wir ein paar Beispiele,
die direkt deutlich machen, worum es geht. Im folgenden Fall wird die
paternalistische Seite nicht so recht griffig. Ich werde Ihnen gleich erklären, warum.
Ich rede von der Frauenbeschneidung in Afrika. Es gibt im ganzen nord-, west- und
östlichen Bereich, sowohl in muslimischen wie auch in christlichen Staaten
(Äthiopien), die Frauenbeschneidung. Meistens werden diese Rituale von Frauen an
jungen Mädchen durchgeführt, ohne jegliche hygienischen Maßnahmen werden den
Mädchen die sekundären Geschlechtsmerkmale, die Schamlippen mit Glasscherben
oder ähnlichem entfernt. Warum? Diese Frauen sollen davor bewahrt werden – quasi
zu ihrem Wohl –, dass sie sexuell interessiert sind am Geschlechtsverkehr. Die
Kinder, die sie auf die Welt bringen, sollen möglichst nur von ihrem eigenen
Ehemann sein, das Kinderkriegen sollte im Clan stattfinden, kein fremder Mann sollte
in der Lage sein, eine Frau zu schwängern. Oft werden noch die Schamlippen
vernäht usw., aber wir wollen nicht in die Einzelheiten gehen. Warum ist das nun ein
Thema für Paternalismus? Denn die Frauen stimmen der Beschneidung zu, das
heißt, die Mütter für ihre Töchter. Was soll daran nun problematisch sein?
Wir haben es hier wahrlich mit einer ganzen Fülle von Menschenrechtsverstößen zu
tun. Erstens geht es um nicht zustimmungsfähige Kinder, zweitens wird der
Lebensschutz missachtet dadurch, dass keine hygienischen Maßnahmen ergriffen
werden. Das sind schon zwei gravierende Verstöße gegen die Menschenrechte.
Frauenbeschneidung ist, egal wie viele der Frauen dafür sind, ein Verstoß gegen die
Menschenrechte. Niemand wird natürlich dafür argumentieren, dass aus diesem
Grunde direkt interveniert wird. Aber es gibt Möglichkeiten, indirekt einzugreifen,
indem man die Regierungen dieser Länder dazu bringt, dass sie per Gesetz die
Frauenbeschneidung verbieten. Inzwischen ist das teilweise auch geschehen durch
Druck, vor allem wirtschaftlichen Druck. Trotzdem werden Frauenbeschneidungen
nach wie vor vorgenommen. Es gibt sogar Frauenbeschneidungen in der
Bundesrepublik Deutschland. Es gibt Ärzte, die Mädchen – allerdings unter den
notwendigen hygienischen Maßnahmen und nicht lebensgefährdent – beschneiden.
Natürlich ist das strengstens verboten, aus den Gründen, die ich bereits geschildert
habe.
Hier haben wir es mit einem negativen Paternalismus und mit einem Verstoß gegen
Menschenrechte zu tun. Es verbluten jährlich viele Frauen, die genaue Zahl ist nicht
bekannt. Andere sind lebenslang verstümmelt, sie leiden unter Schmerzen, sie
können viele Dinge, die zu unserem Leben gehören, nicht genießen, vor allem nicht
die Sexualität. Wir haben es hier also mit einem wirklich gravierenden Problem zu
tun.
Aber normalerweise, wenn es um militärische Intervention geht, die verhindern soll,
das etwas zum Nachteil einer Bevölkerung passiert, haben wir es mit Ansprüchen
der Demokratie zu tun. Die Argumente lauten: Die Demokratie in Ländern wie etwa
im Irak, in Afghanistan, auf dem Balkan, in Nordkorea, in Birma bzw. Myanmar ist
gefährdet oder verhindert oder es gibt Unrechtsregime, und man muss überlegen,
was man dagegen tun kann.
Im Fall des Irak hat man offenbar nicht lange überlegen müssen. Die Vereinigten
Staaten haben gemeinsam mit Großbritannien und einigen anderen Ländern –
glücklicherweise haben nicht alle europäischen Staaten mitgewirkt – beschlossen zu
intervenieren. Sie haben den zweiten Irak-Krieg begonnen. Was daraus geworden
ist, wissen wir inzwischen: eine ziemlich üble Geschichte, ein Unrecht wurde quasi
mit einem anderen Unrecht abgegolten bzw., Hunderttausende von Toten sind die
Folge. Die Frage ist: War das wirklich berechtigt? Das Morden setzt sich immer noch
fort. Inzwischen ist klar, dass es sich um einen Religionskrieg handelt zwischen zwei
Gruppen von Muslimen. Hat sich das in irgendeinem Sinne, der auch nur in die Nähe
der Ansprüche von Demokratie gebracht werden kann, gelohnt?
Manche mutmaßen, dass die Vereinigten Staaten vor allem ihr Interesse am
Erdölvorkommen in der Region sichern wollten. Das ist nicht ganz unwahrscheinlich,
denn man hat im Irak mit Militär interveniert, während in Nordkorea, wo die
Unterdrückung flächendeckend ist und wahrscheinlich nicht unmenschlicher als im
Irak, bisher nicht eingegriffen. Dort gibt es offensichtlich kein Öl. Nun könnte man
etwas zynisch fragen, warum wohl im Irak, aber nicht in Nordkorea interveniert wird.
Aber lassen wir das beiseite.
Es gibt weitere Beispiele: Afghanistan. Hier sind wir selbst betroffen, weil unsere
jungen Soldaten dort sterben. Ich will den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan
nicht in Frage stellen, nein, ich bin überzeugt, dass die Soldaten, nicht nur die
deutschen, genauso auch die amerikanischen, dort zum Wohle des Landes agieren.
Dennoch muss man sich fragen dürfen, welche Gründe eigentlich für diesen Einsatz
sprechen. Welche Gründe sprechen dafür, dass wir dort eine militärische Präsenz
unterhalten? Ist diese Art Paternalismus wirklich berechtigt? Dient er dem Wohle des
Volkes?
Wir werden am Schluss nochmal überlegen müssen, wie das Wohl eines Volkes
überhaupt gefördert werden kann. Es gibt andere Beispiele, die mindestens genauso
schwierig sind wie die, die ich gerade angesprochen habe. Denken Sie an den
Balkankrieg. Das war das erste problematische Beispiel einer militärischen
Intervention. Man wollte den Krieg zwischen zwei Nachbarn verhindern bzw. man
wollte die weitere Eskalation verhindern, weil ganz offensichtlich immenses Unrecht
geschehen ist von Serben an Kroaten und an muslimischen Bewohnern in der
Region und umgekehrt. Man wollte dem einen Riegel vorschieben und vor allem die
muslimische Minderheit in Serbien schützen vor Übergriffen von Serben.
Es ist bis heute eine rechtlich offene Frage, ob diese Art von militärischer Intervention
wirklich berechtigt war. Auch da, ähnlich wie im Irak, gibt es Folgeprobleme. Es
befinden sich immer noch Soldaten vor Ort. Experten sind der Ansicht, dass sich
ohne die militärische Präsenz von Staaten wie dem unsrigen das Morden fortsetzen
würde. Das Ziel der militärischen Intervention, nämlich die Herstellung
demokratischer Verhältnisse, wird also offenbar nicht erreicht.
Ein weiteres Beispiel müsste uns eigentlich die Schamröte ins Gesicht treiben: der
Völkermord in Darfur im Sudan. Nicht weniger als 400.000 Tote sind dort inzwischen
zu beklagen, die die sudanesische Regierung zu verantworten hat. 2,5 Millionen
Menschen sind bisher vertrieben worden. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen
in New York konnten sich noch nicht dazu durchringen zu intervenieren. Ein
Zusammenschluss afrikanischer Staaten hat zwar eine kleine Schutztruppe in den
Sudan geschickt, aber die ist nicht wirklich in der Lage, das Töten zu stoppen. Die
mordende Junta ist weiter aktiv, und die Soldaten der Schutztruppe sterben, weil sie
nicht ausreichend versorgt werden. Eigentlich ein Skandal, ein Skandal nicht ohne
doppelten Boden. Denn es gibt eine Nation, die bisher verhindert hat, dass der
Sicherheitsrat eine Resolution gegen den Sudan beschlossen hat, nämlich China.
Man muss annehmen, dass China Interesse an dem Öl im Sudan hat. Das ist also
eine analoge Situation zum Irak.
Wie können wir nun das Problem des Paternalismus angesichts der genannten
Beispiele lösen? Einerseits wünschte man sich im Hinblick auf den Sudan
paternalistische Intervention, um das Morden zu stoppen, denn offensichtlich wahrt
dort niemand die Interessen der Menschen. In anderen Fällen würde man gerne
rückgängig machen, was im paternalistischen Sinne, je nach dem, wie man
argumentiert, schwach oder stark paternalistisch, passiert ist. Natürlich werden die
Amerikaner sagen, das war schwach paternalistisch, denn die Mehrheit der
Bevölkerung im Irak wollte die Intervention. Die Iraker würden wahrscheinlich
argumentieren, das ist stark paternalistisch, denn von uns hat niemand die
Vereinigten Staaten gerufen – was wahrscheinlich auch so ist.
Gibt es überhaupt gute vertretbare Gründe für militärische Interventionen, also für
stark oder schwach paternalistische Handlungen von einer Völkergemeinschaft
gegenüber einer anderen? Welches Volk hat überhaupt das Recht, das Wohl eines
Volkes unabhängig von dessen eigenem Willen zu fördern? Die Völkergemeinschaft,
die Vereinten Nationen und dort vor allem der Sicherheitsrat, hat eine Art
völkerrechtliche Regelung, die sagt, wenn Völkermord geschieht, dann muss
militärisch interveniert werden. Das heißt, starker Paternalismus ist dann auf jeden
Fall vonnöten, selbst wenn die Mehrheit der Bevölkerung dagegen wäre. Gleiches gilt
bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Nun, man weiß nicht so ganz genau, was
eigentlich Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind. Mit einer Ausnahme: Die
massenhafte Ermordung von Juden, Sinthi, Roma, Kriegsgefangener usw. im
Zweiten Weltkrieg sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das ist klar. Das sind
übrigens Verbrechen, die niemals verjähren. Deswegen kann man heute auch noch
ziemlich alte Verbrecher der damaligen Zeit aburteilen. Darüber ist man sich einig. In
einem solchen Fall sind Interventionen erlaubt oder sogar geboten. Offenbar hat man
im Zweiten Weltkrieg diese Regelung noch nicht verbindlich gesehen. Die
Konzentrationslager, die unsere deutsche Geschichte für immer belasten, wurden
nicht aufgehoben, es wurde nicht interveniert.
Also was berechtigt ein Volk, bei einem anderen zu intervenieren. Man könnte auch
sagen, jedes Volk hat die Regierung, die es verdient. Das klingt verdammt zynisch.
Würde man wirklich sagen wollen, die Nordkoreaner haben ihr Regime verdient? Wie
soll denn das verstanden werden? Ist das nicht blanker Zynismus? – Ja, ich glaube
schon. So kann man das nicht stehen lassen. Heißt das dann, dort dürfte man
intervenieren? Ein bisschen langsam, bitte, so schnell geht das nicht. Das
Völkerrecht sagt ganz eindeutig, man darf nicht einfach eingreifen; auch wenn man
Beweise dafür hat, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen werden, ist
das noch kein Grund, um die Souveränität eines Landes zu ignorieren. So einfach ist
das nicht.
Vielleicht vermuten Sie, ich bin schon wieder auf dem Weg zu einer Art von Balance.
Das vermuten Sie zurecht, aber es ist nicht so leicht, diese Balance genau zu
beschreiben. Doch dazu später. Lassen Sie uns erst überlegen, ob es überhaupt
durchschlagende Gründe gibt. Ich glaube, es gibt keine besseren als die, die die
Vereinten Nationen schon als solche akzeptiert haben, nämlich Völkermord und
Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Was noch? Für schwachen Paternalismus
habe ich schon ein paar Beispiele genannt: Wenn zum Beispiel ein Tsunami mit
Tausenden von Toten ein Land heimsucht und die Regierung nicht in der Lage ist,
der Bevölkerung zu helfen, dann muss die internationale Gemeinschaft helfen. Das
ist schwach paternalistisch, das heißt, die Mittel, mit denen geholfen wird, müssen
nicht unbedingt dem Willen derer, denen geholfen wird, entsprechen.
Wir haben aber mehr Beispiele von starkem Paternalismus diskutiert, mit
militärischer Intervention. Gibt es nicht eine Art von Ungleichheit zwischen
demokratischen und nicht-demokratischen Staaten? Wir haben ja die interessante
Situation, dass niemand die Volksrepublik China international kritisiert, weil zum
Beispiel in Tibet, Zhejiang oder in anderen Teilen dieses Riesenreiches
Menschenrechte unterdrückt werden. Das ist doch eigentlich merkwürdig, dass wir im
Westen nicht die Moralkeule schwingen und sagen, wir machen mit Euch keine
Geschäfte mehr, bis Ihr nicht die Rechte der Menschen in Tibet und Zhejiang
respektiert. Die Chinesen sagen nämlich folgendes: „Was ihr unter Menschenrechten
versteht, ist nicht das gleiche wie das, was wir unter Menschenrechten verstehen.
Und dazu haben wir das Recht.“
Wir haben es also mit einem kulturellen Relativismus zu tun. Relativismus ist zwar für
viele ein Schimpfwort, aber es ist nicht in jedem Fall etwas Schlechtes. Kulturelle
Relativität ist eine ganz klare Sache, man trägt halt nicht überall auf der Welt
Lederhosen. Es gibt also Relativitäten, die völlig in Ordnung sind. Aber gibt es bei
Menschenrechten tatsächlich Relativismus? Wenn es das gäbe, wenn also die
chinesischen Argumente stimmen würden, wenn sie sagen würden, was in Tibet
passiert ist kein Menschenrechtsverstoß, sondern die Menschenrechte werden dort
bewahrt nach dem Motto, die Tibetaner werden davor bewahrt – zu ihrem Wohle
natürlich – , dass sie einen Fehler machen und zum Beispiel das chinesische Reich
verlassen. Nein, so kann man nicht argumentieren. Menschenrechte sind
Menschenrechte, da gibt es nichts zu relativieren.
Aber ist das ausreichend Grund, um die Souveränität zu verletzen? Ähnlich bei der
Frauenbeschneidung. Da gibt es keine Relativität , das ist nicht so etwas wie
Lederhosen tragen. Es werden Menschenrechte verletzt, also kann man das nicht
einfach ignorieren. Und wenn man mit Staaten, in denen Menschenrechte nicht
respektiert werden, Geschäfte macht, begeht man selber einen schweren Fehler,
zumindest in moralischer Hinsicht, rechtlich kann man das natürlich niemandem
ankreiden.
Lassen Sie uns auf die Balance zu sprechen kommen. Ähnlich wie bei der
paternalistischen Situation zwischen Arzt und Patient haben wir es hier mit einer
Situation zu tun, in der es eigentlich, wie zum Beispiel im Irak, nicht wirklich sinnvoll
ist zu ignorieren, was die Menschen selbst, denen man doch so gerne etwas zu
ihrem eigenen Wohl angedeihen lassen würde, wollen. Wenn man die Souveränität
eines Volkes nicht wirklich achtet, auch wenn es schwer fällt, kann man wohl kaum
annehmen, dass man irgendwann einmal mit diesem Volk ein gleichgestelltes
Verhältnis haben wird. Wir müssen doch davon ausgehen, ähnlich wie wir das im
Hinblick auf die kolonialisierten Völker gelernt haben, dass es eigentlich besser
gewesen wäre, man hätte sie nicht kolonialisiert, sondern ihnen die Chance
gegeben, sich langsam selber auf das Niveau der Moderne zu entwickeln – wenn sie
das gewollt hätten. Man hätte ihnen also eigentlich die Möglichkeit geben sollen zu
tun, was sie selbst wollen. Nicht überall, wo interveniert wurde und vielleicht werden
wird, ist die Gefahr für die Menschen so groß, dass man wirklich berechtigt
interveniert. Ist es nicht ein höheres Gut, erst einmal nach dem Willen der Menschen
zu fragen, nach Möglichkeiten zu suchen, wie sie selbst aus einem Unrechtssystem
herauskommen können. Geht es den Irakern heute wirklich besser als vor dem
ersten oder zweiten Krieg? Der erste wurde wegen des Einmarschs der Iraker in
Kuwait begonnen, und ein Angriffskrieg ist auch ein berechtigter Grund für eine
Intervention. Der zweite Krieg gehört aber nicht dazu. Geht es den Irakern besser?
Wir hoffen es jedenfalls, immerhin gibt es jetzt eine gewählte Regierung. Aber ist
diese Regierung in der Lage, die Menschen zu schützen und ihnen zu helfen?
Die Balance, die ich meine, bedeutet, dass wir lernen müssen, andere Staaten auch
dann zu achten, wenn in ihnen nicht alles genauso zugeht wie bei uns. Wir dürfen
nicht die großen Rechthaber sein. Wenn wir das nämlich wären, würden wir uns und
unsere eigene Position in Frage stellen. Wir können nur vertrauensvoll mit einem
anderen Staat kooperieren, wir können nur den Respekt des anderen Staates
erwarten, wenn wir selbst ihm Respekt zollen.
Der Liberalismus hat da also zwei Gesichter. Das eine ist, man versucht, die
Demokratie durchzusetzen, andere von etwas zu befreien, von denen man gar nicht
so genau weiß, ob sie überhaupt befreit werden wollen. Auf der anderen Seite gibt es
den Liberalismus, der sagt, was da passiert, ist mir völlig egal, wir machen unser
eigenes Ding und vor allem machen wir Geschäfte.
Man muss also die Balance finden, Menschenrechte anerkennen sowohl im eigenen
Land als auch in anderen, und man muss überlegen, was man tun kann, um anderen
zu helfen. Und trotzdem – und das ist die Balance, die gefordert ist – muss man die
Souveränität des anderen Landes achten. Auch natürlich die fremde Kultur, die
andere Religion. International gibt es eben keine Gleichheit, es gibt nur
Unterschiede, und die machen es uns so schwer, Interventionen nicht zu wollen. Wir
wollen doch so gerne, dass alle genauso glücklich sind wie wir. Und das ist genau
der Kern: Wir sollten erst einmal lernen, mit anderen Völkern auf der Basis
wechselseitiger Achtung umzugehen. Dann können wir die Probleme, die unter dem
Stichwort Paternalismus genannt werden können, vielleicht lösen.
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