PD Dr. Dirk Solte: Auf der Suche nach der Balance. Die Weltfinanzkrise als Chance
solte-weltfinanzchance
SWR2 AULA –
Autor und Sprecher: PD Dr. Dirk Solte *
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
Sendung: Sonntag, 3. Oktober 2010, 8.30 Uhr, SWR 2
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ÜBERBLICK
Wie stabilisiert man dauerhaft ein Wirtschaftssystem?
Was ein gesunder Geist für einen gesunden Körper ist, das ist ein gut funktionierendes Finanzsystem für die Wirtschaft. Allerdings kränkelt dieses System und scheint kurz vor dem Kollaps zu stehen, siehe die Krise des Weltfinanzsystems. Doch was muss man tun, um die Krise zu überwinden und sich in Zukunft besser zu wappnen? Wie soll konkret eine globale Geld- und auch Steuerpolitik aussehen? Antworten gibt der Betriebswirtschaftler Dr. Dirk Solte vom Forschungsinstitut für anwendungsorientierte Wissensverarbeitung in Ulm.
* Zum Autor:
PD Dr. Dirk Solte, geb. 1960, ist Promovierter Wirtschaftsingenieur und Stellvertreter des Vorstands am Forschungsinstitut für anwendungsorientierte Wissensverarbeitung / n, Ulm, gleichzeitig Privatdozent an der Universität St. Gallen (HSG), Habilitation in Betriebswirtschaftslehre, Chefökonom des BWA-Bundesverbandes für Wirtschaftsförderung und Außenwirtschaft und Leiter der Kommission Steuern und Finanzmarkt. Sein immer noch aktuelles Schwerpunktthema ist das Weltfinanzsystem, das sich in den letzten Jahren durch Deregulierung und technologischen Fortschritt im Bereich Informations- und Kommunikationstechnologien signifikant geändert hat. Das Ziel ist ein systemisches Verständnis der Ablaufstrukturen und die Identifikation relevanter Akteure und Regelsetzungen. Vor diesem Hintergrund werden Problempunkte aufgedeckt und Erklärungs- und Lösungsansätze entwickelt.
Bücher:
Das Kartenhaus Weltfinanzsystem. Rückblick – Analyse – Ausblick. (zus. mit Wolfgang Eichhorn. Fischer Taschenbuchverlag. 2009.
Weltfinanzsystem in Balance – Die Krise als Chance für eine nachhaltige Zukunft. Terra-Media. 2009.
Weltfinanzsystem am Limit – Einblicke in den „Heiligen Gral“ der Globalisierung. Terra-Media. 2007.
INHALT
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Ansage:
Mit dem Thema: „Auf der Suche nach der Balance – Die Weltfinanzkrise, Ursachen und Problemlösungen“.
Was ein gesunder Geist für einen gesunden Körper ist, das ist ein gut funktionierendes Finanzsystem für die Wirtschaft. Allerdings: Dieses System ist aus dem Gleichgewicht geraten – siehe die Finanzkrise –, erst gab es den Kollaps der Banken, dann den der Länder. Zuerst kam Griechenland, jetzt fürchtet man, dass Portugal folgen könnte. Was ist los auf dem globalen Finanz- und Wirtschaftssektor, wie kann man die Probleme in den Griff bekommen? Diese Fragen beantwortet Dirk
Solte. Er ist promovierter Wirtschaftsingenieur und arbeitet am Forschungsinstitut für anwendungsorientierte Wissensverarbeitung in Ulm. In der SWR2 AULA erklärt er Schritt für Schritt, wie das Geldsystem funktioniert, warum es aus dem Gleichgewicht geraten ist, warum eine Lösung nur dann sinnvoll ist, wenn es auch um Nachhaltigkeit geht.
Dirk Solte:
Wenn man die Abläufe verstehen will, die zu der gegenwärtig durchlebten Krise des Weltfinanzsystems geführt haben, mit ihren Auswirkungen auf die Gesellschaft und die Wirtschaft, also die so genannte Ökonomie, muss man zuerst den Grundbegriff des Weltfinanzsystems genau verstehen. Dieser Begriff ist: Geld. Was ist Geld eigentlich? Gibt es nur eine Form von Geld oder gibt es viele Formen von Geld? Leiht man sich bei einem Kredit wirklich Geld, das jemand anderes gespart hat? Und wie hängt das Geld mit der Wirtschaft zusammen, also mit der Produktion und dem Handeln von Waren und Dienst-leistungen?
Weil wir täglich mit Geld zu tun haben, meinen wir, wir wissen genug darüber Bescheid. Aber manch einer wird verblüfft sein, wenn man den Begriff Geld einmal genau hinter-fragt. Und das wollen wir tun:
Stellen Sie sich dazu vor, Sie wären eine Bäckerin oder ein Bäcker, die Brötchen und Kuchen backen kann. Sie leisten eine Wertschöpfung, Sie produzieren Backwaren. Ich komme zu Ihrem Geschäft und möchte ein Stück Kuchen von Ihnen haben und gebe Ihnen dafür im Tausch einen Euro. Wir sagen: Ich kaufe bei Ihnen ein Stück Kuchen für einen Euro. Der Euro ist das Geld, das wir alle kennen. Es ist das so genannte gesetzliche Zahlungsmittel, das durch die europäische Zentralbank in Umlauf gebracht wird. Es ist Zentralbankgeld. Warum akzeptieren Sie eigentlich dieses Geld, diesen Euro, als Zahlungsmittel für die von Ihnen mühsam erbrachte Wertschöpfung, das Stück Kuchen? Sie werden sicherlich sagen, weil Sie sich ja dafür wieder etwas anderes kaufen können, dann, wenn Sie es brauchen, also zu einem späteren Zeitpunkt. Sie gehen also davon aus, dass Sie für den Euro, den Sie bekommen haben, später einmal im Tausch eine Wertschöpfung bekommen, die Sie brauchen. Das ist das, was Sie sich vom Besitz des Euros versprechen. Dass nämlich der Euro so etwas ist wie ein Wertschöpfungsgutschein, den Sie bei Bedarf in der Zukunft bei jemand anderem einlösen können. Besonders wichtig ist es festzuhalten: Sie versprechen sich das, niemand anderes! Und Sie gehen dabei davon aus, dass alle anderen genauso denken wie Sie und dass deshalb auch alle anderen jetzt und zukünftig bereit sein werden, dieses Geld als Zahlungsmittel im Tausch gegen Waren und Dienstleistungen, also geleistete Wertschöpfung, zu akzeptieren. Das ist das Prinzip von Treu und Glauben, der Grundlage unseres Geldsystems. Solange dieses Prinzip funktioniert, kann das Geld als Zahlungsmittel in der Ökonomie fließen und von Hand zu Hand wandern. Dabei wandert Wertschöpfung genau entgegengesetzt von Hand zu Hand. Ich kaufe mir bei Ihnen den Kuchen, der Kuchen wandert von Ihnen zu mir, das Geld wandert von mir zu Ihnen. Sie kaufen sich dafür vielleicht Mehl, Butter, Zucker, also alle Zutaten, die Sie für Ihre leckeren Kuchen brauchen. Die Zutaten wandern dann zu Ihnen, das Geld wandert dorthin, wo Sie sich die Zutaten besorgen. Das Geld ist dabei für mich ein „Kuchengutschein“ und für Sie ein „Zutatengutschein“.
Ganz allgemein können wir festhalten: Geld ist ein Wertschöpfungsgutschein. Solan-ge ich das Geld in meinem Besitz halte, verzichte ich auf Wertschöpfung, um später im Tausch gegen das Geld eine Wertschöpfung zu bekommen. Diese Wertschöpfung muss dann, also in der Zukunft, geleistet werden. Geld steht für eine Wertschöpfungslücke, ein Wertschöpfungsversprechen. Das Geld, das wir hier betrachtet haben, war gesetzliches Zahlungsmittel, das ausschließlich die Europäische Zentralbank in den Umlauf bringen kann.
Was ist jetzt ein Kredit? Dafür überlegen wir uns einmal, wie Sie als Bäcker überhaupt den ersten Kuchen backen können, also bevor ich ein Stück Kuchen kaufe. Sie haben ja dann noch nicht das Geld von mir, um Zutaten zu kaufen. Sie müssten also zu Ihrem Lieferanten gehen und sagen: „Ich möchte heute Mehl, Eier und Zucker kaufen, bezahle aber erst in der Zukunft.“ Sie kaufen „auf Pump“, sie lassen anschreiben. Sie kaufen also ein, ohne überhaupt Geld zu haben. Stattdessen bezahlen Sie mit einem Schuldschein, einem Versprechen, in der Zukunft Zahlungsmittel zu liefern, welche Sie zum Zeitpunkt, an dem Sie die Zutaten kaufen, noch nicht haben. Sie bezahlen die Zutaten also statt mit Euros mit einem Geldgutschein, mit einem Versprechen auf Euros in der Zukunft. Diesmal ist das aber ein Versprechen, das Sie gegenüber ihrem Lieferanten abgeben. Das ist ein Kreditgeschäft. Der Lieferant gewährt Ihnen einen Kredit. Wichtig dabei ist festzustellen: Der Lieferant leiht Ihnen kein Geld, sondern er verzichtet für einen gewissen Zeitraum auf Geld. Für diesen Zeitraum möchte er vielleicht Zinsen haben, weil er ja erst später über das Geld verfügen kann, nämlich dann, wenn Sie Ihre Verpflichtung einlösen und ihm Euros geben. Bis dahin gibt es diesen Schuldschein, den der Lieferant bei diesem Geschäft als „so gut wie Geld“ akzeptiert hat. Der Schuldschein, der den Kredit „verbrieft“ wird „so gut wie Geld“ als Zahlungsmittel verwendet. Der Kredit ist Geld.
Was ist nun, wenn der Lieferant keine Geschäfte akzeptiert, bei denen er anschreibt, also Kredit gewährt? Dann müssen Sie sich vorher das Geld besorgen, das gesetzliche Zahlungsmittel, welches der Lieferant bereit ist, im Tausch gegen Mehl, Zucker, Eier usw. anzunehmen. Natürlich könnten Sie auch mich fragen, ob ich Ihnen das benötigte Geld leihe, indem Sie mir einen Schuldschein geben und ich Ihnen dafür das Geld. Dann hätte ich zwar von Ihnen einen Schuldschein, also einen Geldgutschein, aber kein Geld mehr. Sie würden mir möglicherweise noch im Tausch gegen den selbst ausgestellten Geldgutschein Kuchen verkaufen. Kann ich aber mit dem Geldgutschein von Ihnen auch irgendwo anders etwas bekommen? Wenn nicht, müsste ich ja zunächst versuchen, mir gesetzliches Zahlungsmittel zu besorgen, damit ich etwas kaufen kann. Das wäre natürlich alles ziemlich kompliziert, aufwändig und langwierig und deshalb wäre es doch nicht schlecht, wenn es Geldgutscheine gäbe, die „genauso gut wie Zentralbankgeld“ von möglichst Vielen akzeptiert würden. Diese Geldgutscheine gibt es. Bei wem? Bei den Kreditbanken. Zum Beispiel in Form eines Kontos.
Was bedeutet es, ein Guthaben auf dem Konto zu haben? Das bedeutet Folgendes: Wenn der Kontoinhaber Geld benötigt, wenn er gesetzliches Zahlungsmittel beispielsweise in Form von Bargeld benötigt, kann er zu seiner Bank gehen und dieses Geld von seinem Konto abheben. Das Konto ist also ein Geldgutschein. Wenn man Bargeld auf sein Konto einzahlt, gewährt man seiner Bank einen Kredit, denn man verzichtet ja bis zu einem späteren Zeitpunkt auf das Geld. Man bekommt für diesen Verzicht nur sehr wenig Zinsen, weil man von einem Girokonto letztlich jederzeit das Geld abheben kann. Dieser Kredit ist jederzeit kündbar. Wenn man mehr Zinsen haben will, muss man für einen längeren Zeitraum bereit sein auf seine Euros zu verzichten. Solche Kredite haben dann Bezeichnungen wie Sparguthaben, Sparbriefe, Tagesgeld etc.
Wir halten zunächst fest: Gesetzliches Zahlungsmittel, unsere Euros, sind Wertschöpfungsgutscheine. Es gibt zudem viele Geldgutscheine, die „so gut wie Geld“ benutzt wer-den können, zum Beispiel Guthaben auf einem Bankkonto. Wir nennen alle Ansprüche auf Geld - alle Geldgutscheine - zur Abgrenzung gegenüber dem Geld der Zentralban-ken, dem alleinigen gesetzlichen Zahlungsmittel, Schwellgeld. Schwellgeld ist letztlich auch ein Wertschöpfungsgutschein. Geld und Schwellgeld stellen – nebst Zinsen – eine Wertschöpfungslücke dar. Beides sind Wertschöpfungsversprechen.
Jetzt zur Frage: Leiht Ihnen eigentlich bei einem Kreditgeschäft Ihre Bank Geld, das je-mand anderes gespart hat? Nun, das kann sein, aber sicherlich nicht in jedem Fall, denn im Jahr 2007 war beispielsweise das Gesamtvolumen an neuen Krediten auf dieser Welt mehr als siebenmal so groß wie das, was auf der gesamten Welt gespart wurde.
Es muss also noch eine andere Möglichkeit geben, einen Kredit zu gewähren. Eine Möglichkeit ist: Das Kaufen auf Pump. Da kauft man sich etwas und bezahlt mit einem Schuldschein. Das kann man jetzt auch auf das Kreditgeschäft mit der Bank anwenden. Als Bankkunde, der einen Kredit aufnimmt, kaufen Sie sich mit einem Schuldschein, das ist Ihr Kreditvertrag, eine Kontogutschrift bei Ihrer Bank. Was haben Sie sich damit gekauft? Ihr Guthaben auf Ihrem Konto ist ja ein Kredit, den Sie Ihrer Bank gewähren. Sie kaufen sich also mit einem eigenen Schuldschein einen Schuldschein Ihrer Bank. Es werden hier gleichzeitig zwei Kredite gewährt. Die Bank gewährt Ihnen einen Kredit und Sie gewähren Ihrer Bank gleichzeitig einen Kredit. So entstehen also zweimal Geldgutscheine, ohne dass irgendjemand zuvor Geld gespart hätte. Anstatt sich also Geld zu leihen, das zuvor von jemand anderem gespart wurde, haben Sie bei der Bank auf Pump ein neu geschaffenes Finanzprodukt gekauft. Das Finanzprodukt ist in diesem Fall das Konto. Ihre Bank hat ein Finanzprodukt, neues Schwellgeld erschaffen – das Guthaben auf dem Konto -, das sie Ihnen gegen einen Schuldschein – also einen Geldgutschein, ebenfalls neues Schwellgeld – überlassen hat. Und das Finanzprodukt war auch ein Geldgutschein. Es gibt noch viele andere Finanzprodukte, die letztlich alle Geldgutscheine, also Schwellgeld sind. Sparkonten, Bankschuldverschreibungen oder auch Lebensversicherungen sind letztlich nichts anderes als Versprechen zukünftiger Geldleistungen, also auch Geldgutscheine, für die Sie gewissermaßen Ratenzahlung, das heißt monatliche Beiträge, verabredet haben.
Man ahnt jetzt vielleicht schon, welches Problem sich entwickelt hat, indem gegenüber dem Kern des Geldsystems, dem Zentralbankgeld, dem gesetzlichen Zahlungsmittel, immer mehr und mehr Finanzprodukte, also Geldgutscheine oder wie wir es nennen: „Schwellgeld“, immer mehr an Schuldverschreibungen, an Krediten und so weiter, entstanden sind. Das Schwellgeld, diese Eurogutscheine, sind ein Vielfaches der verfügbaren Euros, diesem Geld im engsten Sinne. Was passiert, wenn keiner mehr die Geldgutscheine, die Finanzprodukte, also dieses gesamte Schwellgeld, für „so gut wie Geld“ erachtet und stattdessen immer nur gesetzliches Zahlungsmittel haben will? Wenn jeder nur noch Euros als die besondere Form eines Wertschöpfungsgutscheins haben will? Wobei selbst Euros noch mit der Unsicherheit behaftet sind, dass man nur dann Wertschöpfung dafür bekommt, wenn das Vertrauen in das gesetzliche Zahlungsmittel nicht gestört ist.
Wie viel mehr Schwellgeld als Zentralbankgeld gab es nun zu Beginn der Krise? Auf einen Euro gesetzliches Zahlungsmittel kamen durchschnittlich 53,5 Schuldscheine, die einen Euro versprechen. Eine Relation von 53,5:1! Oder, um in ganzen Zahlen zu reden: 107:2. Was passieren kann, wenn diese Schuldscheine, diese Geldversprechen, dieses Schwellgeld, nicht mehr als „so gut wie Geld“ erachtet wird, kann man bildhaft mit dem Spiel „Die Reise nach Jerusalem“ erklären. Das ist das Spiel, bei dem ein Stuhl weniger aufgestellt ist als Kinder bei lustiger Musik darum herum tanzen, und bei dem, sobald die Musik aufhört zu spielen, alle versuchen müssen, sich zu setzen. Das eine Kind, das keinen Stuhl erwischt, muss ein Pfand abgeben. Bei einem Verhältnis Schwellgeld zu Zentralbankengeld von 107:2 tanzen bei dem „Spiel der Spiele“, der „Reise nach Jerusalem“ im Weltfinanzsystem, 100 Kinder und sieben Gorilla um gerade einmal zwei Stühle. Solange das Schwellgeld für „so gut wie Geld“ erachtet wird, spielt die Musik und alle tanzen fröhlich um die Stühle. Hört die Musik auf zu spielen, müssen alle, die sich nicht schnell genug setzen konnten, Pfänder abgeben. Dazu kann es immer dann kommen, wenn eine Kreditlaufzeit endet, der Schuldner kein Zentralbankgeld hat und der Kredit nicht verlängert wird, der Gläubiger also auf Auszahlung von Zentralbankgeld besteht. Solange der Schuldner dann noch Vermögenswerte hat, muss er diese veräußern, um nicht zahlungsunfähig – bankrott – zu sein. Die Frage ist dann aber: Wie viel Kaufkraft ist in den Märkten, wenn die Musik nicht mehr spielt? Oder andersherum gefragt: Wie viel Bereitschaft gibt es, einen Stuhl, den man ergattert hat, abzugeben und was verlangt man dafür? Es kommt zu den so genannten Fire Sales, zu Notverkäufen, zu Verkäufen von Vermögen weit unter Preis. Dabei brechen sogar die Bewertungen von ganzen Unternehmen ein. An den Börsen geht es abwärts. Die Preise von Häusern und Immobilien fallen massiv. Als sich das Problem der Kreditverlängerung bei Griechenland abzeichnete, wurde der Regierung sogar vorgeschlagen, Inseln zu verkaufen. Griechenland sollte also attraktive Inseln als Pfänder abgeben.
Der Kern dieses Problems, das zur Umverteilung von Sachwerten „weit unter Preis“ führt, ist der fehlende Umlauf von Zentralbankgeld. Wenn dieses spezielle Geld, das gesetzliche Zahlungsmittel, gehortet wird, trocknen die Märkte aus. Selbst als die Zentralbank mehr und mehr gesetzliches Zahlungsmittel in die Märkte pumpte, wurde dies gehortet. Die Banken gewährten sich gegenseitig keine Kredite mehr, der so genannte Interbankenmarkt kam zum erliegen. Die Folge: Werte wurden und werden immer noch weit unter Preis umverteilt. Denn in einer Situation, in der es sehr viel mehr Wertschöpfungsversprechen gibt als Wertschöpfung geleistet werden kann, ist es natürlich viel besser Sachwerte, Produktivvermögen oder Rohstoffe anstatt Wertschöpfungsgutscheine - also Geld - zu besitzen. Es sind die interessanten Sachvermögen, die in der Krise als Pfand über Notverkäufe weit unter Preis abgegeben werden müssen. So kommt es zu einem gigantischen Prozess der Umverteilung. Will man diesen Prozess kurzfristig stoppen, muss man den Umlauf von Zentralbankgeld insbesondere zwischen den Finanzinstituten sicherstellen. Das klappt aber nicht so, wie man dies bisher versucht hat, indem die Zentralbank immer mehr gesetzliches Zahlungsmittel in die Märke pumpt, denn das wird zunächst auch noch gehortet. Man müsste das Horten von Zentralbankgeld, von die-sem Geld höchster Liquidität, unterbinden. Technisch, das heißt mittels Regulierung, könnte man dies über die Festlegung einer so genannten Maximalreservebegrenzung bei Finanzinstituten erreichen. Gehortetes Zentralbankgeld oberhalb einer festgelegten Maximalreserve müsste in einen speziellen Liquiditätstopf eingezahlt werden. Dann würde kurzfristig die Musik wieder spielen, das Problem der Überschuldung wäre damit aber natürlich noch nicht gelöst.
Was ist mit Überschuldung gemeint? Hier sind zwei Aspekte zu betrachten. Der erste Aspekt betrifft die Frage: Welche Absicherung, also welche Haftung gibt es für die ganzen ausgestellten Geldgutscheine? Wieweit ist das Schwellgeld abgesichert, also alle aufgenommenen Kredite, alle Verbindlichkeiten, alle Schulden des Gesamtsystems? Das ist die Frage des haftenden Eigenkapitals.
Der zweite Aspekt betrifft die Frage: Welche Chance gibt es, dass die Schulden in der Zukunft zurückgezahlt werden können? Das ist die Frage der Wertschöpfungsfähigkeit, also ob die Schuldner jemals in der Lage sein werden, die versprochene zusätzliche Wertschöpfung in der Zukunft tatsächlich auch zu leisten.
In Bezug auf die erste Frage, also das haftende Eigenkapital, gibt es gesetzliche Regelungen, insbesondere für Kreditbanken. Das sind die so genannten Eigenkapitalregeln der Verabredungen von Basel / Basel II und zukünftige Basel III. Diese Regeln schreiben den Banken vor, wie viel Eigenkapital sie mindestens vorhalten müssen. Hier wird ein gewisser Prozentsatz vom Volumen aller gewährten Kredite verlangt. Prinzipiell wird darüber ein gewisser Anteil von gespartem Geld verlangt, das im Rahmen von Krediten weiter gereicht wird. Es ist das Geld, das die Bank gespart haben muss oder deren Eigentümer, welche es durch den Kauf neu ausgegebener Aktien als so genanntes haftendes Eigenkapital in die Bank eingelegt haben. Der Rest der gesamten Kreditgewährung wird durch neu geschöpftes Schwellgeld der Bank aufgefüllt, durch selbst erstellte Schuldverschreibungen. Das Verhältnis zwischen Eigenkapital und allen gewährten Krediten nennt man Hebel. Die Kreditgeschäfte der Geschäftsbanken sind Hebelgeschäfte.
Bildlich gesprochen stellen alle Formen von Schwellgeld die Spielkarten dar, aus denen das Kartenhaus Weltfinanzsystem auf dem Fundament von Eigenkapital als den haftenden Säulen des Systems aufgebaut ist. Mit einem stabilen Fundament kann das Karten-haus vergleichsweise stabil stehen. Ein wackliges Fundament kann zum Desaster führen. Deshalb darf das Kartenhaus nur dann weiter aufgetürmt werden, wenn das Fundament vorher entsprechend verbreitert wird, wenn also mehr Säulen aufgebaut werden. Nur mit mehr haftendem Eigenkapital, so sagt es das Gesetz, darf mehr Schwellgeld ins Spiel kommen.
In den sieben Jahren vor der Krise hat sich das Schwellgeldvolumen verdoppelt. In nur sieben Jahren von 2001 bis 2007 wurden mehr als 100.000 Milliarden Dollar an neuen Krediten gewährt. Das Kartenhaus Weltfinanzsystem hat sich auf eine Gesamtgröße von mehr als 200.000 Milliarden Dollar verdoppelt, hat sich also auf mehr als das Vierfache des Weltbruttoinlandsprodukts, der gesamten weltweiten Produktion von Waren und Dienstleistungen eines Jahres, vergrößert. Es gibt also mehr als viermal so viele Versprechen auf zukünftige Wertschöpfung als die gesamte Welt in einem Jahr leis-ten kann.
Und das Fundament? Hat sich das Eigenkapital entsprechend vergrößert? Sind mehrere Säulen hinzugekommen? Mitnichten! Hier wurde stattdessen „gestaltet“. Das Fundament wurde quasi mit Säulengutscheinen verbreitert, mit Buchgewinnen, mit Wertschöpfung aus der Zukunft, die man sich selbst verspricht, von der man nicht wissen konnte, ob es sie jemals geben würde. Die Frage ist: Wie konnte das geschehen? Und damit kommt man zu dem, was ich als die allerschlimmste Massenvernichtungswaffe im Weltfinanzsystem ansehe. Das sind nicht die Derivate, sondern die internationalen Bewer-tungsstandards für so genannte Fair Values, die man beispielsweise bei der Bewertung von Vermögen verwendet.
Die Problematik des Fair Value, die der großen Vermögensillusion zugrunde liegt, kann man sich vielleicht wie folgt veranschaulichen: Stellen Sie sich einmal vor, eine Bank würde als haftendes Eigenkapital eine große Wiese besitzen, auf der Unmengen von Gänseblümchen wachsen. Die Wiese konnte die Bank sehr günstig erwerben, da sie als Baugrund ungeeignet ist. Bezahlt wurde mit Geld, das der Eigentümer der Bank eingebracht hat, also nicht sehr viel. Die Wiese ist das haftende Eigenkapital der Bank. Die Wiese bewertet die Bank jedoch jetzt nach Fair Value und zwar gemäß dem Prinzip der Ertragswertmethode. Man betrachtet dabei, wie viel Einkommen sich mit dem Besitz der Wiese vermutlich erzielen lässt.
Zur Veranschaulichung werden wir jetzt maßlos übertreiben und den Markt für Gänseblümchen so darstellen, dass Großväter ihren Enkeln, die ihnen ein Gänseblümchen anbieten, dafür zehn Euro zahlen. In diesem Markt ist offensichtlich ein Gänseblümchen zehn Euro wert und das übertragen wir jetzt auf unsere Gänseblümchenwiese. Wir stellen uns dabei lieber nicht die Frage, wie sich der Marktpreis für Gänseblümchen verändern würde, wenn wir die verfügbaren Unmengen von Gänseblümchen am Markt tatsächlich anbieten würden, denn wir wollen uns gezielt der Vermögensillusion hingeben. Die Wiese ist bei dieser Betrachtung viel mehr wert als zuvor. Denn wir berechnen den Wert der Wiese aus den jährlich erhofften Einnahmen durch den Verkauf zig-tausender Gänseblümchen zum Preis von zehn Euro pro Blümchen. Die Bank macht so einen Buchgewinn in der Höhe, der sich aus dem angenommenen Wertzuwachs der Wiese ergibt. Man verspricht sich also in der Zukunft Geld oder Wertschöpfung, ohne dass sich aber jemand anderes verpflichtet hat, diese zu erbringen. Schon gar nicht hat jemand dies als haftendes Eigenkapital versprochen. Buchgewinne verspricht man sich zunächst einmal nur selbst, es sind Eigenkapitalgutscheine, die niemand ausgestellt hat.
Die unterschiedlichen Steuergesetzgebungen der verschiedenen Staaten dieser Welt las-sen es sogar zu, solche Buchgewinne dort ertragswirksam werden zu lassen, wo die Steuerabgaben minimal sind und dann ohne weitere Steuerzahlungen dorthin zu bringen, wo sie ohne weitere Versteuerung ausgeschüttet werden können. Das tatsächlich vorher vorhandene Eigenkapital wird so durch einen Eigenkapitalgutschein ersetzt, den man sich selbst verspricht. Wird solch ein Buchgewinn nicht ausgeschüttet, kann er die anrechenbare Eigenkapitalbasis der Bank vergrößern. Es ist dann aber wie gesagt nur eine Art Eigenkapitalgutschein. Das Fundament wird nicht um eine Säule, sondern um einen Säulengutschein erweitert.
Wenn wir uns das Fundament unseres Kartenhauses Weltfinanzsystem durch die Fair Value-Brille ansehen, sehen wir eine ganze Menge von Eigenkapitalsäulen, die zwar durch die Fair Value-Brille betrachtet aussehen wie Säulen, aber nicht wirklich stabile Säulen sind, obwohl manche von ihnen früher einmal Säulen gewesen sein mögen. Durch die Fair Value-Brille betrachtet ist das Fundament breiter geworden, das Kartenhaus konnte wachsen. Es steht aber nur noch auf zukünftig erhofften Säulen. Ein Mathematiker würde die bedrohliche Situation der zu befürchtenden negativen Eigenkapitalbasis so beschreiben: Für das Kartenhaus Weltfinanzsystem wurde vor wenigen Jahrzehnten das Fundament mit einer Säule gelegt. Seitdem wurden fünf Säulen abgebaut und verteilt. Erst wenn jetzt vier neue Säulen hinzukommen, ist keine mehr da.
So wichtig also die international diskutierte Frage einer vernünftigen Relation zwischen der Größe des Kartenhauses, also dem Volumen an Schwellgeld, und dem haftenden Eigenkapital auch sein mag, von weitaus größerer Wichtigkeit ist die Frage der Qualität und tatsächlichen Wertigkeit des haftenden Eigenkapitals. Hierfür bedarf es eines vernünftigen internationalen Bewertungsstandards, der für alle Teilnehmer der Wirtschaft, und nicht allein für Banken beziehungsweise Kreditinstitute, verbindlich ist.
Dann stellt sich natürlich noch die Frage, auf welchem Weg das Kartenhaus des Weltfinanzsystems wieder in eine stabile Balance gebracht werden kann.
Ein entscheidender Punkt hierbei ist die Frage, wie die Gesamtverschuldung der Welt in Relation zur Wertschöpfungsfähigkeit zurückgefahren werden kann. Schwellgeld, also die Gesamtverschuldung einschließlich der verabredeten Zinszahlungen, ist ja nichts anderes als eine versprochene zusätzliche Wertschöpfung in der Zukunft, also zunächst einmal eine Wertschöpfungslücke. Diese Wertschöpfungslücke ist seit vierzig Jahren Jahr für Jahr schneller gewachsen als die Wertschöpfungsfähigkeit, also die Menge aller global produzierten Waren und Dienstleistungen in einem Jahr, dem so genannten Weltbruttoinlandsprodukt. Seit vierzig Jahren wächst die Verschuldung der Welt schneller als die Wertschöpfungsleistung. Das kann so nicht weitergehen, denn es käme unweigerlich zu einer Bankrott-Situation.
Ein möglicher Weg der Entschuldung wäre eine Entwertung der Schulden über Inflation oder über einen Währungsschnitt. Geld und Schwellgeld würden entwertet. Das würde dann aber bedeuten, dass auch jemand sein Vermögen verliert, denn Schwellgeld ist ja nicht nur eine Schuld desjenigen, der das Versprechen einer zukünftigen Leistung abgegeben hat, sondern auch das Vermögen desjenigen, der die Schuld eines anderen als Kapital angespart hat. Neben den Reichen dieser Welt ist dies insbesondere auch die so genannte Mittelschicht; Menschen, die beispielsweise über Renten- und Pensionskassen, Fondssparpläne und vieles andere mehr, Ansprüche auf Wertschöpfung in der Zukunft angespart haben, um damit ihren letzten Lebensabschnitt zu gestalten. Aber auch Kirchen, Stiftungen und andere halten Schwellgeld als Vermögen. Inflation oder ein Währungsschnitt würde solche Vermögen entwerten. Es käme zu einer „Brasilianisierung“ der Welt, zu einer globalen Feudalgesellschaft. Einer kleinen Elite und einer abschmelzenden Mittelschicht stünden sehr viele arme Menschen gegenüber. Dies kann offensichtlich keine wünschenswerte Zukunft sein. Soziale Spannungen bis hin zum Kollaps wären vorprogrammiert.
Was wäre die Alternative? Die Alternative wäre ein sanftes Deleveraging. Ein kontrollierter Schuldenabbau. Das bedeutet: Auf einem vermutlich etwas länger dauernden Weg ist die Verschuldung abzubauen. Zum einen müssen dafür die Möglichkeiten für spekulative Hebelgeschäfte eingedämmt werden, wie beispielsweise Firmenübernahmen auf Pump. Zum anderen müssen die Grundlagen dafür geschaffen werden, dass man auf der Welt mehr Wertschöpfung leisten kann. Damit kommt man aber zum Problem der Nachhaltigkeit, denn die Frage ist: Können wir eigentlich so ohne weiteres die Wertschöpfung steigern, ohne dass wir ein noch mehr wachsendes Umweltproblem haben? Wir brauchen ja schließlich die Natur und die darin verfügbaren oder nachwachsenden Rohstoffe, um daraus Waren und Dienstleistungen zu produzieren. Und die Abfallstoffe bei der Produkti-on von Wertschöpfung, insbesondere auch die Klimagase, entlassen wir wieder in die Natur. Wie viel Natur wir beanspruchen, kann man mit dem ökologischen Fußabdruck messen. Das ist ein Konzept, das die Prinzipien einer nachhaltigen Forstwirtschaft, die schon der Oberberghauptmann Carl von Carlowitz im achtzehnten Jahrhundert als zwingende Leitlinie festgelegt hat, auf alle Natureingangs- und Naturausgangsstoffe anwendet.
Für die nachhaltige Forstwirtschaft hat man sich die Frage gestellt: Wie viele Bäume darf man bei einer verfügbaren Waldfläche fällen, so dass auch nachfolgende Generationen genauso viel Bäume fällen können wie die lebende Generation? Man kann bei einer nach-haltigen Forstwirtschaft natürlich aus einer gegebenen Fläche nur so viele Bäume fällen, wie in einem sinnvollen Zeitraum bis zur nächsten Generation wieder nachwachsen, denn sonst gäbe es bald keinen Wald mehr. Wenn man die Frage nun andersherum formuliert, kann man bestimmen, wie viel Waldfläche man brauchen würde, um den gegebenen Bedarf an Bäumen nachhaltig zu decken. Man fragt also: Wie viel Waldfläche benötigt man, um nachhaltig den Bedarf an Bäumen für die lebende und alle nachfolgenden Generationen decken zu können? Wenn man diese Frage für alle Anforderungen an die Natur formuliert, kommt man zum ökologischen Fußabdruck. Man summiert dann auf:
• Die Fläche, die man braucht für Wald,
• die Fläche, die man braucht für Wiese, damit Rinder, Schweine und die anderen Tie-re, die die Menschen essen, genügend Futter haben,
• wie viel Fläche man braucht für den Anbau von Getreide,
• wie viel Fläche für Wasser, damit all die Fische leben und wachsen können, die wir Menschen essen,
• genügend Fläche für Blattwerk, damit die umweltschädlichen Gase, also beispielsweise Kohlendioxid, Methan und andere, in einem sinnvollen Zeitraum wieder die Möglichkeit haben, über Photosynthese den Weg als biologische Substanzen in den Kohlenstoffkreislauf des Lebens zurück zu finden.
Alle diese Flächen zusammen gezählt ergeben den ökologischen Fußabdruck. Man kann sich so bildhaft vorstellen, welche Fläche auf diesem unseren Planeten Erde der ökologische Fußabdruck der Menschheit beansprucht. Was ist hier das Problem?
Die Wissenschaft hat ausgerechnet, wie groß der ökologische Fußabdruck bei unserem derzeitigen Konsum ist, also für die gesamte Menge an heute produzierten und konsumierten Waren und Dienstleistungen. Das Ergebnis ist: Gerade einmal zwanzig Prozent der Menschen leben auf einem Niveau so wie wir in Deutschland, Europa, Japan oder in den USA; also nur ein Fünftel der Menschheit. Dieses eine Fünftel würde für eine nachhaltige Wirtschaft für sich allein die Fläche von 1,35 Planeten benötigen. Diese Zahl 1,35 hat eine ganz besonders unangenehme Eigenschaft: Sie ist nämlich größer als Eins. Das heißt: Bereits die zwanzig Prozent in den entwickelten Ländern lebenden Menschen überbeanspruchen unseren Planeten. Das ist der Grund, weshalb wir heute ein akutes Klimaproblem haben. Das ist auch der Grund, weshalb wir so, wie wir heute Wertschöpfung produzieren, gar nicht in der Lage wären, die Wertschöpfung zu stei-gern, ohne dass uns der Planet „um die Ohren fliegt“. Wenn wir also weiteres Wachstum anstreben, müssen wir dabei sicherstellen, dass wir die Naturbegrenzungen als Umweltstandards verbindlich machen für alle Prozesse der Produktion von Waren und Dienstleistungen. Wenn wir dann dieses umweltverträgliche Wachstum, bei dem uns der Planet eben nicht „um die Ohren fliegt“, erreichen wollen, müssen wir enorm kreativ und innovativ sein. Wir müssten hierzu die größtmögliche Kreativität der Menschheit in Gang setzen und dafür ist natürlich „Bildung für alle“ als wichtiger So-zialstandard der ganz entscheidende Ansatz.
Gut ausgebildete, gut gebildete, kreative und innovative Köpfe müssen möglichst lange kreativ und innovativ sein können. Daher wäre auch ein Gesundheitssystem ein weiterer entscheidender wichtiger Sozialstandard, der genauso verbindlich sein müsste für alle Prozesse der Erzeugung von Waren und Dienstleistungen. Wenn man darüber nachdenkt, was es bedeutet, Umwelt- und Sozialstandards für alle Prozesse der Wertschöpfung verbindlich zu machen, stellt man fest: Es müssten überall die Grundlagen aufgebaut werden, damit die Standards auch eingehalten werden können. Bildungseinrichtungen, Schulen, Universitäten, Krankenhäuser und so weiter müssten aufgebaut werden. Natürlich mit den modernsten und hoch innovativen und hoch effi-zienten Klima- und Energietechniken, also Passivhausstandards, Heizung und Klimatisierung über alternative Energien und vieles andere mehr. Gerade im Aufbau dieser Grundlagen für leistungsfähige Gemeinwesen liegt der entscheidende Ansatz für das notwendige, aber nur noch einmal – wenn überhaupt – mögliche Wachstum der Wertschöpfungsleistung.
Nun ahnt man schon, dass es hier mehrere Probleme gibt. Zum einen: Wo könnte man überhaupt für eine Verbindlichkeit sorgen, das heißt zu einer Absprache kommen, dass Umwelt- und Sozialstandards verbindlich für die Produktion von Waren und Dienstleistungen sind? Was wäre eine mögliche Institution, die auch über genügend wirksame Möglichkeiten der Bestrafung im Falle der Nichtbeachtung der Standards verfügt? Hierfür können wir uns fragen, wer heute für die Standards zuständig ist, die global im Markt und Handel gültig sind, und das ist für den größten Teil der Erde die Welthandelsorganisation, die WTO. Hier gelten aber bislang nur Qualitätsstandards für die Produktion, also beispielsweise die Festlegung, wie viel Prozent Fettanteil ein Rinderfilet haben darf. Die Frage des Verfahrens, die Frage der Produktion von Fleisch, also ob beispielsweise Kinder die Metzgerarbeit erledigen, oder auch, ob das Fleisch von geklonten Rinder kommt, ist keine Frage der Qualität, sondern eben eine Frage des Verfahrens. Verfahrensstandards wurden bislang in der WTO nicht verabredet. Die WTO hat aber wirksame Möglichkeiten, Produkte, die verabredete Standards nicht einhalten, zu bestrafen. Sie kann Strafzölle verhängen, die die Produkte dann auf dem Weltmarkt teurer machen.
Weil es diese Sanktionsmöglichkeit gibt, werden die Standards, die in der WTO gesetzt werden, weitgehend eingehalten.
Der Schlüssel für eine sanfte Entschuldung des Systems über eine, noch ein letztes Mal mögliche Steigerung der Wertschöpfung, ohne dass uns dabei der Planet „um die Ohren fliegt“, liegt darin, die nötigen Umwelt- und Sozialstandards als verbindliche Verfahrensstandards in der WTO zu vereinbaren. Jetzt stellt sich natürlich sofort die Frage, ob es einen Ansatz gibt, wie ein solcher globaler Deal gelingen kann? Da kann man sagen: Die Europäische Union liefert uns den Beweis, dass es gehen kann.
Denn auch in der Europäischen Union war das Problem, gemeinsame Standards, gemeinsame Gesetze für alle verbindlich zu machen. Das ist unser so genannter acquis communautaire, unser Gemeinschaftsrecht. Jedes Mitglied der Europäischen Union muss die Grundlagen zur Einhaltung dieses Gemeinschaftsrechts bei sich aufbauen. Dort, wo die Grundlagen zur Einhaltung der Standards noch nicht ausreichend entwickelt sind, spricht man von strukturschwachen Räumen. Die Akzeptanz für das Ge-meinschaftsrecht, gerade auch bei neuen Beitrittskandidaten, hat man in der Europäischen Union durch die Bereitschaft zur Co-Finanzierung erreicht. Co-Finanzierung gegen Standards bedeutet: Strukturschwache Räume bekommen aus den so ge-nannten Strukturfonds eine finanzielle Unterstützung zum Aufbau der Grundlagen, die für die Einhaltung der Europäischen Standards erforderlich sind. Dies kann auch der Schlüssel auf weltweiter Ebene für den globalen Deal sein:
Das Angebot einer Co-Finanzierung gegen die Akzeptanz von Umwelt- und Sozialstandards als verbindliche Verfahrensstandards in der WTO. Die entscheidende Frage ist dann natürlich sofort: Wer soll das bezahlen? Woher kommen die Mittel?
Hier schließt sich jetzt der Kreis. Über das Weltfinanzsystem und immer mehr und immer neuere Finanzprodukte – dem Schwellgeld – werden bislang die Unterschiede in den nationalen Steuersystemen für Steuerumgehungen ausgenutzt. Insbesondere die Unterschiede bei den so genannten Steuerbemessungsgrundlagen können von weltweit operierenden Unternehmen und gerade auch dem Finanzsektor genutzt werden für so genannte Steueroptimierungen, also letztendlich der Umgehung von Steuerzahlungen, die nach geltender Gesetzeslage eigentlich zu leisten wären. Viele global tätige Unternehmen, die zu den leistungsfähigsten gehören, zahlen prozentual von ihrem Gewinn die geringsten Steuern. Wenn man eine Harmonisierung der Steuerbemessungs-grundlagen weltweit verabreden und Steueroasen dadurch austrocknen würde, hätte man zusätzliche öffentliche Einnahmen von circa 1.000 bis 2.000 Milliarden Dollar pro Jahr. Wenn man dann noch das Schwellgeldproblem in Angriff nimmt, also spekulati-ven Hebelgeschäften „Sand ins Getriebe streut“, indem man auch auf Finanzprodukte eine Art Mehrwertsteuer erhebt, eine Schwellgeldsteuer, hätte man eine weitere Einnahmequelle zur Co-Finanzierung.
Was bedeutet eine Schwellgeldsteuer, also eine Art Mehrwertsteuer auf Finanz-produkte?
Hiermit ist keine Transaktionssteuer gemeint. Eine Transaktionssteuer, wie sie disku-tiert wird, ist eher vergleichbar mit der Grunderwerbssteuer. Ein Haus, das einmal ge-baut wurde, unterliegt dann der Grunderwerbssteuer, wenn es weiter veräußert wird. Bei der erstmaligen Erstellung des Hauses ist keine Grunderwerbssteuer fällig. Hier greift stattdessen die Mehrwertsteuer. Sie wird nur bei der Erstellung fällig. So wäre es auch bei der Schwellgeldsteuer.
Sie müsste von dem gezahlt werden, der das Schwellgeld erzeugt, also dem, der den Kredit aufnimmt, der das System, weil er das Kartenhaus Weltfinanzsystem vergrößert, mit einem Risiko belastet. Ein leistungsfähiger Akteur, der sowieso weniger Zinsen zahlt wenn er einen Kredit aufnimmt, müsste beispielsweise zwei Prozent Schwell-geldsteuer bezahlen. Damit würde man insbesondere den spekulativen Hebelgeschäften „Sand ins Getriebe streuen“. Weniger leistungsfähige Akteure, das heißt schlechter bewertete Kreditnehmer, wie beispielsweise ein hoch intelligenter, hoch motivierter Jungunternehmer, der zwar eine wunderbare Geschäftsidee, beispielsweise ein hoch innovatives Verfahren für die Erschließung einer alternativen Energieform hat, der aber über kein Eigenkapital verfügt, müsste, wenn er einen Kredit aufnimmt, nur 0,01 Prozent Schwellgeldsteuer bezahlen. Ein solcher Jungunternehmer mit wenig Eigenkapital hat üblicherweise ja auch einen hohen Zins für einen Kredit zu zahlen und soll daher nicht zusätzlich belastet werden. Eine Schwellgeldsteuer von durchschnittlich einem Prozent auf alle Finanzprodukte, würde weitere 1.000 bis 2.000 Milliarden Dollar an finanziellen Mitteln bedeuten. Man hätte so zusammen mit der Harmonisierung der Steuerbemessungsgrundlagen 2.000 bis 4.000 Milliarden Dollar pro Jahr zur Verfügung, um einen Weltstrukturfonds zu füllen, über den der globale Deal für ein nachhaltiges, balanciertes und so auch Frieden stiftendes Wachstum ein letztes Mal in Gang gesetzt werden kann, und zwar „ohne dass uns der Planet um die Ohren fliegt“.
Zusammenfassend kann man das zentrale Problem, das hinter allen sichtbaren Problemen der erlebten Krise steht, so formulieren:
Wir können bei unseren begrenzten natürlichen Ressourcen noch nicht genügend Wertschöpfung für immer mehr und mehr gleichzeitig lebende Menschen leisten. Zur Lösung muss man alle drei Problembereiche – Ökologie, Ökonomie und Soziales – zusammen, gemeinsam und global in Angriff nehmen. Über eine gemeinsame Anstrengung aller, einen globalen New Deal: Co-Finanzierung gegen die Akzeptanz von Umwelt- und Sozialstandards. Die Mittel dazu können aus einer Reform des weltweiten Geld- und Steuersystems kommen.
Wir können nur alle hoffen, dass die Menschheit, gerade auch über ihre Politikerinnen und Politiker, zu dem notwendigen Kraftakt motiviert werden kann und wir es schaffen, das Bewusstsein auszubilden, dass die individuellen nationalen Interessen im Sinne ei-nes einsichtsvollen Egoismus am besten über einen solchen globalen Deal gewahrt werden können. Aktuell sollten sich die G20 diesen neuen globalen Deal zur Aufgabe machen.
Als Wählerinnen und Wähler, Bürgerinnen und Bürger der Gesellschaft sollten wir uns darüber im Klaren sein, dass es uns betrifft. Wenn wir eine balancierte Zukunft wollen, können wir alle mit dazu beitragen, dieses Ziel zu erreichen. Jeder und jede kann mit-helfen, das notwendige Bewusstsein zu schaffen – stellen wir uns dieser Herausforderung?
Weiterführende Literatur
Bücher:
[1] Wolfgang Eichhorn, Dirk Solte: „Das Kartenhaus Weltfinanzsystem. Rückblick – Analyse – Ausblick“, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 2009;
[2] Dirk Solte: „Weltfinanzsystem am Limit – Einblicke die den „Heiligen Gral“ der Globalisierung“, Terra-Media, Berlin, 2007;
[3] Dirk Solte: Weltfinanzsystem in Balance – die Krise als Chance für eine nachhaltige Zukunft“, Terra-Media, Berlin, 2009;
Englische Ausgabe: „Global financial system in balance – crisis as opportunity for a sus-tainable future“, Terra-Media, Berlin, 2009;
Paper:
[4] Solte: Die „Reise nach Jerusalem“ Gewinner und Verlierer der Finanzmarktkrise:
http://www.faw-neu-ulm.de/reise-nach-jerusalem
[5] Solte: Globalisierung, Wohlstand und Weltfinanzsystem:
http://www.faw-neu-ulm.de/globalisierung-wohlstand-und-weltfinanzsystem
[6] Solte: Understanding the crisis:
http://www.faw-neu-ulm.de/understanding-crisis
[7] Solte: Globales Handeln als Reaktion auf die Krise:
http://www.faw-neu-ulm.de/weltfinanzsystem-balance
[8] Solte: Crisis as a chance for a sustainable future:
http://www.faw-neu-ulm.de/world-financial-system-balance
[9] Solte: Die Finanzmarktkrise und ihre Auswirkungen auf die soziale Balance:
http://www.faw-neu-ulm.de/die-finanzmarktkrise-und-ihre-auswirkungen-auf-die-soziale-balance