Prof. Dr. Wolfgang Rother: Lust . Perspektiven von Platon bis Freud
Diskurs Aktuell
Rother : Lust - Perspektiven
schwabe13-2rother-lust-
http://www.kultur-punkt.ch/ereignisse/schwabe13-2rother-lust.htm
Online-Publikation: Februar 2013 im Internet-Journal <<kultur-punkt.ch>>
Ereignis-, Ausstellungs-, AV- und Buchbesprechung
<< Prof. Dr. Wolfgang Rother: Lust . Perspektiven von Platon bis Freud >>
reflexe 8: 152 Seiten. Broschiert. ISBN 978-3-7965-2691-6 ; sFr. 19.50 / € (D) 13.80 / € (A) 14.20
Schwabe Verlag, Basel; http://www.schwabe.ch; Buchhandlung «Das Narrenschiff» Steinentorstrasse 11, 4051 Basel; verlag@schwabe.ch ;
Beschreibung
Wenn wir also sagen, die Lust sei das Ziel, meinen wir damit nicht die Lüste der Hemmungslosen und jene, die im Genuss bestehen, […] sondern: weder Schmerz im Körper noch Erschütterung in der Seele zu empfinden. (Epikur)
In unserer postmodernen Alltagskultur, die von einem weit verbreiteten Lifestyle-Hedonismus, zuweilen gar von einer oberflächlichen Spasskultur geprägt ist, scheint das – oftmals missverstandene – Lustprinzip eine grundlegende lebenspraktische Maxime zu sein. Aus der philosophischen Diskussion sind hedonistische Positionen hingegen weitgehend verschwunden, seit Kants Pflichtethik die Lust theoretisch diskreditiert hat. Dennoch: Die Lust zählt zu den Grundbegriffen der Philosophie. Seit der Antike steht sie im Zentrum anthropologischer und ethischer Reflexion. Dass die Menschen nach Lust streben und Schmerz meiden, gilt als existenzielle Grundtatsache, deren Bedeutung im Lauf der Geschichte der Philosophie in diversen theoretischen Zusammenhängen und mit den unterschiedlichsten Absichten und Interessen kontrovers diskutiert worden ist.
Das Buch bietet eine kleine Einführung in die Lustlehren ausgewählter Denker. Es lädt – dem schönen Thema angemessen – zu einem vergnüglichen Spaziergang ein, der in Athen beginnt (Platon, Aristoteles, Epikur), uns ins sonnige Italien lockt (Thomas von Aquin, Lorenzo Valla, Pietro Verri) und über den deutschen Idealismus (Kant, Karl Leonhard Reinhold, Hegel) in die moderne Psychologie (Gustav Theodor Fechner und Sigmund Freud) führt. Die Darstellung ist frei von akademischer Gelehrsamkeit, auf Fussnoten wird verzichtet – doch wer Lust auf mehr hat, findet zu jedem Aufsatz wichtige weiterführende Literatur.
Der Autor
Wolfgang Rother, geb. 1955, studierte Philosophie, Theologie und Germanistik in Marburg, Tübingen und Zürich. Er ist Professor für Philosophie an der Universität Zürich, Autor verschiedener Bücher zur Ideengeschichte und Mitherausgeber des Grundrisses der Geschichte der Philosophie sowie mehrerer wissenschaftlicher Buchreihen.
Kommentare
Wer zu diesem Taschenbuch greift, ist wohl mit einigen der dargestellten Lustlehren schon vertraut, vermutlich aber nicht mit derjenigen Vallas, Verris, Reiholds und Fechners. Allein schon deshalb lohnt sich die Lektüre.
Prof. Dr. E. Dauenhauer, Literaturzeitschrift Walthari
Das Buch bietet eine kleine Einführung in die Lustlehren ausgewählter Denker. Es lädt - dem schönen Thema angemessen - zu einem vergnüglichen Spaziergang ein, der in Athen beginnt, uns ins sonnige Italien lockt und über den deutschen Idealismus in die moderne Psychologie führt. Die Darstellung ist frei von akademischer Gelehrsamkeit, auf Fussnoten wird verzichtet - doch wer Lust auf mehr hat, findet zu jedem Aufsatz wichtige Weiterführende Literatur.
Kultur-Punkt, Oktober 2010
Weitere vertiefender Hinweise :
www.kultur-punkt.ch/ereignisse/schwabe13-1rother-rede.htm;
www.kultur-punkt.ch/ereignisse/schwabe13-1praesentation.htm;
Fazit
Ähnlich wie Prof. Dr. Wolfgang Rother zur Philosophie der " Lust . Perspektiven von Platon bis Freud " einen 2500-jährigen , historischen Bogen spannt, so stellt auch zeitparallel Prof. Wilhelm Vossenkuhl *die "Problemlösung für ein gutes Leben" wozu die Lust einen wesentlichen Teil beiträgt.
Rothers Themenfolge und Bereich der Lust umfasst : Wirklichkeit und Schein (Platon), List (Aristoteles); Schmerzlosigkeit und Seelenruhe (Epikur);höchste Lust und Wonne (Th. v. Aquin); irdische und himmlische L. (Valla); nach Schmerz > Lust (Verri); guter Geschmack, gute Laune (Kant); Freiheit über L. (K.L.Reinhold); Universaliät (Fechner); schliesslich diesseits und jenseits vom L.-Prinzip (Freud).
Rother versteht auf elegante Weise durch und über zwei Jahrtausende philosophisch zu flanieren und palieren - peripathetisch sehr wohl, so zum Bedeutungsfeld Lust als mehrheitlich + mehrschichtig Empfindendes / Gutes*, als "zumindest angenehme Gefühle" zu betrachten. Das ist vorzüglich gelungen. m+w.p13-2
*) Parallelhinweis
SWR2 Wissen: Aula Wilhelm Vossenkuhl: Das Problem des Guten : Problemlöser - wichtige Philosophen und ihre Konzepte
Sendetermine + Themenfolge:
27,1 Platon und das Problem des Guten
24.2. Aristoteles – das Problem des Wissens
24.3. Thomas von Aquin – das Problem der Gotteserkenntnis
28.4. René Descartes – das Problem der Gewissheit
26.5. Immanuel Kant – das Problem der Freiheit
30.6. Friedrich Nietzsche – das Problem des Lebens
28.7. Gottlob Frege – das Problem der Wahrheit
8.9. Ludwig Wittgenstein – das Problem der Sprache
29.9. Martin Heidegger – das Problem des Seins
27.10. J.P. Sartre – das Problem der Existenz
24.11. John Rawls – das Problem der Gerechtigkeit
26.12. Jürgen Habermas – das Problem der Legitimität
29.12. Die Hirnforschung - das Problem des Denkens
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schwabe13-1rother-rede
< Schwabe-Neujahrsapéro: Philosophie der Lust, 30. Januar 2013 1 > Rede von Prof. Dr. Wolfgang Rother >>:
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich stelle Ihnen das Buch «Philosophie der Lust» vor, das in der Reihe «Schwabe Epicurea» erscheinen ist. Michael Erler, mit dem ich die Reihe herausgebe und mit dem ich auch diesen Band herausgegeben habe, konnte heute leider nicht nach Basel kommen. Meine Kurzpräsentation gliedert sich drei Abschnitte: I. Zur Reihe, II. Zum Band und III. Hors d’oeuvre.
I.
Wenn wir vor Raffaels «Schule von Athen» stehen, wird unser Blick geradewegs ins Zentrum geleitet. Dort sehen wir Platon und Aristoteles, deren Auftritt vom Künstler so arrangiert ist, dass sie die Szene beherrschen. Raffael bietet damit eine Perspektive, die noch im Banne der mittelalterlichen Sicht auf die antike Philosophie steht. Auf diese Weise schreibt die Renaissance die Reduktion des abendländischen Denkens auf die Traditionen des Platonismus und des Aristotelismus fort. Diese Reduktion blendet aus, dass es neben der platonischen Akademie und dem Peripatos auch die Stoa und – viel wichtiger noch – den schönen Garten Epikurs gab. Nun, Raffael scheint Epikur zwar nicht ganz verdrängt zu haben, denn sehr wahrscheinlich hat er durchaus seinen Platz im Vatikanischen Fresko erhalten, wofür neuerdings stichhaltige Gründe angeführt wurden. Aber der Epikur zugewiesene Platz als Linksaußen der athenischen Philosophie kann kaum als ehrenvoll und angemessen bezeichnet werden. Bis Epikur vom Rand ein wenig in die Mitte rücken, bis der schon in hellenistischer Zeit Verfemte aus dem subversiven Untergrund auftauchen konnte, mussten Philosophen wie Pierre Gassendi oder Philologen wie Hermann Usener auf den Plan treten.
Vom Titel des Pionierwerks Useners (der seine akademische Karriere übrigens 1861 an der Universität Bern begann), «Epicurea», ist eine neue Reihe inspiriert, die «Schwabe Epicurea», von der bisher drei Bände erschienen sind: Der erste behandelt die Epikureer Lukrez und Philodem, der zweite unter dem verheißungsvollen Titel «Glückselig und unsterblich» die epikureische Theologie und der letzte trägt den schönen Titel «Philosophie der Lust».
II.
Dieser Band nimmt verschiedene Aspekte des philosophischen Lustdiskurses von der Antike bis zur Neuzeit in den Blick: Platon, Epikur und den frühen Epikureismus bis hin zu Lukrez. Dann – vielleicht überraschend – Bernhard von Clairvaux und Meister Eckhart, den (christlichen) Epikureismus im 17. Jahrhundert, die französische Aufklärung, den britischen Utilitarismus und schließlich Kant und Hegel. Ich verzichte hier auf eine detailliertere Zusammenfassung der Forschungsergebnisse, die der Band bietet, nicht nur aus Zeit-, sondern auch aus Marketinggründen. Das Buch kann nämlich nachher im Narrenschiff gekauft werden.
Im Narrenschiff findet auch der Schwabe-Neujahrsapéro statt, zu dem ich jetzt mit einem kleinen Hors d’oeuvre überleiten möchte – über den Band hinausgehend, also: «hors d’oeuvre» –, ohne dabei das Thema des Bandes zu verlassen. Es fällt nicht schwer, Kulinarik mit dem Thema Lust zu verknüpfen. Ich will diese Verknüpfung über einen Begriff versuchen, der eine zentrale Rolle im komplexen Koordinatensystem hedonistischer Terminologie spielt: das Genießen. Ich lade Sie daher ein, mit mir den Gedanken eines Autors zu folgen, den Sie in diesem Zusammenhang wohl kaum erwarten würden – und der in unserem Buch auch nicht behandelt wird (das können Sie ja kaufen). Es handelt sich um den Apostel Paulus. Ich lese die drei einschlägigen Verse aus dessen erstem Brief an die Gemeinde in Korinth:
III.
[Dieser Abschnitt ist entnommen aus: Wolfgang Rother: Genießen und Genuss. Annäherungen an ein Phänomen menschlicher Existenz, in: Lothar Kolmer, Michael Brauer (Hrsg.): Hedonismus. Genuss – Laster – Widerstand? (Wien: Mandelbaum Verlag 2013) 15–28, hier: 26–27. – Publikation mit freundlicher Genehmigung des Mandelbaum Verlags, Wien.]
«Die Zeit ist kurz. Fortan sollen auch die, die Frauen haben, sein, als hätten sie keine; und die weinen, als weinten sie nicht; und die sich freuen, als freuten sie sich nicht; und die kaufen, als behielten sie es nicht; und die diese Welt gebrauchen, als brauchten sie sie nicht. Denn das Wesen dieser Welt vergeht.» (1 Kor 7,29–31)
Paulus entwirft hier die Konzeption einer Lebenskunst, die durchaus in der Tradition der klassischen und hellenistischen Ansätze eines Aristoteles oder Epikur steht, diese aber in einem Akt der Befreiung von der Welt radikalisiert. Die Zeitlichkeit des Daseins und die Vergänglichkeit der Welt bilden gewissermaßen den Rahmen der zitierten Verse. Die Faktizität beschränkter Lebenszeit war schon in Epikurs Theologie die Möglichkeitsbedingung des Genießens. Im paulinischen Konzept der konjunktivischen Negation des ‘als ob nicht’ (ὡς μή) wird der Mensch durch die Erkenntnis der Nichtigkeit weltlicher Güter existentiell auf das Nichts des Jetzt zurückgeworfen. Erhellend ist in diesem Zusammenhang Hegels Analyse des Jetzt. Das Jetzt erweist sich im phänomenologischen Prozess «als ein Nichtseiendes», das nur «als ein Negatives überhaupt» Bestand hat, d.h., dass «das Jetzt eben dieses ist, indem es ist, schon nicht mehr zu sein» (Hegel, Phänomenologie des Geistes, TWA III 84 u. 88). Die Prozessualität alles Seienden, die das Jetzt permanent verschwinden lässt, nötigt zum unaufschiebbaren Genießen im Bewusstsein des unmittelbar bevorstehenden Verlusts.
Die Erkenntnis der absoluten Zeitlichkeit und Vergänglichkeit aller menschlichen Beziehungen, Emotionen und Güter, ja alles Weltlichen überhaupt, befreit uns von jeglichem Streben nach Lust und befreit uns zum Genießen des Augenblicks. Der Satz ὁ καιρὸς συνεσταλμένος ἐστίν, der in den deutschen Bibelübersetzungen sinnentstellend mit «Die Zeit ist kurz» wiedergegeben wird, hat nicht die Zeitlichkeit als Vergänglichkeit im Blick. Für die Aussage «Die Zeit ist kurz» hätte der Apostel Paulus schreiben können: ὁ χρόνος βραχὺς ἐστίν. Kairos ist aber nicht Chronos, nicht die verrinnende, aus sukzessiven Momenten zusammengesetzte Zeit, sondern der rechte, raumzeitlich verstandene Augenblick, der auf das Hier und Jetzt ‘zusammengedrängt’ (συνεσταλμένος) ist, im Hier und Jetzt aufgehoben ist und darin Konstanz erhält.
Das Verschwinden des Jetzt im Gewesenen ist nicht seine Wahrheit. Die Negation des Nichts des Jetzt, die Hegel am Schluss seiner Analyse des Jetzt vollzieht, kehrt zum Anfang zurück, nämlich «dass Jetzt ist» (Hegel, a.a.O., 89). In dieser Aufhebung der Zeitlichkeit im Jetzt wird die Ewigkeit des präsentischen Augenblicks erlebbar. Das bewusste Erleben der Fülle des Augenblicks ist das Genießen: kein Gefühl, sondern das Bewusstsein des Gegenwärtigen im Wissen um sein prozessuales Wesen. Im Genießen des Augenblicks gewinnt dieser, so der Basler neuhegelianische Lebensphilosoph Karl Joël, «Ewigkeitsgehalt» (Joël, Weltanschauung und Zeitanschauung, in: Max Frischeisen-Köhler [Schriftleitung], Weltanschauung in Philosophie und Religion, Berlin 1911, 133). Im Genießen des Augenblicks befreien wir uns vom Diktat der Zeitlichkeit und unterlaufen «die moderne Verzeitlichung, die Beschleunigung unseres Lebenstempos» (Joël, a.a.O., 135). In dieser Sicht wird das Genießen als bewusste Entschleunigung eine radikale Technik der Kulturkritik. Es besteht keine Not, von Jetzt zu Jetzt zu eilen, da – so Hegel – das wahre Jetzt nicht jenes vergängliche ist, sondern «ein in sich Reflektiertes oder Einfaches, welches im Anderssein bleibt, was es ist: ein Jetzt, welches absolut viele Jetzt ist» (Hegel, a.a.O., 89).
In der paulinischen Konzeption des ὡς μή, des Als-ob-nicht, wird die Welt negiert, werden die weltlichen Mächte depotenziert. Aber in der Negation der Negation der Welt wird diese wiedergewonnen – in jenem ewigen Jetzt. Die Quintessenz der paulinischen Lebenskunst des Als-ob-nicht ist die Gewinnung einer inneren Distanz zu den Dingen der Welt. Auf diese Weise rücken der Mensch und seine Freiheit in den Fokus. Der paulinische Genießer und christliche Lebenskünstler wissen: Ich brauche all diese Dinge gar nicht, ich kann auf sie verzichten, nicht wie Epikur, der nur um des Lustgewinns oder der Schmerzvermeidung willen verzichtet, sondern ich kann auf alles, alle Lust und Freude bedingungslos verzichten. Dadurch gewinne ich die Freiheit von allen Dingen, was mir ermöglicht, das Leben und alle Dinge, die das Leben bietet, bewusst zu genießen, ohne auf diese Dinge angewiesen zu sein. Das paulinische Als-ob-nicht erweist sich so als die Negation der Negation der Welt, nicht Weltflucht und Jenseitsorientierung, sondern In-der-Welt-Sein als Weltbejahung, Weltzugewandtheit und absolute Diesseitigkeit im ewigen Jetzt.
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Soweit, verehrte Damen und Herren, meine Lektüre des heiligen Paulus als eines Lehrers des rechten Genießens, eines Lebenskünstlers und eines verkannten Philosophen des Lust. An diesem Punkt mit einem geistreichen Bonmot zum Apéro überleiten zu wollen, ginge fast nur um dem Preis einer Banalisierung des Gesagten – deshalb ganz unvermittelt und prosaisch, aber dafür umso herzlicher: Im Namen des Schwabe Verlages lade ich Sie nun zum Apéro im Narrenschiff ein. Wir freuen uns auf Sie! Vielen Dank!
© Wolfgang Rother
Prof. Dr. Wolfgang Rother
Mitglied der Verlagsleitung Schwabe AG