Ulrike Tikvah Kissmann : Die Sozialität des Visuellen . Fundierung der hermeneutischen Videoanalyse und materiale Untersuchungen

Diskurs Aktuell
U.T. Kissmann: Sozialität des Visuellen
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Online-Publikation: Januar 2015  im Internet-Journal <<kultur-punkt.ch>>
Ereignis-, Ausstellungs-, AV- und Buchbesprechung
<< Ulrike Tikvah Kissmann : Die Sozialität des Visuellen . Fundierung der hermeneutischen Videoanalyse und materiale Untersuchungen >>
226 Seiten, br. , ISBN 978-3-942393-83-6 ; 29,90 EUR
Dieser Titel ist auch im Verlag Humanities Online als E-Book erhältlich: http://www.humanities-online.de
Velbrück Wissenschaft, D-53919 Weilerswist-Metternich; http://www.velbrueck-wissenschaft.de

Inhalt
Es geht in diesem Buch um die Emanzipation der Gebärden vom Logozentrismus der Sprache. Intersubjektiv geteilte Deutungsmuster werden nicht primär in der direkten face-to-face-Kommunikation erworben und aufrechterhalten, sondern über den leiblichen Funktionszusammenhang in die gewohnheitsmäßige Motorik und Wahrnehmung eingeschrieben. Die Aktintentionalität von Alfred Schütz wird zu einer fungierenden Intentionalität weiterentwickelt. Letztere entfaltet ihre Wirkung nicht über den Bewusstseinsakt eines aktiven Ichs, sondern über die Passivität des Leibes. Es wird auf diese Weise eine phänomenologische Praxistheorie entworfen, in der Gesten und Mimik als eigenständige Handlungen intersubjektiv zugänglich sind.
Die Soziologin Ulrike Tikvah Kissmann hat einen theoretischen und methodologischen Ansatz für die hermeneutische Videoanalyse entwickelt, der mit dem Konzept der „Zwischenleiblichkeit“ von Maurice Merleau-Ponty arbeitet. Es stellt die konstitutionsanalytische Voraussetzung dar, um Sozialität sowohl zwischen Objekten als auch zwischen Körpern begrifflich zu fassen. Mit Bezug auf die „Zwischenleiblichkeit“ wird eine Form von Intentionalität entwickelt, die nicht primär auf den Bewusstseinsvorgängen eines einzelnen Subjekts beruht.
Insgesamt werden in der Veröffentlichung aus einer theoretischen und methodologischen Perspektive die Merkmale einer so genannten „bipolaren“ phänomenologischen Praxistheorie herausgearbeitet. Die Phänomenologie von Merleau-Ponty wird als „bipolar“ bezeichnet, weil der „Pol“ oder „Schwerpunkt“ nicht mehr nur beim Subjekt liegt. Auf der Grundlage seiner Leibphänomenologie wird eine Praxistheorie entworfen, in der Sozialität dem Subjekt über seine Leiblichkeit von vornherein inhärent ist. Im Gegensatz dazu wird Sozialität bei Alfred Schütz erst auf der Ebene der Appräsentation, also auf der Ebene des Bewusstseins, relevant. Außerdem wird aus einer methodischen Perspektive präsentiert, wie und wo objektive Gesten und Mimik in der hermeneuti-schen Videoanalyse von Interaktionen zu finden sind. Das Dreistufenmodell von Panofsky ermöglicht es hierbei, den objektiven Sinngehalt von visuellen Verhaltensäuße-rungen auf der vorikonographischen Ebene zu rekonstruieren. Der individualisierte und kontextgebundene Sinn wird dagegen auf der ikonographischen Ebene berücksichtigt. Schließlich wird in der hier präsentierten Methode der Prozesshaftigkeit von visuell-leiblichen Verhaltensäußerungen Rechnung getragen. Im Gegensatz zu anderen Autoren von Videoanalysen wird keine Bild-in-Bild Interpretation durchgeführt, sondern eine Segment-in-Segment Interpretation. Dies erlaubt es, Interaktionen in ihrem „flow“ oder Ablauf zu analysieren.

Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
2. Das Zusammenspiel von Sprache und Visualität
in Interaktionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
2.1 Soziologie der Sinne. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
2.2 Goffmans Interaktionssoziologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
2.3 Interaktion und Geschlecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
2.4 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
3. Ikonologie und Habitus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
3.1 Ikonologie Panofskys. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
3.2 Eigengesetzlichkeit des Bildes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
3.3 Mannheims Theorie der Weltanschauungs-Interpretation. . 57
3.4 Bourdieus Rezeption der Ikonologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
3.5 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72
4. Grundzüge einer Soziologie des Visuellen. . . . . . . . . . . . . . . . . 76
4.1 Zum Practice Turn in der Sozialtheorie. . . . . . . . . . . . . . . . 77
4.2 Motivkonstruktionen der Ethnomethodologen. . . . . . . . . . 84
4.3 Elementare Handlungen, Kinemorpheme und Kineme. . . . . 90
4.4 Von der Auseinandersetzung mit Schütz zu Merleau-Ponty. . . . 100
4.5 Intersubjektivität in Merleau-Pontys Leibphänomenologie. .. . . . 107
4.6 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
5. Hermeneutische Videoanalyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
5.1 Videoanalysen und Standortgebundenheit. . . . . . . . . . . . . . 121
5.2 Segment-in-Segment Interpretation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
5.3 Multimodalität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
5.4 Herstellung der Videos, Auswahl der Sequenzen. . . . . . . . . 129
5.5 Auswertungsschritte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
5.5.1 Erster Schritt: Auswertung der nonverbalen Interaktion. . 131
5.5.2 Abschließende Validierung von vorikonographischer
und ikonographischer Ebene. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161
5.5.3 Zweiter Schritt: Auswertung des transkribierten Gesprächs. . . .163
5.5.4 Dritter Schritt: Auswertung der Interaktion mit Ton. . . . . 167
5.5.5 Abschließender Vergleich der Analyseschritte. . . . . . . . . . 170
6. Computertechnologie als Möglichkeit der Strukturierung:
Geschlechterordnung und Machtverhältnisse im Operationssaal
6.1 Mikrosoziologie von Technik, Profession und Geschlecht. . 178
6.2 Die Entstehung von zwei Arbeitsstilen. . . . . . . . . . . . . . . . . 183
6.3 Wie Statuserwartungen umgangen werden. . . . . . . . . . . . . 191
6.4 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196
7. Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200
7.1 Die Sozialität des Visuellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200
7.2 Die Ellenbogengeste im Kontext. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204
7.3 Das sozio-historische Apriori für visuelle Verhaltensäußerungen.206
Danksagung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208
Transkriptionsregeln. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210

Autorin
Ulrike Tikvah Kissmann, von 2012 bis 2014 Professorin (in Vertretung) für Prozessorientierte Soziologie an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, seit 2012 an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt; Habilitation an der Philosophischen Fakultät III der Humboldt-Universität zu Berlin. Venia Legendi in Soziologie; Dr. phil. am Fachbereich Sozialwesen der Universität Kassel; Aufbaustudium in „Science and Technology Studies“ an der University of Edinburgh (Master of Science), Doppelstudium in Physik und Philosophie (Dipl.-Phys. und Magistra Artium); Ausgewählte Publikationen: Kissmann, Ulrike Tikvah (ed.) (2009): Video Interaction Analysis. Methods and Methodology. Frankfurt/M. et al.: Peter Lang.

Fazit
Die prozessorientierte Soziologin Ulrike Tikvah Kissmann hat sich in ihrem Diskursbuch : "Die Sozialität des Visuellen "  profund mit der hermeneutischen Videoanalyse und materialen Untersuchungen beschäftigt, sowohl theoretisch-methodologisch als auch beispielhaft blitzlichtartig praktisch . Ihr hermeneutischer Ansatz stammt vorwiegend von
 Merleau-Ponty's  Intersubjektivität mit seiner Leibphänomenologie im Unterschied zu Habermas. Jener sieht in  leiblichen Verhaltensäusserungen, dass sie eigenständige Handlungen ausdrücken können. Auf dieser Basis hat Kissmann die 'Sozialtät des Visuellen' für eine Praxistheorie erfolgreich fruchtbringen gemacht. Dazu nutzt sie im Kern ihrem Forschungs-Modell die 'Computertechnologie (videointegriert) als Möglichkeit der Strukturierung:Geschlechterordnung und Machtverhältnisse im Operationssaal. Dabei entdeckt sie etwas was uns alle betrifft, wenn wir erst- oder zweitklassig im Operationssaal landen. " Der nonverbale Habitus der leitenden OP-Schwester aus der ikonologischen Betrachtung deckt sich mit dem Umstand, dass sie letzendlich die an sie herangetragenen Statuserwartungen umgehen und die Computeranwendung zur Einflussname einetzen konnte/kann !". Quintessenz ist: es gibt also im Krankenhaus 'Statusreiche' (Ärzteschaft) - ihre Handlungen zwischen 'Tür und Angel' (Gestenmodell: zwischen Ikonografischem und Motivkonstrukt ) und demgegenüber die Statusarmen (OP-Schwestern). Trotz der Widerständigkeit der Statusreichen gelingt es also mithilfe von 'Konsens' eigenverantwortete Beiträge im OP-Plan des OP-Managementsystems einzubringen. Dieser Umstand rechtfertigt auch die Sozialität (Ellbogengeste im Kontext) von Merleau-Ponty mit seinem Begriff von Zwischenleiblichkei (Undurchsichtigkeit und Ambiguität) und der Dialogisierung - kurz: nicht der Plan (Vorgegebenheit) produziert nicht das Verhalten, sondern der Horizont, vor dessen Hintergrund das Verhalten sich selbst (vegetativ-sozial ?) entfaltet. So stellt diese bemerkenswerte  Studie / im Kern das Gestenmodell zur Sozialität des Visuellen eine innovative, nur augenscheinlich unmerkliche Bereicherung dar, sowohl für die Wissenschaft als auch für die Künste (AV und Digitale Medien). m+w.p15-1