Islam in Europa . Eine internationale Debatte

Diskurs aktuell
Islam in Europa
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Online-Publikation: Juni 2012 im Internet-Journal <<kultur-punkt>>
Ereignis-, Ausstellungs-, AV- und Buchbesprechung
<<  Islam in Europa . Eine internationale Debatte . Herausgegeben von Thierry Chervel und Anja Seeliger>>
edition suhrkamp 2531, Broschur, 227 Seiten; ISBN: 978-3-518-12531-1 ; D: 10,00 € A: 10,30 € CH: 14,90 sFr
Suhrkamp/Insel Verlag, Berlin; http://www.suhrkamp.de

Inhalt
Wen soll der Westen unterstützen: gemäßigte Islamisten wie Tariq Ramadan oder islamische Dissidenten wie Ayaan Hirsi Ali? Der französische Philosoph Pascal Bruckner sorgte Anfang 2007 für Aufsehen, als er in einer polemischen Streitschrift den vermeintlichen liberalen Konsens im Umgang mit dem Islam attackierte. Beweglicher und schneller, als das in den traditionellen Medien möglich gewesen wäre, entwickelte sich auf den Seiten der Internetplattformen perlentaucher.de und signandsight.com eine kontroverse Debatte, die den aktuellen Stand der Diskussion um Multikulturalismus in Europa markiert - und darüber hinausweist.
»Die Debatte ist polemisch, verletzend, ausschweifend, aber auch rational, da sie Fragen von Toleranz und Multikulturalität aus unterschiedlichen Ansätzen verhandelt.« Kölner Stadt-Anzeiger

Fazit
Den üppigen Texten des Autorenteams und ihrer Herausgeber  Thierry Chervel und Anja Seeliger  des Diskursbuches "Islam in Europa" , mit ihrer  internationalen Debatte, lässt sich kurz und prägnant entnehmen, dass die derzeit laut schallenden "Alarmglocken, die am Herzen hängen (Margriet de Moor)" dennoch eine Zukunft erahnen lassen, die, nicht wie derzeit beobachtet vom Nahen Osten sondern von West-Europa eine gelingende, reformierte Kooperation zwischen Kirchengeläute und Muezzinrufe  erwarten lassen. m+w.p12-5

Inhaltsfolge
Thierry Chervel: Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Ayaan Hirsi Ali: Das Recht, zu beleidigen . . . . . . . . . . . 23
Timothy Garton Ash: Der Islam in Europa . . . . . . . . . . 30
Pascal Bruckner: Fundamentalismus der Aufklärung
oder Rassismus der Antirassisten? . . . . . . . . . . . . . . . . 55
Ian Buruma: Die Freiheit kann nicht staatlich
verordnet werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75
Timothy Garton Ash: Lieber Pascal als Pascal
Bruckner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82
Ian Buruma:Wer ist Tariq Ramadan? . . . . . . . . . . . . . . . 88
Necla Kelek: Die Stereotype des Mr. Buruma . . . . . . . . 110
Paul Cliteur: Krieger ist nicht gleich Krieger . . . . . . . . . 117
Ian Buruma: Der Dogmatismus der Aufklärung . . . . . 126
Lars Gustafsson: Die Logik der Toleranz . . . . . . . . . . . . 129
Stuart Sim: Schiebt es nicht auf die
Postmodernisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
Ulrike Ackermann: Lob der Dissidenz . . . . . . . . . . . . . . 140
Jesco Delorme: Multikulturalismus ist nicht gleich
Kulturrelativismus! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
Adam Krzeminski: Sowohl Voltaire als auch
Lessing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
Halleh Ghorashi: Warum hat Ayaan Hirsi Ali
unrecht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165
Timothy Garton Ash: Wir begehen einen schweren
Fehler, wenn wir die Dissidenten innerhalb des
Islam ignorieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
Bassam Tibi: Der Euro-Islam als Brücke zwischen
Islam und Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183
Pascal Bruckner: Vom Recht auf Differenz gelangt
man rasch zur Differenz der Rechte . . . . . . . . . . . . . . 200
Ian Buruma, Timothy Garton Ash: Abschließende
Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208
Margriet de Moor: Alarmglocken, die am Herzen
hängen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210
Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225

Vorwort
von Thierry Chervel und Beiträgen von Pascal Bruckner,
Ian Buruma, Timothy Garton Ash, Lars Gustafsson, Ayaan Hirsi
Ali, NeclaKelek,AdamKrzeminski, Margriet de Moor, Bassam Tibi und
anderen.
Einen Fundamentalismus der Aufklärung – kann es so etwas
geben? Die Bruckner-Buruma-Debatte, die in den
Medien auch als »Multikulturalismusstreit« zirkulierte, hat
sich wohl vor allem an diesem einen Begriff entzündet.
Steht dem islamischen Fundamentalismus, der seine Sehnsucht
nach der ursprünglichen Reinheit der Schrift bis in
äußerste Konvulsionen desHasses und Selbsthasses treiben
kann, eine symmetrische Verhärtung des Westens gegenüber,
die diesen Konflikt noch anstachelt? Auch die provokante
Beiläufigkeit, mit der Timothy Garton Ash den
Begriff auf die niederländische Islamkritikerin AyaanHirsi
Ali anwandte, liegt am Ursprung dieser Debatte. »In ihrer
Jugend hat Ayaan Hirsi Ali in Gestalt eines inspirierenden
Lehrers selbst die Versuchung des islamistischen Fundamentalismus
erfahren«, schrieb Timothy Garton Ash in
seinem Essay »Islam in Europa« in der New York Review
of Books, »heute ist sie jedoch eine mutige, freimütige und
etwas schlicht argumentierende Fundamentalistin der Aufklärung.«
Garton Ashs Artikel erschien im Oktober 2006, und es
dauerte eineWeile, bis der in ihm liegende Sprengstoff seine
Wirkung entfaltete. Garton Ash knüpft in dem Artikel an
Ian Burumas Buch Murder in Amsterdam an – in Deutschland
2007 erschienen unter dem Titel Die Grenzen der Toleranz.
DerMord an Theo van Gogh – und präsentiert eine
größere Reflexion über die Frage, wie die Muslime in den
westeuropäischen Ländern zu integrieren seien. Er empfiehlt
am Ende seines Artikels den »islamischen Reformer«
Tariq Ramadan als Ansprechpartner für denWesten.
Hier war Stoff für einen Streit – einen notwendigen Streit –,
der in diesem Band dokumentiert ist und der einen faszinierenden
Ausschnitt der säkularen, noch längst nicht abgeschlossenen
Auseinandersetzung mit dem Islam in Europa
und der Rolle Europas für den Islam darstellt. Im November
2006 kontaktierte ich Pascal Bruckner, den ich imApril
zuvor in New York bei einer Podiumsdebatte über ebendieses
Thema – Islam in Europa – kennengelernt hatte, um
ihn auf Garton Ashs Artikel und Burumas Buch hinzuweisen.
Ich schrieb ihm, dass sich eine interessante Debatte
abzeichne, die zugleich höchst aktuell und ganz klassisch
sei, ein Wiedergänger des alten Widerstreits zwischen der
englischen und französischen Aufklärung. Worin liegt die
wahre Liberalität, in der Toleranz einer anderen Religion
und Kultur, sogar wenn sie selbst Intoleranz in sich birgt,
oder imHochhalten allgemeingültiger Begriffe der Aufklärung
und der Kritik der Religion an sich?
Pascal Bruckner ließ sich nicht lange bitten. Er schrieb eine
ausführliche und scharfe Polemik, die im Januar 2007 im
Perlentaucher und in signandsight.com, dem englischsprachigen
Dienst des Perlentauchers, veröffentlicht wurde und
für internationales Aufsehen sorgte. Dem »Fundamentalismus
der Aufklärung« setzte Bruckner den Begriff des »Rassismus
des Antirassisten« entgegen. So waren auf beiden
Seiten neuralgische Punkte getroffen. Bald diskutierten Medien
in ganz Europa und den USA mit, wobei sich signand
sight.com, das Online-Magazin, das die Internationalisierung
der Öffentlichkeit vorantreibt, indem es wichtige Artikel
aus nicht-englischsprachigen europäischen Ländern
in englischer Übersetzung publiziert, als idealer Beschleuniger
erwies.
Alle drei Protagonisten der Debatte können für sich beanspruchen,
aus antitotalitären Denktraditionen zu kommen.
Pascal Bruckner gehört zum Umkreis der Neuen Philosophen.
Der Titel des Buchs, mit dem er zu Beginn der achtziger
Jahre bekannt wurde, ist paradigmatisch: Das Schluchzen
desweißen Mannes.Bruckner ist ein Analytiker des auch von
Fran¸cois Furet in der westlichen Linken diagnostizierten
»bürgerlichen Selbsthasses«. In Das Schluchzen des weißen
Mannes entlarvt er den Schuldkomplex des Westens gegenüber
der sogenannten DrittenWelt als einen eitlenNeokolonialismus,
der die Anderen in seine romantisierte »Andersheit
« einsperrt – ein Motiv, das in dieser Debatte als Kritikam
Multikulturalismus wiederkehrt. Ian Buruma wurde dem
deutschen Publikum durch ein Buch über die Vergangenheitsbewältigung
in Deutschland und Japan bekannt; Erbschaft
der Schuld. Zuletzt schrieb er glänzende Reportagen
über chinesischeDissidenten in der Diaspora und analysierte
zusammen mit Avishai Margalit den Anti-Okzidentalismus.
In Die Grenzen der Toleranz. Der Mord an Theo van Gogh
entfaltet er ein ungeheuer differenziertes und einsichtsvolles
Panorama der niederländischen Gesellschaft. Timothy Garton
Ash ist der seltene Fall eines Briten mit einer Schwäche
für Deutschland und einer der wichtigsten Denker des Umsturzes
von 1989. Außerdem ist er – neben Christopher Hitchens,
der im Internetmagazin Slate übrigens ebenfalls gegen
Garton Ashs Artikel polemisierte – sicher einer der scharfsinnigsten
Publizisten Großbritanniens.
Die Debatte wäre nicht mit solcher Leidenschaft geführt
worden, gäbe es nicht diese beiden außergewöhnlichen
Kristallisationsfiguren, um die sie kreiste: Ayaan Hirsi Ali
und Tariq Ramadan. Sie repräsentieren die Extreme der
Positionen, die muslimisch geprägte Intellektuelle in Europa
zum Islam einnehmen können: einerseits die Infragestellung
der Religion an sich, andererseits die Behauptung,
dass der Islam als solcher ohne Weiteres in den Westen
integrierbar sei, und dies sogar ohne eine historische Relativierung
der Schrift. Sie vertreten diese Positionen mit so
viel Grazie, Charisma und Schönheit, dass sie tatsächlich
als Repräsentanten gelten können, Königskinder des Diskurses.
Die Demokratie ist keine Espressomaschine. Am Ende einer
Debatte lässt sich die Wahrheit nicht davontragen wie
ein Caf´e Cr`eme, zu dem sich zuvor strikt divergierende
Essenzen glücklich vereint hätten. Debatten suchen ohnehin
nicht die Mischung oder den Kompromiss, sondern
eine Schärfung der Standpunkte. Sie bleiben in der Schwebe.
Darum antwortete Pascal Bruckner auf die Frage, ob er
auf die letzte Erwiderung Ian Burumas und Timothy Garton
Ashs seinerseits erwidern wolle, mit einem Wort Flauberts:
»Es ist eine Dummheit, das letzte Wort haben zu
wollen.« Wenn sich die Wahrheit einfach so sagen ließe,
wäre die Demokratie, der instituierte Streit, ein überflüssiges
Regime. Und doch geht es in solchen großen Debatten
immer um nichts als die Wahrheit, die sich im Getümmel
nur nicht gleich begreifen lässt. Da kann ein Buch nützen.
Es dokumentiert und stellt Distanz her – für spätere Prüfung
der Positionen. Bei der Debatte um Dreyfus, in der
der Begriff des Intellektuellen als Schimpfwort geboren
wurde, ist heute schließlich unstrittig, wer recht hatte.
Wer die Formel vom »Fundamentalismus der Aufklärung«
prägte, ist unklar. Buruma stellt ihn in seinem Buch als
einen in der Luft liegenden Begriff dar, der etwa auf Ayaan
Hirsi Ali gemünzt werde. Er bringt ihn in Zusammenhang
mit dem konservativen niederländischen Politiker Frits
Bolkestein, der die muslimische Einwanderung im Namen
der Aufklärung begrenzen wollte und dessen Partei sich
Ayaan Hirsi Ali angeschlossen hatte: »Die Aufklärung ist
zur Bezeichnung einer neuen konservativen Ordnung geworden,
und ihre Feinde sind die Fremden, deren Werte
wir nicht teilen können«, kritisiert Buruma.
Garton Ash zitiert eine andere Inspirationsquelle für den
Begriff: den offenen Brief an AyaanHirsi Ali, denMohammed
Bouyeri mit einem Messer an Theo van Goghs Brust
heftete, nachdem er ihn niedergeschossen und ihm die
Kehle aufgeschlitzt hatte.
Das Manifest endet:
»Ich weiß,oh Amerika, du wirst untergehen / Ichweiß, oh Europa,
du wirst untergehen / Ich weiß, oh Niederlande,
ihr werdet untergehen / Ich weiß, oh Ayaan Hirsi Ali,
du wirst untergehen / Ich weiß, oh Fundamentalisten des Unglaubens,
ihr werdet untergehen.«
Anders als Buruma macht sich Garton Ash den Begriff
in dem schon zitierten Satz umstandslos zu eigen. Ayaan
Hirsi Ali hat für ihn den islamischen Fundamentalismus
gegen den Fundamentalismus der Aufklärung getauscht:
»In einem für Historiker politischer Intellektueller altbekannten
Muster ist sie von einem Extrem ins andere gefallen.
« Ayaan Hirsi Alis Denken beschreibt Garton Ash als
»frontale Herausforderung des Islams«. Und darum habe
Bouyeri »nicht völlig falsch« gelegen, »als er als seinen
europäischen Hauptfeind den ›Fundamentalisten des Unglaubens‹
ausmachte.«
Beide, Bouyeri und die Renegatin Hirsi Ali, scheinen sich
für Garton Ash also mit der gleichen Substanz totaler Negation
zu munitionieren, um Europa in der Gemütlichkeit
seiner grau-in-grauen Kompromisskultur gründlich aufzustöbern.
Sie stellen schlichte Prinzipienfragen, wo Garton
Ash und Buruma auf der Notwendigkeit von Differenzierung
bestehen. Sie sagen »Islam«, wo Garton Ash und
Buruma unendlich reiche regionale und historische Schattierungen
einer Kultur ausmachen. Und sie sagen »Aufklärung
« oder »Unglauben«,woGartonAsh und Buruma lauter
unterschiedliche Modelle der Integration erkennen, die
alle ihre Vor- undNachteile haben und neu justiert werden
müssen.
Hierin liegt einer der Schmerzpunkte der Debatte. Lässt
sich die von Timothy Garton Ash gezogene Parallele tatsächlich
aufrechterhalten? Bruckners Attacke, die Anne
Applebaum in der Washington Post mit einem Seufzer der
Ironie und Bewunderung als ein ritterliches Zuhilfeeilen
beschrieb, zielt genau auf diesen Punkt.1 Auch für ihn
schnappt ein altbekannter Mechanismus zu: »Wer sich gegen
die Barbarei auflehnt, wird selbst beschuldigt, ein Barbar
zu sein.«
Einen Fundamentalismus der Aufklärung kann es für
Bruckner gar nicht geben, denn eine Aufklärung, die nicht
über sich selbst aufgeklärt ist, verdient diesenNamen nicht.
Ins Extrem getriebene Aufklärungsdiskurse wie der Kommunismus
oder der pervertierte Darwinismus der Nazis
sind demnach nichts als mörderischer Irrationalismus. »Man
hat im 20. Jahrhundert mehr gegen Gott getötet als in seinem
Namen«, konzediert Bruckner. »Und doch wurden
der Nationalsozialismus und nach ihm der Kommunismus
von demokratischen Regierungen entthront, die ihre Inspiration
aus der Aufklärung und der Philosophie der Menschenrechte
bezogen.«
Hirsi Ali stellt für Bruckner nicht die Prinzipienfragen eines
blutrünstigen Extremismus, sondern der liberalen Gesellschaft.
»Hier findet sich keine Spur von Sektierertum.
Ihre einzigenWaffen sind die der Überzeugung, derWiderlegung,
der Rede. Sie argumentiert mit Vernunft und nicht
mit pathologischem Bekehrungseifer.« Hirsi Ali selbst stellte
sich mit ihrer Berliner Rede vom Februar 2006, als der
Höhepunkt des Streits um die Mohammed-Karikaturen
erreicht war, in die Tradition des Antitotalitarismus. Wir
dokumentieren sie in diesem Band, weil in der Debatte
mehrfach auf sie Bezug genommen wird.
Auch Tariq Ramadan beruft sich auf die Werte der westlichen
Gesellschaft und hält den Islam – bei gegenseitigem
Entgegenkommen – für problemlos integrierbar. Er findet
damit nicht nur die Billigung – wie Hirsi Ali und ihreKritik
am Islam –, sondern die ausdrückliche Unterstützung Garton
Ashs und Burumas. Garton Ashs Essay für die New
York Review of Books kulminiert in einer Aufforderung
an Öffentlichkeit und Politik, »islamische Reformer wie
Tariq Ramadan« zu ermutigen. Buruma wiederum hat Ramadan
für das New York Times Magazine porträtiert und
kommt nach einigem Für und Wider zu dem gleichen Ergebnis
– auch dieser Artikel ist in den vorliegenden Band
integriert.
Beider Namen sind mit dem Namen Voltaires verknüpft.
Hirsi Ali möchte Voltaires Religionskritik auf den Islam
übertragen, handelt sich aber einen Ukas Burumas ein,
denn Voltaire habe sich gegen eine mächtige Institution
gewandt, während Hirsi Ali »nur riskierte, eine Minorität
im Herzen Europas zu kränken, die ohnehin bereits angeschlagen
war«. Ramadan wurde einer breiteren Öffentlichkeit
1993 bekannt, als er zur Verhinderung einer Aufführung
von Voltaires Stück »Mahomet« in Genf beitrug.
In Zeitungsartikeln und einem offenen Brief hatte er auf
die Verletzlichkeit der religiösen Gefühle in der muslimischen
Minderheit hingewiesen. Sein offener Brief wurde
laut einem Artikel Caroline Fourests für die Zeitschrift
Prochoix (Februar 2007) bei einer Diskussionsveranstaltung
über das Stück von verschleierten Mädchen verteilt.
Die Aufführung wurde abgesagt. Ramadan verwahrte sich
gegen den Vorwurf der Zensur: »Sie nennen es ›Zensur‹,
ich sehe darin ›Taktgefühl‹.«Wir baten Ramadan um einen
Beitrag zur Debatte, aber er wollte nicht intervenieren.
Tatsächlich lässt sich der Islamismus als ein gelungener Akt
der Zensur am Westen beschreiben, der den religiösen Gefühlen
der Muslime heute schon von allein das von Ramadan
erbetene Taktgefühl entgegenbringt. Welcher Schriftsteller
würde nach den Morddrohungen gegen Salman
Rushdie nochmit Motiven des Korans spielen, welcher Filmemacher
nach der Abschlachtung van Goghs Koranverse
auf Frauenleiber schreiben? Im Streit um die Mohammed-
Karikaturen verzichteten die allermeisten Zeitungen darauf,
ihre Leser durch Abdruck der Zeichnungen über den
Streitgegenstand zu informieren.
Ramadan bezeichnet sich im Gespräch mit Buruma als
»Reformsalafist«, als Anhänger jener auch in Saudi-Arabien
einflussreichen Erneuerungsbewegung, der sich auch
sein Großvater Hassan al-Banna, der Gründer der Muslimbruderschaft,
verbunden fühlte. Ist Tariq Ramadan vertrauenswürdig?
Es sind schon eine Menge Bücher über
ihn geschrieben worden – mit unterschiedlichem Ergebnis.
Paul Berman reagierte in der New Republic mit einem sehr
ausführlichen und keineswegs freundlich gesinnten Ramadan-
Porträt auf die Bruckner-Buruma-Debatte.2 Antisemitische
und antifeministische Motive sind Ramadan nach
Berman nicht fremd. Allerdings ist sich Berman mit seinen
Kontrahenten Buruma und Garton Ash einig, dass Tariq
Ramadan nicht als Gewaltprediger gelten kann. Eine andere
Frage ist die nach seinerDoktrin. Bassam Tibi bezweifelt
in seinem hier dokumentierten Beitrag, dass Ramadan
eine echte Integration imWesten anstrebt, da er in der Tradition
einer Denkschule argumentiere, deren ursprünglicher
Impuls gegen denWesten gerichtet sei.Den Begriff des
»Euro-Islam« reklamiert Tibi übrigens für sich.
Die Frage ist aber auch, wie westliche Politiker und Intellektuelle
auf Identifikationsfiguren wie Ramadan reagieren
sollen. »Wir sind für Integration«, sagt Ramadan in einer
von Buruma zitierten Rede, »doch es ist unsere Sache zu
entscheiden, was das bedeutet [. . .]. Ich werde dem Gesetz
Folge leisten, allerdings nur insofern, als esmich nicht dazu
zwingt, etwas zu tun, das meinem Glauben widerspricht.«
Im Zweifel müssten westliche Gesetze also der anderen
Gesetzlichkeit des Islam angepasst werden. Die Muslime
haben allerdings nicht das Gefühl, dass ihnen überhaupt
Respekt entgegengebracht wird, konstatiert GartonAsh im
reportagehaften Beginn seines Essays für die New York Re-
view of Books. Er diagnostiziert eine »tief greifende Entfremdung
vieler Muslime« in Europa, die »sehr direkt beigetragen
(habe) zu den terroristischen Angriffen« in New
York, London und Madrid. Die Muslime sind Opfer einer
doppelten, sozialen und psychologischen Ausgrenzung, die
sie zurückschlagen lässt, falls sich Europa nicht bald eines
Besseren besinnt, so Garton Ashs düstere Prognose. Darum
müssen sie über ihre Religion integriert werden, nicht
gegen sie. Wenn die Muslime das Gefühl haben, »ihre Religion
ablegen zu müssen, um Europäer zu werden, dann
werden sie eben keine Europäer sein wollen«, so sein Fazit
in der ersten Antwort auf Bruckner.
Garton Ash präzisierte seine Position in einem weiteren
Debattenbeitrag, den er für den Guardian schrieb. Dissidentinnen
des Islam wie Hirsi Ali verdienten die Solidarität
des Westens, sie seien eine Art Lackmustest für die praktizierte
Toleranz derMuslime gegenüber der Apostasie, die
im Islam klassischerweise als nicht geringes Verbrechen gilt.
Zugleich aber hat Hirsi Ali für ihn durch ihr Bekenntnis
zum Unglauben die Verbindung zu ihrer Herkunft aufgegeben
und wird für eine Annäherung zurmuslimischen Bevölkerung
irrelevant. Auf die Idee, dass Hirsi Alis Schritt
ins Freie zum Vorbild für Millionen muslimischer Mädchen
werden könnte, wie Margriet de Moor in ihrem Beitrag darlegt,
kommt er nicht. Garton Ash unterscheidet zwischen
Dissidenten »außerhalb des Islam«wie Hirsi Ali und »Dissidenten
innerhalb des Islam«. Als einen solchen identifiziert
er den Kairoer GelehrtenGamal al-Banna, einen Großonkel
Tariq Ramadans, der nach intensivem Studium islamischer
Schriften einen Abfall vom Glauben gestatte, während Hirsi
Ali behaupte, der Prophet habe dieApostasie unter Strafe
gestellt: »Wer von beiden, denken Sie, zeigt hier ein tieferes
historisches Wissen des Islam? Wer von beiden wird
eher nachdenkliche Muslime in der Überzeugung ermutigen,
dass sie sowohl gute Muslime als auch gute Bürger
einer freien Gesellschaft sein können?« Paul Berman zitiert
in seinem Artikel für die New Republic allerdings Berichte
des israelischen Middle East Media Research Institute
(MEMRI), nach denen Gamal al-Banna die Anschläge vom
11. September guthieß und Selbstmordattentate in Israel
rechtfertigte.
Auch Buruma plädiert für die Integration der Muslime
durch die Religion. In seinem Buch schildert er seinenwestlich-
moralischen Katzenjammer beim Anblick der entblößten
Frauenleiber im Amsterdamer Rotlichtviertel: »Vielleicht
sind diese Straßen typisch für eine moralisch aus
den Angeln gehobene Gesellschaft ohne Anstand. [. . .] Für
Menschen, deren Glauben auf Anstand gründet und deren
Ehrenkodex jedes Zurschaustellen weiblicher Sexualität
verbietet, ist jedes einzelne Fenster an dieser Amsterdamer
Gracht eine unerträgliche Provokation.« Gegen
Ende seines Buchs stellt sich Buruma auf die Seite desAmsterdamer
Bürgermeisters Job Cohen, der zur Not auch
»bestimmteGruppen orthodoxer Muslime tolerieren« will,
die »ihre Frauen ganz bewusst diskriminieren«.
»Vom Recht auf die Differenz gelangt man rasch zur Differenz
der Rechte«, hält Bruckner entgegen und bringt seine
schärfste Waffe gegen Garton Ash und Buruma in Anschlag:
»Der Multikulturalismus ist ein Rassismus des Antirassismus.
« Die Toleranz gegenüber dem Islam werde auf
demRücken der Frauen ausgetragen. Errungenschaften der
Aufklärung würden im Namen des lieben Friedens auf-
gegeben – aber nur bei den anderen.Denn diese Toleranz ist
für Bruckner Ausschluss: Wir Westler »tragen die Bürde
der Freiheit, der Selbstverwirklichung, der Gleichberechtigung
der Geschlechter, euch bleiben die Freuden des Archaischen,
des Missbrauchs nach Vorvätersitte, der arrangierten
Heiraten, Kopftücher und Vielehen.« Auch Necla Kelek
benennt in ihrem Beitrag einen Preis der Toleranz, den Buruma
und Garton Ash ihrer Meinung nach verdrängen:
»Der politische Islam will, mit dem Kopftuch, mit der
geschlechterspezifischen Trennung öffentlicher Räume die
Apartheid der Geschlechter in den freien europäischen Gesellschaften
etablieren.« Übrigens bestreitet sie auch, dass
der Islam regional und historisch so vielfältig sei, wie es
Garton Ash und Buruma behaupten, und sie zitiert aus
der Kairoer Erklärung der Menschenrechte, die von 45 islamischen
Staaten unterzeichnet wurde: »Artikel 24: Alle
Rechte und Freiheiten, die in dieser Erklärung genannt
werden, unterstehen der islamischen Scharia. Artikel 25:
Die islamische Scharia ist die einzig zuständige Quelle für
die Auslegung oder Erklärung jedes einzelnen Artikels dieser
Erklärung.«
Diese Debatte ist auch eine Debatte zwischen zwei gesellschaftlichen
Modellen, dem französischen Republikanismus
und der angelsächsischen Tradition des Multikulturalismus,
zwischen einer Aufklärung der abstrakten, allgültigen
Prinzipien und einer Aufklärung des laissez-faire
und des Religionsfriedens. Faszinierend ist, dass die Protagonisten
beider Seiten aus antitotalitären Denkrichtungen
kommen, im Verhältnis zu Islam und Islamismus aber extrem
divergierende Positionen entwickeln – Ulrike Ackermann
kommt hierauf in ihrem Debattenbeitrag zu sprechen.
Und was ist hier rechts und was links? Garton Ash und
Buruma argumentieren mit einer positiven Grundeinstellung
zu Religion, eine Haltung, die traditionell der Rechten
zugeschrieben wird. Bruckner verteidigt republikanische
Prinzipien, und der Republikanismus ist traditionell Schild
und Schwert der französischen Linken – also eher Pierre
Bourdieus, der die antitotalitären Neuen Philosophen zutiefst
verachtete. Und doch ist Bruckner hier der »Rechte«,
der die Rechte des Individuums hochhält, und die Gegenseite
die »Linke«, der das Kollektiv am Herzen liegt. Die
»Linke« verteidigt die »Kultur«, die »Rechte« dagegen die
Werte der Aufklärung. Verkehrte Welt, in der Feministinnen
wie Ayaan Hirsi Ali oder Necla Kelek vorgeworfen
wird, sie seien die nützlichen Idiotinnen der Reaktion.
Beide Argumentationen weisen historische Schründe auf,
die in dieser Debatte noch nicht ausgelotet wurden. Der
französische Laizismus konnte nur entstehen, weil Frankreich
ein religiös purifiziertes, homogen katholisches Land
war. Ohne Ludwigs XIV. Dummheit des Jahrtausends, den
Widerruf des Edikts von Nantes und die Vertreibung der
Protestanten, hätte sich Frankreich, die »älteste Tochter der
Kirche«, nicht so leicht von seiner Mutter emanzipieren
können. Hätte es weiter eine starke Fraktion von Protestanten
gegeben, wäre auch Frankreich nicht um einen Religionsfrieden
herumgekommen. Und was das laissez-faire
angeht, das von Briten gernmit hochgezogener Augenbraue
verteidigt wird: Welches war noch mal das Land, in dem
gerade der letzte religiös grundierte Bürgerkrieg Westeuropas
zu Ende ging, wenn auch ohne Handschlag? Adam
Krzeminski ist der einzige Debattenteilnehmer, der von
Polen aus einen gelassenen Blick auf das unversöhnliche
Entweder-Oder werfen kann. Beide Positionen werden gebraucht,
schreibt er, sowohl Voltaire als auch Lessing, sowohl
die Prinzipienfestigkeit der Schulen ohne Kopftuch
als auch die humane Grauzone der Toleranz, die Entwicklung
zulässt.
Die Debatte war auch ein medienhistorisches Ereignis. Ein
Franzose attackiert einen britischen und einen britisch-niederländischen
Intellektuellen, die in New Yorker Medien
über »Islam in Europa« nachdenken, und er nutzt dafür
ein deutsches, wenn auch englischsprachiges Internetmagazin,
signandsight.com. Buruma und Garton Ash parierten
den Pfeil aus unerwarteter Richtung mit bewundernswerter
Professionalität. Postwendend sandten sie ihre Antworten.
Hätte Bruckner den Artikel in seiner Zeitschrift Le
meilleur des mondes veröffentlicht, wäre die Debatte möglicherweise
gar nicht zustande gekommen. Somischten sich
bald Intellektuelle aus ganz Europa ein. Paul Cliteur aus
Amsterdam sandte eine Kritik des Buruma-Buchs und attackierte
auch den Verteidiger des Multikulturalismus Stuart
Sim, der sich seinerseits zuWort meldete. In Stockholm intervenierte
Lars Gustafsson, wiederum in Amsterdam verteidigte
Halleh Ghorashi den Multikulturalismus gegen
Ayaan Hirsi Ali. Der Corriere della Sera berichtete ganzseitig
über die Debatte. Le Monde übernahm den Artikel
Bruckners und die Antwort Burumas, ebenso Expressen
in Stockholm und Trouw in denNiederlanden. In der Washington
Post berichtete Anne Applebaum, in der New Republic
reagierte Paul Berman. Eine europa- und weltweite
Debatte, die Netz und Print grandios verschränkte.
***