Uwe Wirth (Hg.), unter Mitarbeit von Julia Paganini: Bewegen im Zwischenraum

Lebensraum
Zwischenraum
kadmos13-7bewegen-zwischenraum
http://www.kultur-punkt.ch/lebensraum/kadmos13-7bewegen-zwischenraum.htm
Online-Publikation: Juli  2013  im Internet-Journal <<kultur-punkt.ch>>
Ereignis-, Ausstellungs-, AV- und Buchbesprechung
<< Uwe Wirth  (Hg.), unter Mitarbeit von Julia Paganini: Bewegen im Zwischenraum . Reihe "Wege der Kulturforschung" Bd. 3 >>
406 Seiten, 15 x 23 cm, broschiert; ISBN: 978-3-86599-170-6; 29.80 €
Kulturverlag Kadmos, Berlin; http://www.kv-kadmos.com;

Inhalt
Im Zuge des spatial turn hat das ›Räumeln‹ in den Kulturwissenschaften Hochkonjunktur. Dabei kann man feststellen, dass bei der Reflexion unterschiedlicher Raumkonzepte – vom Haus über das Territorium bis hin zum abstrakten ›Repräsentationsraum‹ – der Aspekt des Zwischenraums als materielle oder imaginäre Grenze eine entscheidende Rolle spielt: sei es die häusliche Schwelle oder der Schwellenritus; sei es die Leerstelle oder der postkoloniale space inbetween; sei es die paratextuelle zone intermediaire oder der assoziative respektive ikonographische Zwischenraum.
Ausgehend von der These, dass Räumlichkeit durch Bewegungen im Raum performativ konstituiert wird und dass verschiedene Räume demgemäß durch Zwischenräume definiert werden, stellt sich die Frage, wodurch sich das Bewegen im Raum vom Bewegen im Zwischenraum unterscheidet. Wie bewegt man sich im ›Dazwischen‹? Gibt es spezifische ›zwischenräumliche Bewegungspraktiken‹ – und wie wirken sich diese zum einen auf die Konstitution des Raums, zum anderen auf die Repräsentation des Zwischenraums aus?

Leseprobe
http://ssl.einsnull.com/paymate/dbfiles/pdf/resource/2294.pdf
 
Mit Beiträgen von
Tina Bawden, Michael Bies, Natalie Binczek , Kai Bremer, Jörg Dünne, Ottmar Ette, Alexander Friedrich, Hannes Fricke, Michael Gamper, Thomas Gloning, Alexander Honold, Linda Karlsson Hammarfelt Bernhard Kleeberg, Markus Krajewski, Claudia Schmölders, Bernd Stiegler, Jörg Wiesel , Uwe Wirth, Cornelia Zumbusch

Herausgeber
Uwe Wirth, geb. 1963, ist Professor für Literatur- und Kulturwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Er studierte Germanistik, Philosophie und Geschichte in Heidelberg, Frankfurt und Berkeley. Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Kultur- und Medientheorie, Semiotik sowie deutsche Literatur um 1800
Migros kulturprozent
http://www.migros-kulturprozent.ch/

Fazit
Der Herausgeber Uwe Wirth hat, zusammen mit Julia Paganini und einem rund zwanzigköpfigen Team, es unternommen  zur Thematik "Bewegen im Zwischenraum", in der  Reihe "Wege der Kulturforschung" bei Kulturverlag Kadmos, einen umfassenden Über- und Einblick zu schaffen.
Dabei wurden sowohl die Formen als auch die Praktiken, samt der auftretenden Schnittstellen, in den materiellen und abstrakten Zwischenräumen mit hoher Kompetenz ins Visier genommen. Inhaltlich wurde der Begriff " Territorium bis hin zum abstrakten ›Repräsentationsraum‹ – d.h. der Aspekt des Zwischenraums, neben der materiellen auch die "imaginär-obskure" Grenze mit seiner entscheidenden Rolle be- und hinterleuchtet.
Dabei ist dem Team "eine Art dialektisches Tänzeln" aufgefallen, bei dem sich das An-die-Grenze-Gehen, das Hindurch-Gehen und das Über-die-Grenze-Gehen abwechseln. Das erscheint dem Forschungsteam als ein vieldeutiger - für uns zugleich ein kultureller Akt der Bewegung, bis hin zur Grenzauflösung, sein.
m+w.p13-7


---------------------------------------------------------
Zwischenräumliche Bewegungspraktiken
Uwe Wirth
Man könnte die Geschichte der Grenzen schreiben – dieser
obskuren Gesten, die, sobald sie ausgeführt, notwendigerweise
schon vergessen sind –, mit denen eine Kultur
etwas zurückweist, was für sie außerhalb liegt; und
während ihrer ganzen Geschichte sagt diese geschaffene
Leere, dieser freie Raum, durch den sie sich isoliert, ganz
genau soviel über sie aus wie über ihre Werte.1
Seit dem sogenannten spatial turn hat die Refl exion unterschiedlicher
Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften Hochkonjunktur. Dabei wird
immer wieder auf einen Aspekt verwiesen, der gleichwohl merkwürdig
randständig bleibt: der Zwischenraum als materielle oder imaginäre Grenze.
Sei es die häusliche Schwelle (Bachelard) oder der Schwellenritus (van
Gennep), der postkoloniale in-between-space (Bhabha), die paratextuelle
zone intermediaire (Genette) oder eine assoziative Ikonologie des Zwischenraums
(Warburg). All diese Aspekte verweisen auf ein besonderes
Feld von Praktiken im Raum, die in einem Zwischenbereich2 stattfi nden,
nämlich die Bewegungen im Zwischenraum.
Ausgehend von den Hypothesen, dass erstens Räumlichkeit durch Bewegungen
im Raum konstituiert und zweitens durch Zwischenräumlichkeit
defi niert wird, stellen sich die folgenden Fragen: Wie bewegt man sich im
›Dazwischen‹? Gibt es spezifi sche ›zwischenräumliche Bewegungspraktiken‹
– und wie wirken sich diese sowohl auf die Konstitution des Raums
als auch auf die Repräsentation des Zwischenraums aus?
Angesichts einer raumgreifenden Debatte um topologische und topographische
Aspekte aus soziologischer, vor allem aber auch aus kulturund
literaturwissenschaftlicher Sicht,3 sei hier auf einige begriffl iche und
metaphorische Anknüpfungspunkte zwischen Raum und Zwischenraum
1 Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft, S. 9; Hervorh. im Original.
2 Vgl. de Certeau: Kunst des Handelns, S. 14.
3 Vgl. hierzu unter anderen: Böhme: »Einleitung: Raum – Bewegung – Topographie«; Stockhammer
(Hg.): TopoGraphien der Moderne; Bachmann-Medick: Cultural Turns (hier vor
allem das Kapitel »Special Turn«, S. 284−328).
8 Uwe Wirth
hingewiesen, die den Weg von einer dominant theoretischen Raumrefl exion
zu einer Analyse von Praktiken im Zwischenraum ebnen sollen.
Erstens: Der Raumbegriff steht seit jeher in einem Spannungsverhältnis
zum Begriff des Ortes. So defi niert Aristoteles in seiner Physik den Ort
als »Grenze des umfassenden Körpers«, wobei er unter dem von Ort umfassten
Körper »das in der Raumbewegung Bewegbare«4 versteht. Dass
es sich bei dem Ort um etwas »Bedeutendes und schwer zu Erfassendes«
handelt, macht Aristoteles zum einen an den Schwierigkeiten fest, welche
die Beschreibung von Platz- respektive Ortsveränderungen bereitet, zum
anderen aber auch an der Möglichkeit, dass »eine von den bewegten Größen
verschiedene Ausdehnung inzwischen sei«.5 Aus dieser defi nitorischen
Kopplung von Ort, Grenze und Körper ergibt sich für Aristoteles die Frage
nach dem Zwischenraum als Bezeichnung für das »inzwischen Liegende als
Leeres«.6 Allgemeiner formuliert: Mit der Bewegung von einem Ort zum
anderen wird der Raum als Zwischenraum thematisiert, etwa im Sinne des
lateinischen Ausdrucks spatium. Jede Ortsveränderung impliziert demnach
eine Bewegung im Zwischenraum: eine Bewegung des Spazierens, die
insofern raumkonstitutiv ist, als erst die Bewegung zwischen zwei Orten
diese Orte zueinander in eine topologische Relation setzt.
Zweitens: Der Raumbegriff, wie er im Deutschen verwendet wird, hat,
wenn man seiner Wortgeschichte folgt, zunächst eine dominant territoriale
respektive geographische Konnotation. Im Grimmschen Wörterbuch wird
Raum als »gegebene stätte für eine ausbreitung oder ausdehnung« gefasst
und dem Ort entgegengestellt: »gegensatz dazu ort, der auf einem solchen
raume erst entsteht«.7 Damit interferieren im Raumbegriff, wie Jörg Dünne
und Stephan Günzel im Vorwort zu ihrem Reader Raumtheorie feststellen,
zwei »sehr unterschiedliche theoretische Positionen: zum einen wird Raum
relational bestimmt, nämlich durch eine raumstiftende Bewegung, etwa
dem Spaziergang zwischen zwei oder mehreren Orten, zum anderen wird
Raum lokal bestimmt, durch seine territoriale Bindung«.8
Diese Doppelbestimmung fi ndet ihre Reprise im dritten Teil von Michel
de Certeaus Buch Kunst des Handelns, in dem die »Praktiken im
Raum« untersucht werden. Er beginnt darin mit den Praktiken im urbanen
Raum. Diese stehen im Spannungsfeld von »Sehen« und »Gehen«,9 von
Voyeur und Flaneur. Während Orte durch distanzierte Akte des Sehens
4 Aristoteles: Physik, Buch IV, 212a.
5 Ebd.
6 Ebd. Vgl. mit Blick auf das Verhältnis von Körper und Zwischenraum auch Irigaray: »Der
Ort, der Zwischenraum«.
7 Lemma: »Raum«, in: Grimm/Grimm: Das Deutsche Wörterbuch, Bd. 14, Sp. 276.
8 Dünne/Günzel: »Vorwort«, S. 10.
9 Vgl. de Certeau: Kunst des Handelns, S. 186ff.
Zwischenräumliche Bewegungspraktiken 9
›beherrscht‹ werden können – und zwar immer dann, wenn man sich von
einer Zentralposition aus einen strategischen Überblick über Schauplätze
verschaffen will (sei es auf einem Turm, sei es von einem Feldherrenhügel
aus) – haben Akte des Gehens eine eher teilnehmende Erschließungsfunktion:
Der Fußgänger, der Flaneur – beide eignen sich die Stadt mit Akten des
Gehens an und vollziehen zugleich eine, wie de Certeau schreibt, »räumliche
Realisierung des Ortes«,10 indem sie auf dem Wege körperlich mit
verschiedenen Orten in Berührung kommen. Dabei erfährt der Fußgänger
nicht nur etwas über den einzelnen Ort, sondern im Spazierengehen wird
für ihn die Ortsveränderung als zwischenräumliche Passage am eigenen
Leibe erfahrbar. Der Fußgänger erlebt mit der Ortsveränderung die Differenz
zwischen dem positionalen Ort einerseits und dem relationalen Raum
zwischen zwei Orten andererseits, also, wie es Marc Augé im Anschluss an
de Certeau formuliert hat: die Differenz zwischen Ort und »Nicht-Ort«.11
Insofern macht das Gehen als Bewegung im Zwischenraum die, mit Walter
Benjamin zu sprechen, »Zweideutigkeit des Raumes«12 bewusst.
Um eben diese Zweideutigkeit geht es auch de Certeau: Im Gegensatz
zum Ort als eine »momentane Konstellation von festen Punkten«, die einen
»Hinweis auf mögliche Stabilität«13 enthält, weist der Raum »weder
eine Eindeutigkeit noch eine Stabilität von etwas ›Eigenem‹« auf, vielmehr
erscheint der Raum als »ein Gefl echt von beweglichen Elementen. Er ist
gewissermaßen von der Gesamtheit der Bewegungen erfüllt, die sich in ihm
entfalten«.14 Der Raum ist mithin das »Resultat von Aktivitäten, die ihm
eine Richtung geben«,15 wobei das Ausführen dieser »raumschaffenden
Praktiken« den Raum als Konsequenz einer zwischenräumlichen Bewegungspraxis
konstituiert. »Insgesamt«, so lautet de Certeaus bündige Formel,
»ist der Raum ein Ort, in dem man etwas macht«.16 Diese berühmte
Formulierung de Certeaus stellt den Ausgangspunkt für Augés Überlegungen
zur Topologie der Nicht-Orte dar. Für Augé ist der Raum ein Nicht-Ort,
in dem man etwas macht, nämlich sich bewegt. Der Archetypus des Nicht-
Ortes ist der »Raum des Reisenden«:17 zum einen die Wartesäle, in denen
Menschen, die zu Passagieren geworden sind, auf Züge, Busse, Schiffe und
Flugzeuge warten; zum anderen die ›mobilen Behausungen‹ selbst, die sich
als Verkehrsmittel von einem Ort zum anderen bewegen lassen, um den
10 Ebd., S. 189.
11 Vgl. Augé: Nicht-Orte, S. 84.
12 Benjamin: »Das Passagen-Werk«, Bd. V.2, S. 1050.
13 De Certeau: Kunst des Handelns, S. 218.
14 Ebd.
15 Ebd.
16 Ebd.; Hervorh. im Original.
17 Augé: Nicht-Orte, S. 90.
10 Uwe Wirth
dazwischenliegenden Raum zu überwinden. Hier fällt eine terminologische
Merkwürdigkeit auf: Sowohl der Raum als Ort, in dem man etwas macht als
auch der Raum als Nicht-Ort, in dem man etwas macht, sind, wenn man die
Sache von der Topo-Logie her bedenkt, Zwischenräume – Zwischenräume,
in denen man etwas macht: in denen man sich bewegt. Merkwürdig ist de
Certeaus Formulierung aber nicht deswegen, weil er die Bezeichnung ›Raum‹
für das Bezeichnete ›Zwischenraum‹ verwendet – das war, wie wir eingangs
festgestellt hatten, bereits in der aristotelischen Raumdefi nition impliziert
gewesen. Merkwürdig ist de Certeaus Formulierung vielmehr, weil der
Zwischenraum als Ort thematisiert wird, obwohl der Zwischenraum doch
eigentlich gerade das zwischen zwei Orten Liegende ist, also ein Nicht-Ort.
Insofern ist die Zweideutigkeit des Raumes genau genommen eine Zweideutigkeit
des Ortes. Tatsächlich scheint dies der Fluchtpunkt von Augés
Auseinandersetzung mit de Certeau zu sein, nämlich die Fadenscheinigkeit
der Differenz zwischen Orten und Nicht-Orten zu beschreiben:
Ort und Nicht-Ort sind fl iehende Pole, der Ort verschwindet niemals vollständig,
und der Nicht-Ort stellt sich niemals vollständig her – es sind Palimpseste, auf
denen das verworrene Spiel von Identität und Relation ständig aufs Neue seine
Spiegelung fi ndet.18
Die Zweideutigkeit des Raumes, die sich in den Begriffen der Passage und
des Transits spiegelt, wurde und wird in den Postcolonial Studies,19 der
Migrationsforschung,20 der Raumsoziologie21 aber auch in einer theoretisch
avancierten Form der Auseinandersetzung mit Reiseliteratur – Stichwort
Literatur in Bewegung22 – thematisiert. In all diesen Domänen geht es
um die Konzeptualisierung kulturell kodierter Ortsveränderungen. Passage
und Transit sind dabei zum einen Bewegungsformen, die sich innerhalb
einer kulturellen Lebenswelt als rites de passage, als Übergangs- respektive
Schwellenriten vollziehen.23 Zum anderen sind Passage und Transit aber
auch Bewegungsformen, die für alle Praktiken stehen, durch die kulturelle
und politische Grenzen sichtbar werden – vom physischen Akt des
Grenzübert ritts bis hin zum imaginären Akt einer Überblendung und Vermischung
von unterschiedlichen, kulturell kodierten Riten, Semantiken und
Weltanschauungen.24
18 Ebd., S. 83f.
19 Vgl. Breger/Döring (Hg.): Figuren der/des Dritten.
20 Vgl. hierzu etwa die 2011 erschienene Anthologie von Göktürk/Gramling/Kaes u. a. (Hg.):
Transit Deutschland, insbesondere die »Einleitung«.
21 Vgl. Soja: Postmodern Geographies.
22 Vgl. Ette: Literatur in Bewegung.
23 Vgl. van Gennep: Übergangsriten.
24 Vgl. Rushdie: »Imaginary Homelands«, S. 19.
Zwischenräumliche Bewegungspraktiken 11
Diese Konstellation wird von Homi Bhabha gleich zu Beginn seines
Buchs The Location of Culture mit der Metapher des in-between-space
umschrieben.25 Das in-between soll für eine gleichermaßen reale und
imaginäre kulturelle Zwischenräumlichkeit stehen, für eine Dynamik des
Übergangs, die Bhabha an anderer Stelle als translation, hybridity oder
third space bezeichnet.26 Dabei bewegt sich Bhabha im konnotativen Hof
der Architektur; so ist dem ersten Kapitel zu The Location of Culture,
das sich dem Leben an der Grenze (»border lives«) widmet, ein Zitat aus
Martin Heideggers Aufsatz »Bauen Wohnen Denken« vorangestellt: »Die
Grenze ist nicht das, wobei etwas aufhört, sondern, wie die Griechen es
erkannten, die Grenze ist jenes, von woher etwas sein Wesen beginnt«.27
Interessanterweise startet Bhabha seinen Versuch, Grenzen aus der Perspektive
postkolonialer Theorie zu denken, nicht im Rekurs auf territoriale
Metaphern, etwa die Metapher der Brücke, deren Wesen Heidegger
in »Bauen Wohnen Denken« ausführlich ergründet, sondern im Rekurs
auf einen Zwischenraum, der eigentlich nur in Häusern, also im Kontext
umbauten Raums anzutreffen ist: das Treppenhaus. Das Treppenhaus
wird von Bhabha als »liminal space«28 par excellence ins Spiel gebracht,
als »pathway between the upper and lower areas«, um so ethnische und
soziale Differenzen zu markieren. Das Auf und Ab, das Hin und Her, das
man im Treppenhaus beobachten kann, macht dieses zu einem Schwellenrespektive
Übergangsraum. So wird es zur »interstitial passage between
fi xed identifi cations [that] opens up the possibility of a cultural hybridity
that entertains difference without an assumed or imposed hierarchy«.29
Mit anderen Worten: Das Treppenhaus wird als architektonischer Zwischenraum
– als in-between im Sinne der interstitial passage – adressiert,
der spezifi sche Bewegungsformen ermöglicht und erfordert. Zugleich deutet
sich hier eine Engführung der Begriffe interstitial passage und cultural
hybridity an, um (unter der Prämisse, anti-hierarchische Möglichkeiten
des Übergangs zwischen Klassen und Rassen zu erkunden) Zwischenräumlichkeit
als Resultat einer lebensweltlichen Ortsveränderung, nämlich als
»activity of displacement«30 zu fassen. Diese Form der Ortsveränderung
25 Vgl. Bhabha: The Location of Culture, S. 1f.
26 Vgl. hierzu: Bachmann-Medick: »Dritter Raum«, S. 21f.
27 Heidegger: »Bauen Wohnen Denken«, S. 29; Hervorh. im Original.
28 Bhabha: The Location of Culture, S. 5.
29 Ebd., S. 5.
30 Ebd. »It is in the emergence of the interstices – the overlap and displacement of domains
of difference – that the intersubjective and collective experiences of nationness, community
interest, or cultural value are negotiated«. Ebd., S. 2. Vgl. auch Hohnsträter: »Homi K.
Bhabhas Semiotik der Zwischenräume – Eine überzeugende Konzeptualisierung interkultureller
Konflikte?«, S. 66.
12 Uwe Wirth
konstituiert einen »special space of intercultural activity«,31 der als interkultureller
Zwischenraum gedacht werden muss: als Raum, der die Bedingung
der Möglichkeit für Hybridität und Übersetzung darstellt.
Der interkulturelle Zwischenraum entspricht nicht nur dem, was gemeinhin
als third space bezeichnet wird, sondern bildet auch eine contact
zone, in der sich, wie Mary Louise Pratt feststellt, die beteiligten Subjekte
durch ihre Beziehungen zueinander überhaupt erst als kulturell kodierte
Subjekte konstituieren.32 Die contact zone erweist sich damit ebenso wie
der third space als Ermöglichungsgrund für interkulturelle Begegnungen
aller Art – sie ist die Zone, in der kulturelle Differenzen und Machtasymmetrien
thematisiert, aber auch gemeinsame Interessen ausgehandelt
werden können.33 Der Begriff des Zwischenraums wird hierbei in zwei
Bedeutungen verwendet: zum einen als abstrakter Raum, als Sphäre der
Überblendung von verschiedenen kulturell kodierten Lebensweisen und
Weltanschauungen; zum anderen als konkreter Ort der Begegnung, sei es im
Sinne einer »colonial frontier«,34 die das wilde Außen durch eine Grenzzone
vom zivilisierten Innen trennt, sei es im Sinne eines »Zwischenbereichs«,35
der auf neutralem Gelände liegt – in einem Bereich also, auf den sich zwei
Parteien als einen dritten Ort geeinigt haben. Diese beiden Möglichkeiten,
Zwischenräume als Grenzräume zu denken, bergen ein Problem, das auch
schon bei Heideggers Überlegungen zum Denken der Grenze mitschwingt
und von de Certeau explizit gemacht wird; die Frage nämlich, »[z]u welchem
von den Körpern, die Kontakt miteinander haben, gehört die Grenze?
Weder dem einen noch dem anderen. Heißt das: niemandem?«36
Das Paradox der Grenze besteht darin, dass wir Grenzen eigentlich nur
in der Logik des Entweder/Oder denken können, mithin als topologische
Linie, die einen Raum umschließt und diesen von einem anderen trennt.
Bei dieser topologischen Denkweise bleibt kein theoretischer Raum für
den Zwischenraum. Die Möglichkeit eines Grenzzwischenraumkonzepts
ergib sich erst, wenn man davon ausgeht, dass ein »dynamischer Gegensatz
zwischen jeder Grenzsetzung und ihrer Veränderlichkeit«37 besteht.
Zwar gibt es, wie de Certeau feststellt, vom Wohnraum bis zur Reise
31 Tomas: Transcultural Space and Transcultural Beings, S. 21.
32 Vgl. Pratt: Imperial eyes, S. 8.
33 Vgl. hierzu Eigmüllers Aufsatz: »Der duale Charakter der Grenze«, in dem sie die Grenze
als eine Art Kontaktzone beschreibt, die einen »Verhandlungsraum über Herrschaftsansprüche
« darstellt – ein Raum, »in dem die Grenzen von Herrschaft immer wieder neu
bestimmt werden« (S. 56).
34 Pratt: Imperial eyes, S. 8.
35 De Certeau: Kunst des Handelns, S. 14.
36 Ebd., S. 233.
37 Ebd., S. 232.
Zwischenräumliche Bewegungspraktiken 13
»keine Räumlichkeit, die nicht durch die Festlegung von Grenzen gebildet
würde«,38 doch zugleich stellt die Grenze auch ein Hindernis dar, das man
überschreiten oder überwinden will. Dies gilt freilich nur für Grenzen,
die bereits festgelegt wurden. Anders sieht es aus, wenn man sich noch
im Prozess der Grenzfestlegung befi ndet. In dieser Übergangsphase bilden
sich Grenzen durch Bewegungen in einem noch nicht klar defi nierten
Zwischenraum heraus. Eben dies ist die Pointe des Grenzzwischenraumkonzepts
der frontier.
I. Grenz-Zwischen-Räume
Die Signifi kanz der frontier liegt darin, wie Frederick Jackson Turner in
seinem Buch The Frontier in American History schreibt, dass sie einen
unbegrenzten, freien Raum bezeichnet, der die Möglichkeit künftiger Besiedelung
eröffnet. Mit anderen Worten: Die frontier als unbewohntes
Niemandsland ist ein Möglichkeitsraum, wobei der Begriff der frontier
ein elastischer Begriff ist, »[that] does not need sharp defi nition«.39 Das
Konzept der frontier erscheint – gerade was die Unschärfe der Defi nition
hinsichtlich der Grenze betrifft – als eminent kolonialistisches Konzept. Es
wird von der Idee eines noch nicht »gekerbten«40 Raums gespeist, der erst
noch kulturell erschlossen – sprich: kolonisiert – werden muss. Zugleich
unterhält das Konzept der frontier eine unterirdische Verbindung zum Konzept
der rites de passage. So schreibt Arnold van Gennep: »Bei uns berührt
heute ein Land das andere; aber früher […] war das keineswegs so. Jedes
Land war von einem neutralen Streifen umgeben«.41 Erst seit der Verbreitung
staatlicher Ordnung »reiht sich Staat an Staat«, wie Markus Schroer
schreibt, »der Zwischenraum ist auf ein Nichts zusammengeschrumpft«.42
Das gleiche Prinzip der »neutralen Zone« macht van Gennep bei der
Trennung profaner und sakraler Sphären aus:
Infolge der Relativität des Sakralen gehören für den, der sich in der neutralen
Zone befi ndet, die beiden angrenzenden Territorien der sakralen Sphäre an, für
die Bewohner dieser beiden Gebiete aber ist das Niemandsland sakral. Jeder,
der sich von der einen Sphäre in die andere begibt, befi ndet sich eine Zeitlang
sowohl räumlich als auch magisch-religiös in einer besonderen Situation: er
schwebt zwischen zwei Welten.43
38 Ebd., S. 228.
39 Turner: The Frontier in American History, S. 3.
40 Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 496.
41 Van Gennep: Übergangsriten, S. 27.
42 Schroer: Räume, Orte, Grenzen, S. 190.
43 Van Gennep: Übergangsriten, S. 27. Vgl. hierzu auch Menninghaus: Schwellenkunde,
S. 28.
14 Uwe Wirth
Diese Situation bezeichnet van Gennep als »Schwellenphase«, von der er
annimmt, dass man ihr in allen Übergangszeremonien begegnet. Dies gilt
für jene Riten, durch die Menschen in eine Gemeinschaft aufgenommen
werden – von der Schwellenphase zum Erwachsenenalter bis hin zur Priesterweihe.
Dies trifft aber auch auf Riten zu, die den Übergang von der Welt
der Lebenden in die Welt der Toten ermöglichen sollen – vom Osiris-Kult
im Alten Ägypten44 bis hin zur Übergangszeremonie der letzten Ölung in der
katholischen Kirche. Dabei fi ndet die Schwellenphase zwischen diesseitiger
und jenseitiger Welt ihren Ausdruck in einer ambivalenten Raumrepräsentation,
die zwischen der Verkörperung von Türschwellen (Stichwort
Himmelspforte) und Ufermetaphorik (Stichwort Styx) changiert.
In besonderer Weise stellt sich die Frage nach den magisch-religiösen
Bewegungsformen im Zwischenraum, wenn sie sich nicht erst auf dem
Weg ins Jenseits vollziehen, sondern noch auf der Erde ausgeführt werden:
von Handlungsträgern, deren Körperstatus sich im Übergang befi ndet.
Hier wird das Konzept der frontier aus der Domäne eines bloß topologisch
gefassten Grenzraums um die Dimension eines transzendentalen
Grenzzeitraums erweitert – eines Übergangsraums zwischen Diesseits
und Jenseits, in dem man gewissermaßen zwischen diesen beiden Welten
schwebt. Als paradigmatisch hierfür kann eine Szene gelten, von der im
Johannes-Evangelium berichtet wird. Nachdem Jesus gestorben war, treffen
sich die Jünger im Haus eines der ihren:
Am Abend aber desselben ersten Tages der Woche, da die Jünger versammelt
und die Türen verschlossen waren aus Furcht vor den Juden, kam Jesus und trat
mitten ein und spricht zu ihnen: Friede sei mit euch! (Joh, 20, 19)
Die gleiche Formulierung begegnet uns kurz darauf wieder, wenn Jesus
eine Woche später dem ungläubigen Thomas begegnet: »Kommt Jesus,
da die Türen verschlossen waren, und tritt mitten ein und spricht«. (Joh,
20, 27) Stellen Türen – insbesondere das Überschreiten der Schwellen von
Haupteingängen45 – gemeinhin die Verkörperung von Schwellensituationen
dar, in denen es darum geht, durch das Vollziehen bestimmter rites
de passages Zugang zu bis dahin verschlossenen Räumen zu erlangen,
scheint die Schwellensituation in beiden Stellen des Johannes Evangeliums
anders konfi guriert zu sein: Der Körper des gestorbenen und wieder
auferstandenen Jesus befi ndet sich in einer Übergangsphase zwischen Tod
und Leben, in der es ihm einerseits möglich ist, körperliche Präsenz zu
zeigen und er andererseits mit diesem Körper durch geschlossene Türen
44 Vgl. Assmann: Tod und Jenseits im Alten Ägypten, S. 40f.
45 Vgl. van Gennep: Übergangsriten, S. 32.
Zwischenräumliche Bewegungspraktiken 15
gehen kann. Durch dieses Paradoxon wird die scharfe Grenze zwischen
Tod und Leben in Frage gestellt: An die Stelle einer eindeutigen Grenzlinie,
etwa in Gestalt einer Türschwelle, tritt ein Grenzraum, in dem man sich
so bewegen kann, als gäbe es keine Türen.
Jesus befi ndet sich so besehen nicht nur auf dem Wege in einen transzendenten
Zustand, sondern er transzendiert auf diesem Wege die Logiken
der rites de passage und der Grenze: Seine Passage ins Jenseits kommt ohne
Schwellenriten aus, da es für ihn offensichtlich keine Schwellen mehr gibt.
Der Wandel, den er in dieser Übergangsphase erfährt, gleicht, wie man im
Anschluss an Benjamin sagen könnte, einem »Gespensterweg, auf dem die
Türen nachgeben und die Wände weichen«.46 Mit seinem im Übergang
befi ndlichen Körper bewegt sich Jesus in einem Zwischenraum zwischen
Diesseits und Jenseits, in dem die Frage nach der Zugehörigkeit seines
Körpers zum Diesseits oder zum Jenseits durch eine Bewegungspraxis des
Sowohl-als-auch beantwortet wird. In diesem Sowohl-als-auch scheint das
Konzept eines Grenz-Zwischenraums durch, das dem Konzept der frontier
analog ist: ein Raum zwischen den Grenzen, in dem die Frage des Hüben
oder Drüben ebenso wenig entschieden ist, wie die Frage nach den Verbindungs-
und Übergangsmöglichkeiten. Das Resultat ist ein »Grenzdenken«,
in dem Grenzen nicht mehr nur als »Linien der Konfrontation« aufgefasst
werden, sondern auch als Orte »wider die Verabsolutierung der einen wie
der anderen Seite«.47
Interessanterweise kommt es bei den Beschreibungen des liminal space
immer wieder zu Interferenzen zwischen verschiedenen Modi der Repräsentation
von Zwischenräumen und verschiedenen zwischenraumkonstitutiven
Bewegungsformen. Dies gilt nicht nur für die bereits erwähnte
Indienstnahme der Zwischenräume Treppenhaus und Niemandsland, sondern
auch für Brücken und Türen. In seinem Essay »Brücke und Tür« aus
dem Jahre 1909 bestimmt Georg Simmel die Tür als Symbol »des Grenzpunktes,
an dem der Mensch eigentlich dauernd steht oder stehen kann«,
denn »mit ihr grenzen das Begrenzte und das Grenzenlose aneinander«, und
zwar als »Möglichkeit dauernden Wechseltausches« – im Unterschied zur
Brücke, die »Endliches mit Endlichem verbindet«.48 Während die Brücke
als »zwischen zwei Punkten gespannte Linie« eine bestimmte Richtung
vorschreibt, eröffnet die Tür laut Simmel den Weg »aus der Beschränktheit
abgesonderten Fürsichseins in die Unbegrenztheit aller Wegerichtungen
überhaupt«.49 Umgekehrt gilt, dass die Frage, in welche Richtung man
46 Benjamin: »Das Passagen-Werk«, Bd. V.1, S. 516.
47 Hohnsträter: »Im Zwischenraum«, S. 240.
48 Simmel: »Brücke und Tür«, S. 9.
49 Ebd.
16 Uwe Wirth
eine Brücke überquert, »keinen Unterschied des Sinnes« macht, während
die Tür »mit dem Hinein und Hinaus einen völligen Unterschied der
Intention anzeigt«.50 Die zwischenräumliche Bewegungsform, welche die
Tür vorschreibt, ist in beiden Richtungen die des Hindurchgehens: sei es
ein Hindurchgehen in den begrenzten, umbauten Raum; sei es ein Hindurchgehen
in den unbegrenzten, freien Raum des Draußen.
Anders als die Tür ist die Brücke Symbol des »menschlichen Verbindungswillens
«,51 der darauf abzielt, alle natürlichen Hindernisse zu überwinden
und so unsere »Willenssphäre über den Raum« auszubreiten.
Voraussetzung für die Wirksamkeit dieses Verbindungswillens ist indes,
dass zunächst zwei Elemente »aus der ungestörten Lagerung der natürlichen
Dinge« herausgegriffen worden sind, um sie »als ›getrennt‹ zu
bezeichnen«.52 Eben dadurch haben wir, so Simmel, diese beiden Elemente
»gemeinsam gegen das Dazwischenliegende abgehoben«.53 Mit
anderen Worten: Das Konzept ›Brücke‹ schafft überhaupt erst etwas
Dazwischenliegendes, das dann überbrückt und durch Akte des Hinübergehens
überwunden wird, wobei die Möglichkeit des Hinübergehens
als zwischenräumliche Bewegungspraxis von Anbeginn in die Funktion
›Brücke‹ eingeschrieben ist.
Genau wie Simmel widmet auch Heidegger der Brücke große Aufmerksamkeit,
und zwar als Antwort auf die Frage: Inwieweit gehört das
Bauen in das Wohnen? Die Brücke, die sich »leicht und kräftig« über den
Strom schwingt, »verbindet nicht nur schon vorhandene Ufer«, vielmehr
treten »im Übergang der Brücke […] die Ufer erst als Ufer hervor«.54
Mehr noch: Die Brücke bringt »mit den Ufern jeweils die eine und die
andere Weite der rückwärtigen Uferlandschaft an den Strom«, das heißt,
sie »versammelt die Erde als Landschaft um den Strom«.55 Ähnlich wie
Simmel steht die Brücke Heidegger zufolge für eine vom Menschen geschaffene
Verbindungsmöglichkeit, die nicht nur einen Zwischenraum
überbrückt, sondern die angrenzenden Gebiete um diesen Zwischenraum
herum versammelt. Das heißt zum einen: Die Brücke konstituiert als Ort
des Übergangs einen Raum, der auf den Ort der Brücke bezogen ist.56
Zum anderen ist die Brücke aber nicht nur in horizontaler, sondern auch
in vertikaler Hinsicht raumkonstitutiv. So heißt es bei Heidegger, und hier
nimmt seine Bestimmung der Brückenfunktion eine ganz andere Wendung
50 Ebd., S. 10.
51 Ebd., S. 8.
52 Ebd., S. 7.
53 Ebd.
54 Heidegger: »Bauen Wohnen Denken«, S. 26.
55 Ebd.; Hervorh. im Original.
56 Vgl. ebd., S. 28f.
Zwischenräumliche Bewegungspraktiken 17
als bei Simmel: »Die Brücke versammelt auf ihre Weise Erde und Himmel
die Göttlichen und die Sterblichen bei sich«.57 Die Brücke ist insofern nicht
nur das Symbol für einen menschlichen Verbindungswillen, der Hindernisse
überbrückt um irdischen Raum um die Brücke zu versammeln – sondern
sie ist auch ein Symbol für einen transzendentalen Versammlungsort, an
dem das Dazwischen eines territorialen (im Sinne der area) und eines
himmlischen Raumkonzepts (im Sinne des outer space) überbrückt wird.
Eben hier kommt es nun zu einer Interferenz, die Tür und Brücke in eine
funktionale Analogie bringt: Die Brücke zwischen irdischem und himmlischem
Raum übernimmt die gleiche Funktion wie eine Tür, insofern sie
die Differenz von Drinnen und Draußen auf die Differenz von Hüben
und Drüben projiziert. So erscheint für uns die irdische Lebenswelt als ein
diesseitiges Drinnen, der Himmel dagegen als jenseitiges Draußen.
Halten wir kurz fest: Hindurchgehen und Hinübergehen sind zwischenräumliche
Bewegungspraktiken, die Räume zu Durchgangs- respektive
Übergangsräumen machen und als örtliche Rahmenbedingung das Vorhandensein
von Türen und Brücken – in welcher Form auch immer – implizieren.
Zugleich repräsentieren Türen und Brücken aber auch Bauwerke,
die für ein Leben an der Grenze – Stichwort border lives – unerlässlich
sind: die Tür als Grenz- und Durchgangspunkt zwischen Draußen und
Drinnen, die Brücke als Ort des Übergangs zwischen Hüben und Drüben,
die Angrenzendes verbindet und dieses damit zugleich als voneinander
Abgegrenztes markiert. Dabei treten Tür und Brücke – ebenso wie Treppenhaus
und Niemandsland – als teils konträre, teils komplementäre
Möglichkeiten in Erscheinung, um bebauten und unbebauten Raum einerseits
sowie Grenze und Zwischenraum andererseits zusammenzudenken.
Dies hatten wir bereits bei Bhabhas Überlegungen zum liminal space als
einem in-between-space festgestellt, der als interstitial passage nicht nur
ein Übergangsraum, sondern auch ein Übersetzungsraum ist, in dem man
körperlich und sprachlich auf orts- wie lebensweltverändernde activities
of displacement zu reagieren hat.
Über die Angemessenheit des Begriffs in-between wird mittlerweile
heftig gestritten, wobei sich das Argument gegen die Trope des ›Dazwischen‹
bemerkenswerterweise nicht auf die Metapher des Treppenhauses,
sondern auf die der Brücke richtet. So schreibt Leslie Adelson in ihrem
einfl ussreichen Aufsatz »Against Between«:
Die imaginierte Brücke ›zwischen zwei Welten‹ ist dazu gedacht, voneinander
abgegrenzte Welten genau in der Weise auseinander zu halten, in der sie vorgibt,
sie zusammenzubringen. Im besten Falle stellt man sich die Migranten für alle
57 Ebd., S. 27; Hervorh. im Original.
18 Uwe Wirth
Ewigkeiten auf dieser Brücke aufgehoben vor. Kritiker scheinen nicht genug Einbildungskraft
zu besitzen, um sich Migranten bei der eigentlichen Überquerung
dieser Brücke oder beim Erreichen von neuen Ufern vorstellen zu können.58
Adelson spricht hier einen wichtigen Punkt an, nämlich dass Bewegungsformen
und -praktiken im Zwischenraum Übergangs-Charakter haben.
Wenn man die Wendung border lives mit ›Leben auf der Grenze‹ übersetzt
und damit meint, dass man sich im Zwischenraum einrichtet, ihn
bewohnt ohne jemals auf die andere Seite der Brücke zu gelangen, dann
impliziert border lives so viel wie ein Verharren im Dazwischen. Wenn
border lives dagegen mit ›Leben an der Grenze‹ übersetzt wird, dann impliziert
es eher eine Art Grenzbewusstsein, das von einer Seite der Grenze
her über die Bedingungen der Festlegung von Grenzen, aber auch über
den »dynamische[n] Gegensatz zwischen jeder Grenzsetzung und ihrer
Veränderlichkeit«59 nachdenkt. Dieses Grenzbewusstsein mündet in ein Bewusstsein
für Zwischenräume, die es körperlich wie sprachlich im Rahmen
von Übersetzungsprozessen zu durchschreiten und zu überbrücken gilt.
Nur kurz sei hier auf die weitere Merkwürdigkeit verwiesen, dass der
Übersetzungsprozess, genauer gesagt: das Verhältnis von Original und
Übersetzung, mit der Zwischenraum-Metaphorik der Tür beschrieben
wird. So schreibt Yoko Tawada in ihrem Essay »Das Tor des Übersetzers
oder Celan liest Japanisch«: »Ich fi ng an, Celans Gedichte wie Tore zu
betrachten und nicht etwa wie Häuser, in denen die Bedeutung wie ein
Besitz aufbewahrt wird«.60
Genau genommen impliziert jede Übersetzungstätigkeit ein Leben
an der Grenze, denn die Grenze ist, wie Jurij Lotman schreibt, »immer
zwei- oder mehrsprachig«: Sie ist ein »Übersetzungsmechanismus« und
zugleich »der Ort, wo das ›Äußere‹ zum ›Inneren‹ wird«.61 Während die
letzte Formulierung nahelegt, dass die Grenze den Charakter eines Tores
hat, durch das man vom Äußeren ins Innere gelangt, zieht Lotman kurz
darauf ein anderes Register: Der Hinweis auf die Ambivalenz des Begriffs
der Grenze – »einerseits trennt sie, andererseits verbindet sie«62 – erinnert
an die fast wortgleiche Bestimmung des Konzepts ›Brücke‹ bei Simmel.
Und wenn Lotman betont, die Grenze gehöre »gleichzeitig zu beiden
benachbarten Kulturen«,63 dann deutet sich hier erneut eine Möglichkeit
an, die Grenze der Logik des Entweder/Oder zu überwinden und sie nicht
mehr als Grenzlinie, sondern als Grenzzone zu denken: als Zwischenraum,
58 Adelson: »Against Between – Ein Manifest gegen das Dazwischen«, S. 38.
59 De Certeau: Kunst des Handelns, S. 232.
60 Tawada: »Das Tor des Übersetzers oder Celan liest Japanisch«, S. 134.
61 Lotman: »Der Begriff der Grenze«, S. 182.
62 Ebd.
63 Ebd.
Zwischenräumliche Bewegungspraktiken 19
in dem sich die Bewohner der angrenzenden Gebiete aufhalten und dort
miteinander in Kontakt treten, wodurch es zu einer Art Überblendung
der angrenzenden Gebiete kommt. Das Miteinander-in-Kontakt-treten
fi ndet trivialerweise durch körperliche und durch sprachliche Praktiken
im Zwischenraum statt.
II. Sprachliche und schriftliche Grenz-Zwischen-Räume
Die Wendung hin zum Sprachlichen, die durch den Übersetzungsmechanismus
des Grenz-Zwischen-Raums initialisiert wurde, lässt sich auch an
de Certeaus Argumentation beobachten: Für ihn zeichnen sich die meisten
raumschaffenden Praktiken durch zwei miteinander zusammenhängende
Eigenschaften aus: Sie implizieren Akte der Grenzziehung und sie haben
einen performativen Charakter. Dabei kommt der Erzählung eine entscheidende
Rolle zu, und zwar nicht nur in Form von Raumbeschreibungen
oder Reiseberichten. Für de Certeau stellt jede Erzählung einen, wie er
im Rekurs auf Lotman feststellt, kulturellen schöpferischen Akt dar. Im
Ausführen dieses schöpferischen Akts entfaltet die Erzählung »eine distributive
Macht und eine performative Kraft (sie macht, was sie sagt). Somit
schafft sie Räume«.64
Die Frage, die sich an diese Behauptung anschließt, ist natürlich, unter
welchen Umständen sprachliche performative Akte der Raumkonstitution
als Bewegungsformen im Zwischenraum sichtbar werden. Wie sehen die
speechacts aus, durch die man Zwischenräume schafft? Vielleicht könnte
man versuchsweise – vor dem Hintergrund des bisher Gesagten – zwischen
den folgenden drei Typen unterscheiden:
(1) Den ersten Typus fi nden wir in dem Akt des vorläufi gen Markierens
von noch nicht legitimierten Grenzen – ein Akt der Schaffung von
unscharfen Grenz-Zwischen-Räumen, von zweideutigen Räumen, die allen
oder niemandem gehören.
(2) Einen zweiten Typus von Bewegungspraktiken im Zwischenraum
könnte man sich als
eine Art
dialektisches Tänzeln vorstellen, bei dem sich
das An-die-Grenze-Gehen, das Hindurch-Gehen und das Über-die-Grenze-
Gehen abwechseln.

Es erscheint hier als ein vieldeutiger Akt der Bewegung,    Grenzauflösung
der sowohl Grenzbestimmungen als auch Grenzübertretungen vollzieht.
(3) Eine dritte Bewegungspraktik im Zwischenraum ist die Grenzverschiebung
oder gar die Grenzauflösung. Man denke an den Fall der
deutsch-deutschen Mauer, und zwar nicht nur an den Akt des Abbruchs,
sondern auch an die bizarren Spuren, die diese Grenzaufl ösung in den
64 Ebd.
***