Tatjana Freytag : Der unternommene Mensch
Online-Publikation: August 2008 im Internet-Journal <<kultur-punkt.ch>>
Ereignis-, Ausstellungs-, AV- und Buchbesprechung
<< Tatjana Freytag : Der unternommene Mensch . Eindimensionalisierungsprozesse in der gegenwärtigen Gesellschaft >>
208 Seiten, broschiert, ISBN 978-3-938808-44-3 ; EUR(D) 24,90 / sFr 47,50
Velbrück GmbH Bücher & Medien, D-53919 Weilerswist-Metternich 2008; www.velbrueck.de;
Inhalt
In der vorliegenden Arbeit geht es darum, anhand eines zentralen Kritikbegriffes der Kritischen Theorie, nämlich dem der Eindimensionalität, exemplarisch aufzuzeigen, wie aktuell und prägnant sie in ihren Analysen und Begriffen ist. Eindimensionalität heute kommt zwar nicht mehr so zustande, wie es Herbert Marcuse seinerzeit in Der eindimensionale Mensch erklärt hatte. Ihre Physiognomik hat sich verändert, aber bestimmte Merkmale, die Marcuse analysierte, haben sich im Zuge des global gewordenen Kapitalismus’ wirkmächtiger denn je manifestiert.
Autorin
Dr. phil. Tatjana Freytag, 1972*, studierte Soziologie, Philosophie und Pädagogik, derzeit Mitarbeit am Institur für Allgemeine Erziehungswissenschaft Stiftung Uni-Hildesheim.
Fazit
Wir erleben die das Lesen ermüdende, angestrengt-theoretische Frankfurter Schule* erfrischend neu ... dank der wissenschaftlich-klar-verständlichen Frauensprache, die angelsächsische Tradition hat, wie hier: Tatjana Freytag mit ihrem hervorragenden, analytischen Diskursbuch " Der unternommene Mensch " in dem sie Eindimensionalisierungsprozesse in der gegenwärtigen Gesellschaft dar- und klarstellt.
Ihr in zwei Teile gegliederte Analyse klärt den Begriff in
Teil 1 von Eindimensionalität ( ihre Geschichte und Struktur, ihren Verlust des Negativen (b. Marcuse) und das Altern der Kritik).
Im Teil 2 wird die aktuelle Physiognomie von Eindimensionalität in drei Ebenen analysiert:
-sozial: durch bewusste Widersprüche.., sozialpolitischen Umbau schreitet die Einschnürung des Sozialen voran...
-politisch: durch Individualisierung ..Identitätsvernebelung und subjektiver Funktionalität entfaltet sich eine Paralyse der Kritik...
-bildend: durch Einrichtung einer "enterprise culture", Arbeitgeberverbände, Standardisierung (Bologna-Prozess), wobei nur Messbarkeit und Lehr-/Lern-Effizienz gelten, führen zu Quoten-Wettbewerb, Spaltung der und vermehrter Ausgrenzung in der Gesellschaft.
Schliesslich nimmt Freytag die Vielfalt in einer Dimension ins Visier: Die Macht des Faktischen, den Standard und die Norm, die Liquidierung der Kritik, die Identität und Individualisierung.
Sie kommt zum Schluss: "Dort, wo keine wahrhaftige Kritik mehr gefragt ist... dort wo Alternativen nicht mehr denkbar sind...dort wo Phantasien verdrängt und Utopien verlacht (auch unter den neoliberalen Informationsbergen bewusst versteckt werden, w.p.) werden, wo kein Widerspruch sich ...mehr regt, waltet das Immergleiche, perpetuiert sich gesellschaftliche Statik, der Stillstand potenzieller Emanzipation ins menschliche Verderben" führt konsequent zum "unternommenen Menschen". w.p.
*) Kreis von Sozial- und Kulturwissenschaftlern >1930 Frankfurt >1933-34 Genf>New York>1950 > bis heute - ein wohlmeinender gesellschaftskritisch-pädgogisierender Neomarxismus mit einer verklausulierten Fachsprache (< w.p.) und ihre Vertreter: Horkheimer, Adorno, Benjamin, Marcuse, Fromm.. mit der jüngeren Generation: Habermas, A. Schmidt ... T. Freytag...
Bernhard H.F. Taureck: Die Menschenwürde im Zeitalter ihrer Abschaffung
W+B Agentur-Presseaussendung Januar 2008
Buchbesprechung
<< Bernhard H.F. Taureck: Die Menschenwürde im Zeitalter ihrer Abschaffung - Eine Streitschrift >>
Paperback, 120 Seiten, ISBN 978-3-939519-14-0, EUR 12.90
merus verlag Dr. Alexander Heck e.K., Hamburg; www.merus-verlag.de;
Inhalt
« Die Würde des Menschen ist unantastbar. » Dieser erste Satz unseres Grundgesetzes gilt als das Wertfundament Deutschlands nach seiner selbstverschuldeten Katastrophe im Jahre 1945. Das Fundament hält indes keiner wirklichen Belastung stand. Nicht nur gab und gibt es in unserem Land und auf dem gesamten Globus erhebliche Verstöße gegen das Gebot der Menschenwürde. Der Satz des Grundgesetzes selbst ist unzureichend formuliert. Die vorliegende Streitschrift liefert - im Namen der Menschenwürde - eine grundsätzliche Kritik des wertgebenden Satzes und schlägt eine Verbesserungsversion vor. Über die Wendung « des Menschen » und über den Begriff der Würde ist neu zu verhandeln. Die Verständigung über den Wertauftrag der Gesamtgesellschaft darf zugleich nicht bleiben, was sie bisher weitgehend war: eine Angelegenheit unter Experten. Die Menschenwürde ist seit dem 11. September 2001 Gegenstand eines gleichsam globalen Projektes ihrer Abschaffung. Es kommt aus diesem Grund darauf an Argumente zu finden, dass sie ein Grund der Hoffnung bleibt.
Autor
Bernhard H.F. Taureck
Prof. Dr., Jg. 1943, studierte in Hamburg und Tübingen Philosophie, Romanistik, Germanistik und Graezistik (bei Wolfgang Schadewaldt). Promotion in Philosophie bei Carl Ulmer. Briefwechsel mit Martin Heidegger, Bekanntschaften mit Jean-Francois Lyotard, Emmanuel Lévinas und Jacques Derrida.
Lehrtätigkeiten an den Universitäten Wien und Hamburg. Habilitation über Nietzsche. Seit 1999 Professor an der Technischen Universität Carolo-Wilhelmina zu Braunschweig.
Zahlreiche Rundfunkbeiträge, Mitarbeit an der Zeitschrift "freitext". Vorträge und Gastseminare u.a. in Cambridge, Manchester, Paris, Luzern, Québec, Sao Paolo, Tours, Strasbourg, Urbino, Leyden, sowie der Ben-Gurion-Universität in Be'er Sheva, Israel. Verfasser zahlreicher Bücher (u.a. bei Rowohlt, Fischer-Taschenbuch, Reclam, Suhrkamp) und Aufsätze in deutscher, englischer und französischer Sprache. Die Arbeiten wurden teils in überregionalen Tageszeitungen (SZ, FAZ, DIE ZEIT, Neue Zürcher Zeitung), teils häufig in der "Philosophischen Rundschau", teils international wahrgenommen und besprochen. Übersetzt wurden "Levinas zur Einführung" ins Dänische, "Nietzsche und der Faschismus" ins Niederländische sowie ein Essay über Nietzsche ins Italienische. In Brasilien wird eine Übersetzung von "Die Menschenwürde im Zeitalter ihrer Abschaffung" (merus verlag) vorbereitet.
Fazit
Bernhard H.F. Taureck führt uns in seiner mit Geistesblitzen versetzten Streitschrift " Die Menschenwürde im Zeitalter ihrer Abschaffung " vor, macht die Schwachstellen von Würde - ihrer Antastbarkeit und Prestigebesetzheit sichtbar. Einen möglichen Weg in die Zukunft zeigt Taureck auf , indem er die Existenzsicherung als Voraussetzung eines menschenwürdigen Lebens sieht. Kongenial ist in seiner Zusammenfassung sein Grundgesetz-Änderungsvorschlag dazu: " Jedem Einwohner ist als Unterstützung bei seiner freien Selbst-Positionierung lebenslang eine an keine einschränkenden Bedingungen geknüpfte Existenzsicherung zu zahlen, die ihm ohne Lohnarbeit mühelos zu leben ermöglicht und bei der es ihm selbst überlassen bleibt, ob er zusätzlich einer entlohnten Arbeit nachgeht oder nicht."
Eine weitere Quelle mit Link: http://archiv.kultur-punkt.ch/akademie4/diskurs/pa4-07-5menschenwuerde-taureck.htm
Franz-Josef Wetz*: Die Menschenwürde, eine Illusion? (1) Die Entzauberung eines Ideals ; (2) - Würde als soziale Gestaltung
SWR2 Wissen: Aula - Franz-Josef Wetz*: Die Menschenwürde, eine Illusion? (1) Die Entzauberung eines Ideals ; (2) - Würde als soziale Gestaltung
I Sendung am Sonntag, 13.01.2008, 08.30 bis 9.00 Uhr
II Sendung am Sonntag, 20.01.2008, 08.30 bis 9.00 Uhr
Autor und Sprecher: Professor Franz-Josef Wetz *
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
Sendung: Sonntag, 13. Januar 2008, 8.30 Uhr, SWR 2
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen
Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
* Zum Autor:
Franz Josef Wetz wurde 1958 geboren. Nach dem Studium der Philosophie, Germanistik und Theologie 1989 Promotion im Fach Philosophie, 1992 Habilitation. Von 81 bis 93 war Wetz u.a. beschäftigt am Zentrum für Philosophie in Gießen als wissenschaftlicher Mitarbeiter, seit 1994 ist er Professor für Philosophie an der Pädagogischen Hochschule im Schwäbisch-Gmünd.
Forschungsschwerpunkte:
Hermeneutik, Ethik, Kultur- und Naturphilosophie mit der Frage, welche Konsequenzen haben die modernen Naturwissenschaften für das Selbst- und Weltbild.
Buchauswahl:
- Hans Blumenberg zur Einführung. Dtv.
- (zus. mit B. Tag): Schöne neue Körperwelten. Verlag Klett Cotta.
Illusion Menschenwürde. Verlag Klett Cotta.
- Edmund Husserl. Eine Einführung. Campus-Verla
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ÜBERBLICK I
Mit dem Konzept der Menschenwürde sind zwei Probleme verbunden: Erstens ist der Begriff ein Passepartoutbegriff geworden, er wird immer dann gerne in den Mund genommen, wenn der Redner eine Position einnehmen will, die man nicht mehr kritisieren darf; zweitens gibt es verschiedene Definitionen, die einander ausschließen. Man kann im Sinne Immanuel Kants sagen, der Mensch hat Würde, weil er ein vernunftbegabtes Wesen ist, das zum sittlichen Handeln aufgerufen ist. Man kann aber auch sagen: Dieser idealistische Ansatz, der auf dem Dualismus von Natur und Geist beruht, ist nicht mehr zeitgemäß, er muss über Bord geworfen werden. In der SWR2 Aula werden in vier Sendungen über Menschenwürde diese beiden Standpunkte und ihre ethischen Konsequenzen diskutiert. Franz-Josef Wetz, Professor für Philosophie an der PH in Schwäbisch-Gmünd, zeigt, wie man Menschenwürde neu bestimmen kann.
ÜBERBLICK II
Franz-Josef Wetz, Professor für Philosophie an der PH in Schwäbisch-Gmünd, zeigte im ersten Teil, warum er das traditionelle Konzept der Menschenwürde, das im Sinne Immanuel Kants auf einer Wesensbestimmung basiert, die davon ausgeht, dass der Mensch einen transzendentalen geistigen Kern hat, für nicht mehr zeitgemäß hält. Aus seiner Sicht lässt sich dieser idealistische Ansatz nicht länger halten, er schlägt deshalb vor, Würde auf sozialen Regeln, Konventionen und Verhaltensweisen zu begründen. Im zweiten Teil zeigt Wetz, welche ethischen Konsequenzen damit verbunden sind.
INHALT I
Mit dem Thema: „Die Menschenwürde- eine Illusion?“
Heute und an den drei folgenden Sonntagen geht es um die Frage, wie lässt sich heute Menschenwürde aus philosophischer Sicht noch definieren, welche ethisch-moralischen Konsequenzen folgen daraus.
Wir haben zwei Philosophen gebeten, ihre Positionen auszuführen. Es handelt sich um zwei konträre Positionen: Der eine heißt Franz-Josef Wetz und ist Professor für Philosophie an der Pädagogischen Hochschule in Schwäbisch-Gmünd. Der andere heißt Otfried Höffe, Professor für Philosophie an der Universität in Tübingen.
Die ersten zwei Sendungen bestreitet Franz-Josef Wetz, er hat einen naturalistischen, materialistischen Ansatz, er begreift Menschenwürde als soziale Gestaltungsaufgabe.
In der SWR2 AULA beleuchtet er zuerst die Kultur-Geschichte des Begriffs Menschenwürde, dann geht es um die Rechtsgeschichte, dann problematisiert Wetz den traditionellen Begriff und zieht Konsequenzen aus seiner Kritik.
Franz-Josef Wetz:
Der Mensch hat Würde. Das heißt, allgemein gesprochen, der Mensch hat einen unbedingt Achtung gebietenden Wert, der ihm - unabhängig von seiner Stärke und Schwäche - zukommt. Dieser große Konsens besteht in der Gesellschaft.
Dabei wird dieser Begriff „Menschenwürde“ in zweifacher Weise gebraucht: Zum einen verstehen wir unter ihr ein Wesensmerkmal. Ähnlich wie wir mit Händen, Füßen, Haaren und Augen auf die Welt gekommen sind, so sollen wir auch mit der Menschenwürde auf die Welt gekommen sein. Sie ist sozusagen eine natürliche Anlage, jeder sollte sie Kraft seines Menschseins besitzen. Zum zweiten verstehen wir unter der Menschenwürde aber auch einen Gestaltungsauftrag. Menschenwürde muss realisiert werden, sie ist ein ethisches Anliegen, sie muss durchgeführt und verwirklicht werden.
In der Geschichte wurden beide Bedeutungen oft miteinander verbunden. Man sagte, der Mensch soll sich der Würde, die er hat, im Umgang mit sich und Seinesgleichen als würdig erweisen – eine Formulierung, in der beide Charakteristika, das Wesensmerkmal und der Gestaltungsauftrag, zusammen gedacht werden.
Man könnte vermuten, dass die Idee der Menschenwürde schon bei den antiken Griechen und Römern anzutreffen wäre. Diese Vermutung wird enttäuscht, denn bei den antiken Griechen und Römern gibt es die Menschenwürde nicht als Wesensmerkmal, sondern dort taucht sie immer nur als Gestaltungsauftrag auf, der sich über drei Phänomene definiert: erstens über die Selbstbeherrschung des Einzelnen, ob es ihm gelingt, seine Sinnlichkeit der Vernunft unterzuordnen; zweitens in der Art, wie der Einzelne in der Öffentlichkeit auftritt – konkret bedeutet das, man schreitet, man läuft nicht, man spricht langsam, man ist gewaschen usw.; drittes Bestimmungsmoment ist die soziale Herkunft bzw. die soziale Stellung. Als Senator in Rom war man also von vorneweg ein Würdenträger.
Genauer betrachtet stellt man fest, dass die Würde als Leistungsbegriff definiert wird. Sie hängt letztendlich immer davon ab, wie die Menschen mit sich umgehen und welches Verhalten sie an den Tag legen. Diese Auffassung ändert sich grundlegend mit der Entstehung des Christentums. Im christlichen Spätmittelalter setzt sich eine Vorstellung der Würde als Wesensmerkmal durch. Auch sie wird über drei Phänomene definiert: die Gottebenbildlichkeit der Menschen – alle Menschen sind Gottes Ebenbild, das adelt sie und verleiht ihnen gleich welcher Herkunft eine besondere Würde; hinzu kommt – zweitens – die Menschwerdung Christi. Dadurch dass Gott Mensch geworden ist, macht er deutlich, welchen besonderen Wesensadel er den Menschen zuerkannt hat; als drittes ist Personalität zu nennen – der Mensch als Person, als selbstbewusstes Wesen, das erkennen kann, das über Geist und Vernunft verfügt, das zwischen wahr und falsch, gut und schlecht unterscheiden kann.
Diese Bestimmungen geraten nun in der Neuzeit in eine Krise bzw. es findet eine erneute Verschiebung statt. Von den drei Definitionsmomenten der Würde im christlichen Mittelalter bleibt im Laufe der Neuzeit bei den Philosophen und bei den Rechtsgelehrten nur noch die Personalität, die Vernunft, die Freiheit übrig. Das ist bei einem Rechtsgelehrten wie Samuel Pufendorf der Fall, aber vor allem bei dem berührtem Aufklärungsphilosophen Immanuel Kant. Kant definiert die Menschenwürde über Vernunft, Freiheit, Sittlichkeit. Der Mensch ist nach Kant ein aus der Natur herausgehobenes Vernunftwesen, das in Freiheit sein Dasein führen soll, indem es seine Sinnlichkeit der Vernunft unterordnet und seine Freiheit dazu gebraucht, sich sittlich zu verhalten. Dabei liefert Kant auch eine sehr griffige Formulierung für Würdeverstöße. Er definiert Würdeverstöße über eine sogenannte Objektformel, die lautet: Die Menschenwürde wird genau dann verletzt, wenn der Mensch seinen Nächsten nicht mehr als Subjekt behandelt, sondern ihn nur noch als Objekt gebraucht. Wir Menschen sollen uns niemals nur als Sache, als Objekte oder auch als Instrumente, als Werkzeuge, als Mittel zum Zweck gebrauchen. Dabei legt Kant speziellen Augenmerk auf das Wort „nur“. Er sagt, wir Menschen sollen uns niemals nur als Mittel zum Zweck, niemals nur als Sachen gebrauchen, wohl erkennend, dass wir gar nicht umhin können, uns auch als Mittel zu Zwecken zu gebrauchen. Der Schüler gebraucht den Lehrer als Mittel zum Zweck des Lernens, der Busfahrer ist ein Mittel zum Zweck für den Busreisenden, oder die Verkäuferin ist ein Mittel zum Zweck für den Konsumenten. Kant ermahnt uns, uns niemals „nur“ als Mittel zum Zweck zu gebrauchen, das heißt, wir sollen, auch wenn wir den anderen instrumentalisieren, mit ihm immer höflich und achtungsvoll umgehen. Soviel zur Kulturgeschichte des Würdebegriffes.
Wie ist es aber nun um die Rechtsgeschichte bestellt? Wenn die Würde schon als Gestaltungsauftrag in der Antike und als Wesensmerkmal im Christentum existiert, dann wird ihr ja wohl auch im Recht eine besondere Bedeutung zukommen. Aber weit gefehlt.
Wir sind es heute gewohnt, die beiden Begriffe „Menschenwürde“ und „Menschenrecht“ in einem Atemzug zu nennen. Und weiter noch ist es sogar üblich, die Idee der Menschenrechte auf die Menschenwürde zu gründen. Das lässt die Annahme aufkommen, wenn schon in der Antike die Menschenwürde nicht als Recht deklariert wurde, so könnte sie doch wenigstens im 18. Jahrhundert, dem Zeitalter der Erklärung der Menschenrechte, aufgefunden werden. Ende des 18. Jahrhunderts wurden ja sowohl in Amerika als auch in Frankreich die allgemeinen Menschenrechte verkündet. Es liegt deshalb nahe zu glauben, dass hier auch die Menschenwürde einbezogen wurde. Aber diese Vermutung ist falsch. Tatsächlich taucht die Menschenwürde im Recht erstmals im 20. Jahrhundert auf. Keine Verfassung, keine Erklärung des 19. Jahrhunderts kennt den Begriff der Menschenwürde.
Dafür gibt es zahlreiche Gründe. Ich möchte nur einen nennen, der – so denke ich – eine hohe Plausibilität besitzt: Die Menschenwürde taucht im Recht erstmals im 20. Jahrhundert auf, weil hier eine Rechtsverwüstung nie gekannten Ausmaßes stattfand. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg erfuhr die Menschenwürde eine besondere Konjunktur im Recht, 1945 in der UN-Charta, 1948 in der Allgemeinen Menschenrechtserklärung, 1949 im Grundgesetz der Bundesrepublik und in vielen anderen Verfassungen Europas.
Zwar war die Menschenwürde bereits 1937 in der irischen und 1933 in der portugiesischen Verfassung zu finden, aber sie hat eigentlich nie eine besondere Rolle oder Geltung zugewiesen bekommen. Letztendlich startete die Karriere der Menschenwürde im Recht, wie gesagt, nach dem Zweiten Weltkrieg. Nach dem Gemetzel des Zweiten Weltkrieges wollte man sich neu besinnen auf die Grundlagen der europäischen Zivilisation, die jedem Menschen einen Achtung erbietenden Wert zuerkennen sollte, egal, welcher Nationalität er ist, welcher Rasse er entstammt, wie stark oder schwach er ist. Man vertraute darauf, dass gerade nach dem Krieg jeder damit etwas anfangen könne und ließ entsprechend den Begriff erst einmal uninterpretiert. Das änderte sich in den 50er Jahren. 1951, als das Bundesverfassungsgericht ins Leben gerufen wurde, wurden schon bald Klagen anhängig, die die Menschenwürde betrafen. Man war nun also gezwungen, den Begriff der Menschenwürde zu definieren. Diese Aufgabe fiel dem Bundesverfassungsgericht zu, das ja eigentlich als exekutives Organ nicht dafür ausgerichtet ist. Ohne Immanuel Kant beim Namen zu nennen, berief sich das Bundesverfassungsgericht auf dessen Philosophie. Offiziell definierte man nun den Menschen als ein aus der Natur herausgehobenes Vernunftwesen, ein geistig-sittliches Wesen – wie es auch heißt -, das gemeinschaftsbezogen, aber frei sein Dasein führen können soll – so wie ihn auch Immanuel Kant definiert hat. Auch übernahm man von dem Philosophen die sogenannte Objektformel, indem man festlegte: Die Menschenwürde werde genau dann verletzt, wenn man den Einzelnen, der ein Subjekt ist, als bloßes Objekt gebraucht, wenn man den Einzelnen, der ein Selbstzweck sei, als reines Mittel zum Zweck gebrauche.
Diese Bestimmung der Menschenwürde aus den 50er Jahren ist bis heute offiziell gültig. Also in allen Urteilen des Bundesverfassungsgericht, in denen es um die Menschenwürde geht, beruft man sich immer wieder auf diese Definition aus den 50er Jahren.
Wir kommen nun zum dritten Schritt, zur Kritik an der Menschenwürde, wie sie heute verstanden wird. Meine Kritik knüpft an den Kantischen Gebrauch der Menschenwürde durch das Bundesverfassungsgericht an. Wenn man sagt, der Mensch ist ein aus der Natur herausgehobenes Vernunftwesen, hat man zugleich eine Anthropologie entwickelt, von der gar nicht feststeht, ob sie sich überhaupt heute im 21. Jahrhundert, so wie sie im 18. Jahrhundert gültig ist, durchhalten lässt. Meine These ist, dass alle Versuche, die Menschenwürde als Wesensmerkmal zu definieren, als etwas, das uns durch die Geburt automatisch zukommt, weltanschaulich imprägniert sind. Ein Gemeinwesen, das sich zu weltanschaulicher Neutralität bekennt, wird sich nicht durchhalten lassen können. Es geht dabei nicht darum, was der Einzelne unter Würde verstehen darf. Wir leben ja in einer liberalen Gesellschaft, die streng trennt zwischen dem Privaten und Öffentlichen. Im privaten Bereich darf natürlich jeder unter Würde verstehen, was er möchte. Wenn es aber darum geht, was darf ich meinem Nachbar als verbindlichen vorschreiben, was darf der Staat seinen Bürgern als verbindlich vorschreiben oder die UNO ihren Mitgliedstaaten, dann – so meine These – gehört die Idee der Würde als Wesensmerkmal deshalb nicht dazu, weil dieser Begriff ein weltanschaulich gebundenes Menschenbild voraussetzt, auf das sich nicht jeder verpflichten lassen kann.
In unserer Gesellschaft herrschen ja auch sehr stark religiöse Vorstellungen von der Menschenwürde, da gilt natürlich, dass jede einzelne Gruppe oder Gruppierung an der Idee der Menschenwürde als Gottebenbildlichkeit und dergleichen festhalten kann, auch jeder einzelne Gläubige. Aber der Staat, das Recht, die Politik darf meines Erachtens den Bürger nicht auf eine solche religiös gebundene Vorstellung verpflichten, solange er sich als ein liberales, multikulturelles, pluralistisches Gemeinwesen versteht. Und ein solches sind wir ja hier in Deutschland. Das gleiche gilt – horribile dictu – für die Kantische Vorstellung der Menschenwürde, denn auch sie ist weltanschaulich imprägniert. Der Gedanke vom Menschen als ein aus der Natur herausgehobenes Vernunftwesen zehrt letztendlich – und das kann im Einzelnen nachgewiesen werden - von religiös-metaphysischen Vorstellungen, die sich heute so auf keinen Fall mehr durchhalten lassen. Hinzu kommt noch dass, selbst wenn wir den Menschen als Vernunftwesen sehen, Vernunftbesitz als solches ja noch keine Werteigenschaft ist. Vernunft als die Fähigkeit, denken zu können, kausal denken zu können, als Reflexionsvermögen – das ist ja letztendlich erst einmal nur eine Eigenschaft, die bestimmten Lebewesen zukommt, aus der man nicht ohne weiteres eine höhere, absolute Wertbestimmung ableiten kann. Verschärfend kommt hinzu, dass wir heute nicht über den Menschen reden können, ohne die Naturwissenschaften zu berücksichtigen. Und wenn wir die moderne Kosmologie, die Evolutionsbiologie, die Molekulargenetik, die Neurophysiologie hinzuziehen, dann wird der Schluss geradezu unvermeidlich, dass der Mensch nicht der „vornehmste Buchstabe im Buch der Natur“ ist, (ca. 16.00) sondern dass wir Menschen einem naturhaften Prozess entstammen und endliche Wesen sind. Man könnte es auch biologischer formulieren: Der Mensch – und dafür spricht heute recht viel – ist letztendlich nichts anderes als ein schmalnasiges Säugetier mit übergewichtigem Kopf auf einer für den aufrechten Gang eher ungeeigneten Wirbelsäule.
Wenn das alles stimmt, dann scheinen Philosophen wie Nietzsche und Schopenhauer, die schon im 19. Jahrhundert über die Menschenwürde sagten, sie ist vermutlich eine Seifenblase, sie ist ein Hirngespinst, sie ist ein Phantom, es gibt sie nicht wirklich, Recht zu behalten.
Aber das ist nun wieder beunruhigend. Und damit kommen wir zum vierten und letzten Schritt, bei dem es um die Frage geht: Können wir denn die Menschenwürde retten angesichts ihrer Bedrohung durch die Wissenschaft auf der einen Seite und durch ihre weltanschaulichen Gebundenheiten auf der anderen Seite? Sie hat doch in bestimmten Diskussionen, wenn etwa Amnesty International im Namen der Menschenwürde Folter verurteilt, eine sehr praktische und gut eingeführte Bedeutung, auf die wir nicht ohne weiteres verzichten möchten. Man kann sagen, das Leid in der Welt lässt doch einen Verzicht auf die Würde-Idee sogar als unverantwortlich, als verantwortungslos erscheinen.
Wir stehen als vor einem schwierigen Problem. Die Menschenwürde scheint auf der einen Seite theoretisch unbeweisbar, auf der anderen, praktischen Seite unabweisbar und unverzichtbar zu sein. Sie scheint sich doch überall dort zu Wort zu melden, wo sie verletzt wird, dort wo willkürlicher Freiheitsentzug, grausame Unterdrückung, bittere Armut herrscht, wo die Angstschreie Tausender mit gekrümmten Rücken und nach oben schielenden Augen sich erheben, dort scheint sich doch die Menschenwürde auf eine ganz bestimmte Art und Weise Ausdruck zu verschaffen, die auch dann existiert, wenn wir Menschen nichts weiter als schmalnasige Säugetiere wären, nichts weiter als endliche Lebewesen unter anderen sind. Zugleich muss man aber einräumen, dass die Idee der Menschenwürde als Wesensmerkmal nach meinem Dafürhalten unwiederbringlich dahin ist. Mit dem modernen naturwissenschaftlichen Weltbild auf der einen Seite und der multikulturellen Gesellschaft, auch der Weltgesellschaft und dem liberalen Gemeinwesen auf der anderen Seite, lässt sich die Idee der Wesenswürde nicht vereinbaren. Es gibt sie nicht als etwas, das von selbst da ist, sondern wenn überhaupt, dann als etwas, das sich erst ergibt aus dem Umgang des Einzelnen mit sich und Seinesgleichen sowie des Staates mit seinen Bürgern oder der Weltgemeinschaft mit ihren Mitgliedstaaten.
Wenn sich die Würde als Wesensmerkmal nicht halten lässt, bleibt aber immerhin noch die Würde als Gestaltungsauftrag übrig. In einem ersten Schritt kann man sagen, die Würde als Gestaltungsauftrag hat sicherlich mindestens drei Facetten, die man zwar im einzelnen begründen müsste, die aber auch so auf Anhieb einleuchten dürften: Zu einem menschenwürdigen Leben gehört eine gewisse materielle Sicherheit oder Sicherung nach unten hin, damit zusammenhängend die gegenseitige Achtung der Menschen als Personen mit eigenen Rechten und die Möglichkeit der Selbstachtung, die die Entwicklung und Entfaltung der eigenen Fähigkeiten voraussetzt.
Daran schließt sich die schwierige Frage an: Wie lässt sich eine solche praktische Menschenwürde-Vorstellung, die sie nur noch als Gestaltungsauftrag konzipiert wissen möchte, begründen? Das ist ein wichtiges philosophisch-politisches Thema. Ich denke, man sollte jetzt nicht, wie man es immer in der Geschichte gemacht hat, von oben nach unten gehen, also von der Erhabenheit des Menschen zu seiner Wertbesonderheit, sondern man sollte vielmehr – und das hat, glaube ich, bessere Chancen, anerkannt zu werden – grenzüberschreitend von unten nach oben gehen. Wir müssen also schauen, was verbindet uns Menschen denn unterhalb aller kulturellen Differenzen miteinander. Als ersten Punkt ist die existenzielle Gleichstellung der Menschen zu nennen als verwundbare, schmerzfähige Wesen, hilfsbedürftig, ausgestattet mit bestimmten Interessen, mit Gebrechlichkeiten der unterschiedlichsten Art. Wir alle sind gleich als endliche, sterbliche, verwundbare, leidensfähige Wesen. Der menschenwürdige Schutz, um den es hier geht, den es zu begründen gilt, gründet auf der Evidenz der Vorzugswürdigkeit eines Lebens in Abwesenheit von Mord und Totschlag, von Schmerz und Gewalt, von Folter, Not, Hunger, Unterdrückung und Ausbeutung. Die Menschenwürde dient gewissermaßen auf dieser untersten Ebene den fundamentalen Erhaltungs- und Entwicklungsinteressen der Menschen. Und diese sind ja bei uns allen vernünftigerweise in groben Zügen gleich, so dass es gewissermaßen zur anthropologischen Natur gehört, bestimmte Interessen zu haben, wie sich satt zu essen, sich frei entfalten zu können und seine Talente zu entwickeln. Diese Bedürfnisse sind fundamental und sie müssen meines Erachtens befriedigt werden, um einem Leben in unterschiedlichen kulturellen Kontexten überhaupt das Kennzeichen „menschenwürdig“ zuerkennen zu können.
Für mich als Einzelnen leuchtet das sicherlich ein, aber warum soll ich denn ein Interesse daran haben, dass anderen Menschen auch die Möglichkeit gewährt wird, ihre Interessen und Bedürfnisse erfüllt zu bekommen? Warum soll ich den anderen schützen? Darauf lassen sich verschiedene Antworten finden, ich werde hier nur zwei nennen. Die eine ist noch nicht einmal im strengen Sinne ethisch, sie geht vom wohlverstandenen Eigeninteresse aus: Man sollte wollen, dass dem anderen als Mindestmaß gewährt wird, was man auch für sich selbst beansprucht, weil man selbst dann nur mittelfristig und auf Dauer seine eigenen Wünsche und Interessen erfüllt bekommt. Das ist ein ethisch egoistisches Motiv. Wenn man ein wirklich moralisches Motiv haben möchte, dann muss man sagen, wir Menschen verfügen alle über die grundsätzliche Fähigkeit, einen Schritt zur Seite zu treten und Abstand von uns selbst zu nehmen. Wenn ich von mir Abstand nehme, erkenne ich, dass meine eigenen Interessen, nur weil sie meine eigenen Interessen sind, deshalb nicht mehr wiegen als die anderer Menschen. Meine Bedürfnisse, mich satt essen zu können, ein Dach über dem Kopf zu haben, ist bei anderen Menschen genauso anzutreffen. Daraus folgt geradezu von selbst der moralische Anspruch oder die moralische Aufforderung, sich dafür bei anderen einzusetzen und zu engagieren. Die Begründung eines würdevollen Lebens liegt letztendlich in solch einfachen Überlegungen. Wem diese einfachen Überlegungen jedoch nicht genügen, dem wird sicherlich ein Vernunftgebot, ein Gottesgesetz auch nicht reichen.
Nun befinden wir uns in der schwierigen Situation, dass wir Menschen zwar diese Dinge erkennen, dass wir aber nicht nach ihnen handeln. Der Verstand ist der Held, aber das Herz noch nicht bewegt. Deswegen muss als Drittes hinzukommen so etwas ganz Altmodisches wie das Wohlwollen, was die alten Römer benevolencia nannten, oder die Milde. Ohne Wohlwollen ist jede Ethik zum Scheitern verurteilt. Und ohne Wohlwollen ist im Grunde Achtung und fürsorgliches Verhalten nicht möglich. Leider können wir uns auf das Wohlwollen auch nicht verlassen.
Deswegen brauchen wir im vierten Schritt so etwas wie gute, rechtliche Institutionen, die das, was als Standard für ein menschenwürdiges Leben gilt, garantieren und erzwingbar machen.
Abschließend kann man fragen, worin besteht denn nun ein menschenwürdiges Leben, was ist jetzt Würde? Sehr schön hat das einmal Friedrich Schiller formuliert. Er schrieb:
Die Würde des Menschen, nichts mehr davon, ich bitt Euch,
zu essen gibt ihm, zu wohnen, habt Ihr die Blöße bedeckt, gibt sich die Würde von selbst.
Es bleibt nun aber als letztes Problem: Wenn der Mensch an sich keine Würde hat und wenn Würde davon abhängt, wie wir miteinander umgehen, dann ist doch ein Mensch, der von anderen gedemütigt wird, der nicht genug zu essen hat und dem die Selbstachtung abhanden gekommen ist, würdelos. Dann fehlt letztendlich das Korrelat der Achtung. Wer sozusagen in der Gosse liegt, dem hat man ja die Würde entzogen, und es fehlt ihm das, was an ihm geachtet werden soll, nämlich die Würde. So könnte man als Einwand gegen die Idee der Würde als Gestaltungsauftrag argumentieren.
Hiergegen möchte ich aber erwidern, dass man es auch genau umgekehrt sehen kann und sollte und muss. Man sollte nämlich die Menschenwürde gerade dann achten, wenn es sie nicht gibt. Das ist der springende Punkt: Man sollte sie gerade dann achten, wenn es sie nicht gibt, damit es sie gibt. Sie ist vielleicht das Einzige, was uns in der Welt noch Achtung verleiht, wo wir keine Achtung von etwas anderem herbekommen können als von uns selbst.
Ende Teil I
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Anfang Teil II
Die Entzauberung eines Ideals ; (2)
INHALT II
Heute mit dem Thema: „Die Menschenwürde- eine Illusion?“, Teil 2.
Franz-Josef Wetz, Professor für Philosophie an der PH in Schwäbisch-Gmünd, hat letzten Sonntag gezeigt, dass er Menschenwürde nicht mehr im traditionellen idealistischen Sinne versteht, sondern im naturalistischen. Würde hat für ihn nichts mit einer normativen Wesenszuschreibung zu tun, die den Menschen als geistiges göttliches Wesen definiert, das aus der Natur herausgehoben ist. Wetz begreift Würde vielmehr als soziale Gestaltungsaufgabe, die zugleich von rein pragmatischen Erwägungen gelenkt wird.
Im zweiten Teil nun zeigt Wetz die moralisch-ethischen Konsequenzen seines Ansatzes auf: Wenn Würde nicht mehr auf einem bestimmten Menschenbild beruht, also nicht mehr weltanschaulich, metaphysisch imprägniert ist, dann hat das Konsequenzen etwa für unseren Umgang mit dem ungeborenen Leben und für unseren Umgang mit schwerkranken Menschen, die sterben wollen.
In der SWR2 AULA führt Franz-Josef Wetz seine Argumente aus.
Franz-Josef Wetz:
Menschenwürde als Gestaltungsauftrag heißt, die Würde des Menschen gründet auf der Vorstellung des Einzelnen als ein schutzbedürftiges, endliches, leidensfähiges Wesen, das von verschiedenen Bedürfnissen, Interessen und Neigungen bestimmt wird, die den Appell an den Mitmenschen richten, ihn entsprechend zu behandeln. Die Würde des Menschen wäre hiernach nichts weiter als ein Anspruch auf die Achtung des Einzelnen, das beinhaltet die Vermeidung von Unterdrückung, Garantie der materiellen Versorgung, eine freiheitliche Welt, in der man sich selbst entwickeln, entfalten und auch selbst darstellen kann.
Nun muss man die verschiedenen Positionen der Würde gar nicht gegeneinander ausspielen, wenn es um bestimmte Fragen der sozialen Welt heute geht. Das heißt, ob man vom christlich-metaphysischen, vernunftphilosophischen oder dem weltanschauungsneutralen säkularen Würdeverständnis als reinem Gestaltungsauftrag ausgeht, das ist ganz egal, wenn Themen wie die Unterdrückung Andersdenkender oder rassisch oder kulturell andersartiger Personen angesprochen sind. Denn alle Positionen der Würde stimmen hierin überein, dass solche Behandlungen Würdeverstöße darstellen. Über alles Trennende hinweg sind nämlich die verschiedenen Vertreter der Positionen der Meinung, wo immer menschliche Willkür die Existenz des Einzelnen bedroht und dessen freie Entfaltung verhindert oder die materiellen Grundlagen seines Daseins fehlen, dort ist die Menschenwürde zutiefst verletzt.
Aber ob die Würde des Menschen mehr christlich-metaphysisch, stärker vernunftphilosophisch oder gänzlich säkular als Gestaltungsauftrag gedeutet wird, ist keineswegs unerheblich, wenn es um die bio- und medizinethischen Herausforderungen unserer Zeit geht. Und das möchte ich Ihnen anhand von zwei Beispielen demonstrieren. Ein Beispiel vom Anfang des menschlichen Lebens, es geht um embryonenverbrauchende Stammzellforschung, und ein Beispiel vom Ende des Lebens: es geht um Sterbehilfe.
Nach geltendem Recht ist hierzulande die Einfuhr von Stammzellen verboten, die nach dem 1. Januar 2002 gewonnen wurden. Das heißt, das Stammzell-Gesetz gewährt Wissenschaftlern nur den Zugriff auf Stammzellkulturen, die vor dem 1. Januar 2002 bereits gewonnen waren.
Wenn man sich die Praxis heute anschaut, springen einem einige Widersprüche ins Auge. Ich möchte Ihnen erst einmal einen politischen Widerspruch aufzeigen: Deutschland unterstützt finanziell die Forschung mit frisch gewonnenen Stammzelllinien in der EU. Es gibt einen EU-Beschluss, den Deutschland mitträgt und mit Millionen Euro mitfördert. Mit deutscher Zustimmung und deutschen Geldern werden also Forschungen in Schweden, Belgien, Großbritannien an Stammzellen mitfinanziert, die hiesigen Wissenschaftlern verboten sind. Das ist im Grunde ein unerträglicher Widerspruch, wenn man bedenkt, dass hierzulande Forschern untersagt wird, was wir zugleich mit deutschen Steuergeldern in Schweden, Großbritannien oder Belgien bezahlen.
Warum dürfen deutsche Wissenschaftler nicht an Stammzellen, die aus Embryonen gewonnen wurden, forschen? Ein Standardargument lautet, weil Embryonen, aus denen die Stammzellen gewonnen werden, bereits Würde besitzen. Wie können wir diese Würde begründen?
Dazu gibt es ganz viele Positionen. Die einen sagen, der Embryo habe bereits Würde, weil schon mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle der genetische Code festliege und er damit im vollen Sinne des Wortes ein Mensch sei. Andere sind etwas behutsamer, sie sagen, der Embryo habe Würde in dem Augenblick, in dem er in Verbindung mit der Mutter trete. Solange er im Reagenzglas sei und die Einnistung in die Gebärmutter noch nicht erfolgt sei, könne man ihm auch keine Würde zuerkennen. Wieder andere sagen, der Embryo habe erst Würde nach der Ausbildung des sogenannten „Primitivstreifens“, also ungefähr 14 Tage nach der Empfängnis, weil von diesem Zeitpunkt an die Teilung des werdenden Lebens in identische Zwillinge oder Drillinge ausgeschlossen sei. Eine weitere Gruppe ist der Meinung, sobald der Organismus menschliche Gestalt annehme oder zu spontaner Bewegung fähig sei, sei auch der Embryo als schützenswerter Mensch mit eigener Würde anzusehen. Die fünfte Gruppe nimmt den Embryo nach der 6. Woche in die menschliche Solidargemeinschaft auf, weil danach neuronale Strukturen entstehen und die Gehirntätigkeit einsetzt. Manche messen ihm erst Würde zu, wenn er empfindungsfähig ist.
So unterschiedlich diese Positionen sind, sie alle sind problematisch, da biologische Einschnitte eben nichts über den Wert des menschlichen Lebens aussagen. Verallgemeinert ausgedrückt: Lebensform ist nicht in der Lage, Lebensnorm zu begründen. Noch so genaues Wissen über die Entwicklung des Embryo klärt nicht über dessen Würde oder dessen Wertstatus auf. Denn es geht nicht um eine Tatsachenfrage, die sich biologisch klären ließe, sondern um eine Wertfrage, die wertphilosophische Antworten fordert.
Nun hatten wir ja im ersten Vortrag die religiös-christliche, vernunft-philosophische und existenziale säkulare Position der Würde kennengelernt. Sie alle stimmen in einem speziellen Punkt überein, der für die Frage, ob der Embryo Würde hat, von großer Bedeutung ist, nämlich in der sogenannten Objektformel. Nach der traditionellen Kantischen Objektformel widerspricht es der Würde des Menschen, den Einzelnen, der ja Subjekt ist, zu einem bloßen Objekt zu machen. Das heißt, nach der Objektformel widerspricht es der Würde des Menschen, eine Person als Sache oder als Ding zu gebrauchen oder sie zu instrumentalisieren. Für die Frage, ob nun embryonenverbrauchende Stammzellforschung einen Würdeverstoß darstellt, scheint, das merken Sie nun auf Anhieb, die Objektformel von allergrößter Wichtigkeit zu sein. Auf den ersten Blick steht die Antwort bereits fest. Embryonenverbrauchende Stammzellforschung gebraucht ja humanes Leben als ein Werkzeug, als eine Sache. Hier wird humanes Leben herabgestuft zu einem Mittel zum Zweck, es wird verdinglicht zu bloßem Material. Der menschliche Embryo wird nicht mehr als Mensch gesehen. So scheint es auf den ersten Blick.
Allerdings ist – und das muss nun einschränkend als erstes gesagt werden – die Verfremdung menschlichen Lebens zur bloßen Sache natürlich erst dann als Würdeverletzung zu sehen, wenn eine lebende Person oder ein wirkliches Subjekt mit Eigenwert zum bloßen Objekt herabgestuft wird. So einleuchtend die Objektformel ist, so groß ist die Unsicherheit über ihre „Reichweite“. Es bestehen erhebliche Zweifel, ob sich die Objektformel überhaupt auf Embryonen sinnvoll anwenden lässt, da diese ja noch gar keine Subjekte sind. Sicherlich möchten viele von Ihnen hierauf erwidern, dass sie doch immerhin potentielle Subjekte sind. Das bestreitet niemand. Nur Potentialität für sich genommen sagt noch nichts über Existenzberechtigung aus. Potentialität allein begründet kein Lebensrecht. Erst, wenn man den Menschen zuvor aufgrund seiner Gottebenbildlichkeit oder Vernunftfähigkeit bereits eine Wesenswürde zuerkannt hätte, könnte man damit dem Embryo eine besondere Würde zuerkennen. Ob Embryonen allerdings eine solch vorgegebene Wesenswürde haben, genau das war ja eine strittige, eine weltanschauliche Frage, bei der sich ein Staat, der sich zur Religions- und Weltanschauungsfreiheit bekennt, ein Staat also, der ohne metaphysisches Sinnzentrum auszukommen versucht, eigentlich seiner Stimme enthalten sollte. Die Frage nach der Wesenswürde des Embryos wäre dann aus dem öffentlichen Recht auszulagern und in den privaten Bereich zu verlegen, wo jeder Einzelne selbstverständlich daran glauben und sie gegen Andersdenkende verteidigen darf.
Wenn sich nun schon nicht die vorgegebene Wesenswürde auf den Embryo verallgemeinernd übertragen lässt, dann aber vielleicht doch die säkulare Gestaltungswürde, die ja neutraler ausfällt. Dieser Versuch ist jedoch allein schon deshalb zum Scheitern verurteilt, weil solche Vorstellungen elementare Bedürfnisse und die Verletzbarkeit der befruchteten Eizelle voraussetzt, kurz: ein wie auch immer geartetes empfindungsfähiges Wesen, das verwundet, misshandelt, gedemütigt werden kann. Diese Bedingungen sind aber bei Embryonen, die überhaupt nichts spüren und sich auch bei minus 190 Grad einfrieren lassen, keineswegs erfüllt.
Das Argument, dass die verbrauchende Embryonenforschung doch mögliches künftiges Interesse an würdevoller Behandlung verletzt, ist schon deshalb falsch, weil überhaupt noch nichts Verletzbares vorliegt und gerade die Entstehung verletzbaren Lebens verhindert wird. Die weltanschaulich neutrale Würdeidee untersagt lediglich, verwundbares menschliches Leben zu demütigen oder zu erniedrigen. Doch genau das kann mit Embryonen in der Frühphase ihrer Existenz noch nicht geschehen. Dennoch bleibt es – das muss ich betonen -selbstverständlich jedem Einzelnen überlassen, aus Achtung vor der eigenen Würde, vor dem Stoff und der Form, aus der man einst selbst entstand, embryonenverbrauchende Forschung abzulehnen. Dies alles mag eben dem eigenen sittlichen Empfinden widersprechen. Aber es vermag kein kategorisches „Nein“ gegen embryonenverbrauchende Stammzellforschung zu begründen. Der Staat sollte nur gewährleisten, dass niemand zu einer solchen Embryonenspende gezwungen wird.
Natürlich bleibt es jedem Einzelnen überlassen, den „gestaltlosen“ Embryo bereits in den Raum menschlicher Teilnahme aufzunehmen und mit ihm in ein dialogisches Verhältnis zu treten, wie Martin Buber sagen würde: ihn – den Embryo – statt als ein „Es“ als ein „Du“ anzusprechen, dessen Geschichte schon mit der frühesten Entwicklungsphase beginnt, in welcher das ungeborene menschliche Leben noch einseitig auf fürsorgliche Zuwendung und Schutz angewiesen sei. Das alles ist natürlich möglich. Doch auch hier gilt, ob man eine befruchtete Eizelle schon als ehrfurchtgebietendes Du ansprechen möchte, ob man in der embryonenverbrauchenden Stammzellforschung vielleicht eine kosmische Schande sehen möchte, alles das hängt primär von der eigenen weltanschaulichen Einstellung ab, auf die nicht jeder Mensch verpflichtet werden darf und die so Privatangelegenheit bleiben soll.
Somit ergibt sich bezogen auf die Stammzellforschung folgendes Bild: Weltanschaulich neutral betrachtet können embryonenverbrauchende Experimente nicht als Würdeverletzung gelten, auch wenn diese Embryonen hierdurch als Sachen eingestuft werden. Weltanschaulich neutral betrachtet lässt sich bei befruchteten Eizellen im Frühstadium noch überhaupt keine allgemeine Würde nachweisen und logischerweise daraus auch kein Argument ableiten gegen die Zulassung von embryonenverbrauchender Stammzellforschung.
Kommen wir nun zum zweiten Teil, gehen wir an das Ende des menschlichen Lebens: zur Sterbehilfe. Es werden verschiedene Formen unterschieden. Die passive Sterbehilfe beinhaltet die Nichtaufnahme einer das Leben verlängernden Behandlung oder auch den Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen, etwa durch das Abstellen künstlicher Beatmungsmaschinen oder Ernährungsapparate. Davon unterschieden wird die indirekte Sterbehilfe, die ausdrücklich Schmerzlinderung verfolgt, aber Schmerzlinderung mit lebensverkürzendem Risiko. Einem todkranken Patienten werden schmerzstillende Medikamente verliehen, von denen der Arzt weiß, dass sie den schnellen Tod zur Folge haben können. Sein Ziel ist die Schmerzlinderung, und dabei nimmt er den Tod des Patienten in Kauf. Deswegen indirekte Sterbehilfe.
Weitere Stichpunkte sind die Beihilfe zur Selbsttötung oder der assistierte Suizid, über die bei uns zur Zeit sehr gestritten wird, nämlich die gezielte Unterstützung eines Schwerstkranken beim Suizid durch Beschaffung und Bereitstellung eines tödlichen Medikaments. Der Tötungswillige muss das Arzneimittel, und das ist der entscheidende Punkt, in freier und aufgeklärter Entscheidung selbständig einnehmen.
Als vierte Form möchte ich noch die aktive Sterbehilfe nennen. Darunter versteht man die schmerzlose gezielte Tötung eines Menschen auf dessen tatsächlichen oder mutmaßlichen Wunsch hin, etwa durch einen schnell wirkenden Gifttrunk oder eine tödliche Injektion.
Hierzulande sind die passive und die indirekte Sterbehilfe zulässig, sofern sie dem ausdrücklichen oder mutmaßlichen Willen des Sterbenden entsprechen. Die Beihilfe zur Selbsttötung und die aktive Sterbehilfe sind verboten.
Viele Menschen, die von der Heiligkeit des menschlichen Lebens und der Wesenswürde ausgehen, sehen im menschlichen Leben einen unverfügbaren absoluten Wert und lehnen darum fast jede Form von Sterbehilfe ab. Menschliches Leben ist für sie - unabhängig von seiner Qualität und seinem Wert für den Leidenden - ein schützenswertes Gut. Wie ich deutlich gemacht habe, ist aber eine solche Vorstellung der Menschenwürde und der damit verbundenen Unverfügbarkeit des Lebens aus meiner Sicht weltanschauungsgebunden und daher nicht verallgemeinerungsfähig, weshalb es hier gar nicht weiter berücksichtigt zu werden braucht. Es sei zwar dem Belieben jedes Einzelnen überlassen, worauf er seine Argumentation aufbaut; Schlussfolgerungen, die allerdings auf weltanschaulichen Prämissen gründen, können nur diejenigen überzeugen, die auch daran zu glauben bereit sind. Auf alle Fälle darf der weltanschauungsneutrale Staat seinen Bürger keine Lehre von der Heiligkeit menschlichen Lebens vorschreiben, sondern sollte die Beantwortung dieser Frage ihnen selbst überlassen. Weltanschauungsneutral betrachtet, so hart das klingt, stellt das Leben an sich keinen Wert dar, sondern empfängt diesen Wert erst durch uns selbst.
In den hiesigen Diskussion geht es um die Frage nach der Zulässigkeit der Beihilfe zur Selbsttötung und die aktive Sterbehilfe. In Staaten wie Belgien, die Schweiz, die Niederlande oder auch in dem amerikanischen Bundesstaat Oregon ist es erlaubt, tödlich erkrankten Patienten eine letale Dosis eines Barbiturats zu verschreiben, um ihnen dadurch zu ermöglichen, im Falle unerträglicher Leiden sich das Leben nehmen zu können. Also das ist die Beihilfe zur Selbsttötung. Nun ist auch nach deutschem Recht die Beihilfe zur Selbsttötung straffrei. Dennoch ist der ärztlich assistierte Suizid hierzulande bislang keine legale medizinische Option, weil sich ein Arzt hierbei möglicherweise unterlassener Hilfeleistung oder der Tötung durch unterlassene Hilfeleistung strafbar machen könnte. Darüber streiten die Juristen. Außerdem verbietet zudem das ärztliche Standesrecht den Freitod unter ärztlicher Aufsicht.
Tatsächlich folgt aber nun aus dem Recht auf Selbstbestimmung, dem Recht, sein Leben nach eigenen Vorstellungen leben zu dürfen, wie es meiner Idee der Würde als Gestaltungsauftrag zugrunde liegt, zugleich das Recht, in selbstverantwortlicher Entschließung dem eigenen Leben ein Ende setzen zu dürfen. Eine Zulassung des ärztlich assistierten Suizids bedeutet nicht, wie man manchmal hört, Barbarei, sie bedeutet auch nicht Barmherzigkeit, sondern es ist auch und vor allem ein Teil des realisierten Rechts auf Selbstbestimmung. Zwar bezeichnet der ärztlich assistierte Suizid kein Anspruchsrecht, also kein Recht, worauf der Patient einen Anspruch hätte, aber es formuliert so etwas wie ein Erlaubnisrecht, ein Recht, das mir erlaubt, mir das Leben zu nehmen und mir auch Hilfe dabei beschaffen zu dürfen. Mögliche Komplikationen lassen es allerdings ratsam erscheinen, geschulte Ärzte statt medizinische Laien als Freitodhelfer zu bestellen.
Nun ist es schwer nachzuvollziehen, warum das Recht auf Selbstbestimmung, das ja ein Teil der Würde als Gestaltungsauftrag ist, bloß für Patienten gelten soll, die bei Bewusstsein und körperlich handlungsfähig sind, nicht aber für Patienten, die vielleicht durch eine Querschnittlähmung an der Ausübung ihres Willens gehindert werden.
Aktive Sterbehilfe ist unvereinbar mit der europäischen Menschenrechtskonvention und unvereinbar mit dem deutschen Recht. Praktiziert wird sie bekanntlich in den Niederlanden und in Belgien. In Deutschland wird gegen die aktive Sterbehilfe eingewandt, dass sie mit einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat nicht vereinbar sei, weil sie die gültige Grenze des christlich-humanistischen Wertekanons unwiderruflich überschreite. Die Argumente gegen den ärztlich assistierten Suizid und eigentlich auch gegen die aktive Sterbehilfe sind ganz vielfältiger Art. Die einen, vor allem die Mitglieder der Hospiz-Bewegung, weisen immer wieder darauf hin, dass der von einem Patienten geäußerte Wunsch nach ärztlich assistiertem Suizid oder auch aktiver Sterbehilfe eigentlich als Appell und Hilferuf nach besserer Pflege zu verstehen sei.
Andere sagen, dass das Bild einer Gesellschaft doch deutlich werde, in der anscheinend nur Glück, Lust und Spaß zählten, dagegen der Anblick von Schmerz, Verzweiflung und Krankheit tendenziell als unerträgliche Zumutung angesehen würde, weshalb wir wohl auch bereit wären, diesen beiden Formen der Sterbehilfe leichter zuzustimmen.
Ganz wichtig und ernst zu nehmen, sind die Gefahren eventueller Dammbrüche. Darunter fallen verschiedene Aspekte. Ich möchte drei Gefahren unterscheiden: Erstens, so heißt es, könne es zu einer ungewollten Aufweichung des ärztlichen Respekts vor menschlichem Leben kommen mit der Konsequenz, dass künftig bereits leicht Erkrankte „aus dem Wege geräumt“ würden; zweitens könnten auch jene Bürger, die mit der Betreuung Schwerstkranker betraut sind und die physisch, psychisch und materiell sehr viel investieren müssen, auf lange Sicht der Versuchung erliegen, den Patienten zur Einwilligung in die aktive Beendigung des Lebens zu überreden, das doch für die Gemeinschaft eine nutzlose Belastung darstelle; drittens könnten alle Todkranken – das liegt nun auch auf der Hand – auf diese Weise in einen gefährlichen Sog geraten und aus dem Gefühl, anderen zur Last zu fallen sowie unter dem Druck steigender Gesundheitskosten und angesichts zunehmender Überalterung unserer Gesellschaft, sich leicht verpflichtet fühlen, die Möglichkeit aktiver Sterbehilfe zu nutzen, statt neue Zuversicht zu schöpfen.
Ein weiteres Argument gegen Formen des ärztlich assistierten Suizids und der aktiven Sterbehilfe lautet, dass doch zwischen Abbruch medizinischer Maßnahmen und Selbsttötung oder Fremdtötung ein grundsätzlicher Unterschied bestehe. Denn der Abbruch medizinischer Maßnahmen führe nur bei Sterbenskranken zum Tode, hätte bei Gesunden aber keinerlei Auswirkungen, während die Verabreichung einer Spritze sowohl Kranke als auch nicht Kranke sterben lassen würde.
Ich komme nun zu den Argumenten, die für den ärztlich assistierten Suizid sprechen: Das Abstellen lebensverlängernder Maschinen unterscheidet sich gar nicht so sehr von der aktiven Sterbehilfe, wie es auf den ersten Blick aussieht. Denn beiden liegt die gleiche Absicht zugrunde. Außerdem haben sowohl aktive als auch passive Sterbehilfe und der ärztlich assistierte Suizid einen gemeinsamen Nenner: die Verursachung. Alle drei Formen verursachen im Grunde den Tod und haben deswegen die gleiche Qualität.
Wenn wir die passive und die indirekte Sterbehilfe als zulässig ansehen, so haben wir bereits zugegeben, dass der Lebensschutz, der ja über allem stehen soll, der Schmerzlinderung untergeordnet wird, so dass dieses Argument bereits ausgehöhlt ist und nicht mehr gilt. Dann ist natürlich einfach falsch, dass sich das Problem mit mehr Zuwendung und stärkerer Palliativtherapie in den Griff bekommen lasse. So furchtbar es klingt, es gibt eine kleine Gruppe von Patienten, bei denen es human wäre, ihnen zu erlauben, sich vielleicht selbst schmerzfrei zu töten, aber inhuman, sie qualvoll sterben zu lassen.
Für den ärztlich assistierten Suizid hat sich mittlerweile sowohl die Mehrheit des Nationalen Ethikrats als auch der Juristentag ausgesprochen. Und es gibt auch von der Idee der Menschenwürde als Gestaltungsauftrag kein Argument gegen die Zulassung der aktiven Sterbehilfe. Die Dammbruch-Argumente, also beispielsweise, dass der Einzelne sich dazu überredet sehen könnte, sich das Leben nehmen zu wollen, ist zwar ernst zu nehmen, aber es ist in einem Punkt nicht besonders überzeugend: Warum sollten Menschen freiwillig zur Entlastung des Gesundheitssystems aus dem Leben scheiden wollen, nachdem sie es viele Jahre schon häufig bloßer Kleinigkeiten wegen übermäßig und bedenkenlos in Anspruch genommen haben.
Deshalb plädiere ich für die Zulassung des ärztlich assistierten Suizids, halte ihn mit der Idee der Würde als Gestaltungsauftrag vereinbar, ja, halte sogar in bestimmten Fällen, die natürlich genau geprüft werden müssten, auch den Gedanken der aktiven Sterbehilfe für vertretbar.
Abschließend möchte ich anmerken, weil wir diese Diskussion in Deutschland ja sehr grundsätzlich führen: Der berühmte Lichtenberg hat einmal gefragt: „Sagt, ist noch ein Land außer Deutschland, wo man die Nase eher rümpfen lernt als putzen?“ Er ist also überzeugt davon, dass wir Deutschen eine grundsätzliche Nation sind, die diese Fragen sehr prinzipiell behandelt. Das finde ich auch sinnvoll. Aber wir sollten diese Fragen nicht nur prinzipiell, sondern eben außerdem pragmatisch beantworten. Meine Position, die von der Idee der Menschenwürde als Gestaltungsauftrag ausgeht, ordnet Freiheits- und Heilungsinteressen weltanschaulichen und metaphysischen Ideen über. Deshalb bin ich für diese liberale Einstellung sowohl in bezug auf die Stammzellforschung als auch in bezug auf die Sterbehilfe eingetreten.
W+B Agentur-Presseaussendung Februar 2004
<<Sich der kollektiven Gewalt entziehen lässt Menschenwürde zu>> Buchbesprechung
<< E. Mertens, E. Nordhofen, J. Siebert: Philosophische Meisterstücke II >> Mit 15 Beiträgen von einem Autorenteam
222 S.; kartoniert; Verlag Philipp Reclam jun.; Stuttgart; 2001; EUR 4,60; www.reclam.de
Die Lust zum Weiterdenken hat diesen vorliegenden Band Philosophische Meisterstücke entstehen lassen. Dabei geht es mit klug verfassten Essays zu Platon los, weiter zu Aristoteles, Meister Eckhart, Montaigne, Mandeville, Hegel, Schopenhauer, Cassirer, Wittgenstein, Carnap, Horkheimer, Anders, Sartre, bis zur mimetischen Theorie Girard. Die mit der Mimesis verbundene Tendenz zum Konflikt und Gewalt, schreibt einer der 15 Mitautoren Wolfgang Palaver in seiner Zusammenfassung, kann nicht einfach durch Spontaneität umgangen werden. Der Ausweg erfolgt auf mimetische Weise, meint er. Dabei entsteht Individualität, weil das sich Abwenden-Können vom Gewaltszenario von der kollektiven Verfolgung loslöst und so Menschenwürde entsteht. Es lohnt sich auf diese Essays einzulassen, wer immer sich ins Gebüsch der Zeit schlagen muss oder will.
Keines Menschen Würde darf angetastet werden
Diskurs Einladung ab Mai 2007 - virtuell & persönlich ab sofort zur Thematik PA4-07-5 Diskurstafel: Menschenwürde: Keines Menschen Würde darf angetastet werden…* Diskurs auf der Grundlage von PLATON, Der Staat 427d; =weise 428b; tapfer 429b; besonnen 430e; gerecht 431b; und von SWR2 Wissen (Aula): http://archiv.kultur-punkt.ch/akademie4/diskurs/PA4-07-5Menschenwuerde-Taureck.htm * Das Unsagbare (das der Sprache Entzogene) / indicibile ; das Unaussprechliche (jedoch für ein Subjekt mystisch Erfahrbare) / ineffabile ; Gewahren des Unausdrückbaren (inexprimabile) und Unbeschreiblichen im absoluten Schweigen ************************************************************************* Das Eine / unum entzieht sich der Sprache und ist deshalb undefinierbar archê tu pantos (Prinzip von allem, vgl. Sonnengleichnis) Ideen erkennen ihre Ursache
Kennzeichnend für die Gesprächsführung bei Platon und für PA4 ist die Enthaltung jeglicher Festlegung auf irgend einen dogmatischen Standpunkt. Diese Einstellung bildet den Rahmen, in dem all unsere Diskurse sich gestalten
Be- und Erziehung (Paideia) lebensbegleitend
Das kognitiv Eine: Wahre / verum Apollinisches digital - noetisch Mit logischer Erkenntnis arbeiten, begründetes: Natur-Wissen |
Das ethisch Eine: Gute / bonum, kalokagathia syndesmos = Band (zw. göttl. Seele mit göttlicher Idee). Original, Modell: An-Sich-Sein Die Einsicht (noêsis), die dem Ganzen/Einen in den Seelen am nächsten kommt… = Annäherung; ≠ Verschmelzung <<<<<Abschaffung der Würde*>>>> |
Das ästhetisch Eine: Schöne / pulchrum Dionysisches analog - metaphorisch Kenntnisse lassen sich nicht in Worte noch begründen: Kunst-Wissen |
PS.: Gerne empfangen wir von Euch wieder Diskursbeiträge zu dieser Thematik und weitere Anregungen: Mit besten GrüssenDiskurs mit Oliver Schneiderhöhn, Marga und Walter Prankl 07-5
Rolf W. Habbel: Faktor Menschlichkeit im Netz
Kreativität im Unternehmen gedeiht nur in Freiheit>>
W+B Agentur-Presseaussendung: A, D, CH, Juli 2001
Führungskultur in der Net e-conomy
Wirtschaftsverlag Ueberreuter, Frankfurt am Main; 2001; DEM 49,80 / ATS 363,- / SFR 45.60; EUR 25,46; 212 S.; Hardcover.
www.ueberreuter.at
Dr. Rolf W. Habbel, Partner von Booz, Allen & Hamilton, Management- und Technologieberater, versteht Menschlichkeit als wichtigen Bestand der Führungskultur, besonders in einer von Globalisierung und Wissensgesellschaft geprägten Zukunft.
Denn, "jedes Unternehmen lebt von der Leistung seiner Mitarbeiter. Motivierte, gut ausgebildete Leute, die ohne Ängste in die Zukunft schauen, sind die besten Voraussetzungen für optimale Leistungen und internationale Wettbewerbsfähigkeit". Habbels Kredo: Unternehmen sind auf lange Sicht nur erfolgreich, wenn sie ihre Ressourcen mit Menschlichkeit als Führungsprinzip zu verbinden verstehen.
In der Kernaussage geht es Habbel weniger um Shareholder Value, mehr noch um Stakeholder Value: Es geht dabei um eine ausbalanzierte Berücksichtigung aller beteiligten Interessensgruppen. "Was einzig zählt, ist die Zukunftsfähigkeit des Unternehmens. Und die Zukunft sichert man nur, wenn man neben den Aktionären auch die Mitarbeiter und Führungskräfte für das gemeinsame Ziel begeistern kann. Wer allein Shareholder Value zur Leitlinie seines Handelns macht, kann keine Zukunftssicherung betreiben"(Dr. Wedeking). Ziel: Werteteilung ist neuerdings angesagt (Rappaport, Finder von Shareholder value) statt Werteraffen. Was zu hoffen ist - für uns alle - oder? Denn -wo kein Wert für den Kunden, dort auch kein Wert für den Eigentümer (R.E. Breuer, Dt.Bank).
Schliesslich zeigt Habbel 7 goldene Regeln für Unternehmen auf, die dem Faktor Mensch gerecht werden:1. Klare, einfache und gelebte Werte im unternehmerischen Handeln; 2. Der Unternehmer wirkt als Vorbild mit sozialer Kompetenz, ermutigt und födert; 3. Das technologie-, marktgetriebene Unternehmen wirkt und wird kunden- und menschorientiert; 4. Investition in die Fähigkeiten und das Wissen der Mitarbeiter; 5. Vernetzung durch flache Hierarchien, Projektorientierung, zusammen mit dem Cybersystem (siehe dazu "Ohmae: Der unsichtbare Kontinent", Ueberreuter, 2001);
6. Eigenverantwortliches Erfolgsmanagment auf allen Ebenen mit Transparenz und Offenheit; 7. Manager gewähren Freiraum für Kreativität, Originalität und Risikobereitschaft in hierarchie-übergreifenden Projektteams. "Kreativität gedeiht nur in Freiheit" führt zu Innovationen im Unter-nehmen, wie in lebenden menschlichen Organismen.
Dieses, die Zukunft anvisierende Musterbuch, gibt glaubwürdigen Führungspersönlichkeiten konkrete Hinweise zum fairen und motivierenden Umgang mit Mitarbeitern und Kunden, die in Zeiten radikaler Veränderungen mehrfachen Belastungen ausgesetzt sind.
Bernhard H.F. Taureck: Die Menschenwürde im Zeitalter ihrer Abschaffung
W+B Agentur-Presseaussendung Januar 2008
Buchbesprechung
<< Eine Streitschrift >>
Paperback, 120 Seiten, ISBN 978-3-939519-14-0, EUR 12.90
merus verlag Dr. Alexander Heck e.K., Hamburg; www.merus-verlag.de;
Inhalt
« Die Würde des Menschen ist unantastbar. » Dieser erste Satz unseres Grundgesetzes gilt als das Wertfundament Deutschlands nach seiner selbstverschuldeten Katastrophe im Jahre 1945. Das Fundament hält indes keiner wirklichen Belastung stand. Nicht nur gab und gibt es in unserem Land und auf dem gesamten Globus erhebliche Verstöße gegen das Gebot der Menschenwürde. Der Satz des Grundgesetzes selbst ist unzureichend formuliert. Die vorliegende Streitschrift liefert - im Namen der Menschenwürde - eine grundsätzliche Kritik des wertgebenden Satzes und schlägt eine Verbesserungsversion vor. Über die Wendung « des Menschen » und über den Begriff der Würde ist neu zu verhandeln. Die Verständigung über den Wertauftrag der Gesamtgesellschaft darf zugleich nicht bleiben, was sie bisher weitgehend war: eine Angelegenheit unter Experten. Die Menschenwürde ist seit dem 11. September 2001 Gegenstand eines gleichsam globalen Projektes ihrer Abschaffung. Es kommt aus diesem Grund darauf an Argumente zu finden, dass sie ein Grund der Hoffnung bleibt.
Autor
Bernhard H.F. Taureck
Prof. Dr., Jg. 1943, studierte in Hamburg und Tübingen Philosophie, Romanistik, Germanistik und Graezistik (bei Wolfgang Schadewaldt). Promotion in Philosophie bei Carl Ulmer. Briefwechsel mit Martin Heidegger, Bekanntschaften mit Jean-Francois Lyotard, Emmanuel Lévinas und Jacques Derrida.
Lehrtätigkeiten an den Universitäten Wien und Hamburg. Habilitation über Nietzsche. Seit 1999 Professor an der Technischen Universität Carolo-Wilhelmina zu Braunschweig.
Zahlreiche Rundfunkbeiträge, Mitarbeit an der Zeitschrift "freitext". Vorträge und Gastseminare u.a. in Cambridge, Manchester, Paris, Luzern, Québec, Sao Paolo, Tours, Strasbourg, Urbino, Leyden, sowie der Ben-Gurion-Universität in Be'er Sheva, Israel. Verfasser zahlreicher Bücher (u.a. bei Rowohlt, Fischer-Taschenbuch, Reclam, Suhrkamp) und Aufsätze in deutscher, englischer und französischer Sprache. Die Arbeiten wurden teils in überregionalen Tageszeitungen (SZ, FAZ, DIE ZEIT, Neue Zürcher Zeitung), teils häufig in der "Philosophischen Rundschau", teils international wahrgenommen und besprochen. Übersetzt wurden "Levinas zur Einführung" ins Dänische, "Nietzsche und der Faschismus" ins Niederländische sowie ein Essay über Nietzsche ins Italienische. In Brasilien wird eine Übersetzung von "Die Menschenwürde im Zeitalter ihrer Abschaffung" (merus verlag) vorbereitet.
Fazit
Bernhard H.F. Taureck führt uns in seiner mit Geistesblitzen versetzten Streitschrift " Die Menschenwürde im Zeitalter ihrer Abschaffung " vor, macht die Schwachstellen von Würde - ihrer Antastbarkeit und Prestigebesetzheit sichtbar. Einen möglichen Weg in die Zukunft zeigt Taureck auf , indem er die Existenzsicherung als Voraussetzung eines menschenwürdigen Lebens sieht. Kongenial ist in seiner Zusammenfassung sein Grundgesetz-Änderungsvorschlag dazu: " Jedem Einwohner ist als Unterstützung bei seiner freien Selbst-Positionierung lebenslang eine an keine einschränkenden Bedingungen geknüpfte Existenzsicherung zu zahlen, die ihm ohne Lohnarbeit mühelos zu leben ermöglicht und bei der es ihm selbst überlassen bleibt, ob er zusätzlich einer entlohnten Arbeit nachgeht oder nicht."
Bernhard H. F. Taureck: Menschenwürde über alles? Gedanken zu einem fundamentalen Konzept
SWR2 AULA - Bernhard H. F. Taureck: Menschenwürde über alles? Gedanken zu einem fundamentalen Konzept
Autor und Sprecher: Professor Bernhard H. F. Taureck * <bhftau@web.de>; Dr.<heck@merus-verlag.de>
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
Sendung: Sonntag, 22. April 2007, 8.30 Uhr, SWR 2
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen
Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
ÜBERBLICK
Der Satz "Die Würde des Menschen ist unantastbar" erstrahlt in erhabener Schlichtheit als Motto über der zivilisierten Gesellschaft. Er kommt leicht von den Lippen, man kann ihn bequem zitieren, wenn es um Embryonenforschung oder um Altenpflege geht, er suggeriert Klarheit und Eindeutigkeit. Doch schaut man genauer hin, offenbart der Satz viele Probleme und Paradoxien: Was ist Würde, warum taucht sie nur im Singular auf, ist sie wirklich in jedem Fall im Vorhinein gegeben, und: Wenn alle Menschen Würde haben, warum heißt es dann nicht: Die Würde aller Menschen ist unantastbar? Bernhard H. F. Taureck, Philosophieprofessor aus Braunschweig, nimmt eine kritische Überprüfung vor.
INHALT
Ansage:
Heute mit dem Thema: „Schützenswerte Werte – Warum die Menschenwürde gefährdet ist.“
Der Satz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ erstrahlt in erhabener Schlichtheit als Motto über der zivilisierten Gesellschaft. Er kommt leicht von den Lippen, man kann ihn bequem zitieren, erntet dabei fast immer Beifall, und der Satz suggeriert Eindeutigkeit und Klarheit, als müsse man über „Würde“ gar nicht mehr diskutieren.
Dabei ist in Bezug auf Menschenwürde gar nichts klar, denn es trifft nicht zu, dass die Würde aller Menschen von den großen Demokratien, die sich ja die Achtung der Menschenrechte auf die Fahnen geschrieben haben, jederzeit geachtet wird. Im Gegenteil: Wir befinden uns in einem Zeitalter der versuchten Abschaffung der Menschenwürde, diese Abschaffung geschieht in materiell-ökonomischer, in rechtlicher und in politischer Hinsicht, siehe die US-amerikanischen Reaktionen auf den Terrorismus.
Das meint Bernhard H. F. Taureck, Philosophieprofessor von der Universität in Braunschweig. In der SWR2 AULA führt er seine kritische Position aus und er zeigt vor allem auch, warum das Konzept von Würde ein problematisches ist.
Bernhard H. F. Taureck:
Niemand weiß so recht, warum jeder Mensch Würde besitzt und worin sie eigentlich besteht. Dies hängt damit zusammen, dass Würde ein alteuropäischer Begriff ist, der vor langer Zeit fast das Gegenteil dessen bedeutete, wie er heute in unserem Grundgesetz in dem Satz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ Verwendung findet.
Das, was die Würde jedes Menschen sein soll, war in der Antike das Privileg von Eliten der Macht oder der Bildung. Würde erwarb man sich, indem man erreichte, was schwer zu erlangen ist, Weisheit und eine Kontrolle über andere, die selbst nicht mehr kontrolliert wird, das heißt Macht. Würde (griechisch axía, lateinisch dignitas) war ein Privileg. Und was ist sie heute, wenn es heißt: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“ Was heißt Würde in unserem Grundgesetz, wenn es niederlegt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ und dass der Staat sie zu schützen habe?
Würde ist eben Würde. In der Diskussion der Bioethik wird dem erst aus wenigen Zellen befruchteten Embryo Würde zugesprochen, weshalb diese Zellen nicht für Forschungszwecke benutzt werden dürfen. Zugleich gibt man den viel weiter gewachsenen Embryo rechtlich frei zur Abtreibung. Welcher Begriff der Würde ist hier leitend, dass es zu derart widersprüchlichen Normen kommen kann? Was soll denn geachtet werden? Es muss doch offenbar etwas an oder in oder mit uns der Fall sein, das uns einen Grund dafür gibt, uns Würde zuzuschreiben. Müssen wir nicht alle, jeder auf seine Weise, mit etwas beschäftigt sein, so dass wir sagen können: Ja, eben weil jeder mit etwas beschäftigt ist, deshalb wollen wir uns allen gegenseitig das Recht zugestehen dazu und es als unsere Pflicht betrachten, dieses Recht zu achten? Doch worin soll diese unsere Beschäftigung bestehen? Gewöhnlich antwortet man: Freiheit. Dieses Wort ist indes so vieldeutig geworden – wir sprechen von positiver, negativer, von Handlungsfreiheit, von empirischer, transzendentaler Freiheit -, ohne dass darüber Aussicht auf Einigkeit bestünde. Mein Vorschlag lautet daher: Selbst-Positionierung. Jeder von uns hat ein Verhältnis zu sich selbst und den anderen, mehr noch, er ist er selbst und ist zugleich die anderen. Ist er mit sich allein, so wird er die Stimme der anderen nicht los. Ist er beisammen mit anderen, so wird er sich selbst nicht los. Wie er diese Bezüge zu sich und den anderen ausgestaltet, ist nicht vorgegeben, sondern ist ihm überlassen. Dass jeder die Fähigkeit zu dieser Ausgestaltung hat, liefert den Grund, weshalb wir uns selbst achten und weshalb wir andere achten können. Wenn es sich so verhält, dann kann daraus auch ein Rechtsgut werden. Die Selbstpositionierung kann in Recht übersetzt werden, das diese Eigenschaften aufweist. Die Selbstpositionierung kann beschreiben, sie zu achten kann als Pflicht verlangt und Verstöße gegen sie können anwendungsförmig geregelt werden.
Wir Menschen stehen alle in einem Bezug zu unserem Selbst und zum Selbst der anderen. Beide Bezüge sind Leerstellen, in die wir das einsetzen, was uns geeignet erscheint. Indem wir dies tun, werden aus den Bezügen Verhältnisse. Da gibt es Menschen, denen ist ihr Selbst wichtiger als das anderen. Umgekehrt gibt es Menschen, denen ist das Selbst anderer wichtiger als ihr eigenes. Da die Bezüge keine vorgegebene Ordnung enthalten und jeder sie nach eigenem Ermessen zu Verhältnissen ausgestaltet, folgt, dass es keine für immer unwandelbaren Verhältnisse gibt. Vieles ist möglich. Nicht möglich ist, entweder das eigene Selbst oder das andere Selbst loszuwerden.
Sofern wir das Spiel der Selbst-Positionierung nicht verlassen, ist es der Ort, wo wir würdig leben. Denn von unserer Selbst-Positionierung hängt unser Glück, hängt unsere moralische Qualifikation und unsere Freiheit ab. Glück, moralische Qualifikation und Freiheit sind hehre und vielleicht hohle Wörter. Lassen sie sich noch so verwenden, dass sie nicht hohl und leer bleiben? Sicherlich gibt es auch hier eine starke Gefährdung der Menschenwürde. Beginnen wir mit dem Glück. Kant hat uns hier alle insofern verdorben, als er der Ansicht war, von Glück lasse sich überhaupt nicht sinnvoll reden, denn jede beliebige Präferenz ist ja mit Nachteilen verbunden. So mag zum Beispiel ein langes Leben glückbringend erscheinen. Doch wer sehr lange ohne nennenswerte Krankheit lebt, der wird unweigerlich auch Zeuge von sehr Leid sein. Der römische Dichter Horaz scheint indes 1700 Jahre zuvor klüger gewesen zu sein als Kant, denn er rät uns: „Heiter sei der Sinn im Gegenwärtigen. Was darüber hinausgeht, beachte nicht. Das was bitter ist und schmerzlich, mildere mit verhaltenem Lächeln: Nichts ist von allen Seiten glücklich.“ Horaz verstand Glück als etwas, das wir als „wissende Genügsamkeit“ umschreiben können. Im Bewusstsein unserer Unvollkommenheit haben wir die Chance, uns als Genügsame glücklich wissen.
Das Zweite ist unsere moralische Qualifikation. Auch hier lohnt sich eine Erinnerung an die Alten. Zu ihr nämlich rechneten sie die Einsicht, Entscheidungsfähigkeit über das, was gelten soll und was nicht. Diese kognitive und tätige Seite benötigen und trainieren wir täglich. Sie rechneten dazu zweitens die Fähigkeit, unsere eigenen Impulse zu kontrollieren. Erreichen wir keine Impulskontrolle, dann laufen wir Gefahr, Opfer beliebiger Impulse zu werden. Sex und Gier z. B. oder Rache können dann uns, statt wir sie beherrschen. Das Dritte bildet unsere Zuwendungs- und Mitarbeitsfähigkeit zu unseresgleichen. Auf sie ist eine moderne, demokratische Gesellschaft angewiesen.
Und wie steht es mit der Freiheit? Hier wird wohl ständig Unklarheit und Streit bestehen. Trotzdem wird man sagen dürfen, dass Freiheit in einem minimalen Sinn durchaus bestimmbar ist. Sie besagt nämlich die Möglichkeit so oder entgegengesetzt zu handeln. Wer daher zum Beispiel behauptet, Hyperkonsum sei unausweichlich, beraubt sich der Möglichkeit, von freien Menschen zu sprechen. Wenn wir Menschen frei sind, dann haben wir damit die Möglichkeit, Hyperkonsum zu betreiben oder auf Hyperkonsum zu verzichten.
Glück, moralische Qualifikation, Freiheit sind Folgen unserer Selbst-Positionierung als Grundlage unserer Menschenwürde. Dass die Menschenwürde gefährdet ist, zeigt sich auch darin, dass unser Reden über Glück, moralische Qualifikation und Freiheit hohl und leer zu werden droht, obwohl es durchaus möglich wäre, sinnvoll über diese drei zu uns gehörenden Seiten zu reden.
Die Abschaffung der Menschenwürde hat drei prinzipielle Aspekte: Sie geschieht in materiell-ökonomischer, in rechtlicher und in politischer Hinsicht.
Kurz zur materiell-ökonomischen Seite: Unsere Gesellschaft reformiert sich. Sie ist eine Hartz-IV-Gesellschaft und ebenso eine Hartz-V-Gesellschaft, die dafür steht, dass die Reformer zugleich mit dem Gesetz in Konflikt stehen, heißen sie nun Hartz, Ackermann, Esser, Siemens-Vorstand und so fort. Die Gesetzgebung dieses Landes sorgt dafür, dass die Hälfte der Bevölkerung und noch mehr ein schweres Übel nicht kennen werden, Überdruss und Langeweile. Die Gewinner, die sich Arbeit geben lassen von gering Entlohnten und sich dafür sinnwidrig „Arbeitgeber“ nennen lassen, haben das Gesetz kaum zu befürchten. Die Strafen, sofern sie überhaupt bestraft werden, sind für sie so milde, dass selbst caritative Einrichtungen, käme ihnen das gesamte Bußgeld zugute, ihre Arbeit einstellen müssten. Wer nicht arbeitet, ist, und wer arbeitet, wird arbeitslos. Die Produktions- und Eigentumsverhältnisse erzeugen immer mehr Prekarität. Langeweile und Überdruss macht sich dafür im Lager der Gewinner breit, eine Strafe, die auf Dauer tödlicher sein wird als die Angst und Hilflosigkeit der Verlierer. Menschenwürdig ist beides nicht. Wo die Minderheit in Überdruss, Langeweile, Depressivität und existenzieller Sinnlosigkeit erstickt, weil sie Geld, aber keine Ideen, Visionen und Sinnressourcen besitzt, und wo zugleich die Mehrheit sich in Angst und Hilflosigkeit verzehrt, weil sie Arbeit nicht findet oder verliert, dort wird Menschenwürde mehr und mehr zu einem Fremdwort. Inzwischen zeigt unsere noch demokratieorientierte Gesellschaft jedoch auch mehr und mehr ein großes Gegenmittel, das die gesamte Gesellschaft von innen her umstellen würde. Es heißt Existenzsicherung oder Grundsicherung. Es lautet in meiner Version: „Jedem Einwohner ist als Unterstützung bei seiner freien Selbst-Positionierung lebenslang eine an keine einschränkenden Bedingungen geknüpfte Existenzsicherung zu zahlen, die ihm ohne Lohnarbeit mühelos zu leben ermöglicht und bei der es ihm selbst überlassen bleibt, ob er zusätzlich einer entlohnten Arbeit nachgeht oder nicht.“
Wenn die Gesellschaft sich nicht auf diese Existenzsicherung umstellt, wird das Bekenntnis zur Achtung der Menschenwürde zu einem Zynismus, der sich politisch nicht lange wird aufrecht erhalten lassen. Auf Dauer lässt sich die Bevölkerungsmehrheit nicht in die Prekarität drängen, ohne dass, was bereits jetzt in einer Krise steht, dem Zusammenbruch nahe kommt, nämlich die Identität und Existenz unserer Parteien. Fortgesetzte Missachtung der Menschenwürde durch Inkaufnahme von Prekasierung führt auch zum Ende der bekannten Parteienlandschaft.
Worin besteht nun das Problem der Menschenwürde in rechtlicher Hinsicht, wo besteht gar die Gefahr ihrer Abschaffung? Unsere Grundgesetzformel von der Unantastbarkeit der Würde „des Menschen“ ist defekt. Die Juristen scheinen dies nicht zu wissen. Ich selbst habe bis vor einem Jahr in Unkenntnis gelebt, bis ich eine Entdeckung machte. Alle Kommentare zum Grundgesetz sagen: Die Würde des Menschen besagt die Würde aller Menschen. Doch das trifft nicht zu. Warum nicht? Die Würde des Menschen kann spezifiziert werden. Man kann jetzt sagen: Die Würde des Menschen, der einen gültigen Pass besitzt, der so und so lange hier lebt, der keine Straftaten begangen hat, der eine Arbeitserlaubnis besitzt und so fort. Die Formel „Würde des Menschen“ ist dazu geeignet, bestimmte Menschen ein- und andere auszuschließen.
Wer sich in der Demokratietheorie auskennt, wird an dieser Stelle etwas bemerken. Es gibt ein großes Dilemma jeder Demokratie. Eine echte Demokratie beruht auf universellen Wertungen, die für alle Menschen gelten. Freiheit und Wohlergehen aller Menschen gehört zu ihrem politischen Code. Doch wenn sich eine Demokratie zu diesem universellen Code bekennt, dann müsste sie alle Erdbewohner umfassen. Das aber ist nicht der Fall. Vielmehr ist bisher jede Demokratie in Fläche und Einwohnerzahl begrenzt. Dieses Dilemma zwischen Universalität und Begrenzung ist bekannt, und es wurde daraus auch die fatale Folgerung gezogen, Demokratie aufzugeben. Die Formel Würde des Menschen haben wir als einen versteckten Versuch zu lesen, dieses Dilemma handhabbar werden zu lassen, indem je nach Bedarf Menschen von dem Würdeschutz ausgeschlossen werden können, wie in großem Maßstab die faktische Abschaffung von Asylgewährung 1993 zeigte, die nicht mehr die Verfolgung, sondern den Fluchtweg als Kriterium der Asylgewährung statuierte.
Das riskante Dilemma jeder mit einem politisch universellen Code ausgestatteten Demokratie führt somit zu einer legalen Abschaffung der Menschenwürde. Jeder Staat ist verpflichtet, Freiheit und Wohl der eigenen Bevölkerung zu garantieren und kann nicht für alle Menschen sorgen. Muss dies so sein? Gäbe es keine Abhilfe? Bisher gibt es darüber keine Diskussion, und die Kommentare zum GG, die zudem merkwürdigerweise bei der Rechtssprechung verbindlich wurden - während man denken sollte, dass nicht das Gesetz an die Kommentare, sondern die Kommentare an das Gesetz gebunden sein sollen – die Kommentare sind falsch, da sie „die Würde des Menschen“ gleichsetzen mit „die Würde aller Menschen.“
Ich bin der Ansicht, es gibt eine Alternative. Sie enthält zwei Bestandteile. Erstens sollte unser Grundgesetz-Passus abgeändert werden in: „Keines Menschen Würde darf angetastet werden.“ Damit verschärft sich das Dilemma der Demokratie. Eine politisch absurde Verschärfung? Ja, wenn es nur eine Demokratie auf Erden gäbe, klein etwa wie die Schweiz oder zumindest nicht größer als Deutschland. Dann wäre diese Fassung problematisch. Der Hebel liegt anderswo. Die Eigenstaatlichkeit der Staaten des Globus ist seit 1945 mit der Abschaffung des Rechts auf Kriegsführung (ius ad bellum) grundsätzlich umgekehrt worden. Ein Staat gilt seither nur als Teil eines international verrechteten Systems, und es gilt nicht mehr, wie zuvor seit dem Westfälischen Frieden von 1648, dass das internationale System eine bloße Addition von Einzelstaaten bildet. Der Einzelstaat ist seit 1945 Funktion von Internationalität geworden, während zuvor die Internationalität Funktion der Einzelstaaten war. Die Führung der USA erlebt derzeit, dass dies so ist, wenn man versucht, so zu tun, als sei es nicht so. Ihr Unilateralismus, der im Nahen Osten Ordnung erzwingen wollte, ist, wie 2003 vorhergesagt, gescheitert. Die zweite Änderung gegenüber dem Versuch, Menschenwürde auf legalem Wege abzuschaffen, kann daher nur lauten: Die Politik jeder Demokratie hat die Aufgabe darauf hinzuwirken, dass überall auf dem Globus rechtlich ähnliche Bedingungen bestehen, so dass niemand ausgeschlossen wird von der Würdeachtung. Der erwähnte Zuwachs der Zahl der Demokratien weist in diese Richtung.
Mit der Kritik an den USA, die seit 2001 so handeln, als sei Internationalität lediglich eine Funktion der Eigenstaatlichkeit, bin bei der politischen Abschaffung der Menschenwürde. Seit einiger Zeit gibt es eine Form der Abschaffung der Menschenwürde, die bewusst und absichtlich bestimmte, Individuen und Völker nicht mehr als selbstbestimmte Subjekte gelten lässt. Diese Abschaffungsform der Menschenwürde trägt den Namen „Terrorismus“. „Terrorismus ist die kalkulierte Anwendung oder Androhung von Gewalt zum Zweck der Furchteinflößung, die dazu dient, Regierungen oder Gesellschaften unter Zwang oder in Angst zu versetzen, indem Ziele verfolgt werden, die im Allgemeinen politisch, religiös oder ideologisch sind.“
Einig werden könnte man sich darüber, dass Terrorismus für die westlichen Demokratien eine Bedrohung darstellt, dass aber seine Bekämpfung mit militärischen Mitteln anachronistisch ist. Gesteht man dies zu, dann gerät man zugleich in tiefer liegende Zonen eines Geschehens, zu dessen Eigenschaften offenbar eine bisher noch nicht gekannte Abschaffung der Menschenwürde gehört. Es erweist sich dann, dass der Terrorismusdefinition zwei Ergänzungen hinzugefügt werden können: Terrorismus nämlich wird erstens gern mit Terrorismus bekämpft und führt zu einem entformalisierten Krieg. Zweitens gilt: Terrorismus, der sich als entformalisierter Krieg vollzieht, stellt eine Praxis absoluter Feindschaft dar. Diese und genau diese Angaben dürften Voraussetzungen einer zuvor nicht gekannten Abschaffung der Achtung der Menschenwürde bilden.
Grund dafür, dass nicht nur ein terroristisches Zuschlagen aus der Unsichtbarkeit gegen sichtbare Gesellschaftsformationen und Staaten erfolgt, sondern dass diese Staaten ihrerseits auf terroristische Weise zurückschlagen, ist absolute Feindschaft. Beide Seiten sind füreinander absolute Feinde oder verhalten sich zumindest als absolute Feinde zueinander. Absolute Feindschaft bedeutet, dass der andere nicht nur der sichtbar andere, sondern der unsichtbar andere und dass der unsichtbar andere der dämonische andere wird, mit dem keine Verständigung möglich ist oder gesucht wird.
Zu den Voraussetzungen, unter denen sie derzeit existiert, gehört der bekannte Aufklärungs- und Bildungsrückstand in islamischen Ländern und der gleichzeitige Demütigungsdruck durch westliche Politik, der sich als Optimum und Maß für alle anderen ausgibt und seine Stabilität im postkolonialen Außenraum durch ökonomische Kontrolle zu sichern bestrebt ist. Wer in absoluter Feindschaft andere durch terroristisches Zuschlagen bekämpft, führt einen entformalisierten Krieg mit langer Dauer und extremer Opferbereitschaft.
Es scheint, dass jeder Akteur in dieser Situation überfordert ist. Dennoch: Der Staat, der die Bekämpfung des internationalen Terrorismus zu einem primären Staatsziel erklärte, hat er nicht alle erforderlichen Ressourcen? Er besitzt die waffentechnische Ressource. Doch es gibt noch zwei andere Ressourcen. Da ist einmal die politische und gesellschaftliche Fähigkeit, einen sehr langen Krieg zu führen. Zum anderen geht es um die bedingungslose Opferbereitschaft. Wenn der Krieg, wie derzeit in Afghanistan und im Irak, extrem kostspielig wird, und wenn der Krieg führende Staat bereits extrem verschuldet ist, dann folgt, dass dieser Staat den von ihm selbst propagierten Krieg nicht sehr lange wird fortsetzen können. Was die Opferbereitschaft der Gegenseite betrifft, so ist davon auszugehen, dass der Hass gegen die imperialistische Aggression aufgerechnet wird. In diesem Fall entsteht eine Reservearmee von Terroristen und die Abschaffung der Menschenwürde wird dann noch weiter vorangetrieben.
Die Opferbereitschaft derer, die als Terrorbereite bekämpft werden, kennt kaum Grenzen, nicht einmal mehr die der individuellen Selbsterhaltung, die traditionell als etwas Konstantes angenommen wurde. Anders verhält es sich dagegen mit der Opferbereitschaft derer, die gegen die Opferbereiten zu Felde ziehen. Es handelt sich um eine Armee aus Söldnern, teilweise auch um Privatarmeen, die keinerlei parlamentarischer Kontrolle unterstehen. Die regulären Söldner werden nicht selten, weil sie anderswo keine Arbeit finden, in die Armee getrieben. Aus all diesem folgt, dass die Bekämpfung der Terrorbereiten nicht mehr lange wird fortsetzbar sein. Für einen langfristigen Krieg fehlt das Geld und für die Opferbereitschaft fehlen die Menschen.
Was ließe sich tun gegen diese absolute Feindschaft, die möglichst viele andere in den Tod zu reißen bestrebt ist, die in die Feindschaft nicht eingewilligt haben? Und ebenso: Was ließe sich tun gegen das gegenterroristische Tun, das Menschen, die nicht in die absolute Feindschaft eingewilligt haben, erschießt, mit Bomben und Granaten tötet, Geheimgefängnisse unterhält, foltert, ohne Anklage Hunderte Personen unter völkerrechtswidrigen Verhältnissen außerhalb des eigenen Staatsgebietes interniert?
Wer diese Frage zu beantworten versucht, wird unvermeidlich auf ein Phänomen stoßen, das sich als „Inszenierung absoluter Feindschaft“ bezeichnen lässt. Inszenierte absolute Feindschaft ist unechte absolute Feindschaft. Sie stellt eine Reaktion dar auf echte absolute Feindschaft. Ihr Ziel ist der Versuch, Einfluss und Macht zu gewinnen aus der echten absoluten Feindschaft des anderen. Während echte absolute Feindschaft grundsätzlich das Verteufelungs-Vokabular einer Religion benutzt und den Feind als „Satan“ bezeichnet, gibt sich inszenierte absolute Feindschaft zu erkennen in der Konstruktion von Metaphern, deren bekannteste die „Achse des Bösen“ und der „Schurkenstaat“ bilden.
Eine inszenierte absolute Feindschaft hat einen Vor- und einen Nachteil. Der Vorteil: Die Manager politischer Macht erhalten, um den Terror mit Gegenterror zu bekämpfen, leichter Vollmachten nach Innen und nach Außen, die über das bisherige Maß hinausgehen. Inszenierung absoluter Feindschaft bedeutet erhebliche Erweiterung des eigenen politischen Handlungsspielraumes. Der Nachteil: Der eigenen Bevölkerung bleibt nicht unverborgen, dass wichtige Teile der offiziellen Kriegsgründe lügenhaft sind. Für kriegerische Aktionen, die im Verdacht stehen auf Lügen gegründet zu sein, besteht keine sonderliche Opferbereitschaft. Offenbar handelt es sich um Potenziale des Irrtums auf beiden Seiten. Die Irrtümer des Terrorismus sind infolge seiner Verborgenheit schwer einzuschätzen.
Die Akteure des Gegenterrorismus dagegen können wie folgt argumentieren: „Wir dürfen dem terroristischen absoluten Feind keine Anlässe geben sich in seinem religiösen, kulturellen und politischen Selbstwert beleidigt, gekränkt oder gedemütigt zu fühlen. Zugleich müssen wir, sofern sie bestehen, die Bedingungen grundsätzlich ändern, aus denen absolute terroristische Feindschaft entsteht.“
Das Problem ist die Anwendung. Hier wurde sinngemäß gesagt: „Wir haben Truppen in Saudi-Arabien, das heißt im Land der heiligsten Stätten des Islam. Diese Stationierung beleidigt, kränkt und demütigt. Was also tun? Wir ziehen die Truppen dort ab. Gleichzeitig ändern wir die Bedingungen zur Verhinderung absoluter terroristischer Feindschaft, indem wir bestimmte Staaten militärisch zerstören und anschließend von den Gesellschaften neu nach dem Muster liberaler Demokratien aufbauen lassen.“
Hier und genau hier liegt derzeit der Ursprung einer vermutlich verhängnisvollen Entwicklung. Die Reaktion auf echte absolute und terroristische Feindschaft kann in zwei Irrtümern bestehen. Sie kann zum einen eine starre Doktrin des militärischen Gegenschlages verfolgen, und zum anderen kann sie Lernbereitschaft beweisen und dennoch nur eine militärische Umschichtung betreiben. Die erste Möglichkeit läuft hinaus auf pure Dummheit, deren Scheitern diesem Unternehmen einprogrammiert ist. Wirklichkeitsbestimmend wurde der zweite Irrtum: Keine Kränkung, Beleidigung, Demütigung der islamischen Bevölkerung mehr, daher Abzug aller Truppen aus Saudi-Arabien. Zugleich militärische Zerstörung anderer islamisch geprägter Staaten und Neuinstallierung demokratischer Strukturen. Im Irak jedoch sorgt täglich, wie 2003 warnend vorhergesagt, terroristisch eingesetzter Sprengstoff dafür, dass Demokratie über den Status eines Wunsches nicht hinausgelangt. Zugleich weiß jeder, dass der Irrtum das Risiko von Eskalation birgt: Erstens, weitere Anschläge in westlichen Metropolen. Zweitens, das Erreichen und Überschreiten der Nuklearschwelle. Die zweite Eskalationsstufe kann die Explosion von Kernkraftwerken in den Ländern des Todfeindes, sie kann den Einsatz selbstgebastelter Atombomben bedeuten, deren Material auf den globalen Schwarzmärkten unschwer erworben werden kann.
Die Ereignisse des 11. September 2001 haben bereits die Inszenierung absoluter Todfeindschaft ausgelöst. So darf gefolgert werden, dass sich aus neuen Anschlägen ein massives Zurückschlagen ergibt, von dem nicht auszuschließen ist, dass es die nukleare Schwelle erreicht oder überschreitet. In der Rhetorik der Selbstdarstellung gilt es weiterhin: Politik geschieht als Schutz der eigenen Bevölkerung vor Bedrohung und Gefahren. Doch es kam ans Tageslicht, dass die eigene Bevölkerung ohne ihr Wissen flächendeckenden Telefonabhörungen und Überwachungen ihrer Banktransaktionen ausgesetzt wird. Was ist dies für eine Sicherheitsgewährung? Es scheint eine Sicherheit zu sein, die den Staatsapparat erhält, während sie das eigene System der Gemeinschaft selbst zerstört.
Die traditionelle Sicherheit war eine Abschirmung des Systems gegen Gefahren. Das System sollte unbeschädigt bleiben. Allerdings konnte sein eigener Untergang gegen eine Übermacht nicht garantiert werden. Jetzt aber wird die Selbstidentität des Systems, zu der die Achtung der Menschenwürde gehört, geopfert, um etwas anderes zu erhalten. Es soll offenbar etwas abgeschafft werden, nämlich eine bisher geltende Bindung: Die uneingeschränkte Bindung an die Achtung der Menschenwürde.
Die demokratieorientierten Kräfte in den Gesellschaften müssen an der Wiederherstellung, Stärkung und Weiterführung der modernen Eigenstaatlichkeit als Funktion der internationalen Ordnung arbeiten, die die Würdegarantierung aller Menschen beinhaltet.
Ich fasse meine Vorschläge zusammen, die geeignet wären, die Abschaffung der Menschenwürde rückgängig zu machen:
Erstens: Lebenslange Existenzsicherung für alle Einwohner.
Zweitens: Änderung des Grundgesetzes durch den Satz „Keines Menschen Würde darf angetastet werden.“ Drittens: Arbeit an der Wiederherstellung, Stärkung und Weiterführung der modernen Eigenstaatlichkeit als Funktion der internationalen Ordnung.
Würde heißt in allen Kontexten das Recht auf Selbst-Positionierung, sofern es mit der Pflicht verbunden ist, dieses Recht bei anderen zu achten.
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* Zum Autor:
Bernhard H. F. Taureck lehrt Philosophie an der Technischen Universität Braunschweig.
Bücherauswahl:
- Philosophieren: Sterben lernen? Suhrkamp-Verlag.
- Metaphern und Gleichnisse in der Philosophie – Versuch einer kritischen Ikonologie der Philosophie. Suhrkamp-Verlag.
- Emannuel Lévinas zur Einführung. Junius-Verlag.
- Machiavelli-ABC. Reclam-Verlag.
- Michael Fourcault. Rowohlt Taschenbücher.
- Nietzsche ABC. Reclam-Verlag.
- Nietzsche und der Faschismus. Junius-Verlag.
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Fazit: Eine zukunftssichernde Vision von Prof. Bernhard H. F. Taureck: "Zur Menschenwürde zurückkehren heisst:
Erstens: Lebenslange Existenzsicherung für alle Einwohner.
Zweitens: Änderung des Grundgesetzes durch den Satz „Keines Menschen Würde darf angetastet werden.“
Drittens: Arbeit an der Wiederherstellung, Stärkung und Weiterführung der modernen Eigenstaatlichkeit als Funktion der internationalen Ordnung."
Bernhard H. F. Taureck lehrt Philosophie an der Technischen Universität Braunschweig (SWR2 2007-4)
Bernhard H. F. Taureck : Polyphonie - Die Nationen Europas sind zu eigenwohlorientiert !
PA4-12-8risikenIII-wirkkraft.5.Polyphonie (Taureck)
5 Polyphonie (Taureck)
Bernhard H. F. Taureck, Philosoph, ist emeritierter Professor der Technischen Universität Braunschweig.
Themen Auszug
- Die Nationen Europas sind zu eigenwohlorientiert, um im Fall der Not eine europäische Gesamtheit zu fördern. Militärisch wird Europa von einem Bündnis gebunden, dessen Feind längst nicht mehr existiert, dafür jedoch beständig erfunden wird, ohne zugleich Europa einen zu können.
- Die vereinigten Staatsschiffe Europas laufen parallel, aber sie navigieren nicht. Ein Krisenstrudel bewegt sie, Richtung Schiffbruch.
-Aus vielen eines.? Die Europäer wählen „In Vielheit geeint.“ Vielheit besteht, Einheit nicht. Bereits die 23 Amtssprachen verhindern dies. Man redet von Einheit und praktiziert Vielheit. Jedes Mitglied behält bislang seine Hoheit für Steuern, Militär und Außenpolitik,
der Weg der Emergenz einer strahlenden Ganzheit aus trüben Teilen, er mag nicht ausgeschlossen sein, doch er erscheint auf keiner Landkarte und keinem Navigator. Er mag sich plötzlich zeigen, doch er kann nicht geplant werden.
-Wenn nicht aus allem Eines aus Wenigem Eines entsteht. Man benötigt gar nicht alle sieben Elemente, um ein Europa zu kreieren, man wählt wenige aus und versucht es mit ihnen. Man verzichtet etwa auf Kultur, Sprachen, Religionen und konzentriert sich auf Wirtschaft und Kapitalismus. Diesen Weg beschritt man 1992 in Maastricht und beschloss eine Währungsunion.
Ein polyphones Europa ist das Gegenteil einer beschworenen kollektiven Identität. Ein polyphones Europa wird angesichts vieler Bedrohungen nötig. Und schließlich könnte ein polyphones Europa jenen Zusatz von Utopie enthalten, ohne den Zukunft verödet.
Kollektive Identitäten wie Staaten, Nationen, Vaterländer, Gesellschaftsordnungen sind stets mit dem Anspruch aufgetreten, jeder könne oder solle sich mit ihnen identifizieren. Jede Schule erwartet bereits von ihren Schülerinnen und Schülern: Identifiziere dich mit deiner Institution! Jede Firma verlangt von ihren Mitarbeitern
Man sagt „sich identifizieren mit“, meint jedoch „sich zugehörig wissen zu.“ Zugehörigkeit wird verwechselt mit Identifikation. In diesem Sinn kann man sich Europa zugehörig wissen und zugehörig sein wollen, ohne die absurde Bürde zu tragen, mit Europa identisch sein zu wollen und es nicht können. Zugehörigkeit hat den Vorteil, dass jeder die Freiheit hat, sie zu wählen. Er ist dabei nicht auf eine einzige Zugehörigkeit beschränkt, während die kollektive Identität ausschließlich ist. Genau darin liegt eine der Chancen für ein polyphones Europa. Jeder kann sich verschiedene Zugehörigkeiten wählen. Es liegt an ihm, welcher Kultur, welcher Wirtschaftsordnung, welchem Politikmodell, welcher Gesellschaftsart er angehören möchte. Die Zugehörigkeiten sind veränderbar und entwicklungsfähig. Kollektiven Identitäten bleibt dagegen nichts anders übrig als identisch mit sich selbst zu sein.
-Europa ist vielfältig bedroht. 1 die Ökonomie. Die Aufblähung der Finanzmärkte bedroht die Wirtschaft. In den USA wurde eine Schleuse des Unheils geöffnet. Banken zur Förderung von Investitionen werden nicht mehr von Spekulationsbanken getrennt. Auch das finanzielle Ausbluten von Staaten wie Griechenland oder Portugal könnte zu unabsehbaren internationalen Verwerfungen führen. 2 Ökonomisierung der Wissenschaften, mit ihrer zunehmenden Abhängigkeit von Verwertungsinteressen der Privatwirtschaft und des Militärs. Garantiert ein vielstimmiges, polyphones Europa einen Schutz vor diesen und anderen Bedrohungen?
Statt einer Garantie geht es darum, wie man den Bedrohungen weniger ausgesetzt ist. Ein Europa der kollektiven Identität mag von seinen Befürwortern als Bollwerk gegen verschiedenste Bedrohungen verstanden und propagiert werden. Ein polyphones Europa wirkt demgegenüber schwach und anfällig. Doch viele Schwächen können gemeinsam eine Stärke ergeben. Dem genialen Europäer Leonardo da Vinci verdanken wir die Beobachtung, dass die Steine eines Rundbogens allesamt zu Boden fallen wollen. Doch da sie alle diese Neigung haben, hindern sie sich gegenseitig daran zu stürzen und ergeben die Stabilität eines Rundbogens.
Viele Schwächen können zu einer Stärke führen. Ein vielstimmiges Europa hätte viele Seiten und könnte verschiedene Bedrohungen eher parieren als ein kollektiv identisches Europa.
Polyphonisches Europa der politischen Fantasie und jenes Zusatzes von Utopie, ohne welche wir alle in eine öde Zukunft reisen müssten. Ein kollektiv identisches Europa ist ein Sein, ein vielstimmiges Europa dagegen ein Werden.
Modell: das Romantisches Europa aus der österreichischen, der russischen und der preußischen Monarchie, die so genannte Heilige Allianz. Realitätsverklärung war ihr Prinzip, Es war ein auf Bibel und das Mittelalter zurückblickendes, zukunftsscheues Staatshandeln.
Polyphones Europa ist kein symphonisches und kein harmonisches Europa. Symphonisches und Harmonisches wäre die Fortsetzung der europäischen Polyphonie mit utopischen Mitteln. Ein polyphones Europa, das ein demokratisches Europa sein will, benötigt in weitaus häufigerem Maß als bisher Abstimmungen der Bevölkerung zu allen Entscheidungen
Ein vielstimmiges Europa könnte das bisherige Holzwegeuropa insofern ersetzen, als es der Allianz aus Betonköpfen, Büro- und Technokratie entkommt. Jenseits von Beton, Bürokratie und Technokratie liegt ein noch zu entdeckendes Europa. Es besteht nicht allein aus Raum und Räumen. Es besteht aus etwas Werdendem und Fließendem. Es besteht aus Zeit.