Paul Nolte : Perspektiven für eine produktive Ungleichheitsdebatte

 

Paul Nolte : Zur  Ungleichheitsdebatte - mit Quintessenz vorangestellt:


SWR2 Sendung: Sonntag, 22. Februar 2015, 8.30 Uhr

http://www.kultur-punkt.ch/swr2-kooperation/swr2-kooperation-suchworte-a-z/p-nolte-produktive-ungleichheitsdebatte.html

Quintessenz
1 Erstens, die Sicherung eines auskömmlichen, materiell gut gesicherten, in die Zukunft einigermaßen planbaren Lebens. Von seinem Lohn muss man gut leben können.
2 Zweitens, die Chance auf Mobilität, auf Veränderung, auf Karrierewege. Wer mit dem Hauptschulabschluss abgegangen ist, darf nicht das ganze Leben lang an eine Decke stoßen.
3 Drittens, Teilhabe und Inklusion: Dafür ist wiederum Bildung zentral, aber auch, soweit das im Rahmen des politisch Gestaltbaren liegt, die Offenheit von Lebenswelten statt ihrer Abschottung in sozial segmentierte Bezirke. Menschen aus unterschiedlichen Schichten müssen sich begegnen – und nicht nur dann, wenn der eine dem andern die Haare schneidet oder das Auto repariert, sondern in Schulen, Vereinen, im sozialen und politischen Engagement.
  Auch in Deutschland ist es an der Zeit, die unproduktive, schrecklich bequeme Debatte über die Superreichen und ihren wachsenden Abstand vom vermeintlichen „Rest der Gesellschaft“ ein ganzes Stück tiefer zu hängen. Denn der gefährlichere Riss geht mitten durch den „Rest der Gesellschaft“, durch die „99 Prozent“ hindurch.
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Norbert Bolz: Diskurs über die Ungleichheit . Ein Anti-Rousseau


Gerechtigkeit I-II I (Bolz), II (Dux, Honneth)

Online-Publikation: Mai 2009 im Internet-Journal <<kultur-punkt.ch>>
 Ereignis-, Ausstellungs-, AV- und Buchbesprechung
 << Norbert Bolz: Diskurs über die Ungleichheit . Ein Anti-Rousseau >>
 207 Seiten, kart., ISBN 978-3-7705-4797-5; € 16,90/sFr 31,-

Inhalt
 Die Linke hat wieder Konjunktur. Sie spricht nicht mehr von Klassengesellschaft,
 sondern von der Neuen Ungleichheit und verweist auf die Pornographie des
 exzessiven Reichtums zwischen Beverly Hills und Moskau einerseits, die stillen Leiden
 der Kinderarbeit und der Hartz IV-Existenz andererseits. Mehr Gleichheit durch
 Umverteilung scheint deshalb die selbstverständlichste politische Forderung zu sein.
 Und in der Tat hat sich die moderne Gesellschaft durch die Mächte der guten
 Gleichheit entfaltet: Wissenschaft und Technik, gleiches Recht und Bildung für alle,
 städtisches Leben und staatliche Organisation.
 Nüchtern betrachtet, kann Gleichheit unter modernen Lebensbedingungen aber nur
 heißen: Inklusion, die Möglichkeit der Teilnahme an den sozialen Systemen. Und wer
 alle integrieren will, muss auf die Gleichheit aller verzichten. Egalitarismus ist eine
 Anleitung zum Unglücklichsein. Wir können das gute Leben, das uns die moderne
 Gesellschaft ermöglicht, nicht leben, solange wir noch an Rousseau glauben. Die
 größte Gefahr für die moderne Welt geht nicht von denen aus, die asozial sind,
 sondern von denen, die zu sozial sind. Es gibt keine gerechte Gesellschaft.

 Fazit
 Der Thesenansatz von Norbert Bolz " Diskurs über die Ungleichheit" birgt nicht nur einen Anti-Rousseau-Blick in seinem Buch sonder entbirgt zugleich seine Liebe zum "liberalen Erfolgsgeheimnis des Kapitalismus" . Bolz geht dabei der Frage nach dem Glück nach, beantwortet dies mit Steigerung der Produktivität (Steigerung der Produktion?) und Kreativität als Resultat des Wettbewerbs und sei nicht mit Umverteilung erreichbar.
 Durch unterschiedliches, herausragendes Talent, undLebensenergie Einzelner in einer freien Marktwirtschaft entstehen so in der Folge Ungleichheiten. Darwin 1 lässt grüssen. Darwin 2 fehlt: Kooperation ist gleichermassen entscheiden für 1., oder Laotse: Wasser besiegt den Stein. Bolz räumt ein: "spezifisch liberal ist dabei der Trick, durch die Frage nach der Wirtschaftlichkeit von der Frage nach Gerechtigkeit abzulenken." Nach einer grossartigen Analyse kommt er über die Verteilung von Geldern und Gütern zum dem Schluss:" Prozedurale Güter sind Würde-Güter"..und .."Denen, die an dem Spiel um mehr Geld nicht teilnehmen können, bietet man (oben Staat bis Tafeln unten) mehr Gleichheit.
 Dieses Diskursbuch bietet den Nachdenklichen eine grauenerzeugend-tragischen Blickrichtung in Richtung Weltgemeinschaft lokal wie erdweit
 Erwiternde Diskurshinweise dazu:
 http://archiv.kultur-punkt.ch/ereignisse/haiku09-1evolution.htm
 http://archiv.kultur-punkt.ch/akademie4/kooperation-swr2/swr2-bolz-arbeit5-4.htm
 http://archiv.kultur-punkt.ch/buchtipps/suhrkamp-i08-8darwin-meinleben.htm
 http://archiv.kultur-punkt.ch/akademie4/diskurs/dtv09-1kutschera-evolution.htm
 http://archiv.kultur-punkt.ch/akademie4/diskurs/fackeltraeger08-12fischer-evolution.htm
 http://archiv.kultur-punkt.ch/akademie4/diskurs/machtmissbrauch-wissendesahnen19-9-04.htm...


Professor Günter Dux - Der soziale Kitt der Gesellschaft . Was ist Gerechtigkeit? II Prof. Axel Honneth - Über eine der zentralen Fragen der Philosophie seit der Antike

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SWR2 Themenvormittag 1. 5. 2010 <<Gerechtigkeit I - II: I Professor Günter Dux - Der soziale Kitt der Gesellschaft . Was ist Gerechtigkeit? II Prof. Axel Honneth - Über eine der zentralen Fragen der Philosophie seit der Antike >>

 FAZIT vorangestellt
 I -II Zu einem Standard im Leben gehört ein Sinhaftigkeit sowie kulturelle, mediale wie gesllige Entfaltung... dem gegüber entstand seit 300 Jahren eine mehr und mehr sich bildende Markt-Gesellschaft, die Kranke, Alte und Kinder als Ballast sieht behandelt... diese Operativität des Kapitals tappt in seine eigene Organisationsfalle... diesem puritan ökonomischen System fehlt ein korrektives System (Dux)..
 Umdenken ist angesagt statt Abhängen von Ballast...was geschehen kann ist 1 Grundsicherung (dzt. 850 Euro vom Staat) plus 2 die Wahlfreiheit zusätzlicher Teilzeit, mittlerer Niedriglohn von 1300 Euro dzt.) ..
 das ist als Imperativ zu sehen und finanzierbar, wenn wir den Besteuerungs-Entzug der Privateigentümer und der über 3400 Euro Verdiener nutzen..
 Das faule Argument " einen schönen Tag machen" geht an der mehrheitlich aktiven Wirkkraft der Unterbezahlten und - bezieher vorbei, da es einen anthropologisch nachweislichen Sinn - siehe schon allein die Vertragstheorien - gibt, nämlich den der lebensbejahenden Teilhabe an der Gemeinschaft...
 w.p.10-5

 Tondokument I
 http://www.swr.de/swr2/programm/-/id=661104/did=6316330/pv=mplayer/vv=popup/nid=661104/3l4w6s/index.html
 SWR2 Themenvormittag 1. 5. 2010 <<Gerechtigkeit: Der soziale Kitt der Gesellschaft . Was ist Gerechtigkeit?

 Inhalt I
 I
 Freiburger Professor Günter Dux für Soziologie, plädiert für ein einheitliches Grundeinkommen
 "Der Begriff der Gerechtigkeit bezeichnet einen idealen Zustand des sozialen Miteinanders, in dem es eine angemessene, unparteiliche und einforderbare Verteilung von Gütern und Chancen zwischen den beteiligten Personen und Gruppen gibt. Soweit die Theorie, nachzulesen in philosophischen Wörterbüchern, aber auch im Online-Lexikon Wikipedia. Wie weit entfernt von dem idealen Zustand befindet sich denn unsere gesellschaftliche Praxis?

 **

 Tondokument II
 http://www.swr.de/swr2/programm/-/id=661104/did=6316134/pv=mplayer/vv=popup/nid=661104/eja5de/index.html
 SWR2 Themenvormittag SWR2 Themenvormittag 1. 5. 2010 <<Gerechtigkeit. Was eigentlich ist Gerechtigkeit? Über eine der zentralen Fragen der Philosophie seit der Antike >>
 Interview mit Prof. Axel Honneth, Professor für Sozialphilosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt
 Axel Honneth ist Professor für Sozialphilosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität und er ist geschäftsführender Direktor des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt am Main.

 Inhalt II
 Was ist überhaupt Gerechtigkeit? Wer legt fest, was gerecht und was ungerecht ist? Wie müssen Staaten organisiert sein, damit es zwischen den Menschen tatsächlich gerecht zugeht? Diese Fragen haben die Philosophen seit der Antike beschäftigt.
 Zu den unterschiedlichsten Zeiten gab es unterschiedliche Antworten: Bei Platon war Gerechtigkeit eine unveränderliche, ewige, überweltliche Idee, an dem die Seele Anteil hat. Aristoteles analysierte die unterschiedlichsten Formen der Gerechtigkeit und grundsätzlich die Sphäre der legalen und allgemeinen Gerechtigkeit von der besonderen Gerechtigkeit in zwischenmenschlichen Beziehungen.
 Im Mittelalter wurde gerechtes Verhalten vor allem in Bezug auf eine göttliche Instanz definiert. In der Aufklärung, bei Rousseau zum Beispiel, wird Gerechtigkeit zum Schlüssel für einen contrat social, den Gesellschaftsvertrag, der die Menschen aus dem wilden Naturzustand herausführen, ihnen aber individuelle Freiheiten belassen will.
 1971 erschien das Werk "Eine Theorie der Gerechtigkeit" des amerikanischen Philosophen John Rawls, das an die großen Vertragstheorien von Locke, Rousseau und Kant anschließt. Und das bis heute immer wieder diskutiert wird, wenn es um das Thema Gerechtigkeit geht.

Amartya Sen: Die Idee der Gerechtigkeit

Nobelpreisträger Amartya Sen: Die Idee der Gerechtigkeit

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 Online-Publikation: November 2010 im Internet-Journal <<kultur-punkt.ch>>
 Ereignis-, Ausstellungs-, AV- und Buchbesprechung
 << Nobelpreisträger Amartya Sen: Die Idee der Gerechtigkeit. Monographie . Aus dem Englischen von Christa Krüger >>
 493 S. In Leinen; ISBN 978-3-406-60653-3 ; 29,95 €
Verlag C. H. Beck München, www.beck.de;

 Inhalt
 Drei Kinder streiten darüber, wem von ihnen eine Flöte gehören sollte. Das erste Kind hat Musikunterricht gehabt und kann als einziges Flöte spielen. Das zweite ist arm und besitzt keinerlei anderes Spielzeug. Das dritte Kind hat die Flöte mit viel Ausdauer selbst angefertigt.
 Mit diesem Gleichnis eröffnet Amartya Sen, einer der wichtigsten Denker unserer Zeit, sein Buch über die Idee der Gerechtigkeit. Es ist John Rawls gewidmet und grenzt sich doch von der wirkungsmächtigsten Gerechtigkeitstheorie des 20. Jahrhunderts ab. Wer eine weitere abstrakte Diskussion der institutionellen Grundlagen einer gerechten Gesellschaft erwartet, der wird enttäuscht sein. Wer sich hingegen darüber wundert, was diese Theorien eigentlich zur Bekämpfung real existierender Ungerechtigkeiten beitragen, der wird großen Gewinn daraus ziehen. Sen nämlich stellt die Plausibilität solcher Anstrengungen der reinen Vernunft in Frage. Seine Theorie der Gerechtigkeit ist weniger an der Ausformulierung einer ethisch perfekten Gesellschaft interessiert als an Argumenten, deren Maßstab die konkrete Überwindung von Ungerechtigkeit ist.
 Sen eröffnet Perspektiven, die dem westlichen Denken meist fehlen. Seine Kenntnis der hinduistischen, buddhistischen und islamischen Kultur ist wundervoll eingewoben in das Buch und prägt den ganzen Charakter seines Philosophierens. Die Vernunft sucht die Wahrheit, wo immer sie sich finden lässt – und wie der Autor dieses außergewöhnlichen Werkes entdeckt sie auf ihrer weiten Reise viele gangbare Wege zu einer gerechteren Welt.

 Fazit
 Nobelpreisträger Amartya Sen ist ein einfallreicher Denker, der einen gewichtigen Beitrag zum Thema Gerechtigkeit seit John Rawls eindrucksvoll und hochrangig intellektuell in seinem Diskursbuch "Die Idee der Gerechtigkeit" geleistet hat.In seinem Gespräch mit Wolfram Wessels, dem Moderator von SWR2 Forum Buch folgert er:
 "Man mag diesen Glauben an den internationalen Vernunftgebrauch zu optimistisch finden. Man muss neben den Kriterien für eine gerechte Welt sicher auch auf dem Zettel haben, dass nicht es nicht nur andere Ideen sind, die einer gerechteren Welt im Wege stehen, sondern auch Interessen und Strukturen."
 Wie man im Dschungel mit diesen Anforderungen Interessen, dem Glück, Wohlergehen und den Befähigungen und den öffentlichen Vernunftgebrauch, die Menschenrechte mit globalen Imperativen und demokratische Praxis realisiert, davon spricht Sen mit Verve und Impetus. m+w.p10-11

 Dazu ein vertiefender Hinweis:
 *SWR2 Forum Buch*
 Redaktion/Moderation: Wolfram Wessels
 Sendung: 31.10.2010, 17.05. – 17.55 Uhr
 Amartya Sen: Die Idee der Gerechtigkeit.
 Von Christoph Fleischmann
 Der Anspruch ist nicht eben gering, mit dem Amartya Sens neues Buch daherkommt: »Die Idee der Gerechtigkeit« will einen völlig neuen Ansatz weisen zum Nachdenken über eine gerechte Welt. Die Mehrheit der Philosophen ständen immer noch im Bann der »Sozialvertragstheorien«, die auf Thomas Hobbes zurückgingen, so der Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen. Aus einem imaginären Naturzustand werde abgeleitet, wie sich eine vollkommen gerechte Gesellschaft konstituieren könne. Sen hält es dagegen für illusorisch, sich über eine vollkommen gerechte Welt zu verständigen oder sie gar zu schaffen. So gesehen ist sein Anspruch viel bescheidener als der vieler anderer Denker:
 O-Ton 1 Sen [Übersetzung] 1'10
 Auch wenn wir uns nicht über die Natur einer vollkommen gerechten Welt einigen, so können wir doch oftmals übereinstimmend sagen: »Das ist eine Ungerechtigkeit«: So viele Menschen sind arbeitslos, so viele Menschen sterben ohne medizinische Versorgung, so viele Kinder überall auf der Welt besuchen keine Schule. […] Die Themen um die es geht, sind immer, wie man Ungerechtigkeit auf die eine oder andere Wiese reduzieren kann. Die analytische Fragestellung dahinter ist, […] dass die Identifikation einer vollkommen gerechten Welt weder nötig noch hinreichend ist, um zwei Welten zu bewerten, die nicht perfekt gerecht sind, von der eine aber viel ungerechter ist als die andere.
 Außerdem hält Sen den Theoretikern des »Sozialvertrages« vor, sie würden sich zuerst auf die Schaffung von gerechten Institutionen achten. Man müsse aber auch das reale und erwartbare Verhalten von Menschen theoretisch berücksichtigen.
 O-Ton 2 Sen 2'20
 Die Natur der Welt, die entsteht, hängt nicht nur von den Institutionen ab. Die sind zwar sehr wichtig, aber wir müssen auch auf das soziale Verhalten schauen. Wir hatten viele Katastrophen in der Welt, weil wir nur auf die Institutionen geachtet und geglaubt haben, das Verhalten der Menschen würde entsprechend schon folgen. Das war zum Beispiel der Fehler von Mao Tse-Tung: Er dachte, er kann auf die individuellen Anreize verzichten, wenn er Landwirtschaftskooperativen schafft, weil er glaubte, dass sich das Verhalten der Menschen dem anpassen würde. Das tat es aber nicht. Ich denke, Sie müssen umfassend und zugleich Institutionen und Verhaltensmuster beachten, allein die Identifikation perfekt gerechter Gesellschaften hilft nicht.
 In Deutschland ist das Nachdenken über Gerechtigkeit stark von Jürgen Habermas geprägt: Unter seinem Einfluss suchen viele Philosophen und Politologen ein Verfahren, das Gerechtigkeitsanforderungen genügt; also ein Verfahren, dass eine möglichst faire Beteiligung aller von den Entscheidungen Betroffener ermöglicht. Sen würdigt Habermas durchaus positiv, will aber nicht nur auf die Verfahren schauen, sondern auch auf die Ergebnisse. Das Kriterium für ein Mehr an Gerechtigkeit sei letztlich, ob die Menschen zu mehr Freiheit befähigt würden. Gerechtigkeit wird zur Befähigungsgerechtigkeit.
 O-Ton 3 Sen 6'24
 Befähigungen sind ein Weg auf die menschliche Freiheit zu schauen, also auf das, was wir wirklich tun können. Das steht in Kontrast zu Vorstellungen von Freiheit, die danach fragen, was erlaubt ist zu tun, ob wir es nun können oder nicht. Gemäß dieser Erlaubnis- Perspektive, das ist die extrem liberale Position, hat ein sehr armer Mensch die Freiheit nach Acapulco in Urlaub zu fahren. Aber die Tatsache, dass er sich das gar nicht leisten kann, kommt nicht in Betracht, denn er hat ja die Erlaubnis es zu tun. Wenn man aber sagen möchte, jemand hat die Befähigung nach Acapulco in den Urlaub zu fahren, dann muss man auch fragen: Hat er auch wirklich die Fähigkeiten dazu, also die Geldmittel und den Wohlstand und so weiter. Die Befähigungsperspektive fragt danach, was Sie wirklich tun können.
 Dieser pragmatische Zug, die Frage nach dem, was bei den einzelnen Menschen an Freiheit ankommt, macht Sens Überlegungen sehr sympathisch, aber auch abhängig von den jeweils konkreten Bedingungen. Es lässt sicher manche Leser unbefriedigt zurück, wenn Sie merken, dass Ihnen kein »how to do« an die Hand gegeben wird oder auch nur Maßstäbe, die immer und überall gelten. Sen betont die Pluralität der Vernunft: Oft gebe es mehrere gute Vernunftgründe, die miteinander konkurrierten – und nur die konkrete Situation könne eine Antwort bringen, nicht aber das gegeneinander Ausspielen verschiedener Prinzipien.
 Um die Perspektive, die die wirklichen Befähigungen sucht, weiter auszuführen, könnte man auch fragen, welche realen Bedingungen eigentlich einer Verwirklichung von mehr Gerechtigkeit im Wege stehen. Unterläuft eine komplexe Wirtschaft, die Handlungszwänge auf politische Entscheidungen ausübt, nicht das Bemühen um Gerechtigkeit? Sen glaubt an die Möglichkeiten vernünftiger Steuerung:
 O-Ton 4 16'50
 Der Markt produziert nicht allein ein Ergebnis. Es hängt davon ab, welche Verteilungsressourcen die Menschen haben, es hängt davon ab, welche Regulierungen den Markt regieren: Jedes Land hat Regulierungen des Marktes. […] Außerdem ist es auch nicht so, dass das Leben der Menschen nur vom Markt abhängt. Es hängt auch ab von sozialer Sicherheit, Arbeitslosenversicherung und medizinischer Versorgung, die der Staat bereit hält. Also ist es lächerlich zu sagen, das Leben hänge nur vom Markt ab.
 Damit ist dann freilich auch klar, dass Sens Perspektive einer Befähigungsgerechtigkeit sich deutlich von den Ideologen des Marktes unterschiedet, die – auch in Deutschland – mit Verweis auf die Begriffe Befähigungs- oder Beteiligungsgerechtigkeit gegen die alte Idee einer Verteilungsgerechtigkeit Stimmung machen. Sen korrigiert diese Sicht:
 O-Ton 5 Sen 18'50
 Einfach nur Geld von einer Person zu einer anderen zu transferieren, ist kein sehr guter Weg. Aber Geld zu transferieren, um Bildung auszubauen, um Leute besser auszubilden, um bessere Gesundheitsvorsorge anzubieten, so dass sie mehr leisten können und auch ein besseres Leben haben, dass sie in ihrem Leben tun können, was sie wollen und auch ihre Fähigkeiten intelligent anwenden können in industrieller oder landwirtschaftlicher Produktion oder im Dienstleistungssektor. Dies sind auch Fragen der Sozialpolitik und diese haben Implikationen für die Frage nach der Verteilung. […] 20'30 Es wäre also falsch, Verteilungsgerechtigkeit in einen Gegensatz zu anderen Formen der Gerechtigkeit zu bringen.
 Auch, wenn man keine fertigen Rezepte, sondern nur Anleitungen erhält, was man beim Nachdenken über Gerechtigkeit auf dem Zettel haben sollte, man merkt: In diesem Buch ist ein besonderer Kopf am Werk: Ein Ökonom, der auf der Höhe des philosophischen Diskurses schreibt, ist in Deutschland so selten wie ein Philosoph, der auch in den Niederungen ökonomischer Prozesse zu Hause ist. Und: Sen, von seiner Herkunft her Inder, der außer in seinem Heimatland auch in England und den USA gelehrt hat, denkt global. Gerechtigkeit ist längst nicht mehr nur eine Frage der Innenpolitik. Und gemäß seinem Ansatz schaut Sen nicht so sehr auf internationale Institutionen, die den Streit über Gerechtigkeit zu organisieren hätten: Beim globalen öffentlichen Vernunftgebrauch mache jeder mit, der seine Stimme erhebe:
 O-Ton 6 – 21'43
 Als die Amerikaner in den Krieg gegen den Irak zogen, hatten sie die größte Militärmacht in der Welt, gefolgt von anderen Militärmächten wie Großbritannien, Italien und Spanien. Zur gleichen Zeit war die öffentliche Meinung in der Welt sehr kritisch dem gegenüber. Und das wirkte sich auf die US-Regierung aus. Einer der Gründe, warum Obama als Präsidentschaftskandidat glaubwürdig erschien, lag darin, dass er kritisch gegenüber der
 Politik der US-Regierung war. Zuerst kam die Unterstützung für ihn viel mehr von der globalen Öffentlichkeit , nicht von der amerikanischen. In Amerika war die Bush-Politik ja sehr populär, aber die globale Kritik kam wohl in Kontakt mit der amerikanischen Öffentlichkeit. Es stimmt also nicht, dass die Menschen ein Stimme hätte, die man nicht auch jenseits der Grenzen hören könnte.
 Man mag diesen Glauben an den internationalen Vernunftgebrauch zu optimistisch finden. Man muss neben den Kriterien für eine gerechte Welt sicher auch auf dem Zettel haben, dass nicht es nicht nur andere Ideen sind, die einer gerechteren Welt im Wege stehen, sondern auch Interessen und Strukturen. Wie man im Dschungel dieser Interessen und Strukturen argumentativ weiterkommt, dafür hat Sen aber wichtige Arbeit geleistet.

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