Professor Dr. Dr. Reimer Gronemeyer: Ein Platz für den Tod - Sterben in Deutschland
SWR2 Wissen: Aula -
Autor und Sprecher: Prof. Reimer Gronemeyer *
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
Sendung: Sonntag, 30. Dezember 2007, 8.30 Uhr, SWR2
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ÜBERBLICK
Lange Zeit war der Tod ein fast selbstverständlicher Teil des Alltagslebens, er hatte seinen festen Ort inmitten der Familie, der Gesellschaft. Umfragen bestätigen: 80 Prozent der Deutschen wünschen sich noch heute, im Kreis der Familie zu sterben, doch die Realität sieht anders aus: Die meisten sterben in Krankenhäusern oder Pflegeheimen, und ihr Sterben wird zunehmend medikalisiert, institutionalisiert und ökonomisiert. Professor Dr. Dr. Reimer Gronemeyer, Soziologe an der Universität Gießen, zeigt, welche Veränderungen heute das Sterben prägen und welche ethischen Probleme damit verbunden sind.
AUTOR
Prof. Dr. Dr. Reimer Gronemeyer, geb. 1939, Studium der Theologie, Promotion zu den Paulusbriefen, lutherischer Pfarrer in Hamburg. Studium der Soziologie, Promotion zu Fragen der Demokratisierung in Institutionen; seit 1975 Professor für Soziologie an der Universität Gießen; dort analysiert Gronemeyer im Rahmen eines internationalen Forschungsprojekts die Hospizbewegung im europäischen Kontext.
Bücher:
- Sterben in Deutschland. Wie wir dem Tod wieder einen Platz in unserem Leben einräumen können. S. Fischer
- So stirbt man in Afrika an Aids. Brandes u. Apsel
- Kampf der Generationen. DVA
- Helfen am Ende des Lebens (zusammen m. anderen).Hospiz
- Das Blut deines Bruders. Die Zukunft der Gewalt. Econ
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INHALT
Ansage:
Heute mit dem Thema: „Ein Platz für den Tod - Sterben in Deutschland“.
Der umstrittene Sterbehilfeverein Dignitate hatte im November mit der Ankündigung, einen Schwerkranken zum Freitod zu verhelfen, eine erneute Diskussion über Sterbehilfe ausgelöst. Und vor Weihnachten hatte der Trierer Bischof Marx im SWR-Hörfunk sein „Nein“ zur Sterbehilfe noch einmal deutlich gemacht. Er sagte, es sei schrecklich, wenn Organisationen mit materiellen Interessen Menschen zur Selbsttötung verhelfen wollten.
Und genau das ist auch ein Aspekt der folgenden AULA von Reimer Gronemeyer, emeritierter Professor für Soziologie der Universität Giessen.
Gronemeyer fragt, wie sich das Sterben in Deutschland in den letzten Jahrzehnten verändert hat und er sagt: Das Sterben wird zunehmend institutionalisiert, medikalisiert, ökonomisiert und - siehe Dignitate - auch kommerzialisiert. Und diese Punkte bilden für ihn den wichtigen Unterschied zwischen Vergangenheit und Gegenwart:
Reimer Gronemeyer:
In den 50er Jahren - ich war gerade 12 Jahre alt - erlebte ich, wie meine Großmutter hoch in den 70ern gestorben ist. Sie lag in einem weißen Metallbett und bekam einen Schlaganfall. Sie konnte sich nicht mehr bewegen, nicht mehr sprechen, nicht mehr essen, und ich erinnere mich, dass ich von meiner Mutter aufgefordert wurde, über dieses Bett hinwegzusteigen, das an der Wand stand, und dabei zu helfen, meiner Großmutter Flüssigkeit, vermutlich Tee, einzuflößen. Nach vielem Verschlucken und Husten war es uns schließlich gelungen, ihr etwas von dem Getränk zu geben. Nach wenigen Tagen, vielleicht waren es auch nur Stunden, ist meine Großmutter gestorben. Damals war es für einen kleinen Jungen ganz selbstverständlich, einem Verwandten, der im Sterben lag, zu helfen und sein Sterben mitzuerleben.
Heute, ein halbes Jahrhundert später kommt uns das ganz fern und fremd vor. Wie kommt das? Was unterscheidet unsere Situation heute von der damaligen? Natürlich vor allen Dingen erst mal die Tatsache, dass die Menschen heute überwiegend in „Institutionen“ sterben, im Krankenhaus, im Pflegeheim, im Hospiz. 80 Prozent aller Deutschen sagen, sie möchten zu Hause sterben; in Wirklichkeit sterben aber 80 Prozent der Deutschen in einer Einrichtung. Das ist ein ganz großer Widerspruch, dem wir noch nachzugehen versuchen werden. Aber um noch mal den Unterschied damals und heute zu verdeutlichen: In den 50er Jahren war das Sterben zuhause ganz normal, heute ist es genau umgekehrt. Woran liegt das? Das hat natürlich auch daran gelegen, dass es in den 50er Jahren kaum Telefon in den Wohnungen gab. Die Notfallambulanz war ein Fremdwort, aber vor allem existierte noch nicht die Idee in unseren Köpfen, Menschen, die am Lebensende angelangt waren, in eine Institution bringen zu müssen. In unserer heutigen Zeit wäre es fast schon eine strafbare Handlung, nicht zum Telefonhörer zu greifen, nicht den Krankenwagen zu rufen und jemanden nicht ins Krankenhaus oder ins Pflegeheim zu überführen. Natürlich ergibt sich daraus der Vorteil, dass wir ein Stück Leben dazu gewinnen können. Dennoch frage ich mich manchmal, ob meine Großmutter in ihrem weißen Bett dieses zusätzliche, geschenkte Leben überhaupt gewollt hätte. Das können wir nicht wissen, und wahrscheinlich ist das auch gut so. Jedenfalls stellen wir fest, dass wir heute einen völlig anderen Umgang mit dem Sterben und dem Tod gewöhnt sind, und obwohl die meisten Menschen auch heute noch Zuhause sterben wollen, so tun sie es in der Regel nicht.
Die zweite Widersprüchlichkeit ist, dass unsere Begegnung mit Sterben und Tod merkwürdig verändert ist. Neulich habe ich gelesen, dass ein Jugendlicher, wenn er sein 15. Lebensjahr erreicht, im allgemeinen schon 500.000 Tote gesehen hat, nämlich im Fernsehen, in virtuellen Schlachten, in Kriminalfilmen, in Horrorfilmen etc. Also einerseits ist der Tod so gegenwärtig wie vielleicht noch nie, aber eben in dieser digitalen, bildlichen, unsinnlichen Form. Wenn ich jedoch meine Studentinnen und Studenten frage, ob sie schon mal einen sterbenden Menschen gesehen oder vielleicht sogar mal einen Toten angefasst haben, dann bejahen das nur sehr sehr wenige. Das ist also der zweite Widerspruch: Medial ist der Tod allgegenwärtig, aber in Wirklichkeit verfügen wir über keine Erfahrung mit dem Sterben und dem Tod. Er ist verbannt aus unserem Alltag.
Das führt uns zu der Frage, ob Tod und Sterben heute tabuisiert sind. Darauf kann man, wie ich denke, sehr zwiespältig antworten. Einerseits ist der Tod ein Tabu, da wir im Regelfall keinen Umgang mit Sterbenden haben. Andererseits wird aber auch öffentlich immer öfter über den Tod und über das Sterben gesprochen. Wir werden uns noch Gedanken darüber machen müssen, warum das so ist.
Aber noch einmal zu dem ersten großen Spannungsverhältnis zurück, dass die Menschen sagen, sie möchten zuhause sterben, aber tatsächlich in Einrichtungen sterben. Ein bisschen ist das auch ein Klischee. Denn die Menschen werden ja am Ende ihres Lebens nicht zwangsweise ins Krankenhaus oder ins Pflegeheim gebracht werden. Sondern oft entwickelt sich die Situation so, dass die Menschen, die zuhause von ihren Angehörigen betreut und gepflegt werden, in eine Krise geraten, Erstickungsanfälle, Schmerzen, die nicht beherrschbar sind usw. Dann gelangen die Kranken und die Angehörigen manchmal sehr schnell zu dem Schluss, diese Krise doch lieber im Krankenhaus behandeln zu lassen. So kennen wir im übrigen so etwas wie einen „Tourismus am Lebensende“ in einer unerfreulichen Weise, dass die Menschen vielleicht vom Krankenhaus ins Pflegeheim kommen, von dort in ein Hospiz und vom Hospiz wieder ins Krankenhaus. Jeder dieser Schritte hat seine spezifischen Gründe. Beispielsweise könnte ein Bewohner eines Pflegeheims in eine Krise geraten, die Pflegeleitung ist nicht da, und der herbeigerufene Notarzt kann gar nichts anderes tun, als den Menschen ins Krankenhaus zu schicken, vielleicht kann ihm ja dort geholfen werden. Ein anderer Grund kann die Fallpauschale sein, der jedes Krankenhaus unterliegt. Nach einer gewissen Zeit hat ein Patient sein Budget sozusagen aufgebraucht, woraufhin das Krankenhaus zusehen muss, wie es den Patienten wieder loswird, und es schickt ihn im Zweifelsfall in ein Pflegeheim oder vielleicht ins Hospiz. Ein Hospiz wird jedoch auch nur für einige Wochen bezahlt, so dass der Patient möglicherweise doch wieder ins Krankenhaus zurück muss.
Wir sehen, dass der Umgang mit dem Tod für uns heute viel weniger selbstverständlich ist, als es noch vor Jahrzehnten und in der Geschichte der Menschheit der Fall war. Woran liegt das?
Zwei Prozesse haben unser Verhältnis zum Sterben nachhaltig verändert. Der Tod wurde erstens institutionalisiert und zweitens ökonomisiert, das heißt, es wird am Sterben von Menschen verdient. Der amerikanische Arzt und Nobelpreisträger Bernard Lown hat einmal gesagt, dass 80 Prozent der Krankenhauskosten im Leben eines Menschen in dessen letzten Wochen und Monaten anfallen. Zu ähnlichen Ergebnissen kamen auch die deutschen Krankenkassen. Lown vertritt sogar die Meinung, es gäbe ein Komplott zur Verlängerung des Sterbens, weil eben daran verdient wird.
Heute mag man zu der Annahme gelangen, dass das schon ins Gegenteil umkippt, weil eine wachsende Zahl der Hochbetagten und Pflegebedürftigen die Einrichtungen oft vor die Frage stellt, können und wollen wir das noch bezahlen? Aber auf jeden Fall spielt Geld am Ende des Lebens eine Rolle, und zwar so stark wie niemals zuvor.
Ich möchte einen dritten Aspekt ansprechen, nämlich den der Medikalisierung des Sterbens. Was ist damit gemeint? Dazu werfe ich einen kurzen Blick zurück auf das Ende des Mittelalters und den Beginn der Neuzeit. Damals hat man angefangen, Menschen nach ihrem Tod aufzuschneiden, um herauszufinden, was in ihrem Leib zu sehen ist. Diese Zeit veränderte den Umgang mit Sterben und Tod sehr deutlich. Über lange Jahrhunderte haben die Menschen das Sterben als etwas begriffen, was auf sie zukommt, was ihnen geschieht, den Tod als Zufall, der ihnen zufällt. Die Menschen haben gewartet, bis Gott oder in anderen Kulturkreisen vielleicht ihre Ahnen sie aus dem Leben holen. In dem Augenblick, wo man begonnen hat, den toten Körper aufzuschneiden, geschieht etwas ganz Dramatisches: Auf einmal stellt man fest, dass man den Tod, das Sterben ja im Körper lokalisieren kann. Man kann feststellen, dieser Mensch ist an seinem kaputten Herzen gestorben oder die Leber war zerstört oder die Lunge. Plötzlich ist der Tod nicht etwas, was von außen kommt und mich aus dem Leben holt - Gottes Ratschluss oder der Wille der Ahnen -, sondern nun kann man sagen, der Tod hat den Grund im Körper des Menschen, weil dieses oder jenes Organ versagt hat. Das ist spätestens der Augenblick, an dem das Sterben medikalisiert wird. Der Arzt wird eine wichtige Figur am Sterbebett eines Menschen. Hippokrates hatte noch gesagt: Wenn Zeichen des Todes auf dem Antlitz eines Sterbenden zu erkennen sind, dann muss der Arzt den Raum verlassen, um anderen Platz zu machen für Angehörige oder den Priester etc. Heute, im Zeitalter der Medikalisierung des Sterbens, wird der Arzt gewissermaßen der selbstverständliche Begleiter dieser letzten Lebensstrecke. Das führt natürlich auch dazu, dass die Menschen immer weniger imstande sind, zuhause zu sterben, weil sie sich in die Arme eines Mediziners flüchten, vielleicht mit der Hoffnung, das Leben noch ein Stück zu verlängern, vor allen Dingen mit der Hoffnung, Schmerzen zu vermeiden.
Wir müssen uns darüber klar sein, dass die Medikalisierung des Lebensendes eine dramatische Veränderung des Umgangs mit Sterben und Tod bedeutet.
Noch etwas anderes fügt sich an: Wir leben in einer alternden Gesellschaft, das bedeutet, die Zahl der alten und sehr alten Menschen wächst. Im Jahr 2050 werden 70 Millionen Menschen über 80 Jahre alt sein, das heißt, eine sehr große Zahl von Menschen wird auf Unterstützung, Hilfe und Pflege angewiesen sein. Weiterhin zerbröckeln die Familien, der Ort, an dem früher das Sterben stattgefunden hat. Immer weniger sind Familien willens und imstande, Angehörige am Lebensende bei sich aufzunehmen. Das hat verschiedene Ursachen, örtliche Entfernungen spielen eine Rolle, vielleicht auch Scheidung oder die Berufstätigkeit beider Eheleute. All das sind Aspekte, die dazu führen, dass das alte Modell, das keineswegs immer sehr glücklich gewesen ist, aber einfach eine selbstverständliche Tatsache war, ausstirbt. Das führt gleichzeitig dazu, dass die Zahl der Menschen, die im hohen Alter alleine leben, kontinuierlich wächst. Jeder zweite 85-jährige Mensch in Deutschland lebt allein. Und da kann man noch mal die Frage stellen, was heißt da eigentlich, ich will zuhause sterben? Im Appartement, in dem man alleine ist, in das von Zeit zu Zeit mal der Pflegedienst kommt? Das kann es eigentlich auch nicht sein. Das ist ja eine Form der Verlassenheit, die mit dem Sterben zuhause, so wie wir uns das eigentlich vorstellen, eigentlich gar nichts gemein hat.
Ich möchte einen weiteren Punkt anführen: Die Dialekte des Sterbens sterben aus. Was ist damit gemeint? Über lange Zeit wurden in den unterschiedlichen Regionen Deutschlands verschiedene Dialekte gesprochen, von Ort zu Ort mit anderen Färbungen. Genauso pflegten die Menschen von Ort zu Ort, von Dorf zu Dorf verschiedene Weisen des Umgangs mit dem Tod. In einem Ort wurde das Gefäß des Verstorbenen, aus dem er zuletzt getrunken hatte, zerschlagen; in anderen gab es Totenkronen entsprechend der Brautkrone, die den Toten mit ins Grab gegeben wurden; in Teilen Hessens war es zum Beispiel üblich, dass man zur Hochzeit sein Sterbehemd bekam; oder man verschenkte einen Sarg zum 50. Geburtstag. Dadurch war der Tod in der Gesellschaft immer im öffentlichen Bewusstsein. Menschen starben ja meist auch viel früher, und der Tod war ein selbstverständlicher Begleiter des Alltags. Dialekte des Sterbens gab es nicht nur in Deutschland, sondern eigentlich europaweit.
Heute verschwinden diese Dialekte, und an ihre Stelle treten Institutionalisierung, Ökonomisierung und Medikalisierung. Aber es wachsen auch Ansätze zu einer neuen Antwort. Blicken wir auf die Hospize. Vor allen Dingen Frauen haben sich damals zu einer Bürgerbewegung zusammengeschlossen und haben Missstände angeprangert wie zum Beispiel, dass sterbende Menschen in Krankenhäusern in Abstellkammern geschoben werden oder dass Menschen alleine zuhause ihrem Lebensende entgegendämmern. Das wollten sie nicht hinnehmen. Daraus ist eine große, bedeutende und schöne Bürgerinnenbewegung entstanden, die heute die erstaunliche Zahl von 80.000 ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern in ganz Deutschland umfasst, so dass, wer eine Begleitung am Lebensende möchte, von solch einem ehrenamtlichen Hospizdienst - jedenfalls im Regelfall - auch eine solche bekommen kann.
Gleichzeitig erlebt die Palliativmedizin, die sich dem Umgang mit dem Sterben widmet, einen großen Aufschwung. Manchmal lässt sich leider sogar ein bisschen Konkurrenz zur Hospizbewegung feststellen. Dennoch haben sich diese beiden Säulen entwickelt, die sich entweder durch ehrenamtliche Arbeit oder durch professionelle Medizin dem Thema Sterben zuwenden. Aber das hat auch einen, wie ich finde, problematischen Aspekt, der dazu führt, dass Sterben gewissermaßen nach den Standards der Weltgesundheitsorganisation in Riga, Frankfurt, London, Rom und in kleinen Dörfern auf dieselbe Weise geschieht: Wohlgemeint mit Schmerztherapie und professioneller Pflege usw., aber gleichzeitig etwas unheimlich, weil es die Menschen in ganz Europa am Lebensende auf das gleiche Muster festlegt, und weil es das, was einmal an Unterschiedlichkeit und kultureller Fantasie gelebt wurde, diesem einen Muster ausliefert. Die Folge ist ein Stück kultureller Verarmung bei gleichzeitigem Wachstum an professioneller Zuwendung. Aber gleichzeitig muss man sich wohl auch am Anfang des 21. Jahrhunderts die Frage stellen, wie soll das in dieser europäischen Gemeinschaft eigentlich weitergehen, wenn wir es mit einer wachsenden Zahl von Hochbetagten, Pflegebedürftigen zu tun bekommen, während gleichzeitig die Zahl der Jüngeren, die pflegen und helfen könnten, eher abnimmt. Und gleichzeitig hören wir immer wieder den Satz, das kostet viel Geld und ist zu teuer. Kürzlich wurde die Idee laut, eine Initiative mit dem Namen McPflege, also eine Billigpflege nach Fastfood-Manier, ins Leben zu rufen. Das ist zunächst noch gescheitert. Aber im Prinzip laufen wir, glaube ich, Gefahr, dass bei dieser großen Zahl von Hochaltrigen und Pflegebedürftigen Modelle auf den Markt zu bekommen, die im Grunde haarscharf neben einer Entsorgung siedeln.
Vor kurzem besuchte ich einen Kongress, auf dem jemand zum Thema Pflege sagte: Also wir müssen die Pflege organisieren wie OBI und Aldi, gute Produkte zu billigen Preisen. Mir laufen bei diesem Gedanken kalte Schauer über den Rücken, ich denke, das kann nicht der richtige Weg sein.
Einen weiteren Aspekt möchte ich hinzufügen, das ist die Demenz. Demente Menschen erleben das Ende ihres Lebens nicht so, wie wir uns das eigentlich wünschen. Sie sind unansprechbar geworden und können mit den sie umgebenden Menschen nicht mehr in Kontakt treten. In den Pflegeheimen Deutschlands sind 60 Prozent der Bewohner an Demenz erkrankt. Diese Krankheit gehört sicherlich zu den größten Rätseln, die wir zu lösen haben. Warum häuft sie sich? Natürlich wissen wir, dass mit zunehmenden Alter die Wahrscheinlichkeit, an Demenz zu erkranken, steigt. Aber ich denke manchmal, dass die Demenz auf eine merkwürdige Weise die Rückseite der Gesellschaft, der Innovation, der Beschleunigung symbolisiert. Vielleicht sind die Demenzkranken diejenigen, die sozusagen die Last der Gesellschaft tragen, vielleicht sind sie so etwas wie Heilige, weil sie genau das Gegenteil von dem sind, was wir alle gerne sein wollen: autonom, entscheidungsfähig etc.
Ich habe mich engagiert in einer Bürgerinitiative mit dem Namen „Aktion Demenz“, in der wir versuchen, das Thema aus der reinen professionellen Pflegesituation herauszuholen und zu sagen, wir brauchen sehr viel mehr zivilgesellschaftliches, bürgerschaftliches Mitwirken, wie es im Hospizbereich vorhanden ist, damit Familien, in denen ein Menschen mit Demenz lebt, nicht alleine gelassen wird. Demenz heißt ja nicht, dass der Kranke von Beginn an regungsunfähig im Bett liegt, sondern er ist lange Zeit imstande, ein schönes Leben zu führen, wenn die gesellschaftliche Unterstützung vorhanden ist. Ich glaube, wir alle müssen darüber nachdenken, ob wir uns aufraffen können, uns bei der Hilfe für solche Familien und Menschen mit einzubringen.
Zum Schluss möchte ich mit dem Thema Sterbehilfe zuwenden, ein Thema, über das in der Gesellschaft häufig diskutiert wird. Vor kurzem wurde öffentlich, dass die Sterbehilfeorganisation Dignitas Sterbewillige sucht. Viele von uns sind der Ansicht, dass es unerträgliche Situationen gibt, die es rechtfertigen, seinem Leben ein Ende zu setzen. Wenn man zum Beispiel vom Halswirbel an gelähmt ist oder wenn man den Verstand völlig verloren hat oder wenn man unter unsäglichen Schmerzen leidet. Das kann man sicher verstehen. Beunruhigend finde ich nur, dass der Druck in Richtung „Tod als Dienstleistung“, also die Möglichkeit, sich irgendwo den Tod zu besorgen, zu kaufen, deutlich wächst. In den Niederlanden und in Belgien existiert ein Euthanasiegesetz, das es erlaubt, sich unter bestimmten Bedingungen töten zu lassen. In der Schweiz gibt es den assistierten Suizid, der dazu geführt hat, dass die Zahl der Touristen, die dort Selbstmord begehen wollen, steigt. Ich würde diese Entscheidung keinem Menschen verbieten wollen. Aber ich fürchte eben, dass da eine Schleuse geöffnet wird. Wenn Sie heute in ein Pflegeheim kommen, ist der erste Satz, der Ihnen entgegenschallt: „Ach, ich möchte niemandem zur Last fallen.“ Das ist neu. Früher haben sich alte, schwache, kranke Menschen das Lebensrecht auf der Erde nicht abstreiten lassen, einfach weil sie darauf gewartet haben, dass Gott sie aus dem Leben ruft. Und solange hatte die Umwelt sie zu tragen.
Und heute geraten wir da hinein, dass wir aufgrund der vielen alten Menschen ein europäisches Euthanasiegesetz bekommen, das zwar nicht direkt sagt, mit so und soviel Jahren oder diesen und jenen Krankheiten wirst du abgeschaltet - so nicht, aber dass gewissermaßen der stille Druck, sich aus dem Leben zu entfernen, weil man ja ohnehin eigentlich nur noch Kostgänger ist, steigt. Irgendwann verteilen sich vielleicht auf ganz Europa Niederlassungen von Euthanasie-Service-Stellen, in denen man sich den Tod kaufen kann. Ich glaube, das wäre eine gefährliche Entwicklung, weil sie auch den Sog für die Menschen, die nicht die Stärke besitzen zu sagen, ich gehöre noch zu den Lebenden, verstärken würde, solch eine Dienstleistung in Anspruch zu nehmen.
Im Ganzen muss man sagen, der moderne flexible Mensch, der den Tod nicht mehr als etwas begreift, was auf ihn zukommt, gerät immer mehr unter den Druck, sein Lebensende zu planen, es als ein Projekt zu betrachten. Wir haben gelernt, dass wir lebenslang lernen müssen, wir haben gelernt, unsere Zukunft zu planen, den Beruf, die Alterssicherung usw. als ein Zukunfts-, Präventions- und Kontrollprojekt zu begreifen. Und ich fürchte, dass gerade dieser letzte Lebensabschnitt immer deutlicher unter den Imperativ gerät, auch noch sein Lebensende ordentlich organisieren zu müssen, man soll Patientenverfügungen ausstellen, man soll sich überlegen, wo man seine letzten Jahre verbringt. Ich denke, dass damit die Möglichkeit, die am Horizont jedenfalls noch zu erahnen ist, den letzten Lebensabschnitt als weitere große Erfahrung zu erleben, den Menschen genommen wird. Natürlich bleibt der tiefe Bruch zu den mittelalterlichen Menschen, die den Tod auf andere Weise als wir fürchteten. Denn der mittelalterliche Mensch fürchtete das Gericht Gottes. Der heutige Menschen versteht das Sterben gewissermaßen als die Verabschiedung von allem, von der Möglichkeit des Konsums, des Sinnens, der Familie und der Arbeitswelt. Dadurch konzentriert sich alles auf diese letzte Lebensphase.
Die Frage, die mich immer bewegt, ist, ob der Satz eigentlich stimmt, dass wir so sterben, wie wir gelebt haben. Dieser Satz kann wie eine Drohung klingen und er scheint, was die äußeren Bedingungen angeht, auch zuzutreffen. Gerade wenn Menschen in Ambulanzen sterben, sind sie noch einmal unterwegs, sie sind in Hektik, noch einmal von Apparaturen umgeben. Aber ich glaube, dass die Sehnsucht steigt nach einem einfachen Sterben, nach einem, das nicht sinnlos medizinisch verlängert ist, in dem die Möglichkeit der Verabschiedung und der guten Freundschaft mit Menschen gegeben ist. Das ist etwas, was Hospize ja versuchen zu realisieren. Das gelingt ihnen manchmal, glaube ich, ganz gut. Im Ganzen, denke ich, ist die Zukunft dieser europäischen Kultur sehr deutlich an der Frage zu messen, ob dieses Europa mit seinen Hochaltrigen gut umgeht, ob es zu dem Thema Sterben andere als sozialtechnische Lösungen finden wird.
Reimer Gronemeyer: Das 4. Lebensalter . Demenz ist keine Krankheit
Online-Publikation: Februar 2013 im Internet-Journal <<kultur-punkt.ch>>
Ereignis-, Ausstellungs-, AV- und Buchbesprechung
Buch : 304 S., Hardcover, ISBN 978-3-629-13010-5; € 19,99
E-Book : 304 S.; ISBN 978-3-426-41631-0; € 17,99
Droemer Knaur / MensSana / O.W.Barth, Berlin; www.droemer-knaur.de; http://mens-sana.de; www.pattloch.de
Inhalt
Prominente wie Rudi Assauer, Tilman Jens und Arno Geiger haben die Öffentlichkeit wachgerüttelt – nun liefert Reimer Gronemeyer den Hintergrund zu einer längst überfälligen Debatte: Sein Buch "Das vierte Lebensalter" beschreibt den schwierigen Alltag dementer Menschen und ihrer Angehörigen und prophezeit eine soziale Kernschmelze: In unserer alternden Gesellschaft werden immer mehr Menschen dement, ihre Familien sind immer weniger in der Lage, diese Menschen aufzufangen, und die Kosten für ihre Betreuung explodieren. Reimer Gronemeyer fordert einen Perspektivwechsel. Seine These: Mit medizinischer Forschung werden wir das Problem nicht lösen! Was wir brauchen, ist eine Strategie gegen die sozialen Folgen von Demenz. Denn wir wissen nicht, wodurch Demenz ausgelöst wird – aber wir wissen, dass es jeden treffen kann.
Autor
Reimer Gronemeyer, Jahrgang 1939, war als promovierter Theologe zunächst Pfarrer in Hamburg, bevor er sich der Soziologie zuwandte. Seit 1975 hat er einen Lehrstuhl für Soziologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen inne. Seine Publikationsliste umfasst mehr als 30 Buchtitel; u.a. "Sterben in Deutschland", "Kampf der Generationen" und "Wozu noch Kirche?" Reimer Gronemeyer hat sich in den vergangenen Jahrzehnten in zahlreichen Initiativen, Expertengruppen und Organisationen mit den Themen Aidsbekämpfung, Palliativ-Medizin, Hospizbewegung sowie Demenz beschäftigt. Derzeit ist er Vorstandsvorsitzender der Aktion Demenz e.V. und ein viel gefragter Redner auf Tagungen und Kongressen. 2012 ist bei Pattloch sein jüngstes Buch "Der Himmel. Sehnsucht nach einem verlorenen Ort" erschienen.
www.reimergronemeyer.de
Fazit
Reimer Gronemeyer zitiert in seinem Buch " Das 4. Lebensalter. Demenz ist keine Krankheit" eingangs Michel Foucault mit der Erkenntnis: " Unsere Gesellschaft will in dem Kranken, den sie verjagt oder einsperrt, nicht sich selbst erkennen; sobald sie die Krankheit diagnostiziert, schliesst sie den Kranken aus". So folgert Gronemeyer mit Recht dass Demenz keine Krankheit ist, sondern fehlende Selbsterkenntnis, dass es auf den Diagnostiker selbst zutreffen kann - auch wenn irgendwann.
So sagt er, dass wir eine andere Perspektive brauchen, bei Digitaler Demenz (Spitzer) / Alters Burn-out, in der Pflegeindustrie / Ins Bett pflegen, in den Händen der Experten zum zerpflegten Alter. Schliesslich fragt er: Vielleicht sind im Scheitern die Lichter der Hoffnung zu erkennen? Aber nur vielleicht - ein unverzichtbares Fragebuch zur Demenz. m+w.p13-2