Franz Josef Wetz: Das Prinzip der Selbstachtung

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F.J. Wetz: Wetz: Prinzip Selbstachtung
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SWR2 Wissen: Aula -  . Anleitung für die Arbeit an sich selbst
Sendung: Sonntag, 17. Mai 2015, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
Produktion: SWR 2015
Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
Service:

AUTOR
Franz Josef Wetz, geb. 1958, studierte Philosophie, Germanistik und Theologie 1989 Promotion im Fach Philosophie, 1992 Habilitation. Von 81 bis 93 war Wetz u. a. beschäftigt am Zentrum für Philosophie in Gießen als wissenschaftlicher Mitarbeiter, seit 1994 ist er Professor für Philosophie an der Pädagogischen Hochschule im Schwäbisch-Gmünd.
Forschungsschwerpunkte:
Hermeneutik, Ethik, Kultur- und Naturphilosophie mit der Frage, welche Konsequenzen haben die modernen Naturwissenschaften für das Selbst- und Weltbild.
Bücher:
- Rebellion der Selbstachtung – Gegen Demütigung. Alibri. 2014.
- Endlichkeitsphilosophisches – Über das Altern. (mit Odo Marquard). Reclam. 2013.
- Lob der Untreue: Eine Unverschämtheit. Diederichs. 2011.


ÜBERBLICK
Alle kennen das Gefühl: Irgendetwas stimmte jetzt gerade nicht, irgendwie bin ich soeben nicht korrekt behandelt worden und spüre den Drang aufzubegehren. Aber wie lässt sich dieses Bauchgefühl genauer fassen? Kann und muss man sich hier auf den schwierigen und philosophischen Begriff der Menschenwürde beziehen? Oder geht es auch ganz ohne metaphysischen Ballast? Franz Josef Wetz, Professor für Philosophie, zeigt, welche persönlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit Selbstachtung sich entwickeln kann, und wodurch sie bedroht wird.

INHALT
Ansage:
Mit dem Thema: „Das Prinzip der Selbstachtung - Anleitung für die Arbeit an sich selbst“.
Ohne Selbstachtung fehlt die Basis für ein zufriedenes Leben, wer sein eigenes Ich, sein Leben mit den Füßen tritt – um es pathetisch auszudrücken – wird sein Glück nicht finden können.
Doch wie baut man Selbstachtung auf? Benötigt man dazu Metaphysik, Religion, benötigt man dazu Hilfe aus dem platonischen Ideenhimmel? Oder geht es auch ganz ohne Idealismus?
Franz Josef Wetz, Professor für Philosophie an der PH Schwäbisch-Gmünd, zeigt, wie sich Selbstachtung entwickeln kann und durch welche gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten sie gefährdet wird-

Franz Josef Wetz:
Wir alle kennen das Gefühl: Irgendetwas stimmt gerade nicht, irgendwie werde ich soeben unkorrekt behandelt. Und ich spüre ein tiefes Unbehagen, ja einen Widerstand in mir, den Drang aufzubegehren, mich zu wehren, zu protestieren. Aber wie lässt sich dieses Bauchgefühl, das zu diesem Unbehagen führt, genauer fassen? Was wird durch diese unkorrekte Behandlung durch andere Personen in mir unangenehm, ja peinlich berührt, erschüttert, so in Frage gestellt, dass ich rebellieren möchten?
Es ist meine Selbstachtung, der verhältnismäßig gute Ruf, den man bei sich selbst genießt. Von allen Meinungen, die man hat, ist keine so wichtig wie die über einen selbst. Sich selbst zu achten heißt, sein Leben für sich als wertvoll zu bejahen. Und das bedeutet, mein Dasein als der Mühe wert zu halten, die es mir selbst und den anderen bereitet. Selbstachtung gibt jedem Einzelnen das Gefühl: Du zählst.
Was Selbstachtung ist, erfahren wir im Alltagsleben oft erst dann, wenn sie bedroht oder schon beschädigt ist. Obwohl man die eigene Selbstachtung zuvor vielleicht noch nie gespürt hat, geschweige denn hierüber philosophiert oder nachgedacht hat, können schon ein verächtlicher Blick auf der Straße, der dümmlich-belehrende Ton eines Vorgesetzten oder die herablassende Geste des Mitleids, die einen die eigene Hilflosigkeit spüren lassen, die eigene Selbstachtung offenbaren.
Häufig findet sich unsere Selbstachtung mit solchen Herabsetzungen aber nicht ab, ja sie begehrt hiergegen auf gemäß dem Motto: Hier tritt mir jemand zu nah, muss ich mir das gefallen lassen, ich habe doch auch meinen Stolz. Selbstachtung dient der menschlichen Selbstbehauptung in einer Welt, die es nicht immer gut mit uns meint. Menschliches Leben ist manchmal mühsam, oftmals sorgenvoll, des Gelingens niemals sicher. Alle Leichtigkeit des Lebens muss einer ursprünglichen Beschwerlichkeit abgerungen werden. Niemand erfreut sich nur an seinem Leben, sondern ein jeder hat ebenso schwer daran zu tragen. Dem Ernst des Lebens kann keiner von uns zu jeder Zeit ein Schnippchen schlagen.
Und die Selbstachtung? Sie ist ein wichtiger Stützpfeiler, der einen wesentlichen Beitrag dazu leistet, dass man sich nicht unterkriegen lässt, dass man nicht untergeht. Sie ist sogar so etwas wie eine existentielle Notwendigkeit. Denn nur wer über eine starke Selbstachtung verfügt, kann schlecht behandelt werden, ohne sich deshalb gleich erniedrigt fühlen zu müssen. Wie ein intaktes Immunsystem stärkt die Selbstachtung die Widerstandskraft des Einzelnen im Umgang mit den Widrigkeiten des Lebens. Sie macht weniger anfällig für Verletzungen, die Sabotagen des Alltagslebens. Die Überzeugung vom eigenen Wert ist so eine elementare Lebenskraft. Sie befähigt den Einzelnen, mehr Verantwortung für sein Dasein zu übernehmen, Neues anzupacken, am Reichtum des Lebens zu wachsen.
Doch woher kommt die Selbstwertschätzung, die Selbstachtung? Die Religion bezieht die Selbstachtung auf die Gott-Ebenbildlichkeit des Menschen. Als herausragendes Geschöpf Gottes soll sich der Mensch achten. Die Soziologen wiederum versuchen die Selbstachtung allein auf soziale Anerkennung zurückzuführen. Natürlich spielt gegenseitige Wertschätzung für die eigene Selbstachtung eine wesentliche Rolle. Nur wer geachtet werde und andere achte, könne auch sich selbst achten, heißt es. Dennoch liegt, näher betrachtet, weder in Gott noch in meinem Nächsten der eigentliche Ursprung unserer Selbstachtung. Näher betrachtet ist sie keimhaft bereits im biologisch entschlüsselten Selbsterhaltungsstreben des Menschen angelegt. Normalerweise hängt jeder Mensch von Natur aus am Leben und richtet geradezu automatisch seine Kräfte auf die eigene Erhaltung. Bei bewusstem Leben wie dem menschlichen drückt dieser Überlebenswille bereits eine Selbstwertschätzung aus, ziehen doch die Menschen hierdurch ihr Dasein ihrem Nichtsein vor. Das heißt, wir bejahen unser Leben als wertvoll. Bewusstes Leben ist immer ein Drang nach mehr Leben. Und als dieser Drang nach mehr Leben ist es immer mehr als leben, nämlich ein Wert für dieses Leben selbst. Das Leben bewertet sich durch diese Bejahung selbst. Und diese Selbstbejahung ist eine Urform der Selbstachtung.
In diesem Sinne ist die Selbstwertung bereits in der Selbsterhaltung, in der biologisch entschlüsselten Selbsterhaltung verankert. Aber wenn es so einfach wäre, müssten wir nicht weiter darüber reden. Denn mit dem Selbsterhaltungsstreben ist zwar bereits die Selbstachtung gegeben, aber sie bleibt immer brüchig. Weil zum menschlichen Dasein von vorneherein auch ein Bewusstsein unserer Geringfügigkeit, unserer Nichtigkeit, unserer Zerbrechlichkeit gehört. Dieses Bewusstsein ist mehr oder weniger stark ausgeprägt und hängt von vielerlei Faktoren ab. Manche Menschen sind vom Typ her schon sehr verletzlich und selbstkritisch. Sie trauen sich nichts zu, weil sie gleichsam von Natur aus ein schwaches Selbstwertgefühl besitzen. Wenn überdies noch Kritik oder Versagen hinzukommt, kann die Selbstachtung leicht beschädigt werden. Manche bleiben ein Leben lang im Wartesaal der unerfüllten Versprechen sitzen.
Mit Vorliebe wird gerade an schwachen Bürgern das Fehlerhafte und Abweichende aufgespürt. Man wittert ihre Andersartigkeit wie Schimmel auf dem Brot, noch bevor er überhaupt aufgetreten ist. Die Zahl der gedankenlosen Menschen ist groß. Und wenn die soziale Umwelt jegliche Wertschätzung verweigert, kann dann, so stellt sich doch die Frage, die Wertschätzung, die Selbstachtung dann wirklich noch weiter bestehen?
Es ist nahezu unmöglich, Entrechtung, Schändung, Entmenschlichung nicht als Demütigungen zu erleben. Trotzdem gibt es, so möchte ich es einmal nennen, Virtuosen der Selbstachtung, die sogar unter den widrigsten Umständen ihr Gefühl für den eigenen Wert behalten. Diese können sich weiter wertschätzen, weil sie die unmenschliche Außenperspektive nicht in ihre persönliche Innenperspektive übernehmen. So war es etwa bei den Farbigen in den 50er-Jahren in den USA, als man ihnen in öffentlichen Verkehrsmitteln einen Sitzplatz vorenthielt. Sie waren in ihrem Selbstwertgefühl gedemütigt, aber sie behielten ihre Selbstachtung dennoch. Oder ein extremes Beispiel: Lagerinsassen in Konzentrationslagern wurden völlig entrechtet, entmenschlicht, aber viele von ihnen behielten dennoch ihre Selbstachtung, ihren Stolz.
Natürlich sind nicht alle von uns hierzu imstande. Im normalen Alltag können schon abfällige Redensarten, hämischer Spott dem Einzelnen etwas abhaben. Deshalb darf es auch nicht weiter verwundern, wenn in brutalen Grenzsituationen unsere Selbstachtung gefühlter Erbärmlichkeit weicht. Um dem widerstehen zu können, bedarf es einer starken Persönlichkeit, einer starken Natur, einer angemessenen Sozialisation, unter Umständen vielleicht auch der Religion. Da drängt sich eine weitere Frage auf: Ist denn Religion wirklich der Selbstachtung immer zuträglich? Oder auch bisweilen abträglich?
Glaubensbekenntnisse, das kann man zugestehen, sind in der Regel der Selbstachtung förderlich, weil sie den Menschen als einen aus der Natur herausragendes Wesen ansehen. Als solches soll der Mensch ja bereits einen Wert an sich darstellen, weil er von Gott besonders gewollt und gewürdigt wird. Mit solchen Lehren verhindern die Menschen, dass sie gering über ihr Leben denken, so nichtig es auch in den kosmischen Weiten des Universums erscheint. In dem Maße aber, wie die Religion den Menschen als Sünder darstellt, als lasterhaftes elendes Geschöpf etwa, das Gottes Güte überhaupt nicht verdiene, schwächen sie wieder seine Selbstachtung.
Allerdings hängt für gewöhnlich die Aufrechterhaltung unserer Selbstachtung nicht so sehr von solchen Ideen ab. Vielmehr hängt sie ab von realen Faktoren wie soziale Anerkennung und garantierten Rechten. In der Regel sind solche Lebenshilfen wirksamer und fassbarer als die diffuse Vorstellung der Gott-Ebenbildlichkeit.
Nun ist die Selbstachtung zweifellos existentiell unverzichtbar, um das Leben besser meistern zu können. Nur ein ethischer Selbstwert ist sie deshalb noch lange nicht. So merkwürdig es klingt, es gibt auch ungerechtfertigte, ja gefährliche Formen der Selbstachtung. Manche Menschen gründen ihre Selbstachtung zum Beispiel auf die Ausübung von Zwang, das Quälen und Demütigen anderer Personen: Führer von Jugendband schikanieren manchmal andere und sind ganz stolz auf sich. Sie achten sich deshalb besonders stark. Despoten gibt es überall auf der Welt. Aber statt sich zu achten sollten sich solche Personen vielmehr schämen.
Das wirft die Frage nach den Bedingungen auf, wann Selbstachtung ethisch zulässig und wann sie ethisch ungerechtfertigt ist. Es genügt nicht einfach, sich zu achten. Man muss auch einen guten Grund haben, sich zu achten. Islamistische Terrormilizen beispielsweise üben blutige Gewalttaten aus, welche die Rechte anderer Menschen auf körperliche Unversehrtheit verletzen und sich gegen freiheitliche Selbstbestimmung richten. Ihr entschlossener Kampf für eine heilige
Sache hebt mit Sicherheit ihr Selbstwertgefühl. Doch obwohl sich die brutalen Gotteskrieger hierdurch besser achten können, haben sie aus ethischer Sicht keinerlei Grund zur Selbstachtung, sondern vielmehr einen guten Grund, vor Scham im Erdboden zu versinken.
Ein weniger krasses Beispiel: der Schmeichler, der durch unterwürfige Gesten um die Gunst, das Wohlwollen der ihm überlegenen Person buhlt und um des beruflichen Fortkommens willen buckelt, sich verbiegt, vielleicht anderen Kollegen in den Rücken fällt, sie schlecht macht, nur um weiterzukommen. Und wenn er denn weiterkommt, dann hat er ein gesteigertes Selbstwertgefühl, eine große Selbstachtung, aber eine Selbstachtung, die auf sehr wackeligem Boden steht. Er hat eigentlich keinen Grund zur Selbstachtung, selbst wenn die erlangte berufliche Position ihn weitergebracht haben sollte.
Noch ein drittes Beispiel, das den Unterschied zwischen Selbstachtung und gutem Grund für Selbstachtung deutlich macht: Aus aufgeklärt ethischer Sicht haben Muslimas mit Burka, Nikab, Tschador einen guten Grund sich eigentlich gedemütigt zu fühlen. Aber sie nehmen Burka, Nikab und Tschador nicht als Verletzung ihrer Selbstachtung wahr, weil sie, das muss man sagen, auf raffinierte Weise dazu verführt wurden, ihre Ungleichstellung den Männern gegenüber als normal und natürlich zu empfinden, ja als gottgewollt. So gelang es den Ordnungsmächten, vor allem den Männern, die Frauen unmerklich zu Komplizen ihrer Unterdrücker zu machen. Dagegen wäre Selbstachtung und ist Selbstachtung ethisch gerechtfertigt, zum Beispiel überall dort, wo sie zu Aufständen gegenüber autoritären Staatsführern, machtbesessenen Diktatoren, Korruption und Unterdrückung führt. In den letzten Jahren begehrten weltweit Menschen gegen Bevormundung auf. In kollektiven Aktionen, häufig über das Internet organisiert, empörten sich die Betroffenen über Unterdrückung und Diskriminierung. Denken Sie an den doch teilweise missglückten Arabischen Frühling, denken Sie an die Türkei und Brasilien 2013, denken Sie an die Ausschreitungen der Schwarzen in den USA von 2014 (Ferguson) und 2015 (Baltimore). Hier wie dort haben wir es mit Revolten der Selbstachtung zu tun. Die Bürger fühlen sich von der Ordnungsmacht nicht ernst genommen, was sie nicht widerspruchs- und widerstandslos hinnehmen wollen. Ihre Selbstachtung rebelliert, und diese Selbstachtung lässt sich aus Sicht eines aufgeklärten wohl informierten Schiedsrichters mit gutem Willen ethisch rechtfertigen.
Nun stellt sich die Frage, ob es denn bei uns schon genügt, dass es Bürger- und Menschenrechte gibt, damit sich die Menschen selbst achten können, ob es schon genügt, dass dadurch Selbstachtung garantiert wird. Die Bürger- und Menschenrechte leisten freilich einen unverzichtbaren Beitrag zur Stärkung der Selbstachtung, den die Bürger hierzulande leider nicht immer angemessen wertschätzen, weil sie ihnen zu selbstverständlich geworden sind. Allerdings erfordert Selbstachtung mehr als nur die Erfüllung liberaler Rechte, d. h. sich frei entfalten zu dürfen, oder politischer Rechte, d. h. ein Wahlrecht besitzen zu dürfen, oder soziale Rechte: eine gewisse Grundsicherung genießen zu dürfen.
Zusätzlich beeinflusst auch das soziale Umfeld die eigene Wertschätzung auf durchaus merkliche Weise: Liebe, Freundschaft, Lob, gegenseitige Anerkennung, gesellschaftliche Anerkennung, auch Bewunderung für erbrachte Leistungen in Schule oder Beruf und gute Eigenschaften wie gutes Aussehen oder hohe Intelligenz können und sind der Selbstachtung durchaus förderlich. Natürlich erfüllen wir nicht
alle diese Bedingungen, so dass wir in der Frage der Selbstachtung sicherlich so etwas wie eine existentielle Mischkalkulation besitzen. Das heißt, in der einen Hinsicht wird unsere Selbstachtung beschädigt: Da sind wir nicht so gut, da versagen wir. Das können wir aber durch Erfolge in einer anderen Hinsicht, in anderer Beziehung wieder ausgleichen, wodurch die Selbstachtung gefördert wird. So hat man vielleicht beruflich nichts aus sich gemacht, verspürt aber dennoch keinen Mangel an Selbstachtung, weil man z.B. attraktiv aussieht. Oder man geht einer Tätigkeit mit geringem Ansehen nach, kann sich aber dennoch gut achten, weil man seine Familie gut versorgen kann. Dummheit kann man möglicherweise durch sportliche Verdienste ausgleichen, am Selbstwert nagende Hässlichkeit unter Umständen durch wissenschaftliche, künstlerische oder andere Leistungen.
Darüber hinaus ist natürlich auch in unserer westlichen Wohlstandskultur, von solchen möglichen Beschädigungen und möglichen Steigerungen der Selbstachtung abgesehen, die Selbstachtung allein schon durch den vorherrschenden Individualismus eine große Herausforderung. Der moderne Individualismus macht den Einzelnen zum Unternehmer seines Daseins, das er selbst in die Hand nehmen muss. Die heutige Leistungs- und Spaßgesellschaft bürdet ihren Bürgern ein hohes Maß an Selbstverantwortung auf. Jeder sei seines Glückes Schmied. Nur wer vom Wert seiner eigenen Existenz überzeugt ist, zeigt sich diesem Druck gewachsen. Der dennoch auch leicht zu Gefühlen der Unzulänglichkeit und Überforderung führen kann. Regelmäßig kriechen Selbstzweifel, Versagens- und Absturzängste die Werkshallen und Bürotürme hoch. Die existentielle Irritation, welche das Verfehlen der erstrebten Ziele auslöst, kann beschämen und demütigen. Sie kann Gefühle eigener Wertlosigkeit hervorrufen, die sich bisweilen in eine nervöse Selbstablehnung oder schmerzhafte Selbstanfeindung verkehren können.
Der auf beruflichen Erfolg und sinnliche Vergnügen getrimmte Individualismus der heutigen Zeit bringt ganz spezifische Gefährdungen der Selbstachtung hervor. Diese werden gerade auch bei uns in der West-Kultur verstärkt durch ökonomische Zwänge. Demografischer Wandel, Globalisierung der Märkte, Innovationsbeschleunigung in Technik und Wirtschaft haben die Überzeugung hervorgebracht, dass die Bevölkerung den großen Herausforderungen bis ins hohe Alter gewachsen sein müsse, weil andernfalls unsere Wettbewerbsfähigkeit nicht mehr gewährleistet sei. Viele von uns lassen sich solche positiven Einschätzungen ja gerne gefallen, weil sie unserem Selbstwertgefühl schmeicheln. Bis ins hohe Alter sind wir voll leistungsfähig, voll vergnügungsfähig. Mit großer Energie stürzen wir uns dann auch in Arbeit und Vergnügen. Die moderne Gesellschaft möchte diese Verbindung von Erfolg und Lebenslust mit dem Selbstwertgefühl seiner Bürger. Weil hohe Selbstwertschätzung ja bedeutet, dass der Einzelne dann auch mehr Einsatz aufbringt, dass er Engagement zeigt, dass er sich um seine Vitalität bemüht, der Wettbewerbsfähigkeit standhält. Umgekehrt rufen höhere Leistungen und intensivere Vergnügungen höhere Selbstachtung hervor. So verstärken sich die verschiedenen Seiten alle wechselseitig.
Allerdings – und darin liegt nun eine große Gefahr – ist der Glaube an die lange Leistungsfähigkeit, an die lange Vergnügungsfähigkeit damit verbunden, dass es schnell zu einer Überforderung kommen könnte. Wer nicht mitkommt, scheitert oder unterliegt, und die Gefahr ist groß die Gründe seiner Unzulänglichkeit schnell in der eigenen Person zu sehen, wodurch die Selbstachtung natürlich Schaden nehmen kann.
Nun ist es genau zehn Jahre her – 2005, dass Hartz IV die frühere Bundessozialhilfe ablöste. Wie die ehemalige Arbeitslosenhilfe soll die vergleichsweise geringere Grundsicherung für Arbeitssuchende den Betroffenen dennoch Betteln und Almosen ersparen, gemäß dem Grundsatz: Anonyme Zuwendungen demütigen und beschämen weniger als persönliche Mildtätigkeit. Der Wohlfahrtsstaat wurde auch darum ins Leben gerufen, um das erniedrigende Element der Armenfürsorge auszuschalten. So gesehen ist dem Staat die Selbstachtung seiner Bürger wichtig. Trotzdem bieten rechtlich garantierte Sozialleistungen dem Empfänger nicht automatisch die Hilfe, die er benötigt, um seine angegriffene Selbstachtung wiedererlangen zu können.
Denn für gewöhnlich bedeutet doch Hartz IV soviel wie Armut, die angesichts des relativen Wohlstands breiter Bevölkerungsgruppen leicht ein Gefühl des Nichts-Wert-Seins oder des Nicht-Dazugehörens hervorrufen kann. Hinzu kommt, dass die Hartz-Regelungen dazu führen, dass auch eine Reihe von Vollzeit-Jobbern, sogenannte "Aufstocker", weiterhin auf staatliche Unterstützung angewiesen bleiben und Leiharbeiter bei gleicher Tätigkeit wie regulär Beschäftigte teilweise deutlich geringer verdienen. Möglicherweise bleiben Hartz IV-Empfänger sogar auf den Teller Suppe aus der "Tafel" angewiesen, was ihre Selbstachtung weiter herunterzupegeln vermag. So betrachtet, scheint dem Staat die Selbstachtung seiner Bürger nicht so wichtig zu sein.
Andererseits, könnte man noch als dritten Punkt hinzufügen, wäre ihre Selbstachtung vielleicht noch mehr im Keller, wenn keine Unterstützungen gegeben würden und sie überhaupt keinen Job hätten. Die Tatsache, dass viele Menschen hierzulande auch durch die Hartz IV-Regelungen wieder einer Erwerbstätigkeit nachgehen dürfen, scheint deren Selbstachtung zu heben. Auch die Einführung eines Mindestlohns kommt der Selbstachtung zugute. Der Selbstachtung besonders zuträglich sind natürlich Hilfsmaßnahmen, wenn sie den Einzelnen dazu befähigen, sein Leben wieder selbstständig zu führen.
Menschen mit fehlender Grundbildung sind von sozialer Ausgrenzung besonders betroffen. Bildung ist in unserer Wissensgesellschaft nicht mehr nur ein der Selbstachtung förderliches Kulturgut, sondern mittlerweile auch eine der Selbstachtung zuträgliche Sozialleistung. Die Frage, ob dem Staat, der Hartz IV einführte, die Selbstachtung seiner Bürger nun ein ernstes Anliegen ist, lässt sich also nicht mit einem klaren Ja oder Nein beantworten. Die Antwort fällt in jedem Falle ambivalent aus: in der einen Hinsicht ja, in der anderen Hinsicht nein.
Was aber an alledem deutlich wird im Zusammenhang von Wohlfahrtsrechten ist, dass es problematisch sein kann, auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen zu sein. Mitleid ist ein solcher Fall. Mitleid ist ja eine ethisch hochstehende Tugend, aber Mitleid kann, so merkwürdig es klingt, die Selbstachtung angreifen. Mitleid, Mitgefühl, Unterstützung können Bedürftige kränken, Notleidende beschämen, können Stigmatisierte erbittern, weil ihnen die eigene Unterlegenheit, die eigene Abhängigkeit und Hilflosigkeit durch Mitleid, Mitgefühl und Unterstützung drastisch vor Augen geführt wird. Der eigene Stolz erträgt es nicht, Zeugen seiner Erbärmlichkeit zu haben.
Aber wie ist denn dann Mitleid, Mitgefühl, Unterstützung ohne Beschämung möglich? Ist es denn überhaupt möglich? Nun, es ist möglich, indem man Menschen hilft, ohne ihnen das Gefühl zu geben, geholfen bekommen zu haben. Man gebe, als gäbe man nicht. Allerdings schließt diese Zurückhaltung, diese Diskretion aus Respekt vor dem Anderen dessen freundliche Dankbarkeit gegenüber aufrichtigen Wohltätern keineswegs aus. Selbst das stärkste Leben prägen bisweilen Zeichen der Unzulänglichkeit und Gebrechlichkeit.
Kommen wir zum Schluss: Aus dem Vorherigen ist deutlich geworden, Selbstachtung ist eine natürliche Mitgift des menschlichen Daseins, die unterschiedlicher sozialer Hilfestellungen und Unterstützungen bedarf. Weil sie infolge unserer Defizite und Schwächen immer gefährdet bleibt. Sie steht niemals auf festem Grund. Demütigungen im häuslichen Bereich, etwa in der Familie, in der Partnerschaft, aber auch im gesellschaftlichen und politischen Bereich sind jederzeit möglich. Andererseits sind es gerade Demütigungen, die eine Revolte der Selbstachtung entfachen, ein Aufbegehren. Niemand findet sich ohne Weiteres mit Bevormundung, Spott und sonstigen Erniedrigungen ab. Stattdessen möchte jeder mit Respekt behandelt werden, schon weil ihm seine Selbstachtung, die ihm als natürliche Mitgift gegeben ist, unweigerlich Anspruch hierauf erhebt oder weil sie erst so, in der gegenseitigen Wertschätzung durch andere, richtig zum Aufblühen kommt.
Aber nicht jede Selbstachtung kann gutgeheißen werden. Beruht die Selbstachtung auf ethisch anstößigen Voraussetzungen, ist sie selbst fragwürdig. Solche anstößigen Voraussetzungen wären: verlogenes Schmeicheln, unterwürfiges Kriechen, überhebliche Arroganz, grausame Unterdrückung, Bevormundung und ähnliches andere mehr. Aus dem allem wird deutlich: Selbstachtung mag eine natürliche Vorgabe sein, sie ist immer auch eine existentielle Aufgabe, ja mehr noch: eine ethische Herausforderung.
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- Lob der Untreue: Eine Unverschämtheit. Diederichs. 2011.