Gerald Hüther : Ein neues Gemeinschaftsprojekt . Warum Erziehung nicht nur Sache der Eltern ist

huether-gemeinschaftsprojekt13-5

SWR2 Wissen Aula - Gerald Hüther : Ein neues Gemeinschaftsprojekt . Warum Erziehung nicht nur Sache der Eltern ist
(Abschrift eines frei gesprochenen Vortrags)
Ein neues Gemeinschaftsprojekt
Warum Erziehung nicht nur Sache der Eltern ist
Autor und Sprecher: Professor Gerald Hüther *
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
Sendung: Sonntag, 5. Mai 2013, 8.30 Uhr, SWR 2
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen
Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.


* Zum Autor:
Professor Gerald Hüther, Jahrgang 1951, leitet die Abteilung für neurobiologische Grundlagenforschung an der Psychiatrischen Klinik der Universität Göttingen. Er hat in Leipzig Biologie studiert und dort auch promoviert. Die Habilitation folgte im Jahr 1988 im Fach Neurobiologie. Hüther baute als Heisenberg-Stipendiat von 1989 bis 1994 die Abteilung für neurobiologische Forschung an der Universitätsklinik Göttingen auf. Er versteht sich als Mittler zwischen Wissenschaft und Bürger, als Brückenbauer zwischen wissenschaftlicher Forschung und gesellschaftlicher bzw. individueller Lebenspraxis.

Bücher (Auswahl):
- Kommunale Intelligenz: Potentialentfaltung in Städten und Gemeinden. Edition Körber Stiftung. 2013.
- (zus. mit Maik Hosang) Die Freiheit ist ein Kind der Liebe. Kreuz-Verlag. 2. Aufl. 2012.
- Jedes Kind ist hochbegabt. Albrecht Knaus Verlag. 2012.
Website: www.gerald-huether.de
 

ÜBERBLICK
Ein berühmtes afrikanisches Sprichwort sagt: Um ein Kind zu erziehen, braucht man ein ganzes Dorf. Das heißt: Nicht nur die Eltern spielen eine wichtige Rolle, sondern auch "externe" Bezugspersonen wie Lehrer, Freunde, Nachbarn. Das gilt erst recht, wenn Familien mit der Erziehung überfordert sind, wenn Eltern ihren Kindern etwa aus finanziellen Gründen nicht das Rüstzeug mitgeben können, um eine gute weiterführende Schule zu besuchen. Hier kann die Gemeinschaft auf den Plan treten und Defizite beheben. Wie das funktioniert, erklärt der Göttinger Hirnforscher Professor Gerald Hüther.

 

INHALT
Ansage:

Ich würde gerne mit Ihnen über ein Thema reden, das bisher in der öffentlichen Debatte in dieser Art und Weise, wie wir das heute anfassen wollen, keine große Rolle gespielt hat. Es geht um die Kommunen, unsere Städte und Gemeinden. Das Thema, was ich gerne mit Ihnen besprechen möchte, heißt „kommunale Intelligenz, Potenzialentfaltung in Städten und Gemeinden". Wer zu spät aufwacht, den bestraft das Leben, das gilt für jeden Einzelnen ebenso wie für das Gemeinwesen, die Stadt oder das Dorf, also für die Kommune, in der wir leben und in der unsere Kinder heranwachsen. Wenn Sie nun selbst einmal wissen wollen, wie spät es in Ihrer Kommune bereits ist, dann fragen Sie doch einmal die Kinder und Jugendlichen , wer von ihnen später einmal gerne in dem Dorf oder in der Stadt bleiben will, in der sie aufgewachsen sind, wer nach der Ausbildung weiter dort wohnen, arbeiten, eine Familie gründen und Kinder aufziehen möchte.
Die Antworten, die Sie bekommen, werden Ihnen wahrscheinlich die Augen für ein Problem öffnen, das Sie lösen müssen – wenn Sie möchten, dass Ihre Kommune eine Zukunft hat. Es gibt wenig Grund zu hoffen, dass vor allem diejenigen, die diese Zukunft später einmal gestalten könnten, nach ihrer Ausbildung wieder zurückkommen in ihre Kommune. Mit anderen Worten, wenn es so weiter geht und nichts getan wird, wird Ihr Dorf oder Ihre kleine Stadt im Verlauf der nächsten Jahrzehnte zu einem Altersheim. Dann würde alles, was Sie mit anderen Bürgern in Ihrem Dorf oder in Ihrer Stadt geschaffen haben, wofür Sie sich eingesetzt haben und was Sie aufgebaut haben, jeden Wert verlieren. Es wäre alles sinnlos.
Es ist aber vielleicht noch nicht zu spät, um das Ruder noch herumzureißen. Wenn Sie solch einen Kurswechsel versuchen wollen, dann wird das nur durch den Aufbau einer neuen Beziehungskultur in Ihrer Kommune gelingen. Das müsste eine Beziehungskultur sein, die von gegenseitiger Wertschätzung und Anerkennung der Bemühungen eines jeden Mitbürgers geprägt ist, eine Beziehungskultur, die die Anliegen von Kindern und Jugendlichen in den Mittelpunkt aller Überlegungen stellt und alle kommunalen Maßnahmen darauf ausrichtet, dieser nachwachsenden Generation die Möglichkeit zu bieten, sich mit dem, was in Ihrer Kommune geplant, entschieden und gestaltet wird, zu identifizieren, sich also dort wirklich beheimatet zu fühlen.
Unter Einbeziehung der kommunalen Bildungseinrichtungen, der Schulen und Kindergärten, und unter der kompetenten Betreuung durch erfahrene Praktiker müssten Kinder und Jugendliche vielfältige Aufgaben auf allen Ebenen des kommunalen Lebens finden, an denen sie wachsen, neue Erfahrungen sammeln, Anerkennung finden und zur Bereicherung des sozialen Lebens beitragen können.

Wir haben ja im Augenblick in vielen Bereichen unserer Gesellschaft überall das gleiche Problem. Nicht nur die Wirtschaft, auch Städte und Gemeinden erleben gegenwärtig, dass man in einer Welt begrenzter Ressourcen einfach nicht unbegrenzt weiter wachsen kann. Albert Einstein hatte zwar schon vor längerer Zeit darauf hingewiesen, dass sich die Probleme, die wir mit bestimmten Strategien unseres Denkens erzeugt haben, nicht mit denselben Denk- und Vorgehensweisen beheben können. Und dennoch lautet die vorherrschende Devise der Bekämpfung der inzwischen auf allen Ebenen unserer gesellschaftlichen Entwicklung zutage tretenden Schwierigkeiten: noch mehr vom Alten, noch mehr Einsparungen bei gleichzeitiger Forderung nach noch mehr Wachstum. So werden sich die Probleme unseres Bildungs- und Gesundheitssystems, unserer sozialen Absicherungssysteme, unseres Finanzwesens und Politikbetriebes wohl nicht beheben lassen. In diesem Malstrom ständig wachsender und immer neuer ökonomischer und sozialer Probleme und den daraus resultierenden Einsparungs- und Effizienzverbesserungsentwürfen laufen vor allen Dingen unsere Kommunen, also unsere Städte, Dörfer und Gemeinden zunehmend Gefahr, ihre Eigenständigkeit zu verlieren und das, was sie leisten sollten, nicht mehr leisten zu können. Vor allem die kleinen Kommunen außerhalb der industriellen Zentren geraten zwangsläufig unter immer stärker werdenden finanziellen Druck: Jüngere Bürger wandern ab, Schulen und Kindergärten schließen, Vereine gehen an Nachwuchsmangel zugrunde und die medizinische Versorgung wird immer weiter ausgedünnt. Es bleiben die Älteren, für die sich das Leben dann auch immer schwieriger gestaltet. Eine Lösung für all diese Probleme ist nicht in Sicht. Das Umdenken fällt uns offenbar schwerer als das Albert Einstein damals gehofft hat.
Dieses Umdenken aber beginnt freilich im Kopf, und in der Tat hat unser Gehirn ja längst eine Lösung gefunden, um trotz des durch die Schädeldecke begrenzten Wachstums dennoch weiter zu wachsen und sich zeitlebens weiter entwickeln zu können – eben nicht durch die Vermehrung der Anzahl von Nervenzellen, sondern durch Intensivierung, Ausweitung und Verbesserung ihrer Verknüpfungen, also durch fortwährende Optimierung der Beziehungen zwischen den Nervenzellen. Auf Kommunen übertragen hieße das: Weiterentwicklung und damit auch echtes Wachstum sind zu jedem Zeitpunkt kommunaler Entwicklung möglich, aber nicht durch noch mehr Einwohner, Gewerbetreibende, mehr Kinder oder gar mehr Geld, sondern durch eine günstigere Art des Umgangs miteinander, durch intensivere, einander einladende, unterstützende, ermutigende und inspirierende Beziehungen aller in einer Gemeinde oder Stadt lebenden Bürger.
Was Kommunen also brauchen, um zukunftsfähig zu sein, wäre eine andere, eine für die Entfaltung der in ihren Bürgern angelegten Potentiale und der in der Kommune vorhandenen Möglichkeiten günstigere Beziehungskultur, eine Kultur, in der jeder Einzelne spürt, dass er gebraucht wird, dass alle miteinander verbunden sind, voneinander lernen und miteinander wachsen können.
Eine solche Beziehungskultur ist die Grundlage für die Herausbildung so genannter individualisierter Gemeinschaften. Über Jahrhunderte hinweg bildete die Familie die Keimzelle solcher Gemeinschaften. Aber mit dem Zerfall der traditionellen Familienstrukturen, insbesondere der dafür typischen Großfamilien, sind auch die dort bisher herrschenden sozialen Erfahrungsräume für unsere Kinder verloren gegangen. Vor allem für Heranwachsende wird es deshalb gegenwärtig immer schwerer, die wichtige Erfahrung zu machen, dass sie mit ihren besonderen Begabungen, mit ihrem jeweiligen Wissen und ihren individuell erworbenen Fähigkeiten für die Sicherung des Fortbestandes und die Weiterentwicklung der gesamten Gemeinschaft gebraucht werden. Wenn Familien solche Erfahrungsräume nicht mehr bieten können, dann müssten sie von jenen Gemeinschaften übernommen werden, in die die Familien eingebettet sind, also von den jeweiligen Kommunen, in die die Kinder und Jugendlichen hineinwachsen. Und damit fällt unseren Kommunen eine Aufgabe zu, für die sie sich bisher bestenfalls am Rande zuständig gefühlt haben. Es sieht also so aus, als ob es nur gemeinsam weitergeht und wir eine andere Art des Umgangs miteinander brauchen, damit wir aus dieser Ressourcenausnutzungskultur herausfinden hin zu einer Kultur, in der tatsächlich die Potentiale des Einzelnen und die Potentiale, die in jedem Gemeinwesen stecken, auch wirklich entfaltet werden können.
Eine Transformation zu einer anderen Beziehungskultur ist möglich. Menschen machen im Laufe ihres Lebens günstige und ungünstige Erfahrungen, die im Gehirn abgespeichert werden, und zwar in den höchsten Bereichen, in der so genannten präfrontalen Rinde. Immer, wenn man als Kind oder Jugendlicher oder auch als Bürger einer Kommune das Gefühl hat und die Erfahrung machen muss, dass man dort eigentlich nicht so recht gesehen wird, dass man nur verwaltet wird, dass man sich nicht einbringen kann, dass man nicht gefragt wird, dass man nichts gestalten kann, dann ist das eine so genannte ungünstige Erfahrung. Solche Erfahrungen gehen nicht nur damit einher, dass man etwas Bestimmtes an kognitiven Inhalten erlebt. Die ruft man später auf, um zu beschreiben, wie das gewesen ist, man kann vielleicht noch die Personen benennen, die dafür verantwortlich sind. Neben diesen kognitiven Netzwerken, was in solchen Erfahrungssituationen im Gehirn aktiviert wird, kommt es aber immer dann, wenn wir eine Erfahrung machen, gleichzeitig wird ein zweites Netzwerk aktiviert, das ist ein emotionales Netzwerk. Dieses Netzwerk rufen wir später auf, wenn wir uns noch mal daran erinnern, wie es war, als wir in so einer Kommune herangewachsen sind, in der wir zu wenige Möglichkeiten hatten, uns einzubringen. Dieses emotionale Netzwerk wird mit dem kognitiven Netzwerk verkoppelt. Was dann entsteht, wenn man solche Erfahrungen häufiger macht, ist deshalb eine gekoppelte emotional-kognitive Erfahrung.
Die nennt man im Deutschen eine innere Einstellung, eine Haltung, eine feste Überzeugung, die da heißen kann: In dieser Kommune möchte ich nicht bleiben, in dieser Kommune werde ich nicht gesehen oder gar: Hier braucht mich keiner, hier bin ich wertlos. Es geht schneller als man denkt, dass Menschen im Zusammenleben mit anderen unter solche ungünstigen Bedingungen solche negativen Erfahrungen machen und daraus solche ungünstigen Haltungen entwickeln.

Die frohe Botschaft aus der Neurobiologie heißt, solche einmal entstandenen Erfahrungen, wie sie wohl die meisten Mitbürger im Laufe ihres Heranwachsens in ihren jeweiligen Städten und Kommunen gemacht haben, können wieder aufgelöst werden, so dass im Gehirn eine neue, eine andere Verkopplung erfolgen kann. Dann verwandelt sich die alte Erfahrung in eine neue, aber dazu braucht man freilich auch Gelegenheit, eine solche andere, günstigere Erfahrung machen zu können, zum Beispiel die Erfahrung, dass man gebraucht wird, dass man gesehen wird, dass man gemeinsam etwas zustande bringt, was keiner allein kann, und das auch noch in der betreffenden Kommune, in der man das bisher nicht so erleben konnte.
Wenn das passiert, dann wird an das ehemals mit einem negativen Gefühl gekoppelte Netzwerk auf einmal ein positives Gefühl angekoppelt wird und das heißt: Ich bin in dieser Kommune zuhause, man braucht mich, ich kann mit anderen gemeinsam Dinge in Gang bringen, die keiner alleine schaffen kann.
Zu einer solchen neuen Erfahrung kann man Menschen aber nicht zwingen. Neue Erfahrungen lassen sich nicht anordnen. Hier helfen keine durchorganisierten Verwaltungsstrukturen. Was wir hier brauchen, sind Menschen in einer Kommune, die die anderen einladen, ermutigen und inspirieren, sich auf eine solche neue Erfahrung einzulassen. Und genau das ist diese andere Kultur des Umgangs miteinander, die ich heute hier mit Ihnen besprechen möchte, eine Kultur, in der sich jeder Mensch gesehen fühlt und in der jeder Mensch das Gefühl hat, dass er in seiner Einzigartigkeit, auf seine besondere Weise zum Gelingen von etwas beitragen kann, was alle gemeinsam wollen.
Haltungen und Erfahrungen werden im Frontalhirn verankert, habe ich gesagt, und bestimmen fortan all das, was Menschen denken, wie sie sich selbst einschätzen, welche Bewertungen sie vornehmen, auch worauf sie achten, was ihnen gleichgültig ist und worum sie sich kümmern. Erfahrungen bestimmen also im Grunde genommen das Verhalten von Menschen. Wenn man in einer Welt lebt, in der Menschen sich ungünstig zueinander verhalten, wenn Menschen immer wieder die Erfahrung machen, dass sie so, wie sie sind, nicht gesehen werden, dass sie keinen Platz finden in dieser Gemeinschaft, dann entwickeln sich solche ungünstigen Erfahrungen, und daraus entstehen diese ungünstigen Haltungen.
Wenn sich die Beziehungskultur in einer Kommune verändert, verändern sich auch die Erfahrungen, der dort lebenden Menschen. Weil das menschliche Hirn bis ins hohe Alter veränderbar ist, können auch ältere Mitbürger ihre Einstellungen und Haltungen noch verändern, wenn man ihnen die Möglichkeit bietet, tatsächlich neue Erfahrungen zu machen. Schöner wäre es natürlich, wenn Kinder, die in eine Gemeinschaft hineinwachsen, von Anfang an positive Erfahrungen in dieser Gemeinschaft machen könnten, und zwar alle.

Das Wichtigste, was Kinder brauchen, damit sie später mit anderen Menschen zusammen leben, sind ja Erfahrungen im Umgang mit sehr unterschiedlichen Menschen. In den Großfamilien, in denen Kinder über die gesamte Menschheitsgeschichte bisher groß geworden sind, war das automatisch der Fall. Da hatte man einen Großvater, womöglich sogar einen Urgroßvater oder eine Urgroßmutter gehabt, mit denen man sich auf irgendeine Art und Weise unterhalten und versuchen müsste, sie zu verstehen. Gleichzeitig haben viele Kinder Verantwortung übernommen und sich um die Kleineren gekümmert. Es gab nie altershomogene Gruppen von Kindern, die alle gleich alt und vielleicht gleich leistungsfähig waren, wie das in unseren gegenwärtigen Schulklassen ist, sondern es gab immer altersgemischte Gruppen, in denen es automatisch so war, dass das einzelne Kind sich nicht auf Kosten anderer profilieren und seine eigene Identität ausbilden konnte. Sondern jeder Einzelne konnte immer wieder die Erfahrung machen, dass er jemand ist, der anders ist als die anderen, der aber auch in der Lage ist, mit den anderen zurecht zu kommen, der immer wieder Wege findet, um Konflikte zu lösen und das nicht nur mit Gleichgesinnten und Gleichaltrigen, sondern mit sehr vielen unterschiedlichen Menschen mit völlig unterschiedlichen Auffassungen und unterschiedlichen Erfahrungshintergründen.
Das alles ist in der gesamten Menschheitsgeschichte mehr oder weniger von allein gesichert gewesen durch die Tatsache, dass Kinder in Großfamilien groß geworden sind. Ungefähr seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges begannen die Großfamilien zu verschwinden. Kinder sind jetzt, wenn man es etwas frech formuliert, „auf Gedeih und Verderb“ den jeweiligen Vorstellungen ihrer Eltern ausgeliefert. Es gibt niemanden mehr, zu dem man gehen kann, zu einem Onkel, zu einer Tante, einem Großvater, wenn die Mama mal wieder schlechte Laune hat. Und man lernt auch nicht mehr richtig, wie man mit anderen Menschen zurechtkommt. Das Ergebnis davon können wir beobachten, nämlich dass Kinder heranwachsen, die nicht mehr in der Lage sind, gut mit Menschen, die anders sind als sie in Beziehung zu treten. Mit sehr alten oder sehr jungen, mit dummen oder schlauen, mit behinderten oder nicht behinderten oder sonst wie andersartigen. Viele dieser Kinder Lernen heute nur noch, in ihren gleichaltrigen Gruppen zu kommunizieren, nur noch mit Gleichaltrigen Pläne zu schmieden und gemeinsame Erfahrungen zu machen. Inzwischen sind wir sogar noch einen Schritt weiter gekommen: Jetzt kann man diese gleichaltrigen Gruppen auch einfach im Internet, in „Facebook“, zusammenstellen. Und wenn da welche dabei sind, die zwar gleichaltrig sind, aber doch irgendwie andere Meinungen haben, dann drückt man einfach einen Knopf und löscht sie weg. Auf diese Weise wachsen heute immer mehr Kinder heran, die nicht mehr in der Lage sind, mit andersartigen Menschen in eine konstruktive Beziehung zu treten.
Die Großfamilien kriegen wir nicht wieder. Wenn wir nicht wollen, dass eine ganze Generation von Kindern groß wird, deren Sozialkompetenzen nur unzureichend entwickelt sind, werden wir uns fragen müssen, wie wir das verhindern können. Wie können wir erreichen, dass unsere Kinder lernen, sich in komplexen sozialen Systemen zurechtzufinden und sich darin wohl zu fühlen? In Kindergärten allein geht das nicht, denn da sind immer nur die Gleichaltrigen untereinander. Das Gleiche gilt für Schulen. Der einzige Raum, der einzige Erfahrungsraum, der hier zur Verfügung steht, um wirklich hochkomplexe soziale Erfahrungen zu machen, wäre die Kommune. Es wird also wahrscheinlich gar nicht anders gehen, als dass wir unsere Kommunen zu solchen hochkomplexen Erfahrungsräumen umgestalten, in denen die Kinder eingeladen, ermutigt und inspiriert werden, mit verschiedenen Menschen zurecht zu kommen, mit alten, mit jungen, mit dummen, mit schlauen, mit kranken und mit gesunden. Dass sie mit denen reden und dass sie merken, alle sind Teil einer Gemeinschaft, alle gehören dazu und jeder kann auf seine besondere Weise dazu beitragen, dass das, was wir alle gemeinsam vorhaben, dann auch wirklich gelingt. Kommunen sind im Augenblick kaum in der Lage, solche Erfahrungsräume zu schaffen.
Wir nennen solche Erfahrungen und die daraus entstehenden komplexen Meta-Kompetenzen, die im Hirn entstehen, so genannte „exekutive Frontalhirnfunktionen“. Und diese exekutiven Frontalhirnfunktionen kann man nicht in der Schule unterrichten. Die sind, wie z. B. Sozialkompetenz, wie z. B. die Fähigkeit, Handlungen zu planen und die Folgen von Handlungen abzuschätzen, auch mal irgendeinen Affekt, den man gerade hat, zu kontrollieren, ein bisschen Frust auszuhalten und nicht jedem Impuls gleich nachzugeben. Diese Metakompetenzen sind nur durch eigene, am eigenen Leib gemachten Erfahrungen im Hirn verankerbar. Wahrscheinlich ist das der Grund, weshalb die Afrikaner diesen wunderbaren Satz formuliert haben: „Um Kinder gut großzuziehen, braucht man ein ganzes Dorf.“

Unsere Kommunen, unserer Dörfer und Gemeinden müssten Adlerhorste sein, in denen die Überflieger und die Gestalter einer gemeinsamen Zukunft heranwachsen. Gegenwärtig gleichen sie aber eher Hühnerhöfen, in denen jeder froh ist, wenn er ein Korn findet, und in denen jeder kaum noch bereit oder in der Lage ist, die Kleinen das Fliegen zu lehren. Das müsste man ändern. Ändern nicht durch Maßnahmen, nicht durch Programme, sondern durch den Aufbau einer anderen Kultur, einer anderen Beziehungskultur, einer anderen Art des Miteinanders.
In Thüringen begleite ich ein Projekt „neue Lernkultur in Kommunen“, gestützt und getragen wird es vom Kultusministerium (www.nelecom.de). Das ist ein erster Versuch, um Schulen und Kindergärten zu öffnen, damit die Kinder und Jugendlichen einer Kommune hinaus gehen können in die Kommune, um dort zu entdecken, was es da alles zu entdecken gibt. Und in jeder Kommune gibt es unendlich viel zu entdecken. Die Kinder und Jugendlichen werden eingeladen und ermutigt, sich in dieser Kommune zu engagieren, dort etwas zu gestalten, was bisher noch keiner gestaltet hat, vielleicht einen Streichelzoo aufzubauen oder im Sommer einen Zirkus zu veranstalten oder eine Teestube aufzumachen. Es gibt viele Möglichkeiten, sich in das kommunale Leben einzubringen und sie alle dazu führen, dass Kinder diese ganz wichtige Erfahrung machen, nämlich dass sie selbst bedeutsam sind, dass sie selbst an diesem kommunalen Leben teilhaben, dass sie gebraucht werden und vor allen Dingen auch, dass sie sich um etwas kümmern können in dieser Kommune, dass sie sich gemeinsam um Dinge kümmern können, um die sich vielleicht gerade die Erwachsenen alle nicht kümmern.

Ich will Ihnen ein Beispiel nennen, dass im Augenblick in Erfurt realisiert wird und das mir ganz besonders gut gefällt, weil es deutlich macht, worum es geht und wie man unter Umständen eine andere Beziehungskultur in Kommunen aufbauen kann. Dort in Erfurt hat man im Rahmen des Projekts „neue Lernkultur in Kommunen“. Kinder aus Kindergärten und Grundschulen gefragt, ob sie nicht Lust hätten, „Botschafter der Freundlichkeit“ zu werden. Vor allem die Kleinen fanden das ganz toll. Dann hat man sie gefragt, was man machen könnte, wenn man ein Botschafter der Freundlichkeit ist. Die Kinder haben sich einen Lehrplan zusammen gestellt, was man alles wissen muss, wenn man ein Botschafter der Freundlichkeit in Erfurt werden möchte: Man muss erkennen, wie es einem Mitbürger in der Kommune geht, man muss an den Gesichtszügen dessen Gefühlszustand ablesen können, man muss ihn ansprechen können auf eine Weise, dass er einen nicht gleich wieder wegschickt und vielleicht muss man einen Witz erzählen oder ein Lied singen können oder irgendetwas machen können, dass er wieder fröhlich wird. Das haben sich die Kinder aufgeschrieben und sich im Selbststudium alles angeeignet. Dann haben sie sich gegenwärtig eine Prüfung abgenommen. Da war sicherlich ein Erwachsener dabei, ein Erzieher oder ein Lehrer, aber jedes Kind, das die Prüfung zum Botschafter der Freundlichkeit bestanden hat, bekam eine Schärpe mit einem Schriftzug „Botschafter der Freundlichkeit, nelecom, Erfurt“.
Jeweils zu viert, je zwei Kindergartenkinder und zwei Grundschüler, sind sie dann in die Stadt gegangen, um Menschen zu suchen, die traurig sind. Sie haben die Menschen angesprochen und gefragt, ob sie irgendetwas für sie tun können, damit es ihnen wieder besser geht, sie sähen so aus, als ob sie gar nicht froh sind. Sie ahnen, was passiert – und das ist das eigentlich Neue an dieser Art und Weise des aufeinander Zugehens und miteinander Umgehens: Die älteren Mitbürger, die angesprochen worden sind, haben plötzlich gemerkt, dass es Kinder in Erfurt gibt, denen das Glück der Mitbürger am Herzen liegt, die sich kümmern wollen, die aufmerksam sind, die auf sie zugehen und ihnen helfen wollen. Für die Bürger in Erfurt ist das eine völlig neue Erfahrung. Die Kinder fanden das wunderbar, dass sie solche Effekte erzielen konnten. Die Schulkinder haben auch eine wichtige Erfahrung gemacht. Sie haben nämlich gemerkt, dass die Kindergartenkinder noch viel unbefangener sind und viel leichter auf fremde Menschen zugehen als sie selbst. Sie haben meistens in der Schule diese Unbefangenheit schon verloren. Die Kindergartenkinder haben gemerkt, dass die Schulkinder schon ein Stück weiter sind, sich zum Beispiel besser in der Stadt auskennen und auch viel mehr Verantwortung für diesen ganzen Prozess übernehmen können. Auf diese Weise entsteht eine Situation, die man als Win-Win-Win-Game bezeichnet. Und solche Situationen müssten wir schaffen. Wir müssten eigentlich in unseren Kommunen viele solcher kleinen Aktionen in Gang bringen, wobei Menschen wieder erleben, wie schön es sein kann, wenn sie sich selbst nicht dadurch definieren, was sie alles mehr haben und mehr können und besser können als andere. So entsteht ja eigentlich kein gutes Selbstbild, das ist eher ein egozentrisches Selbstbild, was da aufgebaut wird. Ein gutes Selbstbild entsteht dadurch, dass Menschen von klein auf die Erfahrung machen, dass sie sich so, wie sie sind, einbringen können, dass sie dazu gehören, dass sie Teil einer Gemeinschaft sind und dass sie auf ihre ganze besondere Weise mit ihren besonderen Fähigkeiten, ihren Talenten, ihren Begabungen und ihrem Wissen dazu beitragen können, eine Form des Miteinanders zu entwickeln, die dazu führt, dass eine Kommune dann auch tatsächlich die in ihr steckenden Potentiale entfalten kann.
Wir alle werden im Laufe unseres Heranwachsens niemals in der Lage sein, all diese unglaublichen Möglichkeiten zu nutzen, die unser Gehirn uns bietet. Wir bleiben alle eine mehr oder weniger starke „Kümmer-Version“ dessen, was aus uns hätte werden können, eben deshalb weil wir nicht alle Erfahrungen, die es auf dieser Welt gibt, selbst machen können. Genauso wie unser Hirn keine Möglichkeit hat, seine Potentiale zu entfalten, wenn die Bedingungen dafür nicht günstig sind, so kann auch eine Gemeinschaft von Menschen, also eine Kommune, ein Dorf, eine Stadt die Potentiale der Menschen, die dort wohnen, nicht entfalten, wenn es nicht gelingt, diese Menschen einzuladen und zu ermutigen und zu inspirieren, eine Kultur des Miteinanders zu entwickeln, in der jeder Einzelne spürt, wie sehr er gebraucht wird, wie sehr jeder von dem anderen lernen kann und wie gut alle gemeinsam über sich hinauswachsen können.
Sie merken, die Konstruktion einer Kommune und die Konstruktion eines Gehirns unterscheiden sich eigentlich gar nicht allzu sehr. Und alles, was die Hirnforschung in den letzten Jahren über die Herausbildung neuronaler Netzwerke und Beziehungsstrukturen im Hirn entdeckt und in die Öffentlichkeit getragen hat, gilt in gewisser Weise auch für eine Kommune, auch eine Kommune kann man so betrachten, als sei sie ein Gehirn. Und wie im Gehirn kommt es eben dort nicht darauf an, wie schnell man wächst und wie viele Bürger in dieser Kommune sind, sondern wie gut die Einzelnen miteinander vernetzt sind.
*****

Gerald Hüther: Eine neue Kultur der Anerkennung – Plädoyer für einen Paradigmenwechsel in der Schule

 SWR2 AULA - Prof. Gerald Hüther: Eine neue Kultur der Anerkennung – Plädoyer für einen Paradigmenwechsel in der Schule
Autor und Sprecher: Prof. Gerald Hüther *
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
Sendung: Sonntag, 26. November 2006, 8.30 Uhr, SWR 2
Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

ÜBERBLICK
Wenn wir über PISA und die Leistungen unserer Schüler debattieren, geht es meistens um kognitive Fähigkeiten und um pure Wissensvermittlung. Dabei gibt es ein Problem, das Einstein sinngemäß so formuliert hat: Ein Problem kann man nicht mit denselben Maßnahmen lösen, mit denen man es hervorgerufen hat.

Auf die Schule bezogen heißt das: Die Dominanz der Kognition muss endlich überwunden werden, wir brauchen eine völlig neue Kultur der Anerkennung, der Wertschätzung, der gemeinsamen Anstrengungen. Professor Gerald Hüther, Leiter der Abteilung für neurobiologische Grundlagenforschung an der Psychiatrischen Klinik der Universität Göttingen, zeigt, wie und warum die wichtigen Impulse für dieses Projekt von der modernen Hirnforschung kommen.

INHALT
Ansage:

Heute mit dem Thema: „Eine neue Kultur der Anerkennung – Plädoyer für einen Paradigmenwechsel in der Schule“.

Wenn wir über PISA und die schlechten Leistungen der deutschen Schüler im internationalen Vergleich debattieren, geht es meistens um kognitive Fähigkeiten und Defizite, um die Frage etwa, wie man die Wissensvermittlung verbessern kann, damit die Schüler mehr und effizienter neues Wissen aufnehmen können. Also im Grunde genommen haben wir es mit einer „Verkopfung“ von Schule und schulischem Lernen zu tun.

Genau das aber ist ein falscher Weg, eine falsche Entwicklung – sagt Professor Gerald Hüther, einer der wichtigen deutschen Neurowissenschaftler. Aufgrund seiner Forschungen über die neuronale, kognitive und emotionale Entwicklung bei Kindern, plädiert er dafür, emotionale und soziale Faktoren mehr zu berücksichtigen. Ihm geht es um eine neue Lernkultur der Wertschätzung, der Anerkennung, des Miteinanders.

In der SWR2 AULA zeigt Hüther, wie und warum auch die moderne Hirnforschung diese Aspekte für wichtig hält.

Gerald Hüther:

Die Lernleistungen der deutschen Schüler könnten besser sein. Das hatten viele Menschen in unserem Land schon seit längerem geahnt. Aber erst als die Ergebnisse der internationalen Vergleichsstudie, der PISA-Studie, bekannt wurden, kam Bewegung in die deutsche Bildungslandschaft. Doch statt nach Ursachen wurde zunächst einmal nach den Schuldigen gesucht. Die Real- und Gymnasiallehrer machten die Grundschullehrer verantwortlich, die wiederum die Erzieherinnen aus dem vorschulischen Bereich und die dann die Eltern. So wurden dann auch die Bildungspolitiker wach und haben die üblichen Maßnahmen beschlossen: mehr Fortbildung für die Lehrer, bessere Ausbildungsstandards für Erzieher und natürlich häufigere und strengere Erfolgskontrollen für alle – für Erzieher, Lehrer und für Schüler. Im Kindergarten hieß das Zauberwort „Frühförderung“.

Aber schon Albert Schweitzer hatte ja festgestellt: „Das Heil der Welt liegt nicht in neuen Maßnahmen, sondern in einer anderen Gesinnung.“ Und der andere Albert – Albert Einstein brachte es noch präziser auf den Punkt: „Wir können unsere Probleme nicht mit den gleichen Maßnahmen lösen, mit denen wir sie verursacht haben.“ Mit anderen Worten: Bildung muss, wenn sie gelingen soll, nicht besser durchorganisiert, sondern anders gestaltet werden.

Dass das geht, haben einzelne Schulen uns längst vorgemacht, auch in unserem Land. Der Filmemacher Reinhard Kahl hat solche Schulen in seinem Film „Treibhäuser der Zukunft“ vorgestellt. Es sind Schulen, in die die Schüler so gern gehen, dass sie traurig sind, wenn die Ferien beginnen, und sich darauf freuen, wenn der Unterricht wieder losgeht. Aber leicht ist eine solche Umgestaltung innerhalb der gegenwärtig bestehenden Schullandschaft nicht. Sie stößt auf erhebliche Widerstände und erfordert ein hohes Engagement aller Beteiligten.

Und nun bekommen diese innovativen Schulmodelle plötzlich Schützenhilfe und eine enorme Bestätigung ihres Ansatzes von einer Disziplin, der man das eigentlich kaum zugetraut hätte: der Neurobiologie.

Die Hirnforscher haben in den letzten 10 Jahren eine Vielzahl von Erkenntnissen darüber zutage gefördert, wie das Lernen funktioniert, unter welchen Voraussetzungen Bildungsprozesse gelingen können und unter welchen Bedingungen Kindern die Lust am Lernen, am Entdecken und am Gestalten vergeht. Dabei geht es nicht so sehr um all jene Erkenntnisse, mit deren Hilfe sich vielleicht die Effizienz des herkömmlichen Unterrichts verbessern ließe, also um das, was man neuerdings als „Neurodidaktik“ bezeichnet. Auch dafür liefern die Neurowissenschaften einige brauchbare Ansätze. Wichtiger aber ist all das, was die moderne Hirnforschung an Erkenntnissen zusammengetragen hat, die für diese Treibhäuser der Zukunft, also für diese zukunftsweisenden Modellschulen entscheidend sind, und was sich in der alten Gärtnerweisheit zusammenfassen lässt: Die Pflanzen wachsen nicht besser, wenn man daran zieht. Man muss sie gießen, gelegentlich düngen und auch einigermaßen von Unkraut freihalten. Auf die Schüler bezogen heißt das, wir brauchen eine neue Kultur in unseren Bildungseinrichtungen, eine Kultur der Wertschätzung, der Anerkennung, der Ermutigung und der gemeinsamen Anstrengung. „Supportive leadership“ heißt dieses neue Modell in der Wirtschaft. Und überall dort, wo es eingeführt wird, sprechen die Erfolge für sich, sogar im Sport, im Fußball, siehe das, was uns Jürgen Klinsmann mit der Deutschen Nationalmannschaft vorgemacht hat: eine wertschätzende, unterstützende und gleichzeitig zur Höchstleistung ermutigende und anspornende Beziehungskultur. Das ist das, was er als Trainer aufgebaut hat, und das ist auch das, was unsere Schulen in Zukunft brauchen, damit die Potentiale der Schüler zur Entfaltung und nicht wie bisher unter die Räder kommen. Denn das ist die erste wichtige Erkenntnis der modernen Neurobiologie. Kinder, und zwar alle Kinder, kommen mit einer unglaublichen Lust am eigenen Entdecken und Gestalten zur Welt. Nie wieder ist ein Mensch so neugierig und so entdeckerfreudig und so gestaltungslustig und so begeistert darauf, das Leben kennen zu lernen, wie am Anfang seines Lebens. Diese Begeisterungsfähigkeit, diese enorme Lernlust und diese unglaubliche Offenheit der Kinder sind der eigentliche Schatz der frühen Kindheit. Und diesen Schatz müssen wir besser als bisher bewahren. Es geht also eigentlich im Grunde gar nicht darum, mit Hilfe von Förderprogrammen Kindern neue Erkenntnisse beizubringen, was wir brauchen sind im Grunde Programme, mit deren Hilfe wir verhindern, dass das, was viel zu häufig heute noch immer passiert, auch in Zukunft weiter geschieht, nämlich dass Kinder irgendwann die Lust am Lernen verlieren, dass sie null Bock auf Schule haben.

Woher kommt eigentlich die Lust am Lernen, und wie funktioniert das Lernen? Wenn man eine neue Wahrnehmung macht, das gilt für Erwachsene genauso wie für Kinder, dann entsteht im Hirn ein Erregungsmuster, ein Wahrnehmungsmuster. Das wird als eine bestimmte Aktivität in den synaptischen Netzwerken aufgebaut, in denen die Reize und die Signale von den Sinnesorganen weitergeleitet werden. Und dieses neu entstandene Wahrnehmungsmuster passt natürlich nicht so recht zu dem, was bis dahin im Gehirn an Aktivierungsprozessen abgelaufen ist. Und deshalb versucht der Lernende, wieder Einklang herzustellen zwischen dem neuen Muster und den anderen alten Mustern. D. h. mit anderen Worten, man sucht nach etwas Passendem, man sucht nach einem passenden Erinnerungsmuster, an das das neue angefügt werden kann.

Dabei gibt es drei Möglichkeiten: Die erste ist, dass man sofort etwas findet, was genau deckungsgleich mit dem neuen Muster ist. Dabei hat man allerdings nichts hinzugelernt, sondern auf eine neue Wahrnehmung lediglich mit einer Routineantwort reagiert. Und das zweite ist auch eine Reaktion, die im Hirn nicht allzu viel verursacht. Das ist die Situation, in der Kinder oder auch Erwachsene eine neue Wahrnehmung machen, dann eine zeitlang versuchen, irgendein entsprechendes Muster in ihrem Hirn zu finden, das sich an das neue Wahrnehmungsmuster anknüpfen lässt. Wenn sie nichts finden, wird die neue Wahrnehmung als Unsinn abgetan und nicht weiter beachtet.

Spannend ist immer nur der dritte Fall: Kinder und auch Erwachsene nehmen etwas Neues wahr, was ein bisschen zu dem passt, was sie schon wissen, so dass ein Wahrnehmungsmuster entsteht, das sich irgendwie doch an bereits vorhandene Erinnerungsmuster anfügen lässt. Und dann wird das Neue in das Alte quasi integriert.

Das Hirn arbeitet also gewissermaßen wie ein Arbeiter auf einer Baustelle. Immer wird an das, was bereits vorhanden ist, Neues angefügt, d. h. wir können mit unserem Hirn eigentlich gar nichts Neues lernen, es geht immer darum, dass etwas Neues an den bereits vorhandenen Schatz von Erfahrungen, an den bereits ausgebildeten Komplex vorhandener Netzwerken angefügt wird.

Und das bedeutet gleichzeitig, dass Kinder, wenn sie auf die Welt kommen, schon neuronale Verschaltungsmuster mitbringen, die sie benutzen können, um all das, was sie in der Welt kennen lernen, anfügen zu können. Und diese vorgeburtlich ausgebildeten Muster – das ist vielleicht die zweite wichtige Erkenntnis der Neurobiologen – werden zu einem überwiegenden Anteil ebenfalls durch Erfahrungen erlernt. Das Gehirn weiß nicht, wie das Verschaltungsmuster beschaffen sein muss, das später als innere Repräsentanz benutzt werden kann, um z. B. die Bewegungen des Armes zu steuern. Wäre da kein Arm, könnte das Muster nicht ausgeformt werden. Das liegt daran, dass die genetischen Programme so beschaffen sind, dass sie zunächst immer nur Überangebote von Nervenzellen bereitstellen können. Deshalb entstehen vorgeburtlich erst einmal viel zu viele Nervenzellen. Ein Drittel wird später wieder weggeräumt, weil es nicht in funktionelle Netzwerke eingebaut werden kann. Das Überangebot wird dazu benutzt, bei ähnlichen Erregungsmustern bestimmte Strukturmuster herauszubilden. Ein kleiner Vogel, der noch im Nest sitzt, hat ein Überangebot an Nervenzellverschaltungen in seinem neuronalen Gesangszentrum. In seiner Nähe ist vielleicht sein Vater und singt, und jedes Mal dann, wenn der kleine Vogel diesen Gesang hört, entsteht in seinem Gesangszentrum ein bestimmtes Erregungsmuster, nennen wir es mal ein „synaptisches Geflimmer“. Je häufiger dieses Muster aufgebaut werden kann, desto stabiler werden letztlich die neuronalen Verschaltungen, während alle anderen Verschaltungen, die nicht benutzt werden, die nicht durch den Gesang erregt werden, verkümmern. Am Ende bleibt ein für diesen Gesang charakteristisches Verschaltungsmuster übrig: der „Struktur gewordene“ Gesang.

Worauf es nun bei der kindlichen Entwicklung ankommt, insbesondere auch in der Schule, ist weniger der Gesang, sondern dass die „höheren“ komplexen Bereiche des kindlichen Gehirns, der Kortex und ganz besonders das Frontalhirn, Gelegenheit bekommen, diese hochkomplexen Verschaltungen aufzubauen, und zwar nutzungsabhängig.

Vieles, was Kinder bereits auf die Welt mitbringen, haben sie eben nicht durch genetische Programme vererbt bekommen, sondern das haben sie erworben. Während der frühen Entwicklung, vor der Geburt und noch eine zeitlang nach der Geburt, macht jedes Kind zwei ganz entscheidende Grunderfahrungen: die eine Grunderfahrung, die täglich implizit bestätigt wird durch das, was das Kind erlebt, ohne dass das bewusst würde, ist, dass es in Verbindung mit anderen Menschen steht. Daraus leitet sich die Erwartungshaltung ab, die normalerweise bei einem Menschen nie wieder verschwindet, nämlich dass man mit anderen auch verbunden bleiben möchte. Die zweite Grunderfahrung wird auch schon vorgeburtlich gemacht und wird während der weiteren frühkindlichen Entwicklung weiter bestätigt: Jedes Kind merkt, dass es jeden Tag ein Stückchen über sich hinaus wachsen kann. Und daraus leitet sich die Erwartungshaltung ab, dass das auch in Zukunft weiter möglich sein muss, in Verbindung zu bleiben und über sich hinaus wachsen zu können. So werden neue Wahrnehmungen gemacht, und jede neue Wahrnehmung wird von einem Kind nicht nur durch die Sinnesorgane und die entsprechenden Verarbeitungszentren im Gehirn verankert, sondern mit dem ganzen Körper und mit allen Sinnen.

Jedes Mal, wenn es gelingt, eine „Störung“, wie sie beispielsweise auftritt, wenn man etwas Neues wahrnimmt, zu bewältigen, wenn es also gelingt, eine neue Wahrnehmung in den Schatz der vorhandenen Erinnerungsmuster zu integrieren, kehrt ja eine sonderbare Ruhe ins Gehirn ein. D. h. solange man noch sucht und noch versucht, das Neue irgendwie einzupassen, herrscht eine „produktive Unruhe“. Man will wissen, wie das passen könnte zu dem, was man schon weiß. Und wenn der Integrationsprozess plötzlich gelingt, breitet sich eine Welle von Harmonie im Gehirn aus. Und das führt zur Aktivierung der sogenannten Belohnungszentren im Zwischenhirn.

Das ist eine Zellgruppe von Dopamin produzierenden Nervenzellen, die mit langen Fortsätzen in die limbischen und vor allem in die kortikalen Bereiche des Gehirns hineinragen. An den Enden dieser Fortsätze wird u. a. ein Botenstoff ausgeschüttet, das Dopamin. Dopamin ist in der Lage, die Nervenzellverschaltungen, die unter neuen Lernprozessen aktiv werden, zu verstärken und zu festigen. Es sorgt außerdem dafür, dass in den Zellen, die diesen Botenstoff als Signal empfangen und in das Zellinnere weiterleiten, eine ganze Kaskade von Reaktionen ausgelöst wird, die bis in den Zellkern hineinreichen. Die Nervenzellen stellen vermehrt Wachstumsfaktoren und Eiweiße her, die gebraucht werden, um neue Fortsätze zu bilden und neue Synapsen auszubilden. Unter diesen Bedingungen können neu erlernte Inhalte ganz besonders gut im Gehirn verankert werden.

Ein Kind möchte immer wieder die Erfahrung machen, dass sich etwas Neues in den vorhandenen Schatz des Wissens einfügen lässt, es möchte eine Herausforderung nach der anderen bestehen, weil sich dadurch ein Zustand der Befriedigung und der inneren Harmonie einstellt. In dem Maße, wie Erfahrungen bewältigt werden, entsteht eine positive Erwartungshaltung, und das Kind sucht sich neugierig die nächste Hürde. Dabei wird außerdem ein Gefühl von Selbstwirksamkeit immer stärker und damit auch die Lust am Lernen.

Das ist der ursprüngliche Kreislauf, in dem sich Lernen vollzieht. Das Interessante an diesem natürlichen Kreislauf des Lernens ist die Tatsache, dass dabei die emotionalen Zentren immer aktiv bleiben und auf diese Weise neuroplastische Botenstoffe vermehrt ausgeschüttet werden, die dafür sorgen, dass das, was das Kind lernt und was es voller Begeisterung lernt, auch fest und tief im Gehirn verankern kann.

Leider gibt es auch Situationen, die dazu führen, dass Kinder aus diesem Lernzyklus herausfallen. Dann werden bestimmte Aufgaben und Probleme zu schwer, die Kinder scheitern, haben eine negative Erwartungshaltung, die Kinder geraten in einen Teufelskreis, in dem die Angst und damit verbunden die Selbstzweifel immer größer werden. Auch das geht mit einer Aktivierung emotionaler Zentren einher. Entsprechend tief eingegraben und gebahnt werden auch solche negativen Erfahrungen. Das sind dann praktisch die negativen Überzeugungen und Selbstzuschreibungen, wie wir sie alle kennen. Manche Menschen werden sie ihr ganzes Leben lang nicht mehr los, sie sagen: „Mich mag keiner, ich kann nichts, ich bin blöd, es macht alles keinen Spaß.“

Entscheidend dafür, wie man neue Aufgaben annimmt, sind also frühe Erfahrungen. Aus ihnen leiten wir alle unsere Bewertungen ab. Das ist eine weitere neue Erkenntnis der Neurobiologen. Es ist nicht entscheidend, was sich ereignet oder was wir erleben, sondern entscheidend ist, wie ich die Ereignisse, meine Erlebnisse bewerte.

Ich will das versuchen, an einem Beispiel deutlich zu machen: Wenn wir bei einem Waldspaziergang bemerken, da huscht etwas sich Schlängelndes von der einen Seite des Weges auf die andere, dann wird bei einem Nebenast unserer Sehnerven eine Erregung weitergeleitet zum Thalamus, dort ist ein vorgefertigtes Verschaltungsmuster, das bei Erregung – nennen wir es das „Schlangen-Furcht-Programm“ -, dem limbischen System Gefahr meldet. Achtung: Schlange! Die Aktivierung im limbischen System führt dazu, dass eine ganze Reihe von Reaktionen ausgelöst werden. Das ist der Grund dafür, dass wir im selben Moment, in dem wir dieses Hinüberschlängeln gesehen haben, zurückspringen, uns stehen die Haare zu Berge, das Herz schlägt bis zum Hals. All das sind Reaktionen, die vom Hirnstamm aus gesteuert, aber vom limbischen System angestoßen werden. Vielleicht kriegen wir auch einen Schweißausbruch, die Knie werden weich, der Atem stockt – all diese Angst- und Fluchtreaktionen stellen sich ein.

Doch dann schauen wir genauer hin. Und vielleicht erkennen wir, dass es sich gar nicht um eine Kreuzotter handelt, sondern um eine Blindschleiche. Und schon ändert sich unsere Bewertung, und der Kortex hemmt mit seiner neuen Bewertung die gesamten angst- und furchtauslösenden Reaktionen. D. h., wir sind in der Lage, durch eine Umbewertung eines Ereignisses die aus den älteren Bereichen des Gehirns in Gang gesetzten Reaktionen plötzlich anzuhalten und sie zum Teil, wenn uns eben diese Blindschleiche keine Angst einflößt, sondern gefällt, vielleicht sogar umzuwandeln in Interesse, in Zuwendung. Und dann werden vom limbischen System all jene Reaktionen vom Hirnstamm aus zu einer konzertierten Aktion gebündelt, die mit Aufmerksamkeit, innerer Beruhigung, Neugier und Befriedigung einhergehen.

Immer wieder sind es also Reaktionen in den höheren Bereichen des Gehirns, die in der Lage sind, die in den älteren Regionen des Gehirns ablaufenden Prozesse zu lenken und zu steuern. Wir nennen diese Reaktionen Metakompetenzen. Sie werden vor allem in den Bereichen des Frontalhirns in Form von hochkomplexen Verschaltungsmustern während der Kindheit und Jugend aufgebaut und sind dafür zuständig, was für ein Selbstwirksamkeitskonzept ein Mensch entwickelt, wie und wodurch er sich motivieren lässt. Problemlösungskompetenz ist eine hochkomplexe Fähigkeit des Menschen, die als sogenannte exekutive Frontalhirnfunktion während der Kindheit und Jugend angelegt werden muss, um Handlungen zu planen, die Folgen abzuschätzen und auf diese Weise seine immer mal wieder aus den älteren Bereichen des Hirns aufsteigenden archaischen Impulse zu kontrollieren, auch Frustrationen auszuhalten – all das sind Funktionen, die in dieser komplexen Region des menschlichen Gehirns aufgebaut werden und zwar in Form von Verschaltungsmustern, die ebenfalls herausgeschält werden aus einem Überangebot von Verschaltungsmöglichkeiten. Bis etwa zum 6. Lebensjahr entsteht im frontalen Kortex ein riesiges Überangebot an Vernetzungsmöglichkeiten. Und dann muss aufgrund von eigenen Erfahrungen immer wieder ein bestimmtes Erregungsmuster in diesem frontalen Kortex, in diesen Netzwerken aufgebaut werden, damit einzelne dieser Kompetenzen entwickelt und immer weiter geschärft werden können. Deshalb ist die Aneignung der Metakompetenzen entscheidender als die Vermittlung von Wissen.

Das Problem in unseren Schulen ist natürlich, dass das auswendig gelernte Wissen viel besser abgeprüft werden kann als die Metakompetenzen. Aber schon Antoine de Saint-Exupéry hat gesagt: „Wenn ihr wollt, dass eure Kinder ein Schiff bauen lernen, dann weckt in ihnen die Sehnsucht nach der Seefahrt“. Das ist eben die andere Lernstrategie, die dafür sorgt, dass die Sehnsucht der Kinder nach Bildung geweckt wird.

Das führt uns zu einer weiteren neuen und gleichermaßen eben auch alten Erkenntnis: neue Erfahrungen müssen unter die Haut gehen. Es kommt also nicht so sehr auf die Qualität des Unterrichts, auf die Didaktik und die Methodik an, mit der man Wissen vermittelt, sondern darauf, dass das Lernen die Schüler begeistert. Begeisterung bei Schülern zu wecken, gelingt am besten durch eine wertschätzende, anerkennende und ermutigende Beziehung. Sie ermöglicht das sogenannte Erfahrungslernen, das bedeutet, es wird nicht einfach ein Stoff vermittelt, sondern die Schüler werden angehalten zu eigenständigem Entdecken. Die Kinder machen ihre eigenen Erfahrungen und erwerben auf diese Weise all die Kompetenzen, die nötig sind, damit man zeitlebens ein begeisterter Entdecker und Gestalter werden kann. Erfahrungslernen ist etwas anderes als Auswendiglernen von Sachverhalten.

Eine zweite Form des Lernens ist offenbar ebenso wichtig. Sie spielt auch schon in der frühen Kindheit eine Rolle. Sie wird vermittelt über die sogenannten Spiegelneuronensysteme. Wir nennen es das Imitationslernen. Wenn ein Kind einen Menschen, der ihm nahe steht und der ihm wichtig ist, beobachtet, wie der etwas Bestimmtes macht, werden im Gehirn dieses Kindes neuronale Muster aktiviert. Es sind dieselben Muster, die auch beim Erfahrungslernen aktiv sind.

Die dritte Form des Lernens ist das Dressurlernen. Es funktioniert durch Bestrafen und Belohnen. Ein Nachteil bei dieser Form ist, dass all das mit dazu gelernt wird, was man eigentlich vermeiden möchte: die Angst etwa vor der Bestrafung.

Lernen kann man nicht mit Angst. Laut Statistik gehen 40 Prozent der Schüler mit Angst in die Schule. Angst führt dazu, dass unspezifische Erregungsmuster im Gehirn aufgebaut werden und sich ausbreiten. Das einzige, was dagegen hilft, ist Vertrauen. Kinder müssen deshalb Gelegenheit bekommen, Vertrauen zu entwickeln zu sich selbst, aber auch zu anderen. Und schließlich hat der Mensch noch eine weitere Ressource, die ihn stärkt und Angst überwinden hilft: das Vertrauen, das Wissen, dass man getragen und gehalten ist, dass es wieder gut geht, dass das, was man tut, Sinn macht.

Zusammenfassend kann man festhalten: Worum es also geht, ist eine andere Kultur in unseren Schulen, eine andere Beziehungskultur der Wertschätzung, Ermutigung und der Unterstützung, in der Vertrauen wachsen kann und Kinder und Jugendliche in die Lage versetzt werden, hochkomplexe Muster in ihren Gehirnen aufzubauen. Eine zweite Ebene, auf der sich etwas ändern muss, ist die Lernkultur in unseren Schulen. Kinder brauchen mehr Möglichkeiten, sich den Unterrichtsstoff durch eigene Erfahrungen zu erschließen, es handelt sich um das sogenannte Erfahrungslernen. Die dritte Ebene ist die Erziehungskultur. Wir müssen begreifen, dass die Vermittlung von Kompetenzen wichtiger ist als Vermittlung von Wissen. Wir brauchen als Lehrer starke Persönlichkeiten und keine „Fachidioten“.

Nur eine andere Schulkultur kann dazu führen, dass unsere Kinder und Jugendlichen die Potentiale eines hochkomplexen und vielseitig vernetzten Gehirns auch wirklich optimal nutzen.


*****


* Zum Autor:
Professor Gerald Hüther, Jahrgang 1951, leitet die Abteilung für neurobiologische Grundlagenforschung an der Psychiatrischen Klinik der Universität Göttingen. Er hat in Leipzig Biologie studiert und dort auch promoviert. Die Habilitation folgte im Jahr 1988 im Fach Neurobiologie. Hüther baute als Heisenberg-Stipendiat von 1989 bis 1994 die Abteilung für neurobiologische Forschung an der Universitätsklinik Göttingen auf. Forschungsgebiete: Auswirkungen von Angst und Stress auf das Gehirn, Evolution des Bewusstseins, Wirkungen und Folgen von Drogen und Psychopharmaka.

Bücher (Auswahl):
- Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht.
- Die Macht der inneren Bilder. Wie Visionen das Gehirn, den Menschen und die Welt verändern. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht.
- Biologie der Angst. Wie aus Stress Gefühle werden. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht.
- Auf Schatzsuche bei unseren Kindern (zus. m. J. Prekop).Ein Entdeckungsbuch für neugierige Eltern und Erzieher. Kösel-Verlag.
- Neues vom Zappelphilipp (zus. m. H. Bonney). ADS/ADHS verstehen, vorbeugen und behandeln. Walter-Verlag

Karl Gebauer, Gerald Hüther: Kinder suchen Orientierung

W+B Agentur-Presseaussendung Mai 2003
<<Anregungen für eine sinn-stiftende Erziehung – auch für Überlebende? >>
Buchbesprechung
370<<Karl Gebauer, Gerald Hüther: Kinder suchen Orientierung >>
Mitautoren: F. Resch, K. Thomas, H. Petri, F. Steffensky. R.. Ratzlaff, W. Bergmann, A. Gruen, S. Chamberlain. E. Heinemann, R. Kahl
248 S.; Paperback mit Klappen; EUR 16,90
Walter Verlag
, München, 2002 / www.patmos.de

"Wir widmen dieses Buch den ermordeten Lehrern und Schülern der Gutenbergschule in Erfurt" schreiben die Autoren gleich eingangs, zwei Göttinger Lehrende – Gebauer als ehemaliger Rektor und Hüther als Professor für Neurobiologie -. Die Widmung macht etwas stutzig: Warum nicht im besonderen die wohlwollenden Gedanken im Buch auch den Überlebenden? Da ist tiefe Resignation im Spiel. Klar ist: Die Flut von Überreizung desorientiert die Heranwachsenden und nicht nur die, sondern uns alle im Boot unserer Geschichtlichkeit, Geschicke. Da ist Geschicklichkeit erforderlich – im Zusammenleben miteinander: Kinder, Jugendliche, Eltern, Nachbarn, Lehrende und alle technisch-wissenschaftlichen, kulturellen und religiösen wie politischen Kräfte betreffend.
Da aber kommen von diesen so genannten hochkarätigen Autoren keine essentiellen Beiträge, wieder nur Vergangenheitsbewältigung, mit Trauerflor verziert. PISA verweilt in Schieflage.