Prof. Dr. Manfred Spitzer: Das Gehirn und seine Fehler - Warum irren wir uns ?
SWR2 Wissen: Aula - Prof. Dr. Manfred Spitzer: Das Gehirn und seine Fehler - Warum irren wir uns
Autor und Sprecher: Professor Manfred Spitzer *
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
Sendung: Sonntag, 6. Januar 2008, 8.30 Uhr, SWR 2
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ÜBERBLICK
Das Gehirn hat täglich eine Flut von Informationen zu bewältigen, und erstaunlicherweise unterlaufen ihm dabei nur wenig Fehler. Das liegt daran, dass zum einen viele Steuerungsvorgänge weitgehend automatisiert sind und dass zum anderen das Gehirn auf einer unbewussten Ebene richtige Entscheidungen trifft, die dem Bewusstsein weitgehend verborgen bleiben. Der Volksmund bezeichnet das als "Bauchgefühl". Unser bewusstes Denken kann viele Fehler machen, unser Gehirn aber macht fast keinen. Professor Manfred Spitzer, Deutschlands wohl bekanntester Hirnforscher, erklärt, warum das so ist.
* Zum Autor:
Manfred Spitzer, geb. 1958, Studium der Medizin, Psychologie und Philosophie, Weiterbildung zum Psychiater, 1989 Habilitation im Fach Psychiatrie; 1990-97 Oberarzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Heidelberg, seit 1997 hat Spitzer den neu eingerichteten Lehrstuhl für Psychiatrie an der Universität Ulm inne, seit 98 leitet er die dortige Psychiatrische Universitätsklinik; seit 2004 ist Spitzer Leiter des von ihm gegründeten Transferzentrums für Neurowissenschaften und Lernen in Ulm.
Bücher von Manfred Spitzer:
- Vorsicht Bildschirm! Elektronische Medien, Gehirnentwicklung, Gesundheit und Gesellschaft. Klett-Verlag.
- Selbstbestimmen. Gehirnforschung und die Frage: Was sollen wir tun. Spektrum-Verlag.
- Musik im Kopf. F. K.-Verlag.
- Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens. Spektrum Verlag.
- Schokolade im Gehirn. F. K.-Verlag.
- Ketchup und das kollektive Unbewußte. F. K.-Verlag.
- Geist im Netz. Spektrum Verlag.
- Nervensachen. Schattauer-Verlag.
Buch zum Thema:
Nur wer Fehler macht, kommt weiter - Wege zu einer neuen Fehlerkultur,
Hrsg: SWR-Redakteur Ralf Caspary, Erscheinungsdatum: 15.01.2008 beim Herder-Verlag.
INHALT
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Ansage:
Heute mit dem Thema: „Das Gehirn und seine Fehler – Warum wir uns irren“.
Seit einiger Zeit lautet in den Etagen vieler Unternehmen die neue Losung: Liebe Mitarbeiter, macht ruhig Fehler, denn aus Fehlern lässt sich vieles lernen, nicht nur über unsere kognitiven Defizite, nicht nur über Schwachstellen im Produktionsprozess, sondern auch darüber, wie unser Gehirn eigentlich funktioniert, warum es Fehler macht, dieselben erkennt und versucht zu korrigieren.
Und auch in der Schule spricht man neuerdings wieder von einer kreativen Fehlerkultur: Der Lehrer soll Fehler nicht als störende Elemente stigmatisieren und ausblenden, er soll mit ihnen arbeiten, um den Lernprozess zu optimieren.
Dieses Credo für eine Fehlerkultur basiert auf neuen Erkenntnissen der Hirnforschung, auch die schaut mit Interesse auf den Fehler, sie beobachtet das Gehirn beim Fehlermachen und hat einige wichtige Forschungsergebnisse liefern können, die man im Betrieb oder in der Schule umsetzen kann.
Professor Manfred Spitzer ist Deutschlands wohl bekanntester Hirnforscher. Er ist Psychiater, Psychologe, ärztlicher Direktor der Psychiatrischen Uniklinik in Ulm, Gründer und Leiter des Ulmer Transferzentrums für Neurowissenschaften und Lernen. In der SWR2 AULA erläutert Spitzer, warum das Gehirn Fehler macht, vor allem aber auch, warum es trotz der ungeheueren Datenmenge, die es sekündlich zu verarbeiten hat, so erstaunlich gut funktioniert.
Manfred Spitzer:
Wenn man mal die Nervenverbindungen zählt, die von allen Sinnesorganen zum Gehirn führen, damit es Informationen von außen aufnehmen und verarbeiten kann, so kommt man auf insgesamt 2,5 Millionen Fasern. Über diese Fasern können bis zu 300 Impulse pro Sekunde transportiert werden; daraus resultiert ein unglaublich hoher Input, den unser Gehirn andauernd verarbeitet. Und es produziert dabei wiederum einen sehr großen Output: Über 1,5 Millionen Fasern geben etwa 300 Impulse pro Sekunde „heraus“, so dass das Gehirn letztlich als ein Hochleistungsrechner verstanden werden kann, der aus einem hohen Input einen mindestens ebenso hohen Output produziert. Was wir bei diesem Prozess der Datenverarbeitung nicht merken ist, dass unser Gehirn trotz immenser Datenmengen meistens ohne Störungen und Fehler perfekt arbeitet und funktioniert.
Wie ist das möglich? Schauen wir uns zunächst die Informationsverarbeitung im Bereich der Sprache und des Sprechens an. Wenn wir einen Menschen sprechen hören, muss unser Gehirn komplizierte akustische Muster identifizieren können, und es muss diese auch noch mit Bedeutungen versehen, die helfen den Inhalt des Gesprochenen zu erschließen. Dabei könnte es passieren, dass der große Input an Informationen das Gehirn einfach überfordert und lahm legt, quasi paralysiert, weil es ja nicht nur mit akustischen Mustern konfrontiert wird, die zusammen Wörter und eine bestimmte Bedeutung ergeben, sondern daneben auch mit solchen Informationen, die für den Inhalt des Gesprochenen unerheblich sind, wie etwa ein unerwünschtes akustisches Nebengeräusch, ein Nießen, ein Schmatzen oder ähnliches. Doch unser Gehirn funktioniert auch hier perfekt, weil wir schon ganz viel gehört haben und weil unser Gehirn dieses Gehörte nicht einzeln abgespeichert hat, sondern sich nur die Regeln gemerkt hat, mit dessen Hilfe es die Informationen strukturiert. Eine dieser Regeln besagt etwa, dass ein „t“ ein Verschlusslaut ist, der eine ganz bestimmte akustische Geometrie hat, die ihn von allen anderen Lauten unterscheidet. Das „t“ können Sie beispielsweise nicht rückwärts aussprechen, weil da der Luftstrom ins Stocken kommt. Und dieses Wissen über die Physik von Luftströmen, über die Physik von Sprachlauten ist gespeichert und hilft dem Gehirn die Datenmenge zu strukturieren.
Ähnliches gilt für die Grammatik der Sprache. Schon Kleinkinder wissen, dass Verben, die auf „ieren“ enden, den Perfekt nicht mit „ge-“ bilden: Ich „habe mich rasiert“ und nicht: ich „habe mich gerasiert“. Auch hier merkt sich das Gehirn nicht alle Verben, für die Ausnahmen gelten, sondern es merkt sich die zugrundeliegenden Regeln.
Das Gehirn ist eben eine effiziente „Maschine“, die nicht jeden Kleinkram speichert. Das Gehirn sucht nach Regeln und Mustern, es abstrahiert und generalisiert also. Und das funktioniert in nahezu allen Lebensbereichen. Warum entscheiden Sie sich meistens richtig, wenn Sie ein Auto kaufen wollen oder den Job wechseln müssen? Weil sie sich auch hier auf Regeln verlassen können, die ihr Gehirn gespeichert hat, und weil hier das Bauchgefühl eine wichtige Rolle spielt. Warum aber können wir uns meistens auf das „Bauchgefühl“ verlassen? Ganz einfach. Nicht weil Sie etwa im Bauch Nervenzellen haben. Sie haben dort zwar ein paar, aber die haben nichts mit dem Denken zu tun.
Wenn wir sagen, wir entscheiden uns „mit dem Bauch“, dann ist das eine erfolgreiche Strategie, weil unsere 20 Milliarden Nervenzellen im Gehirn von alleine schon das Richtige machen und wir deswegen gar nicht mehr groß darüber nachdenken müssen; wir treffen aufgrund der Lebenserfahrungen, die wir schon gemacht haben, meistens eine richtige Entscheidung. Oft, wie gesagt, funktioniert das ohne Nachdenken, einfach so, unser Gehirn macht das automatisch, und es macht ziemlich wenig Fehler dabei. Zum Glück für uns!
Berücksichtigen wir in diesem Zusammenhang ein scheinbar banales Experiment, das vor gar nicht so langer Zeit von Neurowissenschaftlern publiziert worden ist, und dessen Ergebnis so einleuchtend ist, dass man sich wundert, dass man das nicht schon früher herausgefunden hat. Die Versuchspersonen - das waren wie so oft Studenten- mussten ein Auto kaufen. Das war die scheinbar ganz einfach zu bewältigende Aufgabe. Es gab vier Autos im Angebot, von denen sie eins auswählen konnten: A, B, C, D. Der einen Gruppe der Teilnehmer präsentierten die Wissenschaftler vier Sätze pro Auto, die das Objekt näher beschrieben, in dem Sinne: Auto A fährt so und so schnell, Auto B hat so und so viel PS, Auto C hat eine Klimaanlage und Auto D hat ein Schiebedach. Der anderen Gruppe legte man nicht vier, sondern ganze 12 Sätze vor.
Die Forscher haben das Ganze so arrangiert, dass 75 Prozent der Sätze ganz klar ein bestimmtes Auto bevorzugten, es war also eigentlich sonnenklar, welches Auto das Beste ist. Und dieses sollten die Studenten anhand der Informationen, die sie über die Autos erhalten haben, heraussuchen.
Es gab darüber hinaus bei der Durchführung des Experiments noch folgende Variationen: Einige Versuchspersonen hatte drei Minuten Zeit, darüber nachzudenken, welches Auto sie kaufen möchten, nachdem sie alles über die Autos erfahren hatten. In einer anderen Gruppe wiederum mussten die Versuchspersonen, während sie sich fragten, welches Auto wohl das Beste sei, rechnen. Die Wissenschaftler sagten ihnen: „Hört zu, wir wollen einfach wissen, wie clever ihr seid, zieht bitte von 1000 immer 7 ab.“ Und nach einer Weile hat man den Probanden gesagt: „Jetzt müsst ihr Euch beeilen, rechnet so schnell ihr könnt: 1000, 993 usw.“ Nach drei Minuten wurden die Versuchspersonen dann aufgefordert, das Rechnen sofort zu stoppen und ad hoc zu sagen, welches Auto sie kaufen würden. Also einmal konnten die Teilnehmer drei Minuten nachdenken und einmal nicht. Einmal hatten sie viele Informationen über die Autos und einmal nicht so viele. Was kam bei dem Experiment heraus?
Wenn die Probanden nur vier Informationen (in vier Sätzen) pro Auto erfahren hatten und drei Minuten nachdenken konnten, dann kauften sie in 50 Prozent der Fälle das richtige Auto. Und wenn man sie nicht nachdenken ließ, dann kauften nur noch 40 Prozent das richtige Auto. Das heißt, sie waren nicht mehr so ganz gut. Wenn sie aber 12 Informationen (in 12 Sätzen) pro Auto bekommen hatten und drei Minuten darüber nachdenken durften, dann kauften nur sie in ca. 20 Prozent der Fälle das richtige Auto. Und wenn sie bei viel Information (12 Infos) keine Zeit zum Nachdenken hatten, dann kauften sie erstaunlicherweise sogar in 60 Prozent der Fälle das richtige Auto. Mit anderen Worten: Wenn es richtig kompliziert ist und wenn man den Probanden keine Zeit zum Nachdenken lässt, dann fällen sie die richtige Entscheidung mit deutlich größerer Wahrscheinlichkeit, als wenn sie lange darüber nachdenken würden, welches Auto denn nun das Beste sei.
Es wurden weitere ähnliche Experimente durchgeführt und die erbrachten genau die gleichen Ergebnisse: Wenn es einfach ist, dann dürfen Sie ruhig denken, das heißt das Für und Wider genau abwägen. Wenn es kompliziert ist, gibt die Forschung einen wichtigen Tipp: Bloß nicht nachdenken, sondern der Intuition folgen!
Im Grunde genommen ist die Sache logisch. Denn seit etwa 50 Jahren wissen die Neurowissenschaftler und Psychologen, dass unser Gehirn, wie ich schon erwähnt habe - unglaublich viele Informationen verarbeiten kann. Unser Bewusstsein hingegen, unser bewusster Geist, der kann lediglich etwa sieben Sachen oder besser: Informationseinheiten gleichzeitig behalten. Sieben plus minus zwei, um genau zu sein. Mit mehr Informationshäppchen können wir nicht im Gehirn jonglieren, um sie mittels bewusstem Denken zu verarbeiten. Nebenbei gesagt: Schimpansen - das hat man vor ein paar Jahren herausgefunden - schaffen etwa fünf solcher Informationseinheiten; unsere Vorfahren sind nicht ganz so gut wie wir, aber auch nicht viel schlechter.
Wir haben etwa 20 Milliarden Gehirnzellen allein in der Gehirnrinde. Mit diesen können wir unglaublich viel Information gleichzeitig verarbeiten. Und das wiederum heißt, bezogen auf das eben geschilderte Experiment und dessen Ergebnis: Wenn wir diese Verarbeitung durch bewusstes Nachdenken nicht stören, dann macht unser Gehirn auf unbewusster Ebene die Sache meistens „intuitiv“ richtig. Wenn wir aber anfangen, komplizierte Kriterienlisten aufzustellen: diese sechs Punkte sprechen gegen den neuen Job, acht dafür, diese Eigenschaft spricht für das kleinere Auto, diese für das große elegante, und wenn wir glauben, wir könnten wie bei dem Auto-Experiment ohne Probleme 48 verschiedene Aussagen gegeneinander abwägen, um die richtige Entscheidung zu treffen, dann liegen wir falsch und genau dann machen wir die meisten Fehler.
Es klingt paradox, wurde aber mit Hilfe vieler Experimente bestätigt: Unser bewusstes Denken macht dann Fehler, wenn unser Gehirn eigentlich keine macht. Auf der Ebene der Intuition unterlaufen uns fast keine Fehler, auf der Ebene des bewussten Denkens unterliegen wir oft einem Irrtum, fällen falsche Urteile und verhalten uns unlogisch.
Das kann auch fatale Auswirkungen haben, wie eine andere Studie gezeigt hat, die auch noch nicht so alt ist. Wissenschaftler haben gewiefte Börsenmakler in den Scanner gelegt. Man ließ sie dann wie in der beruflichen Situation mit Aktien handeln, und zwar mit volatilen Papieren oder festverzinslichen Wertpapieren. Die Forscher haben natürlich die Rahmenbedingungen des Experiments - die Entwicklung der Aktienkurse, die Risiken und Chancen - im vorhinein festgelegt. Die Makler lagen also bequem in den Scannern und handelten emsig mit ihren Aktien. Ihre Gehirne wurden dabei permanent beobachtet. Nun gibt es prinzipiell zwei Sorten von Fehlern, wenn man mit Aktien handelt: Zum einen geht man ein zu hohes Risiko ein, das man besser nicht eingegangen wäre, aufgrund seiner Erfahrungen an der Börse. Aber man macht es trotzdem, riskiert viel Geld und verliert es. Der andere Fehler ist: Nachdem, was man mit der Aktie schon erlebt hat, müsste man sie eigentlich kaufen. Aber man zögert, hat kein gutes Gefühl, geht nicht das nötige Risiko ein und macht einen Risikovermeidungsfehler.
Der Scanner „beobachtete“ also die ganze Zeit die Gehirne der Börsenmakler und die Wissenschaftler konnten zusehen, was in den Gehirnen der Börsenmakler vor sich ging, wenn ein Fehler gemacht wurde, entweder dadurch, dass ein zu hohes Risiko eingegangen wurde oder dadurch, dass die Versuchsteilnehmer auf Nummer Sicher gehen und jedes Risiko vermeiden wollte. Die Wissenschaftler interessierten sich bei dem Experiment besonders für die Frage, ob es im Gehirn ein Signal gebe, das dem Fehler, den der Makler macht, vorausgeht. Und die Antwort war, ja, das gibt es tatsächlich. Man konnte auch ein Gehirnareal für dieses Signal ausmachen: es befindet sich im Nucleus acumbens und hat mit der Risikobereitschaft etwas zu tun. Eine weitere wichtige Rolle spielte bei dem Experiment ein anderes Areal im Gehirn, die sogenannte „Insel“, das vor allem mit negativen Bauchgefühlen verbunden ist.
Das Experiment zeigte: Im Gehirn des Börsenmaklers lag ein Signal vor, das ihm einen Fehler signalisiert hat. Der Börsenmakler war allerdings nicht fähig, dieses Signal in seinem Bewusstsein auszulesen. Der Scanner dagegen schon. Das Gehirn des Börsenmaklers, das dokumentierte der Scanner, ist also schlauer als der Börsenmakler, als sein Bewusstsein. Mit anderen Worten: Wenn Sie einen Scanner haben und einen Börsenmakler, dann makeln Sie auf jeden Fall gewinnorientierter mit beiden zusammen als nur mit dem Börsenmakler.
Die moderne Neurowissenschaft kann also dem Gehirn beim Fehlermachen zugucken und zeigen, was wo genau passiert. Vielleicht wird es in der Zukunft aufgrund dieser Forschungen sogar möglich sein, dem Gehirn dabei zu helfen, Fehler zu vermeiden.
Prinzipiell kann man sagen: Das Gehirn macht Fehler, weil die Kapazitäten des bewussten Denkens sehr begrenzt sind, weil es zugleich schnell arbeiten muss und eine ungeheure Menge an Informationen zu verarbeiten hat. Wichtig ist in diesem Zusammenhang: Das Gehirn hat es außerdem mit vielen Unwägbarkeiten zu tun, es muss ständig Voraussagen über eine ungewisse Zukunft machen, auch daraus resultieren Fehler. Zum Glück aber macht das Gehirn nur selten schwerwiegende Fehler, meistens macht es sogar alles richtig. Wann sind Sie zum Beispiel das letzte Mal über die Bordsteinkante gestolpert? Das passiert in der Regel sehr selten, es sei denn, man leidet unter einer bestimmten Gehirn- oder Muskelkrankheit, die sich auf die Koordination der Bewegungen auswirkt. Wenn keine Krankheit vorliegt, ist es sehr wahrscheinlich, dass Sie selten stolpern, obwohl Ihr Gehirn bei jedem Schritt komplizierte Differenzialgleichungen löst. Es muss voraussagen können, wann die Schuhsohle die Straße berührt, wie hoch die Bordsteinkante ist, wie Sie die Kräfte verteilen müssen, wie ein paar Dutzend Muskeln zusammenspielen müssen, damit Ihre Bewegungen harmonisch ablaufen, ohne dass Sie auch nur einen Gedanken daran verschwenden müssen. Nicht viel anders ist es, wie wir gerade gesehen haben, mit komplizierten Entscheidungen, und das ist auch gut so. Meistens macht unser Gehirn keine oder nur wenige Fehler.
Was passiert aber, wenn es doch mal einen macht? Die Wissenschaft hat in den letzten 10 bis 15 Jahren hierzu interessante Forschungsergebnisse liefern können. Es scheint wirklich so zu sein, als gäbe es in unserem Gehirn ein bestimmtes Areal, das meldet, wenn wir einen Fehler gemacht haben, und es bringt uns sogar dazu zu versuchen, denselben zu korrigieren.
Schauplatz eines dieser Experimente ist die University of Oregon in Eugene an der Westküste der USA, nördlich von Kalifornien. Dort tragen Studenten und Professoren Sandalen und Jogginganzüge, man legt sehr viel mehr Wert auf Lässigkeit und Kreativität als auf Etikette und Konventionalität. Die Wissenschaftler dieser Universität haben ein Experiment entwickelt und durchgeführt, das die Versuchsteilnehmer unter Zeitdruck setzte, mit folgender Aufforderung: „Versuch’s noch ein bisschen schneller, mach’s noch ein bisschen besser.“ Dabei war die Aufgabe, die die Teilnehmer zu erledigen hatten, ganz einfach: Man musste zwei Tasten drücken und einen Stimulus erkennen und wurde dabei durch weitere Stimuli ablenkt. Weil die Probanden dazu angetrieben wurden, immer schneller zu reagieren, begannen sie bei diesem Experiment natürlich irgendwann Fehler zu machen. Der Witz der Versuchsanordnung war: man hat sie nicht nur irgendwelche Knöpfchen drücken lassen, man hat mit 64 Elektroden, die an der Kopfhaut der Probanden befestigt waren, zugleich die Gehirnströme abgeleitet. Das Interessante an der Versuchsanordnung in Oregon war nun folgendes: Die Wissenschaftler sagten sich, wir gucken jetzt mal nur nach den Fehlern. Früher hatte man die Fehler in der neurowissenschaftlichen Forschung immer ausgeblendet, die waren sozusagen etwas für den Papierkorb, dafür interessierte man sich nicht. Und was früher im Papierkorb landete, war jetzt plötzlich Gegenstand der Analyse. Die Wissenschaftler hatten also die Gehirnpotenziale der Teilnehmer aufsummiert, die immer genau dann entstanden waren, wenn das Gehirn einen Fehler gemacht, der Teilnehmer also den falschen Knopf gedrückt hatte. Im Labor-Jargon nannte man das damals das „Ups-Potenzial“, denn die Versuchspersonen haben meistens schon während sie die Taste gedrückt haben, gemerkt: „Oh, ich hab hier einen Fehler gemacht.“ Und das Interessante war, das Gehirn hat das auch sofort gemerkt, sogar noch ein bisschen früher als es den Versuchspersonen bewusst war, denn es hatte sich immer schon ein Potenzial eingestellt, das diesem „Ups, ich hab einen Fehler gemacht“ vorausgegangen war und das offensichtlich die Ursache für das „Ups, ich hab was falsch gemacht“ darstellte.
Wie kann man dieses Ergebnis interpretieren? Ist das Gehirn schlauer als das Gehirn? Es hat einen Fehler gemacht, ihn bemerkt und sich daraufhin korrigiert. Wie kann das sein? Wie kann es im Gehirn ein System geben, das schlauer ist als das Gehirn selbst, ein System, das einen Fehler identifiziert, bevor der Person diese Fehlleistung bewusst wird? Wenn man darüber nachdenkt, gibt es ziemlich kniffelige Widersprüche aufzulösen, und das hat die Wissenschaftler in Oregon, dann auch in Pittsburgh und in Princeton dazu animiert, noch weiter zu fragen. Die Kollegen in Pittsburgh und Princeton haben sich daraufhin ein Experiment ausgedacht, das noch etwas cleverer war, als das aus Oregon, und das ging so: Man hat dafür gesorgt, dass die Stimuli im Experiment so beschaffen waren, dass manchmal die Chance, einen Fehler zu machen, größer war und manchmal sehr gering. Das Interessante war: Auch dann wenn die Versuchspersonen keinen Fehler gemacht haben, aber die Situation so war, dass die Chance einen Fehler zu machen, größer war, „sprang“ das Gehirn mit seinem Fehlerpotenzial „an“.
Daran entzündete sich dann eine lange Diskussion, die um die Frage kreiste: Haben wir einen Homunkulus, ein „kleines Männchen“ im Kopf, das immer guckt, wann der „Große“ einen Fehler macht und eigentlich immer schon Bescheid weiß. Denn immer wenn Sie merken, Sie haben einen Fehler gemacht, müssen Sie ja wissen, wie die richtige Antwort lautet, sonst könnten Sie ja den Fehler gar nicht als solchen erkennen. Und wenn so ein Männchen da ist, dann kann es natürlich immer sagen, jetzt hast Du wieder falsch gehandelt. Es gibt bei dieser Homunkulus-Theorie allerdings ein Problem: Warum hat das Männchen nicht gleich das Richtige gemacht, wenn es ohnehin als allwissendes Prinzip im Gehirn sitzt? Mit anderen Worten: Wenn Sie dieses Fehlerpotenzial, das es offensichtlich gibt, das man experimentell nachweisen konnte, dadurch erklären, dass sie sagen, im Gehirn gibt es ein bestimmtes Areal, nennen wir es mal nicht Männchen, es wird schon irgendein Stückchen Gehirnrinde sein, das immer schon weiß, was richtig ist und was nicht und das meldet: „Hoppla, jetzt hast du einen Fehler gemacht“, dann stellt sich sofort die Frage, warum dieses Stück Gehirnrinde nicht gleich den Fehler vermeidet. Sinnvoller und weniger mystisch ist es, diese Homunkulus-Theorie ad acta zu legen und zu sagen: Es gibt ein Gehirnareal, das einfach nur merkt, Achtung! Hier schicken sich Gehirnzellen an, Output A und Output B zu produzieren, was dazu führen wird, dass gleich die Finger Taste A und B gleichzeitig drücken werden, hier sind fälschlicherweise zwei am Output am Werk. Und genau dieses Areal könnte dann in der Tat die Wahrscheinlichkeit des jetzt gleich Produzierens eines Fehlers, messen, und dann , wenn der Fehler gemacht ist, sehr rasch anspringen und zu einem Verhalten führen, das diesen Fehler korrigiert.
Man kann auch so sagen: Es ist viel sinnvoller, sich als Neurowissenschaftler einen cerebralen Mechanismus auszudenken, der sozusagen bei vermehrter Unsicherheit die Produktion mehrerer Outputs registriert und dann sofort mit der Aufforderung reagiert: „Regulier doch nochmal nach, stell die Schärfe z. B. in den Input-Kanälen nach, so dass klarer wird, welcher Output als nächstes produziert werden muss.“ Das ist logisch, und das kann man auch mit neuronalen Netzwerken, sprich mit mathematischen Modellen von Gehirnfunktionen mittlerweile theoretisch erfassen und modellieren. Das heißt, man kann das verstehen, ohne dass man an ein allwissendes Männlein glauben muss.
Und so, wie es derzeit aussieht, haben wir ein Stückchen Gehirn im Kopf, man spricht vom „anterioren Gyrus cinguli“, dessen Aufgabe es unter anderem ist, uns einen Fehler zu melden und uns auch schon zu melden, wenn wir im Begriff sind, einen Fehler zu machen, so dass wir, wenn es ganz gut läuft, Zeit zur Korrektur haben und den Fehler gar nicht erst machen.
Warum machen wir dann trotzdem manchmal Fehler? Nun, zum einen - wie im Experiment veranschaulicht- weil wir unter Zeitdruck arbeiten und weil der Zeitdruck dazu führt, dass wir die sogenannte „speed-accuracy trade-off“, das heißt unsere Balance zwischen ganz gut und ganz akkurat, zwischen einigen Fehlern, die uns unterlaufen, und Null Fehlern nicht nach Wunsch in die eine oder andere Richtung verschieben können. Normalerweise, wenn kein Zeitdruck vorhanden ist, funktioniert das ganz gut: Der Fluglotse darf keinen einzigen Fehler machen, sonst gefährdet er Menschenleben. Wenn Sie aber mal in Ihrer Küche grüne und weiße Erbsen für den Sonntagseintopf sortieren, dann macht es nichts, wenn da mal drei grüne oder weiße sind wo sie nicht hingehören., Die Suppe soll schnell fertig werden, also stellen Sie diese Balance eher auf unscharf dafür aber schnell. Und so stellen wir je nachdem, wie die Anforderungen an unsere Arbeit sind, unsere Fehlertoleranzgrenze unterschiedlich ein. Das ist auch gut so.
Vielfach wird diese Fehlertoleranz sogar für uns vom Gehirn automatisch eingestellt, wir verfügen über cerebrale Systeme, die dafür sorgen, dass wir in einer Situation ein bisschen akkurater und in einer anderen ein bisschen lockerer sind, je nach dem, wie die Anforderungsprofile dieser Situationen aussehen. Bei einer Klassenarbeit wird dieses System im Schülergehirn ohne Zweifel zur Akkuratesse tendieren müssen. Bei einer Party hingegen sollte man auf schludrig und entspannt stellen. Und noch ein anderer Aspekt kommt hinzu: Menschen sind unterschiedlich von Geburt an. Da gibt es die gut gelaunten Optimisten, die lassen auch mal fünf gerade sein, und von denen wollen wir wirklich nicht, daß sie für den Flugverkehr und dessen Sicherheit zuständig sind. Und dann gibt es die anderen, die nehmen sich wirklich alles zu Herzen, machen alles ganz akribisch und haben womöglich Alpträume, weil sie vielleicht etwas nicht ganz so gut gemacht haben. Aber sie sind unglaublich zuverlässig. Auch solche Perfektionisten brauchen wir. Es ist gut, dass es unterschiedliche Menschen mit einem unterschiedlichen Fehlerverhalten gibt. Schlimm nur, wenn sich ein Clown in die Flugsicherung oder ein Fluglotse in den Zirkus verirrt, dann geht es richtig schief, und dann kann man sagen: Fehler entstehen häufig dadurch, dass wir Menschen uns in der falschen Umgebung wiederfinden. Oft passiert das nicht, weil es die meisten Menschen schaffen, dem, was in ihnen angelegt ist, Raum zu geben, und so gelangt jeder irgendwann mal dorthin, wo er von seiner genetischen Ausstattung auch hingehört.
Menschen sind also höchst unterschiedlich, auch was das Fehlermachen anbelangt. Wir können und wollen gar nicht Fehler um jeden Preis vermeiden, und umgekehrt kann es auch nicht sein, dass man sagt: „Habt Ihr heute schon einen Fehler gemacht?“ Und wenn ja: „Bestens, man kann ja aus seinen Fehlern nur lernen.“ Natürlich kann man aus Fehlern lernen, aber sie deswegen zu machen, ist auch keine gute Idee.
Ich glaube, mit Fehlern ist es so wie mit allem Menschlichen. Es ist ganz wichtig, dass man das Gehirn kennt, und Gehirnforschung ist in dieser Hinsicht Selbsterfahrung im besten Sinne des Wortes. Wenn man das Gehirn auch beim Fehlermachen beobachten kann, dann lernt man, warum es Fehler macht, wie es auf Fehler reagiert, wofür Fehler gut sind und wie man Fehler vermeiden kann. Die Hirnforschung hat noch viel zu tun!