SWR2 Wissen: Aula . Giovanni Maio : Der Sinn des Alterns . Plädoyer gegen den Fitnesswahn

Diskurs SWR2-Kooperation  Topoi A - Z
Alterssinn -Fitnesswahn (G. Maio)
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SWR2 Wissen: Aula . Giovanni Maio : Der Sinn des Alterns . Plädoyer gegen den Fitnesswahn
Erst-Sendung: Sonntag, 13. Mai 2012, 8.30 Uhr
Wiederholung: Sonntag, 24. Juni 2018, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Caspary Produktion: SWR 2012
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers: https://www.swr.de/swr2/programm/.

AUTOR
Giovanni Maio ist Lehrstuhlinhaber für Medizinethik an der Universität Freiburg, wo er das Institut für Ethik und Geschichte der Medizin leitet. Er ist sowohl Philosoph als auch Arzt, er fünf Jahre lange Innere Medizin praktiziert, bevor er ganz in die Theorie ging und sich für Ethik in der Medizin habilitierte. Sein Hauptaugenmerk gilt den philosophischen und theologischen Grundlagen der Medizinethik, aus denen heraus sich eine anthropologisch orientierte Bioethik entfalten lässt, die den Grundfragen des Menschseins neuen Raum gibt.
Auswahl seiner Publikationen:
- Mittelpunkt Mensch – Ethik in der Medizin. Schattauer, 2. Auflage 2017.
- Altwerden ohne alt zu sein? Ethische Grenzen der Anti-Aging-Medizin. Alber 2010.
Stand: 22.6.2018

ÜBERBLICK
Wer will schon alt sein? Die Lebenserwartung steigt, doch der Zeitgeist fordert Fitness und Jugendlichkeit. Wie lässt sich das vereinen? Medizinethiker Prof. Giovanni Maio spricht über den Sinn des Altwerdens.(Produktion 2012)
"Älter werden – kein Problem. Nachzulassen kommt für mich nicht in Frage!", so ein Werbeslogan der Anti-Aging-Industrie. Ist denn nur ein fittes Altsein ein gutes Altsein? Jedenfalls zeigt dieser Slogan, in welcher Einstellung zum Alter wir leben: am besten abschaffen. Und das ist ein Irrweg, der unglücklich macht!
Flucht vor den Realitäten des Alterns
Je mehr die Medizin das Alter als etwas zu Bekämpfendes bezeichnet, desto schwerer wird das Alter. Die Botschaften der Anti-Aging-Industrie verstetigen die Abhängigkeit von den Produkten der Gesundheitsindustrie und sie verschließen den Menschen vor der Einsicht, dass das Nachlassen zum Leben, zu einem runden Leben dazugehört. (Giovanni Maio, 2018)
Altern und Alter positiv betrachtet
Durch die Abnahme der Aktivitätsmomente im Alter und durch die Vergegenwärtigung der Bedingtheit allen Seins und allen Könnens erhält der Mensch die Chance, das Wichtige vom Unwichtigen, das wirklich Tragende vom vermeintlich Tragenden zu unterscheiden.
Glückliche Seniorin mit Katze auf dem Arm
Glücklich zu Hause: Auch im Alter leben wie und mit wem man will.
Insofern könnte man das Alter als eine Phase betrachten, n der man zu besonderen Einsichten gelangt, weil man in gewisser Weise "unbestechlich" geworden ist. Das Alter als Lebensphase des Umgangs mit Begrenzungen und Verlusten kann auf diese Weise eine stete Rückerinnerung für eine Gesellschaft sein, die der Erinnerung bedarf, dass der Mensch nur dann gut leben kann, wenn er lernt, mit seiner Angewiesenheit gut umzugehen. (Giovanni Maio)
Prof. Dr. Giovanni Maio
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MANUSKRIPT
Ansage:
Mit dem Thema: „Der Sinn des Alterns – Überlegungen jenseits des Fitnesswahns“.
Wir werden immer älter, das ist schön, das eröffnet neue Chancen für neue Lebensphasen, nur da gibt es ein Problem: Obwohl wir immer älter werden, möchten eigentlich nur sehr wenige alt sein, und wenn man schon dem Schicksal nicht entrinnen kann, wenn man altert, so will man jugendlich alt sein. Das klingt irgendwie verrückt, doch so sieht heute das gesellschaftliche Credo aus.
Das sagt der Medizinethiker an der Universität Freiburg, Professor Giovanni Maio. In der SWR2 Aula kritisiert er diesen Jugendlichkeitswahn und er zeigt auf, wie man das Alter und Altern positiv sehen kann.

Giovanni Maio:
Vor kurzem stieß ich auf einen Werbeslogan für eine Anti-Aging-Hautcreme. Der Slogan lautete: „Älter werden – kein Problem. Nachzulassen kommt für mich nicht in Frage!“
Altsein ist also nur dann gut, wenn man nicht nachlässt. Dieser Werbeslogan mag in eindrücklicher Weise verdeutlichen, in welcher Einstellung zum Alter weite Teile der heutigen Gesellschaft leben. Die implizite Botschaft dieser Werbung besteht darin, dass ein gutes Altern nur das sein kann, das die Signaturen des Altseins, nämlich das Nachlassen, eben nicht zulässt. Mehr noch: Wenn das Nachlassen im Alter doch eintritt, so liegt es an einem selbst, ist dies Resultat der eigenen Versäumnisse. Diese Werbung, sie möchte zum Ausdruck bringen, dass das Alter in der eigenen Hand liegt und dass man wohl beraten ist, früh genug das Alter in die Hand zu nehmen. Das Alter früh genug in die eigene Hand zu nehmen, um das Alter selbst zu vermeiden. Das ist letztlich die paradoxe Botschaft dieser Werbung und zugleich das Bestreben weiter Teile der Gesellschaft. Das Alter soll nicht bewältigt, sondern vermieden werden. Es soll nicht gemeistert oder gefüllt, sondern am liebsten ganz abgeschafft werden.
Je präsenter man sich das Sterbenmüssen vor Augen hält, umso bewusster wird man leben können. Wenn aber nun das Credo unserer Zeit die Verhinderung des Alters als implizites Ziel formuliert, so steckt dahinter die radikale Abwehr der Zeitlichkeit des Seins. Es ist der verzweifelte Versuch, die Zeit anzuhalten, ein Versuch, die Spuren der zerronnen Zeit zu tilgen, in der geradezu wahnhaften Annahme, durch die Tilgung der Spuren, die die Zeit hinterlassen hat, die zerronnene Zeit selbst zurückzudrehen.
Der moderne Mensch hält es nicht aus, an seine Vergänglichkeit erinnert zu werden, und so tüncht er die Spuren seiner zerronnenen Lebenszeit in ein Narkotikum, das ihn diesen Schmerz vergessen machen soll. Jeder vernünftige Mensch wird aber wissen, dass auch das beste Narkotikum nur eine Weile hält und dass das Narkotisieren des Schmerzes an der zerrinnenden Zeit kein Mittel sein kann gegen die Zeit, die zerrinnt. Denn die nie wieder zurückzugewinnende verflossene Zeit schreitet weiter und holt jeden Menschen ein. Mehr noch: Man geht davon aus, dass man einen Zugewinn hätte, wenn man nur die Zeitlichkeit aufhöbe, aber genau das Gegenteil ist der Fall. Denn die Tiefe und die Zeitlichkeit, sie bedingen sich gegenseitig. Man kann eben nicht einfach ein altersloses Leben führen wollen und zugleich erwarten, dass dann trotzdem alle Gefühlsqualitäten erhalten bleiben. Das ist ein großer Irrtum, weil die Qualität des Fühlens gerade daran gebunden ist, dass wir wissen, dass unser Leben begrenzt ist.
Man ist so alt wie man sich fühlt, sagen wir gerne. Da ist natürlich etwas Wahres dran, aber diese Aussage ist auch gefährlich, weil man sich mit dieser Aussage auch flüchten kann in die Illusion des Noch-Nicht-Alt-Seins. Alt sind eben immer nur die anderen. Aber machen wir uns da nicht etwas vor? Seit der Antike ist das Reden vom Alter auch ein Reden vom Leiden an den Begleiterscheinungen des Altseins. Die Beschwerlichkeit des Alters kann man nicht wegleugnen, und sie darf auch nicht in romantisierender Weise bagatellisiert werden. Alter ist in gewisser Weise immer mit einem bestimmten Leid verbunden; es ist das Leid, das sich am Körper
manifestiert, aber es ist auch das Leid an der Unwiederbringlichkeit des Gewesenen, das Leid an dem Leben, das eine unverwischbare Vergangenheit kennt und nur noch um eine sehr begrenzte Zukunft weiß.
Altsein bedeutet, sich damit anfreunden zu müssen, dass man immer mehr schon gelebt hat und nicht nochmal eine Chance hat, dass immer mehr alle Karten ausgespielt sind. Letzten Endes ist das Alter eine Art Probe, die Probe darauf, ob man es schafft, das selbst gelebte Leben als solches anzunehmen. Es ist die Probe darauf, ob man sich mit der eigenen Lebensgeschichte anfreunden kann oder nicht. Je authentischer und erfüllter das Leben war, umso leichter wird es fallen, alt zu werden, weil es leichter fällt, sich mit dem Unwiederbringlichen anzufreunden. Ein Leben aber, das am Leben vorbeigelebt wurde, dieses Leben tut gerade im Alter besonders weh, weil man nur in begrenztem Maße eine neue Chance erhält. Die gegenwärtig zu konstatierende Flucht vieler Menschen in die Zelebrierung der Jugendlichkeit, diese Flucht ist letzten Endes der verzweifelte Versuch, diese Unwiederbringlichkeit zu verdrängen und auf diese Weise sich vor dem Schmerz des Altgewordenseins vermeintlich zu schützen.
Die heutige Zeit möchte nicht nur ein gesundes Altern, sie möchte im Grunde gar kein Altern, sondern ein „Einfrieren“ des jungen Menschen bis ins hohe Alter und bis kurz vor dem Sterbenmüssen. Diese Denkweise kommt nirgendwo deutlicher zum Ausdruck als in dem gegenwärtigen Boom der Anti-Aging-Medizin. Schon der Ausdruck des Anti-Aging bringt diese altersverneinende Grundeinstellung plakativ zum Ausdruck. Verkannt wird hierbei, dass das ganze Leben nur in Zyklen bestehen kann. Die Zyklenhaftigkeit des Lebens ist es, die den Menschen vor die Aufgabe stellt, sein Leben zu planen, Sorge für sein Leben zu tragen. Das Alter ist eben nur zu begreifen in Relation zu den anderen Phasen des Lebens. Das gesamte Leben ließe sich in dieser Konzeption begreifen als ein Prozess der Wandlung „vom tätigen zum betrachtenden Leben“.
Gerade die Antike ging davon aus, dass jedes Lebensalter sein Charakteristikum und seinen Sinn hat. Die Jahreszeiten eines Lebens sind eben alle für sich wertvoll, und jede Jahreszeit ist in ihrer eigenen Bedeutung als wertvoll anzuerkennen. In unserer heutigen Zeit der Leistung und des Wettbewerbs, in unserer Zeit der Glorifizierung des Könnens und Funktionierens wird statt der Anerkennung der Phasenhaftigkeit des Lebens nur noch das mittlere, aktive und tätige Lebensalter zum Modell für das ganze Leben erklärt. Dass diese Hochstilisierung der mittleren Lebensphase als Modellphase für das gesamte Leben problematisch sein kann, wird erst deutlich, wenn wir uns über den Sinn und Eigenwert des Alters näher Gedanken machen. Worin liegt der Sinn des Altseins?
1. Alter als klarer Blick auf die Wirklichkeit
Seit der Antike wurde es als besonderer Vorzug des Alters gesehen, dass der Mensch in dieser Lebensphase weniger von seinen Begierden und Leidenschaften abhängig sei und ihm dadurch ein klarerer Blick auf die Wirklichkeit ermöglicht würde. Man könnte den Vorzug des Alters in der Möglichkeit sehen, „eine Ruhe des Geistes zu finden“. Diese Ruhe des Geistes wird möglich, sobald das Materiell-Körperliche nicht mehr so im Mittelpunkt steht. Immer wieder wird dem Alter eine Affinität zum Geistigen, ja zum Spirituellen zugesprochen. Durch die Abnahme der Aktivitätsmomente im Alter und durch die Vergegenwärtigung der Bedingtheit allen
Seins und allen Könnens erhält der Mensch die Chance, das Wichtige vom Unwichtigen, das wirklich Tragende vom vermeintlich Tragenden zu unterscheiden. Insofern könnte man das Alter als eine Phase betrachten, in der man zu besonderen Einsichten gelangt, weil man in gewisser Weise „unbestechlich“ geworden ist im Alter. Man muss sich eben nicht mehr konform zeigen mit dem gängigen Denken, weil man nichts mehr zu verlieren hat. Und man braucht sich auch nichts mehr vorzumachen, weil man die Illusionen nicht mehr braucht. Man gewinnt dadurch die Befähigung, ohne Illusionen zu sehen und zu sagen, wie es ist. Dieser klare Blick des Alters stellt sich gerade dann ein, wenn der alte Mensch keine große Zukunft mehr hat und gerade dadurch weniger anfällig wird für Illusionen.
2. Alter als Vertiefung der Grundbedingungen des Menschseins
Man kann dem Alter nicht nur einen klareren Blick auf die Dinge zuschreiben, sondern man kann im Alter gar eine Auszeichnung sehen, die darin besteht, dass das Alter, so der Philosoph Thomas Rentsch, die Grundbedingungen des Menschseins radikalisiert und damit dem Menschen wesentliche Einsichten mitgibt wie eben seine grundsätzliche Verletzlichkeit, seine immer da seiende Leidbedrohtheit und seine grundlegende Schutzlosigkeit. Über diese akzentuierten Manifestationen der Grundbedingungen des Menschseins, erst über die Vergegenwärtigung dieser Grundbedingungen wird der Mensch befähigt, die grundsätzlich begrenzten Möglichkeiten, die das Leben als Mensch mit sich bringt, zu realisieren und somit zu etwas zu gelangen, was die Antike als Altersweisheit bezeichnet hat, was zu einem großen Bestandteil darin besteht, die Grenzen anzuerkennen. Auch auf diese Weise wird das, was viele Menschen als schmerzhaft empfinden, nämlich ihre Vergegenwärtigung der Endlichkeit ihres Seins, in der Weise zum Positiven gewendet, dass der Mensch über diese Erfahrung zu Einsichten gelangt, die dem jugendlichen Alter tendenziell eher versperrt bleiben. Über diese Vergegenwärtigung und im Bewusstsein der Endgültigkeit, mit der das Leben sich im Alter definitiv abrundet, bekommt, so der Philosoph Thomas Rentsch, der Mensch die Chance verliehen, „das menschlich Wichtige vom vielen Unwichtigen in einem klärenden Rückblick dauernd zu unterscheiden“. Dieser klärende Rückblick wird eben dadurch ermöglicht, dass der Mensch im Altsein realisieren kann, wie sehr die Endlichkeit des Menschen überhaupt erst Sinn ermöglicht und wie sehr die Erfahrung der Begrenztheit überhaupt eine Grundbedingung für das Gefühl der Erfüllung darstellt. Begrenztheit und Erfüllung eben nicht als Gegensätze, sondern als sich bedingende Gegenstände.
3. Alter als Lernmodell für die Gesellschaft
Der Theologe Hans-Martin Rieger geht noch einen Schritt weiter und sieht im Alter gerade angesichts seiner Radikalisierung der Grundbedingungen des Menschseins eine notwendige „Signalfunktion für die Gesamtgesellschaft, die ihrerseits in Versuchung steht, Angewiesenheit ins Reservat des vierten Alters zu verbannen“. Das Alter ist eine wichtige Lebensphase, nicht nur des betroffenen Menschen, sondern für die gesamte Gesellschaft, weil über die Konfrontation mit dem Altwerden die Gesellschaft selbst daran erinnert wird, dass nicht die Unabhängigkeit, sondern die Angewiesenheit eine Grundsignatur des Menschen darstellt, die der Mensch als Mensch nicht abstreifen kann. Das Alter lässt sich also als eine Rückerinnerung betrachten, als eine Rückerinnerung an das, was den Menschen ausmacht, als eine Rückerinnerung, die der Mensch braucht, um nicht der Illusion der absoluten
Machbarkeit zu verfallen. Das Alter als Lebensphase des Umgangs mit Begrenzungen und Verlusten kann auf diese Weise eine stete Rückerinnerung für eine Gesellschaft sein, die der stetigen Erinnerung bedarf, dass der Mensch nur dann gut leben kann, wenn er lernt, mit seiner Angewiesenheit gut umzugehen. Das Altsein wäre dann so etwas wie ein Gegenwärtighalten der Begrenztheit und somit ein „Lernmodell für die Gesellschaft“, so Rieger.
4. Alter als Abrunden des Lebens
Je mehr die Leitkategorie der Jugendlichkeit gepriesen wird – und das ist eben das Grundproblem der Anti-Aging-Medizin – desto mehr tritt das Alter lediglich als das Defizitäre in Erscheinung und ins Bewusstsein. Das Alter als das Nicht-mehr. Je mehr man aber das Alter als das Nicht-mehr betrachtet, desto mehr wird der Blick verstellt auf die viel tiefere Wahrheit, die darin besteht, dass ohne das Alter das Leben nicht rund werden kann. Damit soll nicht eine Bagatellisierung der Beschwernisse des Nicht-mehr-Könnens vorgenommen werden – im Gegenteil. Diese Beschwernisse sind nicht zu leugnen, und sie sind – wie auch schon die Antike wusste – manchmal schwer zu ertragen. Aber dieses Ertragen wird eben nicht durch die Aufwartung von Anti-Aging-Medizin leichter. Je mehr die Medizin das Alter als zu Bekämpfendes bezeichnet (Anti-Aging), desto schwerer wird das Alter. Denken wir an den Slogan am Anfang, dessen Botschaft doch darin besteht: Wenn ich mich nur anstrenge und viel dafür tue (oder viel dafür kaufe), dann kann ich das Nachlassen vermeiden. Eine solche Botschaft nährt die Illusionierung und sie nährt das bornierte Festhalten an dem Können-Müssen. Sie verstetigt die Abhängigkeit von den Produkten der Gesundheitsindustrie und sie verschließt den Menschen vor der Einsicht, dass das Nachlassen zum Leben, zu einem runden Leben dazugehört. Fremd ist in dieser Doktrin die Vorstellung, dass das Leben sich mit dem Alter erst abrundet, damit erst voll wird. Dies hat wiederum Romano Guardini treffend auf den Punkt gebracht, indem er sagte: „Es gibt ein falsches und ein richtiges Sterben; das bloße Ausrinnen und Zugrundegehen – aber auch das Fertig- und Vollwerden, die letzte Verwirklichung der Daseinsgestalt. Wenn das vom Tode gilt, dann umso mehr vom Altern“.
5. Wider die Tyrannei des Fitsein-Müssens
Die moderne Medizin reagiert auf die Angst der Menschen vor ihrem Altwerden immer stärker mit der Aufwartung von Anti-Aging-Produkten. Eine solche Reaktion der Medizin ist allerdings mehr als problematisch. Zum einen bestätigt die Medizin selbst die weit verbreitete Stigmatisierung des Alters und sie bekräftigt eine Glorifizierung der Leistungsfähigkeit und Jugendlichkeit. Das Problem des Anti-Aging liegt insofern im Konzept des guten Alterns, das sich dahinter verbirgt. Anti-Aging suggeriert – wie der Slogan ja gezeigt hat –, dass ein gutes Altern nur ein fittes Altern sein kann. Damit wird ein Fitsein-Müssen zum Ausdruck gebracht und zugleich signalisiert, dass das Altsein ab dem Moment, da es nicht in Fitness gelebt werden kann, in sich keinen Wert mehr habe. Die Bedenklichkeit von Anti-Aging liegt daher vor allen Dingen in der altersfeindlichen Botschaft, die viele Menschen, die in Krankheit, mit Gebrechen und Behinderungen im Altsein leben, gerade deswegen in die Isolation, ja gar in die Verzweiflung drängt, weil sie nach dieser Anti-Aging-Konzeption im Grunde alle Möglichkeiten verspielt hätten, überhaupt ein gutes Leben zu führen. Würdevolles Altern wird nach dieser Auffassung gleichgesetzt mit leistungsfähigem Altern. Der Mensch wird auf diese Weise reduziert auf seine
Funktionalität, auf das, was er leisten kann, und dabei wird vollkommen verkannt, dass Menschsein eben mehr bedeutet als leistungsfähig zu sein.
Mehr noch: unter dieser Perspektive wird das Gute darin gesehen, alles zu können. Je mehr man kann, desto besser der Mensch, desto würdevoller das Leben. Wo aber bleibt die Einsicht, dass es zu einem würdevollen Altern gerade gehören kann, nicht nur immer noch alles zu können, sondern sich konstruktiv mit dem auseinanderzusetzen, was man eben als alter Mensch weniger kann als als junger Mensch? Reife im Altsein kann eben gerade bedeuten, die Negativerfahrung des Nicht-mehr in einer Weise aufzugreifen, dass man befähigt wird, sich mit dem Nicht-mehr anzufreunden, um gerade durch dieses Anfreundenkönnen so etwas wie Reife und Tiefe zum Ausdruck zu bringen.
Die Problematik des Anti-Aging-Trends liegt gerade darin, dass in der Glorifizierung des Jungseinmüssens die Sensibilität für den Wert des Altseins unterminiert wird. Dies fängt schon mit dem Ansatz an, den alternden Menschen durch die verschiedensten Methoden ein jüngeres Aussehen zu verpassen. Grundlegend problematisch ist hier schon die unterschwellige Gleichsetzung von Schönheit und Jugendlichkeit. Wir sind es gewohnt, Schönheit in dieser Konnotation zu deuten und merken gar nicht, wie verschränkt unser Blick dabei von vornherein ist. Es liegt an den Verschränkungen des Blicks als Ausdruck der Verschränkungen des Denkens, die dem modernen Menschen verunmöglichen, auf das Alter mit einer Haltung der Annahme zu reagieren. Würde man statt der Abwehr des Alters eine Haltung der Annahme des Alters wählen, würde man unweigerlich offen werden für die Einsicht, dass nicht nur die Jugend, sondern jedes Alter mit dem Attribut der Schönheit versehen werden kann.
6. Neue Wertschätzung für das Alter
Woran es vor allem fehlt und wofür man sich einzusetzen hat, wenn man dem alten Menschen gerecht werden möchte, ist die Etablierung einer grundlegenden Wertschätzung des alten Menschen. Wertschätzung wird genau dann zur Geltung gebracht werden können, wenn es gelingt, alten Menschen das Gefühl zurückzugeben, dass sie anderen Menschen etwas bedeuten.
Das gilt gerade für unsere Zeit, die sich an weitgehend einseitig verstandenen Begriffen von Autonomie, Produktivität und Leistungsfähigkeit sich zu orientieren. Der moderne Mensch hat eine verkürzte Auffassung von Angewiesenheit, das ist sein größtes Problem, und das ist auch das Problem vieler alter Menschen, die nicht damit zurechtkommen, dass sie abhängig werden von der Hilfe Dritter. Der moderne Mensch begreift sich als ein grundlegend autonomes Wesen und hat ein gebrochenes Verhältnis zu der unabwendbaren Tatsache, dass jeder Mensch früher oder später die Hilfe Dritter brauchen wird, um weiterzuleben. In dieser Perspektive wird für den modernen Menschen das Angewiesensein auf andere als Schreckgespenst gesehen, das das Leben komplett entwertet, so meint man.
Kaum wird bemerkt, dass eine solche Angst vor dem Angewiesensein auf Andere einer lebensverneinenden Grundhaltung gleichkommt, einer Verabsolutierung der mittleren Lebensphase und einer verkürzten Vorstellung von Hilfsbedürftigkeit. Man kann eben sowohl hilfsbedürftig sein und zugleich ein Rest individueller Lebensführung bewahren, und sei dies nur in den kleinsten Verrichtungen des
Alltags, sei dies nur in der Wahl einer und nicht einer anderen Geste oder Mimik. Auf diese Potentiale hinzuweisen erschiene mir besonders wichtig in der Betreuung alter Menschen. Um diesen Menschen in ethischer Hinsicht gerecht zu werden, muss man sich dafür interessieren, wie der alte Mensch auch und gerade in seiner Hilfsbedürftigkeit noch seine unverwechselbare Persönlichkeit zum Ausdruck bringen kann und wie ihm dabei geholfen werden kann. Die größte Gefahr besteht gerade in der Selbststereotypisierung der alten Menschen, die sich selbst oft als Schwundstufen des Humanum betrachten – diese Einstellung muss revidiert werden und es muss ihnen beigebracht werden, ihnen signalisiert werden, dass das Altsein eine ganz bestimmte und wertvolle Ausdrucksform des Menschlichen ist, eine Ausdrucksform des Angewiesenseins, die nicht nur hinzunehmen ist, sondern die sogar eine wichtige Funktion für alle Menschen hat.
Wir sind es weitgehend gewohnt, das Angewiesensein auf Andere zu begreifen als Gegenteil von Autonomie zu begreifen, von Autonomie eines Menschen, der in der geradezu wahnhaften Vorstellung verharrt, ganz aus sich selbst und durch sich selbst zu leben, nicht abhängig zu sein von den Bedingungen der Leiblichkeit und nicht angewiesen zu sein auf Mitmenschen. Eine solche Auffassung von Autonomie verkennt grundlegend, dass jeder Mensch grundsätzlich angewiesen und damit verletzlich ist. Verkannt wird hierbei, dass wir immer schon und nicht erst im Alter angewiesene Menschen sind. Das Verhältnis der Angewiesenheit ist es, was das menschliche Leben überhaupt erst ermöglicht. Die Angewiesenheit des Menschen, sie kommt zwar in der Kindheit und im Alter stärker zum Ausdruck, aber die Angewiesenheit ist kein Spezifikum des Alters, sie ist doch vielmehr ein Grundmerkmal des ganzen Lebens. Es gilt neu dafür zu sensibilisieren, dass auch das Leben in seinen leistungsfähigsten Phasen immer zugleich auch ein angewiesenes Leben ist. Nichts können wir allein aus uns selbst. Und das Alter erinnert uns daran. Wir sind das ganze Leben hindurch Angewiesene, angewiesen auf Beziehungen zu anderen Menschen und damit angewiesen auf die Zuwendung, Anerkennung, Mitwirkung und Hilfe Dritter. Und hier erlangt das Alter eine besondere Bedeutung. Denn in ihm tritt die Angewiesenheit in einer sichtbaren Form stärker hervor. Das Alter also als Erinnerung daran, was der Mensch ist: ein endliches Wesen, das nicht alleine existieren kann.
Aber das Alter lehrt uns mehr als das. Es lehrt uns, dass wir das Leben nicht allein durch Aktivität bewältigen können. Das Alter lehrt uns, dass der Mensch auf das Abnehmen der körperlichen Leistungsfähigkeit nicht nur mit mehr Training und mehr Aktivität reagieren kann, sondern dass er, wie viele alte Menschen es uns vormachen, dass er auch mit einer Veränderung der Lebensziele darauf reagieren kann.
Im Angesicht eines alten Menschen und seiner Lebensweise wird uns allen die Relativität von Vorlieben und Lebenszielen deutlich. Wir können im Vorhinein erkennen, dass später ganz andere Werte wichtig werden können. Das Alter macht uns in gewisser Weise offen dafür, dass das, was uns heute so wichtig erscheint, morgen nur noch von relativem Wert sein kann. Letzten Endes eröffnet das Alter einen Impuls zum Nachdenken darüber, dass die Lebenszufriedenheit eben von anderen Zielen abhängig sein kann, als wir in den leistungsfähig-starken mittleren Lebensjahren überhaupt vermuten können. Ich würde sagen, dass das Alter eine Art Lupe sein kann, die auf das Wesentliche im Leben hinweist. Die Einstellung zur Zeitlichkeit, das Anerkennen der begrenzter werdenden Zukunft, die
Auseinandersetzung mit Begrenzungen. In diesen Dingen zeigt der alte Mensch möglicherweise dem jungen Menschen, worauf es wirklich ankommt.
Hier sehen wir, wie wenig man heute dem alten Menschen gerecht wird, wenn wir nur darauf achten, dass alte Menschen gut versorgt sind. Alte Menschen möchten nicht nur gut versorgt sein, sie möchten nicht nur einfach versorgt werden, sondern sie haben es verdient, dass man sie als wertvolle Menschen anerkennt und ihnen Achtung und Hochgefühl entgegenbringt. Dass viele alte Menschen diese Gefühle nicht in Empfang nehmen können, liegt nicht zuletzt auch daran, dass man die Altenpflege, wie die Pflege überhaupt immer mehr als personennahe Dienstleistung begriffen hat, als eine Dienstleistung, bei der es eben um das Versorgen geht und nicht um den menschlichen Kontakt, um die Begegnung zweier Menschen. Alte Menschen brauchen nicht nur eine funktionierende Pflege, die gelernt hat, wie man am effektivsten Körperpflege betreibt, sondern sie brauchen eben vor allen Dingen Persönlichkeiten, die sich für sie interessieren und die bei aller notwendigen Pflege ihnen gegenüber zum Ausdruck bringen können, dass sie als wichtige Menschen, als unverwechselbar interessante Menschen betrachtet werden. Eine Stoppuhr-Pflege, die mehr Zeit damit verbringt zu dokumentieren, wie lange sie gebraucht hat, um einen Menschen zu waschen und die beim Waschen schon an den nächsten Patienten denkt, der schon längst drankommen müsste, weil die Stoppuhr läuft, eine solche Pflege versorgt vielleicht gut, aber sie verlernt, dem Menschen als Menschen wirklich zu begegnen, und diese gepflegten Menschen werden unweigerlich sich als Last empfinden, als Menschen, die anderen nur Arbeit machen. Durch die Versorgung allein wird man aber dem alten Menschen nicht gerecht.
7. Der alte Mensch als Gebender
Um dem alten Menschen gerecht zu werden, müsste eine neue Kultur des Umgangs mit alten Menschen angedacht werden, eine Kultur, die nicht nur darauf abstellt, was wir für den alten Menschen tun sollen, sondern die offen bleibt für die Einsicht, dass der alte Mensch uns viel geben kann. Insofern ist es eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe, dem alten Menschen zu ermöglichen, dass er etwas gibt. Letztlich wird nämlich der alte Mensch gerade dadurch sich wertgeschätzt fühlen, wenn die Gesellschaft ihm signalisiert, dass das, was er geben kann, etwas Wertvolles ist. Dies kann das Engagement im Ehrenamt sein, es kann aber auch nur das Erzählen sein, das einfachhin Dasein für andere. Dasein für andere kann das aktive Geben sein, aber es kann genauso das einfachhin Seiende sein. Der alte Mensch gibt allein durch sein Sein. Er gibt durch das Leben, das er selbst gelebt hat, er gibt durch die Art und Weise, wie er gelebt hat, durch die Art und Weise, wie er seine eigene Lebensgeschichte gestaltet hat. Aus dieser gelebten und verantworteten Geschichte strömt etwas aus, aus ihr allein resultiert schon die Würde des alten Menschen. Guardini spricht hier mit Bedacht von einer Würde des alten Menschen, „die nicht aus der Leistung, sondern aus dem Sein kommt“, die also im Sein liegt und nicht in der geschäftigen Aktivität. Man muss dem alten Menschen ermöglichen, sich anderen Menschen wieder verschenken zu können, einfach im Sein und nicht nur im Tun.
Hilfe für alte Menschen kann nur realisiert werden, wenn wir diese Menschen eben als einzigartige Menschen betrachten, die auch im Altsein viel Potential haben, und es müsste Aufgabe sein, in jedem Gespräch diese je individuell spezifischen
Potentiale aufzuspüren und den Menschen für die Einsicht zu öffnen, dass es nie einen Zustand geben kann, der keine Potentiale eröffnete.
8. Altsein und das Grundgefühl der Dankbarkeit
Das Altsein wird am Ende vielleicht am ehesten für das Gefühl aufschließen, dass jeder Mensch einfachhin gegeben ist, und dass diese Gegebenheit des Menschen gerade angesichts des Alters ein wertvolles Grundgefühl eröffnen kann, und das ist die Grundempfindung der tiefen Dankbarkeit für das, was ist, Dankbarkeit für das scheinbar Kleinste, was der Mensch kann, das scheinbar Bedeutungsloseste, das dem Menschen begegnet, das scheinbar Geringste, was dem Menschen geschenkt wird – ja am Ende Dankbarkeit dafür, dass es uns überhaupt gibt.
Aber es gibt uns eben nur um den Preis unserer Vergänglichkeit. Und je vergänglicher wir uns empfinden dürfen, desto kostbarer erscheint uns der Augenblick. Das Bewusstsein von der Kostbarkeit des bewusst gelebten Augenblicks ist kein Vorrecht allein der alten Menschen, aber ich möchte in einer Gesellschaft leben, in der wir diesen Hinweis dann erst recht ernst nehmen, wenn wir wissen, dass er von einem alten Menschen kommt. Der alte Mensch hat uns viel zu sagen, wir müssen nur bereit sein, ihm eine Stimme zu geben.
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