SWR2 Wissen: Aula - Ralf Caspary im Gespräch mit Hans-Werner Wahl: Alt werden und jung bleiben . Die neue Alters- und Alternskultur
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Alters- & Alternskultur
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SWR2 Wissen: Aula - Ralf Caspary im Gespräch mit Hans-Werner Wahl: Alt werden und jung bleiben . Die neue Alters- und Alternskultur
http://www.swr.de/swr2/programm/
AUTOR
Prof. Dr. Hans Werner Wahl, geboren am 02. Januar 1954 im rheinland-pfälzischen Birkenfeld, studierte von 1974 bis 1981 Psychologie an den Universitäten Trier und Heidelberg. Von Februar 1997 bis Januar 2006 arbeitete Wahl als Professor für Soziale und Ökologische Gerontologie am Deutschen Zentrum für Alternsforschung an der Universität Heidelberg. Von August 1995 bis Februar 1997 agierte er hier bereits als wissenschaftlicher Mitarbeiter. Seit Februar 2006 fungiert Hans-Werner Wahl als Professor für Psychologische Alternsforschung am Psychologischen Institut der Universität Heidelberg und Leiter der zugehörigen Abteilung.
Seine Forschungsschwerpunkte sind u.a. die Entwicklungspsychologie chronischer Funktionsverluste im hohen Lebensalter, das Altern und die Rolle des physisch-technischen Kontexts oder das Erleben des Alternsprozesses in einer Lebensspannenperspektive
Internetseite:
http://www.psychologie.uni-heidelberg.de/ae/apa/personen/wahl.html
Bücher (Auswahl):
- Hoben, M., Bär, M. & Wahl, H.-W. (2016). Implementierungswissenschaft in Pflege und Gerontologie. Stuttgart: Kohlhammer.
- Wahl, H.-W. & Heyl, V. (2015) Gerontologie: Einführung und Geschichte. (2. völlig überarbeitete Auflage). Stuttgart: Kohlhammer.
- Claßen, K., Oswald, F., Doh, M., Kleinemas, U. & Wahl, H.-W. (2014). Umwelten des Alterns: Wohnen, Mobilität, Technik und Medien. Stuttgart: Kohlhammer.
- Wahl, H.-W., Tesch-Römer, C. & Ziegelmann, J. (Hrsg.).(2012). Angewandte Gerontologie: Interventionen für ein gutes Altern in 100 Schlüsselbegriffen. Stuttgart: Kohlhammer.
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ÜBERBLICK
Wer heute mit 65 in Rente geht, hat noch eine lange Lebensphase vor sich, die mit Chancen, Herausforderungen und natürlich auch Einschränkungen verbunden ist. Altwerden ist heute mit neuen Imperativen verbunden: Bleibe jung und aktiv, erlebe und lerne Neues, bilde dich weiter fort! Prof. Hans-Werner Wahl, Leiter der Abteilung für Psychologische Alternsforschung an der Universität Heidelberg beschreibt Chancen und Gefahren dieses Paradigmenwechsels.
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INHALT
Ansage:
Mit dem Thema: „Alt werden und jung bleiben – Die neue Alters- und Alternskultur". Wer heute mit 65 oder 66 in Rente geht, der hat noch eine lange Lebensphase vor sich, die mit Chancen und auch mit Einschränkungen verbunden ist. Klar ist: Altwerden ist mit neuen Imperativen verbunden, bleibe innerlich jung und aktiv, erlebe und lerne Neues, bilde dich weiter, bleibe ja nicht stehen! Und das zeigt schon: Es gibt neue Bilder und Klischees. Darum geht es heute im Aula-Gespräch, zu Gast ist Professor Hans-Werner Wahl, Leiter der Abteilung für Psychologische Alternsforschung an der Universität Heidelberg.
Gespräch:
Caspary:
Herr Wahl, kann man allgemein sagen, wie sich die Alterns- und Altersbilder der Gesellschaft in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten verändert haben, gerade vor dem Hintergrund des demographischen Wandels?
Wahl:
Ja. Wir haben deutliche Veränderungen im Älterwerden insgesamt. Wir werden alle sehr viel älter, als wir es vor 100 Jahren geworden sind. Es sind hier massive Entwicklungen im Gange, die zu einer alternden Gesellschaft geführt haben. Wie sieht es aus mit den Altersbildern? Wir haben gar nicht so viel gute Daten in Deutschland.
Caspary:
Warum nicht?
Wahl:
Weil man bisher offensichtlich an dieser Frage nicht so sehr interessiert war. Aber es gibt eine Ausnahme, das ist der Deutsche Alterssurvey, der in Berlin durchgeführt wird: Es werden immer wieder 40- bis 85-jährige zu unterschiedlichen historischen Zeitpunkten – das begann 1996, die letzte Erhebung war 2014 – befragt, so dass man die Einstellungen von gleich alten Menschen über einen Zeithorizont hinweg untersuchen und beschreiben kann. Da ist das schöne Ergebnis in der Tat, das die Sichtweisen der älteren Menschen sich selber gegenüber in der Tendenz etwas besser geworden sind. Man traut sich mehr zu, man steht seinem Alter positiver gegenüber, man sieht eher die Chancen und Möglichkeiten des Älterwerdens; kein sehr starker Effekt, aber er ist da.
Insgesamt kann man aus den Daten aber auch ablesen: Ältere Menschen selber sehen ihr Älterwerden zwar zunehmend auch als eine Chance, aber die Schattenseiten – die Krankheiten, die Begrenzungen – werden immer noch sehr hoch gewichtet, was natürlich grundlegend auch Sinn macht. Aber ich finde es gut, dass es eine Tendenz gibt, dem eigenen Älterwerden gegenüberzutreten im Sinne: Das ist eine lange Lebensphase und die muss ich gestalten. Und da kann ich etwas rausholen, da gibt es Potentiale. Das ist an sich eine ganz gute Entwicklung.
Caspary:
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Aus meiner Sicht hatten wir früher eine sehr eingeschränkte Sicht des Alters: Wir haben es – glaube ich – meistens mit Defiziten in Verbindung gebracht, körperliche Defizite, psychologische Defizite, kognitive Defizite. Ändert sich das auch?
Wahl:
Das ändert sich. In der wissenschaftlichen Diskussion gibt es da ein Begriffspaar, was ich weiterhin sehr hilfreich finde: Das Wechselspiel zwischen Gewinnen und Verlusten. Niemand würde ja sagen, dass Altern eine reine Gewinngeschichte ist. Aber mittlerweile hat man doch erkannt – und da bin ich auch ein bisschen stolz auf meine Disziplin, die Psychologie und die Alternspsychologie, die Lebenslaufpsychologie – , dass ein differenziertes Bild notwendig ist. Beispielsweise wissen wir ja, dass die kognitive Leistung nicht nur in den Keller geht. Es gibt bestimmte Leistungsbündel, wir sagen kristalline Intelligenz, das ist Weltwissen, wo es im Alter Leistungssteigerung gibt. Das muss noch nicht Weisheit sein, aber es geht in die Richtung. Da gibt es Fortschritt, da gibt es auf jeden Fall Stabilität bis ganz spät ins Leben hinein. Ich mache das jetzt schon ein paar Jahre und man fragt sich immer wieder: Übertreibt man vielleicht auch die Chancen und die positiven Seiten ein bisschen – weil ich auch denke, wir müssen das positive Altersbild ein bisschen pushen. Aber man kann doch mit vielen Daten sagen: Altern hat auch Chancen. Wir sind so gesund, wie wir historisch noch nie waren. Es gibt auch im Kognitiven, also in der geistigen Leistung, einige Bündel, die stabil bleiben. Ältere Menschen sind sehr gut in der Erhaltung ihres Wohlbefindens. Sie können beispielsweise sehr gut mit negativen Emotionen umgehen. Sie lassen sich nicht so schnell in eine Rage, in eine Wut oder in eine negative Emotionalität bringen. Das sind eine ganze Menge Dinge, wo ich sage: Da können wir uns als jüngere Menschen eine Scheibe von abschneiden.
Caspary:
Es gibt da meiner Meinung nach eine Gefahr, die man in der Werbung sieht: Dann kommen gleich wieder die Klischees. In der Werbung sehen wir 75 Jahre alte Männer und Frauen, die aussehen wie 65, denen es super gut geht, die toll mit ihren Enkeln spielen, die überhaupt keine Probleme haben, aber ein bisschen Prostagutt nehmen oder irgendwas gegen Verstopfung…
Wahl:
Absolut.
Caspary:
Das ist natürlich ein Klischeebild.
Wahl:
Das ist ein Klischeebild. Man könnte vielleicht so weit gehen und sagen: Was drückt sich da aus? Da ist so eine Sucht, dass man das Altern nicht anerkennen will. Ich frage mich manchmal auch: Warum ist das eigentlich so, dass wir immer wieder so tun müssen, als müssten wir uns vom Älterwerden auch distanzieren. Wir sagen dazu dissoziieren: Man nimmt sich raus, man will sich trennen: „Ich bin eigentlich gar nicht alt“, „ich will auch nicht alt aussehen“. Diese Klischees, die Sie beschreiben – diese quietschfidelen älteren Menschen, die irgendwo am Strand herum lümmeln…diese Klischees bedienen letzten Endes aus meiner Sicht auch die Negativität: All das ist so übertrieben, dass ältere Menschen das eigentlich gar nicht ernst nehmen können. Dann kippt das um und sie sagen: „Eigentlich ist Altern ganz
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schlimm! Die übertreiben total, das hat nichts mit meinem Leben zu tun. Altern ist etwas, das Verlust bedeutet“. Wir brauchen eine Differenziertheit. Das ist schwer. Stereotype haben die Neigung, dass sie vereinfachen, deshalb sind sie ja auch angeblich oder tatsächlich so hilfreich. Wir brauchen aber ein Altersbild, was auf der einen Seite die Stärken des Älterwerdens, die Möglichkeiten der Gestaltung, die Entwicklung sehr nach vorne bringt; aber auf der anderen Seite haben wir auch Hochaltrigkeit, das ist die am stärksten wachsende Gruppe. Wir werden heute – ob wir wollen oder nicht – extrem alt, jedenfalls viele von uns. Und wir müssen auch die späte Phase des Lebens gut gestalten. Altern hat natürlich auch etwas mit Endlichkeit zu tun: Das ist dieses gemischte Bild. Ich finde es sehr attraktiv, sich genau mit diesem gemischten Bild auseinanderzusetzen – persönlich, aber natürlich auch als Wissenschaftler. Aber ich glaube, es macht auch vielen Menschen Angst, dass wir auf der einen Seite so lange leben können, das langes Leben aber natürlich auch viele Grenzerfahrungen bedeutet.
Caspary:
Steckt hinter diesen Klischees nicht die Angst der Leistungsgesellschaft vor dem Alter? Weil Alter dann doch wieder indirekt gleichgesetzt wird mit „nicht mehr leistungsfähig“?
Wahl:
Das ist sicherlich eine große Gefahr. Da wird etwas aufgebaut: Wir sollen bitte alles dafür tun, gesund und leistungsfähig zu bleiben. Es ist ein Selbstoptimierungsprozess. Auf der einen Seite finde ich das eine klasse Botschaft, dass wir heute so viele Befunde haben – wir sagen da Plastizität, also wir können Altern verändern, auch selber. Auf der anderen Seite aber darf das ja nicht bedeuten, dass Altern zu einem neuen Stress wird und sich die Leistungsgesellschaft fortsetzt und wir sagen: Es ist nicht erlaubt, sich zurückzuziehen, gelassen zu werden, das Leben in einer Form zu genießen, die vielleicht etwas mit Muße zu tun hat, mit Lebensrückblick. Da werden ein neuer Stress und eine neue Anforderung für alte Menschen kreiert, die möglicherweise auch einer Gesellschaft nicht guttun.
Caspary:
Wir müssen vielleicht ein paar Zahlen nennen. Ich habe gelesen: ein Mädchen, das heute geboren wird, durchschnittliche Lebenserwartung: 90?
Wahl:
Ja, geht sogar in Richtung 100. Also jedes zweite Mädchen wird 100.
Caspary:
Ich bin 58. Welche Lebenserwartung habe ich durchschnittlich, 85?
Wahl:
Das dürfte in etwa 85 sein, genau. Je länger man „überlebt“, desto weiter geht es immer noch einmal. Auch im Mittelalter sind ganz wenige schon 70 geworden. Die hatten dann noch eine Chance, 80 zu werden, aber es war eine kleine Gruppe. Das System Mensch ist sehr komplex, es ist biologisch sehr, sehr kompliziert; unsere hirnorganische Ausstattung ist zwar sehr gut, aber auch sehr verletzlich. Trotzdem haben wir es geschafft, in etwa gut 100 Jahren unsere Lebenserwartung zu verdoppeln. Ein unglaublicher Vorgang mit medizinischer Unterstützung. Aber auch Bildung spielt dabei beispielsweise eine große Rolle; natürlich auch Ernährung – also
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ein ganzes Bündel von Faktoren. Aber es ist im Grunde unglaublich, dass in dieser historisch kurzen Zeit eine Verdopplung unserer Lebenserwartung eingetreten ist. Da hinkt natürlich manchmal die kulturelle Gestaltung einer solchen sehr schnell angestiegenen und lang gewordenen Lebensphase ein bisschen hinterher. Ältere Menschen sagen mir auch: „Herr Wahl, ich habe eigentlich gar nicht gedacht, dass ich so alt werden will. Und eigentlich habe ich schon alles erreicht, muss jetzt aber noch weitere 10 Jahre leben. Vielleicht ist das etwas Schönes, aber eigentlich ist schon alles da. Ich muss mal gucken, wie ich diese Phase gestalte; es ist natürlich auch eine große Chance“. Aber wir sind immer noch ein bisschen überrascht davon, dass wir so lange leben können und dass wir das natürlich auch gestalten müssen.
Caspary:
Genau, das Gestalten ist das Wichtigste. Mich würde bei Ihnen interessieren – weil Sie Alternspsychologe sind – was passiert psychologisch im Kopf eines alternden Menschen? Bin ich eigentlich ein alter Mensch? Es gibt da ja überhaupt keine objektiven Maßstäbe. Aus ihrer Perspektive bin ich vielleicht etwas älter als Sie; für unsere Technikerin sind wir uralt; und aus meinem subjektiven Empfinden heraus bin ich mittelalt – ich habe ja noch ein paar Berufsjahre vor mir.
Wahl:
Genau. Wir reden hier so, als gäbe es eine objektive Realität. Die erste – vielleicht sehr primitive – Antwort wäre ja: „Wir altern ohnehin das ganze Leben“. Das beginnt sehr früh. Wir wissen, dass wir schon mit Ende 20 langsamer im Kopf werden, die Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit ein Stück zurückgeht. Das beginnt schon mit Ende 20 und geht dann langsam weiter. Würden wir einfach ältere Menschen fragen: „Wie fühlen Sie sich denn?“, dann sagen uns die meisten älteren Menschen, auch in unseren Studien, „ich fühle mich 5-10 Jahre jünger“.
Caspary:
Ist das durchgehend so?
Wahl:
Das ist durchgehend so. Es gibt eine ganz kleine Gruppe von etwa 5-10 %, die sich als älter erlebt. Es gibt eine Gruppe – das sind vielleicht 20 % - die erlebt sich so alt, wie sie ist. Aber die meisten sagen – und ich denke, das muss man auch ernstnehmen – „ich fühle mich jünger“.
Caspary:
Und was sagt das?
Wahl:
Genau, was sagt das? Bei Langzeitbeobachtungen kann man eben feststellen, dass jene Menschen, die sich schon mit 50, 60 als positiver oder jünger beschrieben haben, die stehen 20, 30 Jahre später gesundheitlich besser da, kognitiv besser da und leben sogar auch länger. Da gibt es mittlerweile mehrere Studien. Das ist nicht gesponnen. Das ist repliziert. Es ist sicher nicht so: „Ich stehe meinem Älterwerden ein bisschen positiver gegenüber, jetzt kann ich 7 Jahre länger leben“. Das wäre vereinfacht. Aber insgesamt gibt es doch viele Befunde, die zeigen: Wenn ich mich positiver einschätze, wenn ich schon im mittleren Alter mein späteres Älterwerden als eine Chance begreife, dann macht das etwas mit meinem Verhalten: Ich bin aktiver; ich investiere mehr in Gesundheit; ich bin alerter und bin offener für alle möglichen
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Dinge, die mir so entgegenkommen. Das sind natürlich alles Faktoren, von denen wir wissen: Die erhalten kognitive Leistung, die erhalten körperliche Fitness, kardiovaskuläre Fitness. Man könnte sagen: Wie ich meinem Älterwerden entgegentrete, das hat auch etwas damit zu tun, wie meine Biologie läuft. Und die Biologie macht wieder etwas mit meiner Gesundheit. Ein spannender Befund also, der letzten Endes einen biopsychosozialen Gesundheitsbegriff noch einmal ganz neu unterfüttert. Wir sind nicht einfach nur Opfer unserer Biologie.
Caspary:
Lassen Sie uns vielleicht einmal sammeln, was psychologisch passiert im Alter. Sagen wir einmal ab 55. Berufsmäßig ist alles erreicht; Kinder sind da; Enkelkinder sind schon da. Was passiert psychologisch? Man ist dem Tod näher, eindeutig…
Wahl:
Ja. Aber noch nicht im mittleren Alter. Das mittlere Alter hat man früher als eine Phase des Stillstandes gesehen und gesagt: „Da passiert gar nichts mehr“.
Caspary:
Mit 50 meinen Sie?
Wahl:
50 bis 60 in etwa; bis 65, da ist der Übergang. Das ist eine Phase, die für das spätere Älterwerden sehr bedeutsam ist. Man ist noch im Beruf; ist als älterer Arbeitnehmer natürlich auch gefordert. Hier ist schon wichtig, nicht negative Klischees zu übernehmen, die in vielen Jobkontexten noch da sind. Ganz wichtig ist es auch, sich psychologisch damit auseinanderzusetzen: Was kommt da auf mich zu? Eine sehr lange weitere Lebensphase, es ist gut, sich darauf vorzubereiten. Was auch psychologisch sehr wichtig ist: das Gefühl zu haben, dass ich das, was auf mich zukommt, gestalten kann und, dass ich Ziele habe. Ziele im Leben sind motivationspsychologisch – das klingt vielleicht sehr banal – die zentralen Treiber unseres Lebens. Es ist ganz wichtig, zu wissen: Wo will ich hin im Leben? Ich habe noch viele Jahre vor mir, was will ich gestalten? Welche Ziele sind aber vielleicht auch nicht mehr erreichbar? Das ist ein wichtiger Prozess des Älterwerdens: Ziele zu adjustieren; diese Zielregulationsprozesse sind sehr bedeutsam. Hinzu kommt: Man spürt zum ersten Mal, dass kognitive Leistung etwas Wichtiges im Leben ist und dass sie auch nicht mehr so gut funktioniert – Stichworte: Arbeitsgedächtnis, Schnelligkeit; Wohlbefinden ist eher kein Problem, das bleibt stabil. Menschen verstehen sehr gut ihr Wohlbefinden auch in den Übergang ins spätere Älterwerden zu halten. Soziale Umwelten werden wichtiger; das wissen wir aus vielen Studien: Wenn wir 60, 70 werden, dann beginnt ein Prozess von Generativität; man denkt zunehmend darüber nach, was man hinterlassen will. Das müssen nicht nur die Kinder sein, sondern das können auch irgendwelche Werke oder Leistungen sein; oder ich will als Mentor in einem Job meine Lehrlinge gut ausbilden und freue mich, dass eine neue Generation von hochwertigen Facharbeitern und Facharbeiterinnen entsteht. Das ist so die Gemengelage des Älterwerdens heute.
Caspary:
Aber es gibt doch auch Gefahren für das Alter. Beispiele: der Tod des Ehepartners, nachdem ich in Rente gegangen bin; ich erkenne, dass ich mit meinen Kindern doch falsch umgegangen bin etc. Gibt es da eine erhöhte Sensibilität? Und gibt es neue, andere Krisen, die auftreten könnten?
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Wahl:
Natürlich, ein ganz wichtiger Punkt. Auf der einen Seite sehen wir, dass ältere Menschen gut in der Lage sind heute das Alter zu gestalten; auch die eingetretenen Verluste gut zu bewältigen. Ich sage da immer: Wir haben ja auch die große Ressource der Zeit. Das Meiste geschieht ja über Jahre hinweg. Wir können uns langsam anpassen. Aber – wie Sie sagen – es gibt dann Verluste, die sind sehr bedeutend: der Verlust des eigenen Ehepartners, der Ehepartnerin, das gilt in der Stressforschung als gravierendstes Ereignis. Das passiert zu 95 % jenseits von 60 oder 70 Jahren. Da ist ganz spannend, dass man an dem Beispiel auch die Vielfältigkeit des Umgehens mit solchen Erfahrungen sieht: Auf der einen Seite ist das natürlich eine riesige Stress-, Trauer-, Verlusterfahrung. Auf der anderen Seite ist es ganz interessant, dass die Studien, die wir heute über Personen, die verwitwet sind, haben, zeigen: Die meisten dieser Personen kriegen es gut hin, die Trauer zu bewältigen. Das heißt jetzt nicht: „Wahl hat gesagt, nach drei Monaten hat man den Tod eines lieben Menschen überstanden“. Das stimmt natürlich nicht. Aber die meisten Daten zeigen auch: diese schwerwiegenden, krisenhaften Erfahrungen werden von einer großen Zahl von Menschen ganz gut bewältigt und das macht einem auch wieder Mut. Aber es heißt auch gleichzeitig: Altern ist eine Phase, in der auch sehr schwerwiegende Verlustereignisse eintreten, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen.
Caspary:
Kann man sagen: Je resilienter ich als Kind war, also widerstandsfähiger im Umgang mit Krisen, desto resilienter bin ich als alter Mensch? Zieht sich das wie ein Faden durch die Biographie?
Wahl:
Das ist ein spannender Punkt, der auch in der Alternsforschung in den letzten Jahren berücksichtigt wurde, weil man mittlerweile sehr lange Beobachtungszeiträume hat, es gibt auch dazu Langzeitstudien. Wenn man diese Forschungen zusammen nimmt, dann würde ich sagen: Ja, da ist etwas dran. Unser Altern und viele Unterschiede, die wir später im Leben sehen – das hat auch etwas mit Bildung zu tun; hat was mit ökonomischen Situationen zu tun; hat was mit Traumata zu tun, etwa dem Verlust von Eltern sehr früh beispielsweise, insbesondere der Mutter – das sind alles Faktoren, die man in diesem Zusammenführen von frühkindlichen Erfahrungen untersucht hat. Man hat durchgängig festgestellt: Da gibt es Effekte auf späte Gesundheit, auf Mortalität und auch auf Widerstandsfähigkeit, auf die Resilienz im Umgang mit den Krisen, die spät kommen. Insofern könnte man schon sagen: Eine – was immer es bedeutet – wohlbehütete, eine gut verlaufende, emotional mit vielen Vertrauenselementen ausgestattete Kindheit in Verbindung mit einem guten, hochwertigen Bildungsinput – das ist einer der besten Schutzfaktoren für ein spätes zufriedenes Leben. Das zeigt uns ja auch: Wir müssen in einer Lebenslaufperspektive denken lernen in unserer Gesellschaft. Ich würde mir wünschen, dass man auch schon früh im Leben spielerisch – durch schöne Lehrmaterialien – so ein bisschen die Chance hätte, sich mit dem, was später kommt, etwas auseinanderzusetzen.
Caspary:
Man muss sozusagen die Lebensphasen verbinden? Was heute überhaupt nicht passiert?
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Wahl:
Genau. Heute neigen wir dazu, das zu separieren. Oder wir nehmen das auseinander: Kind und Jugend, Alter – auch in der Forschung. In der Lebenslaufforschung macht man manchmal eine Studie über Menschen im Alter von 10 bis 15, oder 20, und bezeichnet das schon als Lebenslaufforschung. Wir müssen die Lebensphasen verbinden. Die frühe Lebensphase ist heute vor allem dadurch charakterisiert, dass wir in gewisser Weise – ob wir wollen oder nicht – sehr alt werden. Die späte Lebensphase wird natürlich davon ganz massiv bestimmt, was alles geschehen, was alles abgelaufen ist, was wir in der Jugend mitgenommen haben. Wir wissen auch aus Studien mittlerweile, dass das auch eine große Anforderung psychisch ist, wenn ich spät im Leben zu dem Punkt komme, dass ich sage: „Ich habe in Bezug auf meine Kinder oder meinem Berufsweg Fehler gemacht, aber ich kann es jetzt nicht mehr korrigieren“. Natürlich: Ich kann mich psychisch damit auseinandersetzen; kann das Gespräch suchen, das ist aber manchmal nicht mehr möglich, bei bestimmten Dingen kann ich das Ruder nicht mehr herumreißen, der Zug ist zu einem gewissen Grade abgefahren. Das heißt jetzt nicht, dass man zu einer Situation der Verzweiflung oder der Depressivität verdammt wäre. Aber wir wissen aus vielen Studien, dass diese Situationen doch sehr belastend sind. Wenn sich das sehr gravierend und sehr belastend entwickelt, dann hilft mir als Forscher das Wissen, dass es auch hochwertige Psychotherapieangebote für alte Menschen gibt. Die sind auch gut untersucht und funktionieren genauso gut wie für Jüngere. Alter ist also kein Grund, jemandem eine Psychotherapie vorzuenthalten.
Caspary:
Ich kann mir vorstellen: Es gibt da viel Berührungsängste. Dazu ist die Kultur auch noch nicht bereit, das zu enttabuisieren?
Wahl:
Das verändert sich aber sehr stark. Die Baby-Boomer, die ticken schon anders, die haben oft in ihrem Leben schon Gruppenerfahrungen gemacht, sie haben Erfahrungen mit Psychotherapie, sie sind offener. Das finde ich eine sehr schöne Entwicklung, dass ältere Menschen auch zunehmend sehen: Natürlich, körperliche Gesundheit muss erhalten werden, aber ich kann und sollte – möglicherweise auch spät im Leben – auch etwas für meine psychische Gesundheit tun. Da gibt es hochwertige Formate, die das erlauben, das übernimmt auch die Krankenkasse.
Caspary:
Was halten Sie denn von der Tatsache, dass es immer noch die Frühverrentungskultur in Deutschland gibt? Ich glaube schon, überwiegend viele wollen früher in Rente. Was sich finanziell manchmal sogar lohnt: Bei vielen steuerlichen Berechnungen ist die Frühverrentung besser.
Wahl:
Das stimmt. Die Antwort, die ich jetzt als Alternspsychologe geben würde, ist: Wir brauchen auch in diesem Bereich einfach die Vielfalt. Wir wissen ja: Ältere Menschen – das zeigen viele Studien – haben die unterschiedlichsten Bedürfnisse. Es gibt eine Gruppe, die in der Tat, so schnell es geht aus ihrem Job raus will und andere Ideen hat. Was ja nicht heißt, dass diese Gruppe – das ist manchmal in unserer Gesellschaft so geprägt – jetzt plötzlich unproduktiv wäre. Die machen vielleicht einen tollen Job als Großeltern; die engagieren sich vielleicht in der Migrationsarbeit.
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Caspary:
Aber das wird nicht anerkannt. Es wird nur Erwerbsarbeit anerkannt.
Wahl:
Genau. Das ist eine Fixierung unserer Gesellschaft, die natürlich zu einseitig ist. Eine Gesellschaft funktioniert nicht nur durch Erwerbsarbeit, sondern durch Produktivität im Bereich der Familie, im Bereich des freiwilligen Engagements, auch in einer Alterskultur ganz generell, denn wir alle wollen gut alt werden. Die älteren Menschen müssen uns das irgendwie vorleben und brauchen dazu auch kulturelle Gefäße und Muster. Das ist insgesamt auch etwas Wertvolles: Sie testen neue Wohnmodelle, die für mich dann später vielleicht auch einmal interessant sind. Insofern sind hier viele Punkte der Produktivität. Nehmen wir Intergenerationenaustausch – den haben wir viel zu wenig in unserer Gesellschaft. Es gibt viele Studien, schöne Experimente: Wenn man Ältere mit Jüngeren zusammenbringt, hat das für beide Seite sehr Hilfreiches. Man wird offener, es ist auch kognitiv anregend, persönlichkeitsanregend. Es gibt also viele Möglichkeiten der Produktivität. Und dann gibt es aber auch andere Menschen, die eben sehr lange arbeiten wollen, die vielleicht noch einmal einsteigen wollen, die vielleicht auch noch einmal in einem andreren Beruf einsteigen wollen. Wir werden also zunehmend eine Gesellschaft sehen, in der unser Modell: Wir machen früh Ausbildung, dann arbeiten wir lange, dann haben wir „Freizeit“ – nicht mehr aktuell ist. Das wird sich deutlich verändern. Wir brauchen Flexibilität. Ich würde vorhersagen, und sage das manchmal auch zu jungen Menschen: Den Job, den ich gelernt und mehr oder weniger mein ganzes Leben gemacht habe – das ist nicht das Modell der Zukunft. Sondern: Man wird noch einmal mit 50 möglicherweise etwas ganz Neues lernen. Und möglicherweise mit 65 noch einmal.
Caspary:
Wir können vielleicht abschließen sagen: Es ist eine ungeheure Dynamik ins Leben gekommen. Eine Trennung mit 60 wird wahrscheinlich gar nicht mehr so spektakulär sein – dann heirate ich halt noch einmal; vielleicht finde ich mit 80 eine neue Partnerin, die ich dann heirate. Es gibt eine völlig neue Dynamik?
Wahl:
Absolut, das ist die neue Denkweise. Genau, wir haben eine neue Dynamik und die nimmt jetzt Fahrt auf. Auch spät im Leben werden wir uns vielleicht gar nicht mehr als alte Menschen abstempeln, sondern auch das späte Leben als eine Zeit sehen der möglicherweise großen Veränderung, der neuen Partnerschaften, der neuen Wohnprojekte, aber auch der neuen Herausforderungen.
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