Der Romanist und Sprachwissenschaftler Hans-Martin Gauger über die vulgäre Geste am Beispiel Mittelfinger

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Der Romanist und Sprachwissenschaftler Hans-Martin Gauger über die vulgäre Geste  am Beispiel Mittelfinger

Vergangene Woche zeigte der SPD-Politiker Sigmar Gabriel Rechtsextremen den Mittelfinger. „Überall auf der Welt wird geschimpft, beleidigt, geflucht und verflucht, abstrakter gesagt: Es wird Negatives unfein bis vulgär herausgestellt“, sagt der Freiburger Romanist Prof. Dr. Hans-Martin Gauger. Die deutsche Sprache habe jedoch eine andere Schimpf- und Beleidigungskultur: „Viele andere Sprachen ‚arbeiten‘ in vulgärer bis normaler Sprache vorwiegend mit Ausdrücken, die sich auf Sexuelles beziehen“, erklärt Gauger. „In der deutschen Sprache setzen wir jedoch nahezu ausschließlich Ausdrücke ein, die sich auf Exkrementelles beziehen.“

Die Mittelfinger-Geste sei weit verbreitet und finde sich schon in der griechisch-römischen Antike, habe sich bei uns jedoch erst vor etwa zwei bis drei Jahrzehnten wieder etabliert. Ihre Bekanntheit habe sich beispielsweise dadurch erhöht, als der damalige Fußball-Nationalspieler Stefan Effenberg sie im Juni 1994 einsetzte. „Diese Geste ist eindeutig sexuell, sie bildet ziemlich komplett das erigierte männliche Organ insgesamt dar“, so Gauger. „Sie wurde bei uns aber alsbald durch die im Grunde ganz abwegige Bezeichnung ‚Stinkefinger‘ ins Exkrementelle gebracht. Sie wurde so auf unsere Linie hin verbogen.“ Bei dem Vorfall mit Minister Gabriel sei jedoch medial überwiegend vom "Mittelfinger" geredet und geschrieben worden. „Ein sachlich beschreibender, nicht interpretierender, insofern nicht zu beanstandender Ausdruck.“

Autor
Hans-Martin Gauger war von 1969 bis 2000 Professor für Romanische Sprachwissenschaft an der Universität Freiburg und ist seit 2000 emeritiert. 2014 erschien sein Buch „Das Feuchte und das Schmutzige*“, in dem er sich mit der vulgären Ausdrucksweise beschäftigte und diese in 15 Sprachen untersuchte. Gauger ist am besten per Mail zu erreichen: mailto:hansmartingauger@t-online.de

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Hans-Martin Gauger: Das Feuchte und das Schmutzige
Wenn hinterfotzige Seckel mit Karacho ins Klo greifen
Beim Fluchen verwenden unsere Nachbarn sexuelle Metaphern. Der Linguist Hans-Martin Gauger geht der Frage nach, warum sich Deutsche demgegenüber an die Sphäre des Fäkalen halten.
03.10.2012, von Wolfgang Krischke :
Die 109. Minute im Finale der Fußballweltmeisterschaft 2006 war ein Moment, der lehrbuchartig vorführte, welche Wucht sprachliches Handeln entfalten kann: Marco Materazzi aus der italienischen Mannschaft hatte den französischen Nationalspieler Zinedine Zidane am Hemd gefasst, worauf der ihm ironisch anbot, ihm das Kleidungsstück nach dem Spiel zu überlassen.
Materazzis Antwort kam wie aus der Pistole geschossen: „Ich will lieber deine Schwester, die Nutte!“ Kurz darauf lag er am Boden - niedergestreckt von einem Kopfstoß Zidanes. Hans-Martin Gauger nimmt diesen italienisch geführten Kurzdialog mit seinem abrupten Übergang ins Nonverbale als Einstieg für eine erhellende und meistens auch unterhaltsame Expedition durch die Beleidigungs- und Schimpfkulturen Europas.
Das Deutsche - so seine zentrale These - bildet in dieser Hinsicht eine Insel der Besonderheit, was auch an den von Unkenntnis geprägten Reaktionen deutscher Journalisten auf den französisch-italienischen Zusammenstoß deutlich werde: Die meisten sahen die Beleidigung darin, dass Zidanes Schwester als Prostituierte bezeichnet wurde. Doch das, erklärt Gauger, war nur ein Verstärker. Die ehrverletzende Attacke bestand vor allem in der Äußerung des Wunsches, über die Schwester - es hätte beleidigungstechnisch auch die Mutter sein können - sexuell zu verfügen.
Reservoir der exkrementellen Beschimpfungen
Dass das hierzulande nicht gleich erkannt wurde, liegt für Gauger vor allem daran, dass das Sexuelle im Deutschen als Reservoir für Wörter und Wendungen des Herabwürdigens, Schimpfens und Fluchens kaum genutzt wird, während es nicht nur für den Italiener Materazzi, sondern für die Sprecher vieler anderer - nicht nur romanischer - Sprachen zum jederzeit abrufbaren Repertoire gehört. Im deutschen Sprachraum hätte man in dieser Situation hingegen ein „Verpiss dich, du Arschloch!“ erwartet, denn um zu pöbeln, machen Deutsche, Österreicher und Deutschschweizer in der Regel einen „Griff ins Klo“, wie eine bezeichnende Wendung lautet. Sie bedienen sich dafür fast ausschließlich des Fäkalbereichs, wofür das Wortfeld „Scheiße“, von Gauger mit linguistischer Akkuratesse vermessen, nur ein Beispiel ist.
Auch so scheinbar unanstößige Wendungen wie „im Eimer sein“, „zu Potte kommen“ oder „anschmieren“ gehören als Euphemismen in dieses exkrementelle Reservoir. Zwar finden sich fäkalische Fluch-Ausdrücke - von „shit“ bis „mierda“ - auch in vielen anderen Sprachen, aber sie treten dort doch zurück hinter den größeren Batterien von Kraftwörtern und -wendungen, die sich auf Sexualorgane, den Geschlechtsverkehr oder die Prostitution beziehen. Das Besondere dabei ist natürlich nicht, dass es sich um vulgäre Bezeichnungen des Geschlechtlichen handelt - solche finden sich auch im Deutschen in großer Zahl -, sondern in ihrer Instrumentalisierung für den nichtsexuellen Bereich des Beleidigens, Schimpfens, Meckerns und Verfluchens.

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/hans-martin-gauger-das-feuchte-und-das-schmutzige-wenn-hinterfotzige-seckel-mit-karacho-ins-klo-greifen-11912232.html
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