Blutbuch . Kim de l'Horizon . Generationengeschichte

Leben - Arbeit Topoi A_Z > Leben - wie -> Verhalten - Einzelne >
Blutbuch - Ichwerdung . Kim de l'Horizon
-lw-thalia22-11blutbuch-ichwerdung

Online-Publikation: Oktober 2022 im Internet-Journal <<kultur-punkt.ch>>
Ereignis-, Ausstellungs-, AV- und Buchbesprechung
<< Kim de l'Horizon : Blutbuch >>
Thalia Bücher 48157 Münster: mailto: info@thalia.de

Charakteristik
Ausgezeichnet mit dem Deutschen Buchpreis 2022
> und dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung.
Nominiert für den Schweizer Buchpreis 2022.
Inhalt
Die Erzählfigur in 'Blutbuch' identifiziert sich weder als Mann noch als Frau. Aufgewachsen in einem schäbigen Schweizer Vorort, lebt sie mittlerweile in Zürich, ist den engen Strukturen der Herkunft entkommen und fühlt sich im nonbinären Körper und in der eigenen Sexualität wohl. Doch dann erkrankt die Großmutter an Demenz, und das Ich beginnt, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen: Warum sind da nur bruchstückhafte Erinnerungen an die eigene Kindheit? Wieso vermag sich die Großmutter kaum von ihrer früh verstorbenen Schwester abzugrenzen? Und was geschah mit der Großtante, die als junge Frau verschwand? Die Erzählfigur stemmt sich gegen die Schweigekultur der Mütter und forscht nach der nicht tradierten weiblichen Blutslinie.Dieser Roman ist ein stilistisch und formal einzigartiger Befreiungsakt von den Dingen, die wir ungefragt weitertragen: Geschlechter, Traumata, Klassenzugehörigkeiten. Kim de l'Horizon macht sich auf die Suche nach anderen Arten von Wissen und Überlieferung, Erzählen und Ichwerdung, unterspült dabei die linearen Formen der Familienerzählung und nähert sich einer flüssigen und strömenden Art des Schreibens, die nicht festlegt, sondern öffnet.

Stimmen
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Egbert Tholl äußert große Faszination gegenüber Kim de L'Horizons Buch, das als Roman gehandhabt wird, diese Form aber gründlich unterläuft, wie Tholl zeigt: Einem wilden Strom aus Dialogen, Dialekten, Briefen, Satzschnipseln und -monstern begegnet er hier, verfasst von der nonbinären Erzählinstanz Kim, die sich mit all dem an ihre Großmutter wendet - als würde alles aus ihr heraussprudeln, was sie ihr schon immer einmal sagen wollte, so Tholl. Dabei geht es um die Kindheit, das Aufwachsen in Bern, auch um Foucault und um Virginia Woolf, zählt Tholl auf, und getragen werde de L'Horizons Schreiben dabei von einem Schmerz und seiner Überwindung, was den Kritiker sichtlich berührt - man könne sich bei der Lektüre darauf vorbereiten, regelmäßig von de L'Horizons Sätzen getroffen zu werden. Etwas Manieriertes, "nach außen Gewölbtes" habe dieses fluide Schreiben, das eine Sprache abseits von normativen Zuschreibungen sucht und findet, nicht, betont Tholl - stattdessen ein Buch, das den Leser "durchlässig" macht und in ihm "wirkt", schließt der Kritiker beeindruckt.
© Perlentaucher Medien GmbH
Circlestonesbooks.blog:
> am 04.10.2022: Intensiv, fordernd, ausdrucksstark
> „Aber das geht nicht, diese Ploterei, vorgetrampelte Pfade im Sand. Der Weg muss im Gehen entstehen.“ (Zitat Pos. 441)
> Charaktere: „Ich schreibe dir, weil: Solange ich schreibe, spreche ich zwar nicht, aber ich schweige auch nicht.“ (Zitat Pos. 331). Zu Beginn des Schreibens fühlt sich der Körper der nonbinären Erzählfigur wie eine Fremdsprache an, das Schreiben ist auch eine Suche nach der eigenen Körpersprache. Der natürliche Jahreslauf der Blutbuche aus Dastehen, Laub abwerfen, Ausharren, neues Laub bilden, Verwandeln, steht auch für den Weg der Erzählfigur.
> Handlung und Schreibstil: Die Handlung ist in fünf Teile gegliedert. Die Abschnitte des ersten Teils entstehen aus Kindheitserinnerungen an die Großmutter, im zweiten Teil sind es Erinnerungen an Ereignisse und Situationen in der Kindheit der Erzählfigur. Im vierten Teil gehen die Recherchen viele Generationen weit zurück. Die Mutter der Erzählfigur hat die weibliche Blutlinie des Familienstammbaumes genau recherchiert und mit den auffindbaren Lebensgeschichten ergänzt und die Erzählfigur beschäftigt sich mit diesen Aufzeichnungen. Die völlig andere Erzählsprache im dritten Teil dagegen bewegt wird atemlos, rasant, manchmal rauschhaft, hemmungslos, als Ausdruck der ebenso hemmungslosen sexuellen Erfahrungen und Träume der Erzählfigur. Der fünfte Teil schließlich wird poetisch, geschrieben in englischer Sprache und es zeigt sich wieder, wie wenig Worte diese Sprache benötigt, um deutlich und intensiv Gefühle und Beschreibungen von Situationen und Naturerfahrungen wiederzugeben, wo die deutsche Sprache sich immer wieder in langen Satzgebilden verhakt. Die Erzählfigur wächst in Ostermundigen bei Bern auf. Im bernerdeutschen Dialekt heißt Mutter Meer, angelehnt an das französische mère, die Großmutter daher Großmeer, und das wird auch so geschrieben. Wasser ist, neben der Blutbuche, ein immer wiederkehrendes Motiv in diesem Roman und so gleiten die einzelnen Fragmente und auch die Sprache voran wie die Wellen des Meeres.
> Fazit
Dieser Roman der Gegenwartsliteratur fordert uns Lesende mit allen Sinnen, denn er öffnet sich wie eine Wundertüte, wir finden eine Familiengeschichte, eine Generationengeschichte, eine Coming-of-Age-Geschichte, eine Geschichte über Freundschaft und die manchmal leise, manchmal aufbrausend pulsierende, zornige Suche nach einer Ausdrucksform für das eigene Ich und den Platz im eigenen Körper. Gleichzeitig ist es ein Streifzug durch die vielen unterschiedlichen Möglichkeiten literarischer Ausdrucksformen.
https://www.buecher.de/shop/schweiz/blutbuch/de-lhorizon-
*
https://www.buecher.de/shop/schweiz/blutbuch/de-lhorizon-kim/products_products/detail/prod_id/63878688/
***