Wie Menschen, Tiere, Pflanzen die Ozeane überquerten und die Welt von heute schufen
Online-Publikation: Januar 2014 im Internet-Journal <<kultur-punkt>>
Ereignis-, Ausstellungs-, AV- und Buchbesprechung
<< Charles C. Mann: Kolumbus' Erbe - Wie Menschen, Tiere, Pflanzen die Ozeane überquerten und die Welt von heute schufen . Übersetzung von Hainer Kober >>
816 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag und Leseband; ISBN 978-3-498-04524-1; € 34,95 ; E-Book: ISBN 978-3-644-03771-7; € 29,99
Rowohlt Verlag, D-10178 Berlin; www.rowohlt.de; www.rororo.de;
Inhalt
Die Entdeckung Amerikas war für das Leben auf unserem Planeten das folgenreichste Ereignis seit dem Aussterben der Dinosaurier. Denn: Millionen Jahre waren die Hemisphären weitgehend voneinander isoliert gewesen. Mit Kolumbus traten sie in einen Austausch. Menschen und Pflanzen, Tiere und Krankheiten gelangten per Schiff in neue Lebensräume und schufen eine Welt, in der nichts blieb, wie es einmal gewesen war. Das hatte auch gravierende politische Konsequenzen: Der «kolumbische Austausch» trug mehr als alles andere dazu bei, dass Europa zur Weltmacht aufstieg und China verdrängte. Charles C. Mann zeichnet ein spannendes Panorama dieser Vorgänge, das Kontinente und Jahrhunderte umfasst. Ein großartiges Lesevergnügen für alle Wissensdurstigen!
Autor
Charles C. Mann, geboren 1955, ist ein preisgekrönter Wissenschaftsjournalist und arbeitet als Korrespondent für The Atlantic, Science und Wired; daneben hat er u. a. für GEO, stern, die New York Times, Vanity Fair und die Washington Post geschrieben sowie für den TV-Sender HBO und die Serie Law & Order. Sein Buch 1491 – New Revelations of the Americas Before Columbus verkaufte sich in den USA eine halbe Million Mal und wurde von der National Academy of Sciences als bestes Buch des Jahres ausgezeichnet.
Fazit
Seit einem halben Jahrtausend gelangten Seefahrer, Abenteurer rund um die Welt, ja und ? Sie brachten wunderbare Gewürze, transgene Pflanzen und Tiere, damit auch Drogen, Sklaven und veränderten dazu noch ganze Ökosysteme und vernichteten viele davon - bis heute. Dies alles vermag Charles C. Mann in seinem eindringlichen und überzeugend verfassten Erfahrungs- und Erlebnisband "Kolumbus' Erbe - Wie Menschen, Tiere, Pflanzen die Ozeane überquerten und die Welt von heute schufen", sprachlich phantastisch, darzustellen.
Das Ungeheuerliche im Menschen samt seiner im Werden begriffenen Globalisierung wird damit klar, wissenserweiternd und sachlich entborgen. m+w.p13-12
Stimmen
«Herausragend.» The New York Times
«Ein faszinierendes und vielschichtiges Buch, das auf vorbildliche Weise sprechende Fakten mit gutem Geschichtenerzählen vereint.» The Washington Post
«Das beste Sachbuch des Jahres.» TIME
« www.swr.de/-/id=11991558/property=download/nid=658730/t22g0n/swr2-forum-buch-20131215.pdf »
Besprechung von Johannes Kaiser:
INHALT
TAKE 1: O-Ton Mann
Spr.: „Es fing mit einem Zufall an. Vor gut 20 Jahren fuhr ich mit meinem Sohn zu einer staatlichen Universität, an der sie Hunderte von Tomatensorten züchten. Wir beide lieben Tomaten und wir entdeckten, dass die Tomaten dort aus aller Welt stammten. Mein Sohn fand eine aus der Ukraine und das überraschte mich ziemlich. Ich dachte: wie in aller Welt kommt eine Tomate, die eigentlich aus Mexiko stammt, in die Ukraine. Kurz darauf stieß ich auf ein Buch mit dem Titel ‚Ökologischer Imperialismus‘, das fragte, warum man überall auf der Welt auf Europäer trifft. Mir wurde bewusst, dass es einen weltweiten Austausch von Pflanzen, Tieren und Arten gab und dass der mit Columbus begann und die Welt total veränderte.“
Erz.: Neugierig geworden begab sich der amerikanische Sachbuchautor Charles Mann auf eine ebenso aufregende wie zeitaufwendige Reise in die Vergangenheit. Er durchforstete hunderte alter Chroniken und Dokumente, reiste rund um die Welt, besuchte viele jener Orte, an denen vor rund 500 Jahren europäische Seefahrer das erste Mal fremde Länder und Kontinente betraten. Das Ergebnis seiner Recherchen breitet er jetzt auf über 700 Seiten mit zahlreichen Details aus. Quintessenz des Buches: Mit den Seefahrern gelangten nicht nur Waren und später Sklaven, sondern auch Pflanzen und Tiere in ferne Ländern. Sie brachten Krankheiten und Schädlinge mit, veränderten ganze Ökosysteme. Die Auswirkungen sind bisweilen bis heute verheerend. Ein Beispiel von vielen ist der von Columbus entdeckte Tabak, dessen Genuss sich rasend schnell über die ganze Welt ausbreitete und der zur ersten globalen Handelsware wurde. Priester feierten sogar die Messe mit brennenden Zigarren. Die große Nachfrage brachte englische Investoren Anfang des 17. Jahrhunderts auf die Idee, rund um Jamestown, der englischen Niederlassung an der Ostküste Nordamerikas, in großem Stil Tabakplantagen anzulegen. Tausende Engländer wurden als Arbeiter angeheuert und verschifft. Mit ihnen gelangte allerdings auch die Malaria, die in Europas Sumpfgebieten weit verbreitet war, nach Neuengland. Als man nun in Virginia begann, Tabak anzubauen und dafür riesige Flächen bewaldeten Landes rodete, schuf man ideale Brutbedingungen für die Anopheles-Stechmücke, die die tückische Krankheit überträgt. Auch wenn man damals noch nicht wusste, was Malaria war, ihre Symptome kannte man. Wie die Fliegen starben die ankommenden Siedler und Arbeiter am tödlichen Fieber:
TAKE 2: O-Ton Mann
Spr.: „Man kann es nicht genau sagen, denn es gibt nur wenige Unterlagen, aber mindestens 80 % der ersten Welle von Europäern, die nach Virginia kam, starben und diese enorme Todesrate setze sich bis ins 18. Jahrhundert fort. Das war einer der Gründe dafür, dass man anfing, Afrikaner zu importieren. Afrikaner haben aus genetischen Gründen eine sehr große Widerstandsfähigkeit gegenüber den beiden wichtigsten Typen von Malaria und die Europäer in diesen tropischen oder subtropischen Gegenden begriffen, dass es wirtschaftlich weitaus besser war, statt europäische Arbeitskräfte zu importieren, die rasch starben, Afrikaner rüberzubringen. Das war eine riesige Triebkraft für den Sklavenhandel.“
Erz.: Eine ähnliche Situation herrschte auch auf den karibischen Inseln, als die Europäer anfingen, dort Zuckerrohr anzubauen, eine Pflanze, die sie aus Asien mitgebracht hatten. Die klimatischen Verhältnisse waren ideal, nur kam mit dem Zuckerrohr auch der Gelbfieber-Erreger übers Meer. Während die Europäer ihm schutzlos ausgeliefert waren und massenhaft starben, waren die afrikanischen Sklaven erneut genetisch besser ausgerüstet. Sie überlebten die Infektion. Wo auch immer im subtropischen und tropischen Amerika die europäischen Eroberer Land eroberten, kam es dank Malaria und Gelbfieber zu diesem barbarischen Menschenhandel. Riesige Sklavenheere, Charles Mann spricht von über 11 Millionen Afrikanern, überquerten den Atlantik. Ihre Ankunft veränderte, wie der Autor im letzten Buchkapitel anhand zahlreicher historischer Dokumente nachzeichnet, die Zusammensetzung der amerikanischen Bevölkerung geradezu dramatisch, insbesondere in Mexiko.
TAKE 3: O-Ton Mann
Spr.: „Die Europäer waren eine winzige Minderheit in dieser Region. Sie wurden weit übertroffen von der Zahl der indigenen Einwohner und von der riesigen Anzahl der Sklaven, die sie dorthin gebracht hatten. Die Zahlen verschlagen einem den Atem. Nehmen Sie Mexico City, die wichtigste Stadt des spanischen Imperiums. Einer Volkszählung zwischen 1640 und 1644 zufolge gab es etwa 14.000 Spanier, aber 144.000 Afrikaner und mehrere hunderttausend Ureinwohner. Was all diese Menschen taten und was sie immer tun, sie vermischten sich. Sie pflanzen sich fort. Spanien kreierte daraufhin eine völlig verrückte rassische Hierarchie, die dann von den Anwohnern manipuliert wurde, weil die Indios z.B. anders behandelt wurden als die Afrikaner. Da begann jene Rassenpolitik, die leider bis heute alle amerikanischen Gesellschaften belastet.“
Erz.: Die multikulturelle und multiethnische Gesellschaft, von der heute so viel die Rede ist, sie existiert bereits seit dem Mittelalter. Charles Mann räumt zudem mit einem weit verbreiteten Geschichtsmythos auf: dass die Afrikaner die brutalen Sklaverei still erduldeten. Zehntausende flohen aus den Plantagen, gründeten allerorten in Zentralamerika, aber auch in Brasilien in schwer zugänglichen Gebieten freie Dörfer entlaufener Sklaven:
TAKE 4: O-Ton Mann
Spr.: „Das waren tropische oder subtropische Gebiete, deren Ökosysteme den Afrikanern, aber nicht unbedingt den Europäern vertraut waren. Sie kannten also die Landschaften. Sie übernahmen sogar die Herrschaft über einige karibische Inseln. Einer der berühmtesten Orte war Palmares im östlichen Teil des Amazonasbeckens. Dort gibt es eine Reihe von steilen Hügeln und die waren von zehntausenden entlaufener Sklaven, Ureinwohnern und einigen Europäern besetzt, die weder die Portugiesen noch die Holländer mochten, und die schufen ein Königreich, das fast 100 Jahre lang existierte.
Erz.: Auch wenn der Sklavenhandel sicherlich das grausamste Kapitel des beginnenden globalen Handels darstellte, auch der Austausch von Waren konnte, wie Charles Mann an vielen Beispielen zeigt, schwerwiegende gesellschaftliche Folgen haben. So untergruben zum Beispiel die Spanier, nachdem sie im 16. Jahrhundert Peru und seine Silbermine in Potosí erobert hatte, durch ihre Silberexporte Chinas Wirtschaft.
TAKE 5: O-Ton Mann
Spr.: „Es ist faszinierend, denn das Silber bereicherte Europa und China und schuf zugleich enorme politische Instabilität und Ungleichheit. China war völlig abhängig vom Silber des spanischen Imperiums, denn es wurde zu seiner Währung. Die Menschen mussten ihre Steuern in Silberform bezahlen. Das Silber wurde so zur Bedrohung für die chinesische Wirtschaft. Zurückflossen riesige Mengen an Seide, Gewürzen und Porzellan. Dieser Strom luxuriöser Konsumgüter nach Europa destabilisierte Europas Wirtschaft, auch wenn er für die Verbraucher
von Vorteil war, weil er die Preise senkte. Das Ergebnis war jene Art großer Instabilität, wie wir sie heute bei der Globalisierung sehen.“
Erz.: Mit dem Silber gelangten auch Mais und Süßkartoffeln aus Amerika nach China. Bis dahin hatte man in China vor allem Reis angebaut, wozu man sehr viel Wasser braucht. Das ist aber nur in wenigen Regionen Chinas in ausreichendem Maß vorhanden. Plötzlich gab es zwei Pflanzen, die auch auf trockenen Böden gut wuchsen. Begierig pflanzte man sie an, um der ständigen Hungernöte Herr zu werden:
TAKE 6: O-Ton Mann
Spr.: „Die Chinesen begingen die typischen Anfängerfehler. Sie vernichteten die heimische Vegetation auf riesigen Gebieten. Das führte zur Erosion der Böden. Deren Sedimente hoben die Flussbette an und verursachten verhängnisvolle Überschwemmungen. Ich habe bei meinen Recherchen in Peking die meteorologische Gesellschaft besucht, die Überflutungsdaten aus mehreren Jahrhunderten aufbewahrt. Wir hatten 2005 den Wirbelsturm Katrina. In Peking hat man mir gesagt, dass sie seit 100 Jahren jeden Monat einen Katrina haben und diese ökologische Verwüstung begann mit dem Import der amerikanischen Kulturpflanzen.“
Erz.: Auch Europa profitierte vom Pflanzenimport aus Amerika, denn die Einführung der Kartoffel, die in den Anden zuhause ist, verbesserte die Ernährungssituation erheblich, ließ die Bevölkerung anwachsen und schuf so letztlich jenes Arbeiterheer, das die industrielle Revolution ermöglichte. Dass die Kartoffelfäule Millionen Iren das Leben kostete, zeigt, wie auch die mitreisenden Pflanzenkrankheiten zur globalen Gefahr werden konnten. Charles Mann ist zudem der Überzeugung, dass erst der globale Handel die industrielle Revolution in Europa erlaubte, denn dazu brauchte man nicht nur Eisen und Kohle, sondern auch Gummi für Maschinendichtungen, Reifen, Stoßdämpfer und vieles andere. Das Grundmaterial Latex wird durch das Einkochen des weißen zähflüssigen Saftes des Kautschukbaumes gewonnen. Den gab es damals nur im Amazonas-Becken. Um dies zu ändern, kam es 1876 zum ersten großen Fall von Biopiraterie:
TAKE 7: O-Ton Mann
Spr.: „Ein Engländer namens Wickham, ein gescheiterter Geschäftsmann, schmuggelte 7000 Kautschukbaumsamen aus Brasilien heraus und brachte sie nach London in die Kew Gardens, wo sie keimten. Dann wurden die jungen Bäume nach Sri Lanka gebracht. Damit begann der Kautschukanbau in Südostasien und heute ist eine Fläche von der Größe Großbritanniens in Südostasien mit Kautschukbäumen bedeckt und das ist das Gummi für Autoreifen und Treibriemen, für Latexhandschuhe und Kondome. Es stammt von Abkömmlingen der Bäume, die illegal aus Brasilien herausgeschmuggelt worden sind.“
Erz.: Charles Mann beschränkt sich nie darauf, nur die Hauptgeschichte zu schildern. Vielmehr weitet er sie stets aus, verknüpft Pflanzenkunde mit Ökosystembeschreibungen, bindet Medizingeschichte mit ein, erklärt Handelsbilanzen und Wirtschaftsbeziehungen, beschreibt Machtverhältnisse. Zahlreiche Einzelschicksale von Eroberern und Eroberten, von Händlern und Forschern, Unternehmern und Abenteurern, Königen und Rebellen verbinden sich zu Tableaus historischer Gesellschaften. Charles Mann ist ein großartiger Erzähler, der zahlreiche kuriose, merkwürdige, witzige, absonderliche Anekdoten kennt. Er malt ein ausgesprochen farbiges, oftmals verblüffendes Bild einer seit Jahrhunderten globalisierten Welt. Trotz ihrer über 700 Seiten eine ausgesprochen kurzweilige Lektüre.
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