Peter von Matt: «Das Kalb vor der Gotthardpost. Zur Literatur und Politik der Schweiz

Kultur-Reisen
P.v. Matt: Das Kalb ...Gotthardpost
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Online-Publikation: Dezember 2012  im Internet-Journal <<kultur-punkt.ch>>
Ereignis-, Ausstellungs-, AV- und Buchbesprechung
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368 Seiten, Fester Einband, 368 Seiten; Frontispiz 4fbg. Mit Register; ISBN 978-3-446-23880-0; 21,90 € (D) / 29,90 sFR (CH) / 22,60 € (A)
Hanser Verlag, München;   http://www.hanser-literaturverlage.de;   http://www.hanser.de;

Inhalt
Peter von Matt liebt die Schweiz, ein Land zwischen Idylle und Globalisierung, zwischen alpiner Tradition und Hightech-Tunnel. Reich an Bildern und Weisheit, mit Witz und kämpferischer Vehemenz wirft er aber auch einen kritischen Blick auf die Gesellschaft: Auf ihren schludrigen Umgang mit der Sprache oder die Abschottung gegen Einwanderer. Mit deutschen Literaten wie Friedrich Schiller oder Max Frisch im Blick liest er Politik und Landsleuten seiner Heimat die Leviten. Dieses Buch führt uns vor Augen, dass und warum die Beschäftigung mit Literatur mitten ins Herz des Bewusstseins eines jeden Staatsbürgers trifft.

Autor
Peter von Matt, geboren 1937 in Luzern, aufgewachsen in Stans/Nidwalden, Studium der Germanistik, Anglistik und Kunstgeschichte in Zürich, Promotion bei Emil Staiger über Grillparzer, 1970 Habilitation über E.T.A. Hoffmann, von 1976 – 2002 Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Zürich. 1980 Gastprofessor an der Stanford University, California, und 1992/93 Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Peter von Matt ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt, der Akademie der Wissenschaften Berlin und der Sächsischen Akademie der Künste. 2012 wurde er mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet. Peter von Matt lebt in Zürich. 

Pressestimme
WOZ Nr. 09/2012 vom 01.03.2012
http://www.woz.ch/129/das-kalb-vor-der-gotthardpost/kein-schweizer-sonderfall-nur-eine-sonderfantasie
«Das Kalb vor der Gotthardpost»
Kein Schweizer Sonderfall, nur eine Sonderfantasie Rudolf Kollers berühmte «Gotthardpost» entstand 1873, zeitgleich mit einem Börsencrash. Anlass für den Literaturwissenschaftler Peter von Matt, die Hinter- und Abgründe des Schweizer Selbstverständnisses auszuloten.
Von Jo Lang
«Ob das Kalb davonkommt? Als Kind hat man sich das oft gefragt, mit einer Mischung aus Bangen und Faszination.» Wer einen anspruchsvollen Text mit solchen Sätzen beginnt, will, dass er über die eigene Zunft hinaus gelesen wird, dem geht es um politische Wirkung. Diese besteht darin, den «stadtnahen» Villenbesitzern, die sich wie «geborene Bergler» vorkommen und «im Nadelstreifenanzug den politischen Wurzelsepp» spielen und dafür «von andern synthetischen Berglern begeistert beklatscht» werden, die «Zeichen des Ursprungs» streitig zu machen.
«Offensive gegen die Alpen»
«Das Kalb vor der Gotthardpost», Peter von Matts jüngster Sammelband, ist ein Meisterstück historischer Dialektik. Wie von Matt beispielsweise im Hauptbeitrag «Die Schweiz zwischen Ursprung und Fortschritt» die Widersprüche in der «Seelengeschichte einer Nation» entfaltet, ist einfach brillant. Aus der Dreiheit von gefährdetem Kalb, rasenden Rossen und glotzenden Kühen entwickelt von Matt eine Geistes-, Wirtschafts- und Naturgeschichte, die Jacob Burckhardt und Theodor W. ­Adorno vereinigt. Sie führt vom Börsencrash von 1873 über Alfred Escher und den «Schwarzen Freitag» von 1929 zur aktuellen Finanzkrise. Ausgehend von der «Baumschlächterei» in Gottfried Kellers Seldwyla und der «Naturschlächterei» in Meinrad Inglins Urwang endet sie bei der «neuen Offensive gegen die Alpen» durch «Luxusresorts». In diese ökologischen Ausführungen baut von Matt einen Exkurs über die naturwissenschaftlich-ökonomische Verengung des Fortschrittbegriffs und über das alte Wort «Nachhaltigkeit» ein.
Kernstück des 84-seitigen Essays ist Albrecht von Hallers Gedicht «Die Alpen» (erschienen 1732) – es machte die Schweiz zum «Alpenland». Zuerst zeigt von Matt, wie ein Werk, das in «krasser Idealisierung» das Leben in den «Schweizer Bergen» als «Goldenes Zeitalter» beschreibt und damit fortschritts- und veränderungsfeindlich erscheint, in den folgenden Jahrzehnten beim städtischen Zielpublikum eine Veränderungen fördernde Sprengkraft zu entwickeln vermochte.
Dann erklärt er den Ursprung des Gedichts in der Antike bei Horaz und Vergil und zeigt, wie es das schweizerische Selbstverständnis bis heute prägt. Im Unterschied zum US-amerikanischen «Traumbild der Frontier», in dem «richtig ist, was kommen wird», trage unser Land «eine Vision vom glücklichen Land der Väter in der Seele», in dem «richtig ist, was einmal war». In diesem «Gedanken eines einzigartigen Ursprungs» sieht von Matt den Grund für die umstrittene These von der Schweiz als Sonderfall. Sein Fazit: «Die Schweiz ist kein Sonderfall, sie hat nur eine Sonderphantasie.»
«Konservativ oder progressiv?»
Ist es aber richtig, den Blick nach vorn derart pointiert dem Blick nach hinten entgegenzusetzen? In seinem berühmten «Der 18te Brumaire des Louis Napoleon» moniert Karl Marx, dass sich Luther als Apostel Paulus «maskierte» und die französischen Revolutionäre sich als antik-römische Republikaner «drapierten». Um dann anerkennend festzustellen, dass sie trotzdem «die Aufgabe ihrer Zeit vollbrachten». Diese Würdigung ist die Antwort auf eine Frage, die von Matt im Zusammenhang mit der subversiven Wirkung von «Die Alpen» stellt: «Voran! als ein: Zurück zu! Ist das nun konservativ oder progressiv?»
Ein ähnlich kritischer Einwand gegen von Matts allzu pfleglichen Umgang mit dem Begriff «konservativ» drängt sich beim Buchbeitrag über die «geschichtsphilosophische Differenz zwischen Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt» auf. Frisch stellt er als Liberalen, Dürrenmatt als Konservativen vor. Nehmen wir von Matts Analogie mit dem Gegensatzpaar der Figuren Settembrini und Naphta in Thomas Manns «Zauberberg» wörtlich: Settembrini und Frisch stehen beide in der Tradition der Aufklärung, sind also politische Liberale, wobei der Schweizer ein weniger naives Verhältnis zu ihr hat. Naphta aber ist kein Konservativer, sondern ein Nihilist. Ist nicht auch Dürrenmatt eher ein Nihilist, allerdings ein menschen- und lebensfreundlicherer? Kann man jemanden wie Dürrenmatt, der die Kirchen, die Armee und den Nationalismus ablehnte, in einem Land wie der Schweiz als Konservativen bezeichnen?
Ursprung oder Utopie
Wichtiger als solche begrifflichen Differenzen ist von Matts je nachdem wertkonservative oder linkssubversive Warnung vor der herrschenden positivistisch-technokratischen Beschränktheit am Schluss seiner «Seelengeschichte der Na­tion»: «Beim Blick auf unsere Welt und Gegenwart können wir doch nie ganz verzichten auf die Beschwörung eines vergangenen Ursprungs oder aber einer kommenden Utopie. Nur durch sie wissen wir ja vom Richtigen.»
Was aber soll das Richtige sein in der «Gotthardpost»? Als Kind war ich mir sicher, dass das Kalb davonkommt. Anlass dazu bot die in den meisten Bildbetrachtungen übersehene Kuh zwischen Gefährt und Abgrund. Ihr ist nichts passiert, obwohl sie viel gefährdeter war, als das Kalb es ist.

Fazit
"Sein schwingender Schwanz korrespondiert mit dem Schweif des Schimmels und der Peitschenschnur des Kutschers" (so heisst es treffend bildmittig, 1873 gemalt von Rudolf Koller, Tier- und Landschaftsmaler) und im Buch "Das Kalb vor der Gotthardpost" von Peter von Matt, dem Germanisten und Kunstgeschichtskundiger, der dazu ein Sprachzugewandter ersten Ranges ist.
Von Matt schafft es auch "zwischen Idylle und Globalisierung, sowie alpiner Tradition und Hightech-Tunnel" gekonnt zu pendeln. Und wer weiss es schon, dass der Name Rütli ( -Schwur ) sich rückgewandt zu G'rüt, Gereut, Gereutet und schliesslich zu Gerodet ableiten lässt. Zustimmen lässt auch seine Erkenntnis: "Jeder Krieg ist ansteckend. Er frisst sich durch die Welt... und... Freiheit ist kein Zustand, sondern eine Tätigkeit."
Seinen Begriff von Gesellschaft gliedert er in heroisch (in ihr vergewissert sie sich ihrer selbst über die Erinnerung an die Helden) und postheroisch (sie betrifft die gegenwärtige Schweiz und auch die Deutschlands... in einem spannungsreichen und buntscheckigen Prozess, siehe Mahnmäler in D zu hauf .. ). Zustimmen können wir auch seinem Behagen und Unbehagen im Föderalismus:" Die Demokratie ist die höchste, aber auch schwierigste Form des menschlichen Zusammenlebens.... dazu gehört vor allem öffentliche RITTERLICHKEIT*, sie besteht im Respekt vor dem Gegner und seinen Argumenten, und sie weiss um den möglichen eigenen Irrtum." Sein Geschichtsbild sieht von Matt dreischichtig, Nietzsche ähnelnd: monumental, antiquarisch und kritisch. Daher tut "Ent*KELLER*ung" (Flaubert und Walser) not und DADA*** ist ein Miniatur zur Aktualität nicht bloss Klamauk, es gibt auch Schlaf (jeder wendet sich zu seiner eigenen Welt, Herakleitos) und Wachen (alle wenden sich zu einer gemeinsamen Welt, Herkleitos) und zum Narrativen (Adelheid Duvanel****), zu wilder Agressivität mit ungeschützter Empfindsamkeit wie Niklaus Meienberg*****. Und er schliesst seine traumArtige Sicht mit :" Die Menschen mögen der Natur ein Geheimnis um das andere entreissen, es taucht dahinter jedesmal ein neues auf". Besser kann man es kaum formulieren, was uns im Innersten bewegt. m+w.p12-12
*) http://de.wikipedia.org/wiki/Ritterlichkeit;
**) http://www.gottfriedkeller.ch/; http://de.wikipedia.org/wiki/Gottfried_Keller;
***) http://de.wikipedia.org/wiki/Dadaismus
****) http://de.wikipedia.org/wiki/Adelheid_Duvanel
***** ) http://de.wikipedia.org/wiki/Niklaus_Meienberg