Ohne Leitidee - Die Krise der Bildung Ralf Caspary: Gespräch mit Julian Nida-Rümelin

SWR2 Wissen: Aula 17-2 -Ralf Caspary mit Nida-Rümelin: Ohne Leitidee - Die Krise der Bildung

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SWR2 Wissen: Aula 17-2 : Ohne Leitidee - Die Krise der Bildung Ralf Caspary:  Gespräch mit Julian Nida-Rümelin
Sendung: Sonntag, 19. Februar 2017, 8.30 Uhr Redaktion: Ralf Caspary Produktion: SWR 2017 http://www.swr.de/swr2/programm/

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Autor & Gesprächspartner

Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin gehört zu den renommiertesten Philosophen in Deutschland. Er lehrt Philosophie und politische Theorie an der Universität München. Julian Nida-Rümelin ist Autor zahlreicher Bücher und Artikel sowie gefragter Kommentator zu ethisch, politischen und zeitgenössischen Themen. 2013 stieß er die Debatte zum Akademisierungswahn an. Julian Nida-Rümelin hält Vorträge und Reden und berät Führungskräfte in philosophisch-ethischen Fragestellungen.

http://www.julian.nida-ruemelin.de

Humanistische Reflexionen. Suhrkamp. 2016. - Die neue deutsche Bildungskatastrophe – Zwölf unangenehme Wahrheiten. Herder. 2015. - Der Akademisierungswahn – Zur Krise beruflicher und akademischer Bildung. Edition Körber-Stiftung. 2014. - Philosophie einer humanen Bildung. Edition Körber-Stiftung. 2013. - Verantwortung. Reclam-Verlag. 2011. Stand: 14.2.2017, 10.07

 

1 ÜBERBLICK Überall herrscht Überforderung und Unzufriedenheit: bei den Lehrern, den Eltern, den Schülern, auch bei den Politikern. Das Turbo-Abitur stößt auf wenig Gegenliebe, genauso wie die Bologna-Reform. Unseren Bildungsreformen fehlt eine neue sinnvolle Leitidee. "Employability" heißt stattdessen die Losung. Es geht um eine Bildung, die den Menschen so schnell wie möglich fit machen will für den Arbeitsmarkt, die nicht mehr nach Talenten, Interessen, Begeisterung und Humanität fragt. Und das muss sich ändern. Warum, das zeigt Julian Nida-Rümelin, Professor für Philosophie an der LMU München.

INHALT 2 MANUSKRIPT Ansage: Mit dem Thema: Ohne Leitidee – Die Krise der Bildung. Es gibt heute ebensoviele Bildungsbegriffe und Bildungskonzepte, wie es Anschauungen, Ideologien und Meinungen gibt, die einen betonen das möglichst umfangreiche Wissen, andere rücken Persönlichkeitsmerkmale in den Mittelpunkt oder Fähigkeiten, die man in bestimmten Berufen unbedingt benötigt. Was ist Bildung, gibt es nicht doch noch einen umfassenden Bildungsbegriff, den man heute wieder aktualisieren könnte, darüber spreche ich mit Professor Julian Nida-Rümelin, Philosoph an der LMU München. Gespräch: Caspary: Was ist ein gebildeter Mensch? Nida-Rümelin: Bildung beinhaltet immer eine Idee der Vervollkommnung, dass man sich nach einem Bilde formt, nach einem Idealbild, wenn man so will. Entsprechend ändern sich dann die Inhalte. Bei Aristoteles etwa spielt die Mesotes eine Rolle – also die Mitte, das Ausgeglichene, das Maßhalten, die Extreme- Meiden, die Dinge müssen stimmig sein, zueinander passen, man muss kooperationsfähig sein mit anderen, und wichtig ist, dass man die eigenen Fähigkeiten zur vollen Entfaltung bringt – das ist ein ganz schönes Bild. Das ist aristotelischen Ursprungs, aber keineswegs obsolet. Caspary: Warum nicht obsolet? Nida-Rümelin: Ich glaube nach wie vor, dass ein Bildungsverständnis, was darauf gerichtet ist, Menschen nur lediglich performen zu lassen, also Leistungen erbringen zu lassen für bestimmte Tätigkeiten, in Kontrast gerät zu diesem menschlichen Selbstbild, was mir sehr wichtig zu sein scheint: nämlich, dass das Leben als Ganzes stimmig sein muss; ich muss nicht nur performen, nicht nur leisten in bestimmten Aufgabenfeldern, sondern am Ende muss ich ein ganzes Leben verantworten. Vielleicht äußert sich das darin, dass man im glücklichen Fall mit sich im Reinen ist und nicht dauernd das Gefühl hat: Ich werde vielleicht den Ansprüchen gerecht, die andere an mich stellen, aber ich selbst kann mich mit dem nicht ganz identifizieren. Dieses Element wird von manchen als Persönlichkeitsbildung bezeichnet und ist meines Erachtens nach wie vor zentral. Caspary: Sie haben gesagt, es geht um das Ausschöpfen der eigenen Potentiale, um die Entwicklung der eigenen Fähigkeiten. Dazu muss man aber wissen, was das eigene Potential ist und was die eigenen Fähigkeiten sind. Das heißt, Bildung basiert auf dieser Selbsterkenntnis? 3 Nida-Rümelin: Ich glaube, dass diese Selbsterkenntnis nicht am Anfang steht, sondern dass sie im Laufe des Bildungsweges wächst. Man kann es vielleicht auch so formulieren: Ein ideales Bildungssystem bietet unterschiedliche Bildungswege an, die jeweils auf die individuellen Bedürfnisse, Interessen, Persönlichkeitsmerkmale, Fähigkeiten usw. Rücksicht nehmen, also gewissermaßen diese Potentiale aufgreifen, entfalten und fördern. Welche das nun im Einzelnen sind, lässt sich nicht am Anfang festlegen. Deswegen bin ich auch gegen frühe Selektion von Kindern in unterschiedliche Bildungs-Stränge. Sondern das entwickelt sich im Laufe dieses Bildungsweges. Man kann es noch philosophischer formulieren: Wir sind Autorinnen oder Autoren unseres eigenen Lebens – im günstigen Fall jedenfalls, wir sind nicht nur Getriebene , wir reagieren nicht nur auf Umstände, sondern wir sind diejenigen, die das Drehbuch unseres eigenen Lebens schreiben und danach leben. Aber das können wir nicht am Anfang schreiben, sondern wir schreiben dieses Drehbuch im Laufe eines langen Weges, einschließlich eines Bildungsweges. Zu Beginn des Lebens ist noch vieles offen. Im Idealfall finden die Personen auf diesem Bildungsweg sich selbst und sagen: „Das bin ich. So will ich sein. Und deswegen bin ich hier richtig“. Caspary: Und wenn man sich selbst gefunden hat, ist das die Basis für ein gelingendes, glückliches Leben. Wäre dies das Endziel von Bildung? Nida-Rümelin: Gelingendes Leben, würde ich sagen: Ja. Gelingendes Leben eben in dem Sinne: Man kann mit sich im Reinen sein; ich muss nicht dauernd bereuen, was ich tue, oder beklagen, was ich tue. Das mit dem „glücklich“ ist etwas problematisch, weil wir in der Moderne so eine hedonistische Schlagseite haben. Das heißt, wir interpretieren glücklich in dem Sinne, wir haben ein hohes Zufriedenheitsniveau. Da, glaube ich, lauern große Gefahren. Eine Gefahr ist, wenn man sich zum Ziel setzt möglichst zufrieden oder glücklich in diesem Sinne zu sein, einen mehr oder weniger glücklichen mentalen Zustand über lange Zeit aufrecht zu erhalten; erstens gelingt das nur in den seltensten Fällen – dazu gibt es psychologische Untersuchungen – in beide Richtungen: Der Lottogewinn bringt eine gehobene Stimmung für ein paar Monate. Und dann ist es auch vorbei, dann ist man wieder so wie vorher. Oder eine Verletzung durch einen Unfall bringt natürlich eine Verschlechterung der Stimmungslage. Aber nach ein paar Monaten nimmt das auch ab und dann normalisiert sich das wieder. Allein die Zielerreichung ist ein Problem. Aber grundlegender noch ist die Frage: Was ist im Leben eigentlich wichtig? Und wenn es nur darum geht, das eigene Zufriedenheitsniveau zu heben, wie das so einer weit verbreiteten Weltanschauung entspricht und ganze Bücherregale in den Buchhandlungen füllt, dann besteht die Gefahr, dass am Ende die Dinge leer werden. Wenn Menschen sich quälen, zum Beispiel bei einem großen Projekt, dann sind sie nicht dauernd glücklich und zufrieden. Die meisten Autoren, die Bücher schreiben, sind nicht permanent glücklich während sie Bücher schreiben. Und trotzdem kann es sein, dass sie am Ende das Gefühl haben: Ich habe hier etwas Sinnvolles getan. Also glücklich meine ich nicht im Sinne der dauernden Zufriedenheit. Caspary: 4 Welche Rolle spielt für Sie der Begriff: „Resilienz“, der ja auch Hochkonjunktur hat und der meint: die Widerstandsfähigkeit des Individuums gegen Schicksalsschläge, gegen negative Erfahrung. Ist das ein wichtiger Baustein bei einer guten Bildung? Nida-Rümelin: Ich habe mich mit dieser Thematik intensiv auseinandergesetzt, auch mit einem Forschungsverbund, der hier in Bayern besteht. Resilienz ist ein ganz wichtiger Aspekt. Resilient heißt erst mal: Ich kann Stresssituationen aushalten, durchhalten, ich zerbreche daran nicht. Der Ausgangspunkt dieser Resilienzdebatte sind psychologische Beobachtungen gewesen, dass zum Beispiel Kinder und Jugendliche unter extrem ungünstigen Bedingungen – sagen wir einmal: beide Eltern sind Alkoholiker, arbeitslos usw. – nicht alle traumatisiert sind, nicht alle schwer psychisch belastet sind und Schwierigkeiten haben in ihrem Leben, sondern, dass ein Teil, je nach Umständen 30-50 %, am Ende trotzdem gesunde, lebensfähige Personen werden . Dann hat man sich Gedanken gemacht: Was unterscheidet die von den anderen? Was unterscheidet diejenigen, die das durchstehen, von denjenigen, die das nicht tun? Da kommen auch Umweltbedingungen ins Spiel, zum Beispiel ist es für ein Kind sehr wichtig, dass es sich akzeptiert fühlt als Kind, das macht es offenbar widerstandsfähig. Oder wichtig ist auch die Erfahrung, dass man selber etwas erreichen kann, indem man etwas tut… Caspary: …Selbstwirksamkeit heißt das so schön… Nida-Rümelin: …genau. Das ist ein wichtiger Punkt, und vieles andere. Ich bin kein Psychologe und will mich da nicht zu sehr einmischen. Daraus ist die psychologische und dann auch soziologische Resilienzforschung entstanden. Aus philosophischer Sicht darf man das Konzept aber nicht verabsolutieren. Um es spöttisch zuzuspitzen: Die resilienteste Regierungsform, die ich gegenwärtig auf der Welt beobachten kann, ist Nordkorea, was mit massivem Stress und vielen Gegnern kämpft und als kleiner Staat erstaunlich überlebensfähig ist und nichts ändert. Das gilt auch für Individuen: Wenn Resilienz so definiert wird: Man bleibt konstant, auch bei äußerem Stress, dann kann das auch negativ sein. Ich muss mich ja immer wieder anpassen, ich muss mich verändern, ich muss mir überlegen: Wie reagiere ich auf negative Dinge? Das bloße Durchhalten ist für sich genommen noch kein Wert. Das muss man einordnen in den größeren Zusammenhang. Caspary: Wo würden Sie das einordnen? Nida-Rümelin: Insbesondere in die Frage „Wie kann die Biographie als ganze stimmig bleiben?“. Es ist typisch, dass nach einem schweren Autounfall oder einer Trennung Menschen oft die Lebenslinie verlieren. Dann zerbricht alles. Bei Frauen gibt es dann mehr Medikamentenabhängigkeit, bei Männern Alkoholabhängigkeit als Reaktion darauf. Das heißt, der Lebensfaden, die Lebenslinie, wird nicht mehr kontrolliert und nicht mehr fortgeführt – gewissermaßen ist das eine Art Selbstaufgabe als Reaktion. Ich würde sagen, das ist der interessante Aspekt der Resilienzforschung: Unter welchen Bedingungen bleiben die Menschen AutorInnen ihres Lebens und verlieren diese Fähigkeit zur Autorschaft nicht? Aber Resilienz darf nicht nur so definiert werden: 5 Wie viel bleibt unverändert? Es kann ja eine richtige Reaktion sein auf ein Trauma zu sagen: „Jetzt ändere ich vieles, weil eben manches auch falsch gelaufen ist in meinem Leben“. Caspary: Sie hatten die ganzheitliche Entfaltung, die Entfaltung der eigenen Potentiale, die Autorschaft genannt- sind das typische Elemente eines humanistischen, traditionellen Bildungsbegriffs? Nida-Rümelin: Wenn Sie das traditionell raus nehmen, würde ich sagen: Ja, Humanismus in dem weiten Sinne, wie ich Humanismus verstehe. Ich meine jetzt nicht humanistische Bildung im Sinne einer Orientierung an alten Sprachen – zum Beispiel Griechisch oder Latein – , dafür kann man sein, das ist aber nicht das Zentrum eines humanistischen Bildungsbegriffes. Ich meine diese Traditionslinie, die in der Tat in der Antike, bei Platon beginnt und die dem Menschen zutraut, sich selbst ein Urteil zu bilden und auf der Grundlage dieser Urteilsfähigkeit zu agieren, zu handeln. Das ganze sokratische Programm besteht darin, das eigenständige Denken zu initiieren, gemäß der sokratischen Hebammenkunst. Bildung ist kein Nürnberger Trichter, die Menschen erarbeiten sich das Wissen selbst, es ist nicht aufoktroyiert, und die Ergebnisse sind nicht lediglich instrumentell auf bestimmte externe Ziele gerichtet, sondern werden auch um ihrer selbst Willen verfolgt. Das ist dann die große Tradition der Persönlichkeitsbildung. Das verstehe ich unter Humanismus. Und diese Form des Humanismus muss sich immer wieder zur Wehr setzen gegen die Instrumentalisierer, die sagen „Wir wollen verwertbares Wissen. Wir wollen Verwertbarkeit in erster Linie und alles muss sich dem unterordnen“, bis hin zu der zynischen Politik über viele Jahrhunderte, dass es ja geradezu gefährlich ist, wenn die Menschen zu gebildet sind, weil sie dann kritisch sind. Dann sind sie vielleicht sogar der Auffassung, sie müssten ihre politischen Geschicke selbst in die Hand nehmen. Lange Zeit war die Vorstellung verbreitet: Warum sollen Frauen überhaupt gebildet sein? Da sie sich ja um den Haushalt kümmern und die Kinder aufziehen sollen, brauchen sie auch keine Bildung. Das ist genau das Gegenmodell von humanistischer Bildung, weil hier die Autorschaft in Frage gestellt wird. Caspary: Ich versuche das einmal durchzuspielen, mit den Instrumentalisierern und Verfechtern der humanistischen Bildung , wir gehen ins Gymnasium, sagen wir 9. Klasse, der Zitronensäurezyklus wird durchgenommen. Da würden die Instrumentalisierer sagen: „Völliger Unsinn, das braucht man überhaupt nicht zum Leben; die Kinder sollen Geld verdienen und einen guten Beruf haben, sich selbst verwirklichen – wozu Zitronensäurezyklus?“ Der Humanist sagt: „Aber das gehört auch zu dieser ganzheitlichen Bildung; davon sollte man etwas gehört haben“. Nida-Rümelin: Genau. Ich würde sagen, das ist ja auch humanistisch – diese Idee der Allgemeinbildung, der Humboldt die Specialbildung entgegenstellt. Die Specialbildung ist auf bestimmte Fähigkeiten und spätere Aktivitäten gerichtet und die Allgemeinbildung adressiert im Grunde alle gleichermaßen. Das ist ein Hintergrund, vor dem dann erst Verständigung, Kommunikation, Interaktion, Selbstentfaltung usw. möglich ist. Aber es lohnt sich schon, gründliche darüber nachzudenken: „Was muss da alles dazugehören?“. Und da bin ich der Meinung, wir 6 brauchen beides, wir brauchen einen allgemein gemeinsamen Hintergrund, vor dem wir uns verständigen können. Was dazu im Einzelnen gehört, darüber kann man streiten, das kann auch von Land zu Land ein bisschen unterschiedlich sein. Wie wichtig ist meinetwegen Shakespeare für den Senegal? Aber ich würde sagen, in Europa ist Shakespeare wichtig; Goethe auch und vielleicht auch der Zitronensäurezyklus. Und dann brauchen wir aber – und das ist viel wichtiger – die Urteilsfähigkeit, die Urteilskraft. Die bildet sich durch das In-die-Tiefe-Gehen, das ist wichtig, Urteilskraft entsteht eigentlich erst in der gründlichen Auseinandersetzung mit bestimmten Themen. Da geht man in die Tiefe. Das ist meine Kritik an der gegenwärtigen Entwicklung in den Bildungseinrichtungen, auch an den Hochschulen, dass wir vor lauter Wissensansammlung, Wissensvermehrung und Wissensvermittlung in unterschiedlichsten Disziplinen das Vertikale verlieren, das wir keine Zeit mehr haben, zu reflektieren. Wenn das weitgehend fehlt, dann lernen die Kinder und Jugendlichen gewissermaßen eine rezeptive Haltung. Das heißt, sie hören sich das an, merken sich das Wichtigste, vergessen das dann wieder, wenn dann die Klausur ist; und dann wird es abgehakt und dann kommt das Nächste. Das ist eine hoch gefährliche Entwicklung. Caspary: Der Instrumentalisierer würde sagen: „Die Kinder lernen fürs Leben, für den späteren Beruf. Allgemeinbildung klingt super, aber es sollte schnell gehen, man sollte schnell zu Potte kommen“. So ist ja die Schule organisiert in Deutschland? Nida-Rümelin: Das war auch das Beschleunigungsprogramm, das viele unterdessen – wenigstens hinter vorgehaltener Hand – wieder bereuen. Wir haben eine mehrfache Beschleunigung: Wir haben den Schulbeginn im Schnitt um ein Jahr nach vorne verlegt; wir haben die gymnasiale Schulzeit um ein Jahr verkürzt. Die Ironie der ganzen Geschichte ist, dass dann am Ende die Sache doch nicht so funktioniert, wie gedacht. Unterdessen haben wir ja schon – wenn es ganz rasch geht – mit 20 die Bachelorabsolventen, spätestens mit 21. Dann gehen die in die Unternehmen – ich habe viele Gespräche mit Personalentscheidern von Unternehmen, die sagen: „Das ist alles zu früh. Wollen Sie nicht noch ein Auslandsjahr? Caspary: Das machen auch viele, eben weil sie zu jung sind… Nida-Rümelin: …und dann kommt noch etwas hinzu, dass an den Universitäten nicht eingetreten ist, was geplant war, nämlich dass 80 % mit dem Bachelor abgehen und erst einmal berufstätig sind – so wie in den USA – und dann vielleicht, wenn sie wollen, noch einmal zurückkehren und ein Masterstudium absolvieren. Stattdessen: 80 % der Studierenden wollen an den Universitäten weiter studieren, was auf dem Papier sogar eine Verlängerung der Studienzeiten bedeutet – drei Jahre Bachelor plus zwei Jahre Master sind fünf Jahre, vorher waren es – wenigstens auf dem Papier – vier Jahre. Es waren dann – gebe ich zu – zwar nie vier Jahre, aber das mit der Verkürzung hat nicht so richtig geklappt. Caspary: Hat es denn geklappt, die Abbrecherquote zu reduzieren? 7 Nida-Rümelin: Das war ein wichtiges Ziel der Bolognareform – in Deutschland zumindest, dass man die Abbrecherzahlen drückt – da muss man genau die Fächer anschauen. Das ist in manchen Fächern gelungen. Zum Beispiel in meinem Fach: Die Philosophie hatte zum Teil astronomisch hohe Abbrecherquoten. Das hing aber auch damit zusammen, dass viele Philosophie als Studium generale aufgefasst haben und gesagt haben: „Naja, das studieren wir einmal und ich kann nebenbei schon jobben oder etwas anderes machen. Oder ich warte auf den Medizinplatz“. Das ist so heute alles nicht mehr möglich. Aber insgesamt, über alle Fächer betrachtet, sind die Abbrecherquoten interessanterweise gestiegen und nicht gesunken, obwohl alle, die an den Hochschulen lehren, wissen, dass die Erfordernisse, Qualitätsstandards, zwangsläufig sinken mussten und auch gesunken sind. Das heißt, wir haben sinkende Qualitätsstandards und steigende Abbrecherquoten. Das ist in meinen Augen ein Indiz für eine doch recht massive Fehlsteuerung im Bildungssystem. Caspary: Wie hätten Sie es denn gerne? Etwas polemisch gefragt. Entschleunigung, also wieder G9? Nida-Rümelin: Entschleunigung heißt nicht unbedingt, den zeitlichen Rahmen zu verändern. Ich bin sogar der Auffassung – immer schon gewesen – wenn es unbedingt sein muss, kann man auch mit einem G8 entschleunigen. Aber das setzt dann voraus, dass man wirklich gründlich über die Stofffülle geht und das so reduziert, dass diese Vertiefung möglich ist. Wenn man tatsächlich diese Stofffülle aufrecht erhalten will – de facto wurde ja der Stoff von G9 in G8 hineingequetscht- ist die Folge eine Oberstufenverkürzung von drei auf zwei Jahre. Das ist gerade das Problem, weil wir jetzt selbst bei denjenigen, die über das Gymnasium eine Hochschulzugangsberechtigung haben, nicht mehr wirklich voraussetzen können, dass sie hochschulreif sind. Es ist auch interessant, dass die Ministerialbürokratien von dem Begriff abgegangen sind: früher wurde ja eine Hochschulreife attestiert , heute eine Hochschulzugangsberechtigung. Das ist etwas ganz anderes. In der Tat würde ich sagen, dass ein wachsender Teil der Studierenden nicht wirklich studienreif ist. Da kann man sagen: „Na gut, das war in den USA auch immer so“ – das war ja der Hintergrund, warum man den Bachelor überhaupt eingeführt hat – „dann müsst ihr das halt nachholen. OK, uns fehlt es ein bisschen an Lehrpersonal, die das dann können. Aber ihr müsst im Grunde die gymnasiale Oberstufe nachholen, vor allem für die, die über andere Wege – zum Beispiel eine Meisterprüfung – in das Studium kommen“. Ich bin sehr dafür, dass es diese Durchlässigkeit in beide Richtungen gibt. Aber man muss sich dann von der Vorstellung verabschieden, dass die Leute jeweils schon studierfähig sind. Das heißt aber dann in der Konsequenz, dass man den Fächern überlassen sollte, wen sie aufnehmen, nach ihren Kriterien, die sind ja unterschiedlich. In manchen Fächern kann man mit guten Mathematikkenntnissen wunderbar zurande kommen, da muss man nicht feinziselierte Sätze schreiben können; in der Philosophie ist das schon ein bisschen problematischer. Caspary: Sie hatten für das Ganzheitliche plädiert. Zu diesem Ganzheitlichen gehört für mich nicht die verkopfte Bildung, diese Vermittlung kognitiver Fähigkeiten, sondern auch etwas anderes… 8 Nida-Rümelin: …das ist die wichtige zweite Botschaft meiner Bildungsphilosophie – dass wir eine kognitive Schlagseite haben… Caspary: …das heißt,? Nida-Rümelin: Mit kognitiver Schlagseite meine ich, dass wir in erster Linie die kognitive Dimension der Bildung betonen. Das gilt in Bayern schon für die Neunjährigen. Dort wird nach Mathematik, Heimat und Sachkunde und Deutsch auf die drei Schultypen selektiert. Und ich frage mich: Wo bleibt zum Beispiel das Handwerkliche? Ist das nicht Teil der Bildung? Kinder und Jungendliche, die ein feines Gespür für Stoffe, für Farben, für Materialien haben; die mit Holz umgehen können und sich für so etwas interessieren, sind doch nicht weniger gebildet. Das ist doch auch eine wesentliche Fähigkeit: das Künstlerische, die Fähigkeit, mit Menschen zu kooperieren, also das Soziale, Ethische. Und das wird systematisch abgewertet. Den Kindern wird gesagt: „Das Wichtige ist das Kognitive. Ihr müsst in Deutsch und Mathematik besonders gut sein“. Das andere ist nachrangig, mit der dann paradoxen Folge, dass diejenigen, die da also nicht gut sind, auf Bildungswege geraten – was zunächst einmal gar nichts Negatives ist – bei denen sie spezifische Fähigkeiten mitbringen müssen, die aber vorher nicht hoch geschätzt wurden. Zum Beispiel: technische, handwerkliche Fähigkeiten. Wir müssen eine Kultur gleicher Anerkennung etablieren. Es sind nicht nur diejenige Schülerin gut, die eben in diesen kognitiven Fähigkeiten gute Noten haben, sondern, es kann auch diejenige oder derjenige gut sein, der dafür im Technischen, Handwerklichen, Künstlerischen, Gestalterischen, Sozialen gut ist. Da müssen wir eine Korrektur vornehmen, sonst läuft uns das aus dem Ruder. Caspary: Aber andererseits sind wir doch – auch wenn das klischeehaft klingt – ein Volk von Ingenieuren.? Nida-Rümelin: Aber Ingenieure sind nicht nur diejenigen, die Ingenieurwissenschaft studiert haben, sondern eben auch die Techniker usw. ... Caspary: Woran liegt dann diese Abwertung dieses technischen, handwerklichen, praktischen Bereichs? Nida-Rümelin: Wenn Sie sich zurück erinnern, dass vor ein paar Jahren von einer Bedarfslücke, oder Nachwuchslücke im Bereich MINT gesprochen wurde – Mathematik, Ingenieur, Naturwissenschaft, Technik – und man hat gefragt: „Was meint ihr eigentlich damit?“, dann hieß es: „Wir haben zu wenige Studenten in dem Bereich“ . Mag ja sein – da gibt es eine DIW-Studie, die sagt eigentlich ausreichend, aber gut, da kann man drüber streiten – aber, dass MINT ganz überwiegend nicht- akademische Berufe sind, das war gar nicht in der Debatte. Und das ist eine merkwürdige Geschichte. Wenn Sie sich den Erfolg der deutschen Wirtschaft im Ausland anschauen, der hängt zu einem ganz großen Teil an einem in der Exportwirtschaft sehr starken 9 mittelständischen Bereich. Wenn Sie da genauer hinschauen, stellen Sie fest: Der lebt von dieser handwerklich, technischen Tradition. Das wissen die auch in den USA und versuchen das zu imitieren, bis hin zu Berufsbildungszentren, die Obama eingeweiht hat , ob die funktionieren weiß ich nicht, aber das ist ein Versuch, sich an Deutschland zu orientieren. Wir haben jetzt Jahre hinter uns, in denen der sogenannte tertiäre Sektor – ganz stark auf Hochschulausbau gesetzt hat. Das war problematisch. Und ich glaube, wir müssen das jetzt korrigieren. Das heißt, wir müssen die berufliche Bildung genauso ernst nehmen. Wir dürfen die Mittel, die zusätzlich in die Hochschulen gehen, nicht mehr binden an die Zunahme der Studierenden – das ist zuletzt wieder geschehen – das geschieht immer wieder. Wir dürfen auch nicht die Botschaft aufnehmen oder umsetzen, die aus dem Bildungsministerium kommt: „Tut alles, damit die Abbrecherquoten runtergehen, auch wenn die Qualitätsstandards damit runtergehen“. Das geht nicht, das können wir uns nicht leisten. Sondern die Botschaft sollte sein: Nicht jeder, der sich für Technik interessiert, muss Ingenieurwissenschaft studieren; dort ist Mathematik wichtig und die würde ich nicht aufgeben. Aber in einem technischen Beruf ist gewisses mathematisches Grundverständnis , aber nicht sehr anspruchsvolle, hohe Mathematik erforderlich. Die Digitalisierung wird sowieso alle Berufe betreffen – akademische wie nicht akademische – die Botschaft, dass nur akademische Berufe mit der Digitalisierung umgehen können, ist völlig unbegründet. Denn die Vorstellung, dass in Zukunft all die Probleme, die auftreten werden, mit volldigitalisierten Haushalten usw. gelöst werden von promovierten Ingenieurwissenschaftlern, halte ich für abwegig. Das müssen Techniker sein, die damit umgehen können. Das ist schon aus finanziellen Gründen gar nicht anders denkbar. Wir sollten diese Chance eher nutzen; Digitalisierung heißt, dass wir die Berufsschulen stärken müssen; dass wir die Allgemeinbildung in den Berufsschulen stärken müssen. Das duale System kann nur überleben, wenn die Berufsschulen stark sind. Das war aber ein Stiefkind der Förderung im Bereich Bildung in den letzten Jahren. Caspary: Wir schauen mal, was mit den Berufsschulen passiert. Dass deren Image steigt, da bin ich sehr skeptisch. Mir scheint das eher weiter zu sinken. Nida-Rümelin: Sagen wir es so: Ob so eine Schule ein hohes oder niedriges Image hat, hängt ja auch mit der Bildungspolitik zusammen. Dass es so eine massive Verschiebung gegeben hat, hing ja damit zusammen, dass die Botschaft war: „Den Akademikern gehört die Zukunft; Mobilität, Flexibilität ist die Zukunft. Deswegen sind die 350 – oder mehr – Ausbildungsberufe eigentlich von gestern“. Das war ja der Fehler. Und jetzt sehen das die meisten ein. Es ist nicht so, dass ich das nur gebetsmühlenartig wiederhole, sondern da hat sich ja etwas verändert. Es hat auch keinen Zuwachs mehr gegeben in den letzten Jahren, das ist auch interessant. Caspary: An Studenten? Nida-Rümelin: Ja, die Studierendenquote ist seit 2012/13 nicht mehr gewachsen. Das heißt, es gab da eine Vollbremsung. Nach plus 10 % jedes Jahr auf einmal nix mehr. Es hat ein Umdenken stattgefunden. Aber jetzt muss der nächste Schritt erfolgen. Wir müssen die berufliche Bildung aufwerten. Die Handwerkskammern haben in meinen Augen eine super Kampagne gemacht. Das scheint zumindest in Bayern gewirkt zu haben – mit über 5 % plus. Das muss weiter gehen. Caspary: Vielen Dank für das Interview. Nida-Rümelin: Bitte schön.

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