Fotografinnen der 20er Jahre
Kultur Ereignisse
Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg
mkg-hamburg10-4fotografinnen20erjahre
Online-Publikation: April 2010 im Internet-Journal <<kultur-punkt.ch>>
Ereignis-, Ausstellungs-, AV- und Buchbesprechung : Fotografinnen der 20er Jahre
Informationen: http://www.himmelaufzeit.de
Kuratorin: Prof. Dr. Gabriele Betancourt Nuñez
Pressekontakt: Michaela Hille, Telefon: 040/428 134 – 53 53, Telefax: 040/428 134 – 28 34
mailto:michaela.hille@mkg-hamburg.de / mailto:presse@mkg-hamburg.
Laufzeit: 23. April bis 27. Juni 2010, Pressetermin: 21. April 2010, 11 Uhr , Eröffnung: 22. April 2010
Das Museum für Kunst und Gewerbe zeigt aus der eigenen Sammlung das Werk von vier exemplarisch ausgewählten Fotografinnen, die während der Zeit der Weimarer Republik in Hamburg tätig waren: Minya Diez-Dührkoop (1873 - 1929) und Lotte Genzsch (1907 - 2003) als produktive Berufsfotografinnen mit eigenem Atelier, Natascha A. Brunswick (1909 - 2003) als kreative Autodidaktin und Hildi Schmidt Heins (geb. 1915) als freischaffende Künstlerin. Die Ausstellung mit rund 200 Originalfotografien wird gezeigt im Rahmen des kulturübergreifenden Forschungs- und Vermittlungsprojektes „Himmel auf Zeit. Die Kultur der 1920er Jahre in Hamburg“, gefördert durch die Hermann Reemtsma Stiftung. Das Leben und das Werk der vier Fotografinnen umfassen historisch das Deutsche Kaiserreich, die Weimarer Republik, das „Dritte Reich“, damit auch zwei Weltkriege, eine Emigration in die USA sowie die Bundesrepublik Deutschland. Die Rolle der Frau einschließlich ihrer Möglichkeiten zur schöpferischen Tätigkeit veränderte sich in dieser Zeitspanne drastisch. Stilistisch definierbare Epochen sind die Kunstfotografie um 1900 (Piktorialismus) und das Neue Sehen der 1920er Jahre. Der Forschungsverbund zur Kulturgeschichte Hamburgs an der Universität Hamburg gibt eine Publikation mit Beiträgen zu verschiedenen Aspekten des Hamburger Kulturlebens in den 1920er Jahren vor: Gartenarchitektur, Fotografie, Tanz, Musik, Theater, Literatur, Kino, Architektur, Rundfunk und bildende Kunst.
Minya Diez-Dührkoop (1873 - 1929) erlernte das Fotografenhandwerk bei ihrem Vater Rudolf Dührkoop (1848 - 1918), dessen 1883 in Hamburg gegründetes Atelier mit zwei Berliner Filialen in Deutschland für standesgemäße Portraits von Politikern, Adligen und Geistesgrößen führend war. Dührkoop bediente mit besonders ausgearbeiteten Vergrößerungen den Wunsch des gehobenen Bürgertums nach Exklusivität. Seine handwerklich aufwendigen Abzüge, montiert auf farblich passende Kartons, wurden von Alfred Lichtwark als „Toilette der Fotografie“ bezeichnet. Nach Dührkoops Tod 1918 führte Diez-Dührkoop die seit 1906 im Heinehaus am Jungfernstieg 34 ansässige „Werkstatt für das künstlerische Kamera-Bildnis“ erfolgreich weiter.
Die Fotografin gehörte 1919 zu den ersten Mitgliedern der sich als Elite verstehenden GDL (Gesellschaft Deutscher Lichtbildner), war Teil des Hamburger Kulturlebens und sammelte zeitgenössische Kunst. Sie pflegte Kontakte zu Literaten wie Richard und Ida Dehmel und Künstlern wie Max Pechstein, Franz Radziwill und Karl Schmidt-Rottluff. Seit 1910 war sie Passives Mitglied der seit 1905 bestehenden expressionistischen Künstlergemeinschaft Die Brücke und seit seinem Entstehen 1920 Mitglied in dem von Rosa Schapire zusammen mit Wilhelm Niemeyer gegründeten Kunstbund Hamburg. Im Museum für Kunst und Gewerbe blieben u. a. insgesamt 28 Originalabzüge der so genannten Tanzmasken erhalten, die das Hamburger Künstlerpaar Lavinia Schulz (1896 - 1924) und Walter Holdt (1899 - 1924) in charakteristischen Posen mit ihren expressionistischen Kostümen präsentieren. Diez-Dührkoop fotografierte sie in konstruktivistischen, an Art déco erinnernde Formen im Hintergrund mit optischen Verdopplungen von Teilen der Masken durch starke Schlagschatten oder expressionistische kristalline Elemente in anderen Bildern.
Gehört Diez-Dührkoop biografisch wie fotohistorisch zur früheren Generation, wurde die Fotografie in der Aufbruchstimmung der Weimarer Republik für Lotte Genzsch (1907 - 2003) zum Instrument eines neu definierten Frauenberufs und für Brunswick und Schmidt Heins zum künstlerischen Mittel. Das innovative Neue Sehen brachte ungewohnte Blickwinkel auf eine lebensnahe Alltäglichkeit. Diese Fotografie ist so vielfältig wie die Persönlichkeiten der Künstlerinnen und Künstler, die sie prägten. Genzsch, Brunswick und Schmidt Heins gestalten jeweils ihre eigene individuelle Sicht. Ihre Ausbildung als Fotografin absolvierte Lotte Genzsch 1927 beim legendären, damals ausschließlich der Ausbildung von Frauen vorbehaltenen Lette-Verein in Berlin. Nach der Gesellenprüfung 1929 arbeitete sie freischaffend und machte sich nach der Meister-prüfung 1936 mit dem Schwerpunkt Portrait in Hamburg-Blankenese selbständig. 1960 erfolgte eine vollständige berufliche Neuorientierung als Beschäftigungstherapeutin.
Fasziniert vom besonderen Licht im „Venedig des Nordens“ setzte die Fotografin mit ihren um 1932 im Hamburger Hafen entstandenen Aufnahmen den Arbeitern ein Denkmal. Mit programmatischem Titeln wie „Schwere Arbeit im Fleet“ zeigt sie die Schnittstelle zwischen Kunstfotografie, die sich bereits für die Materialität des Gesehenen mitsamt den Lichtreflexen zu interessieren begann, und Neuem Sehen, das durch prägnante Anschnitte und dynamische Schrägen Bewegung ins Bild setzt. Untersicht ist das Gestaltungsmittel für „Deutsche Werft“, auf der die monumentale, konstruktivistisch anmutende Stahlkonstruktion die Männer zwergenhaft werden lässt. Im spezifischen Moment der Aufnahme sind die einzelnen, Kraft erfordernden Arbeitsschritte festgehalten in einer Dingwelt, deren Oberflächen haptisch anmutend den Blick faszinieren. Das Licht spielt eine bedeutende Rolle.
Die Fotografien von Natascha A. Brunswick (1909 - 2003) leben vom progressiven Geist der ersten deutschen Republik, die gerade für kreative Frauen eine neue Freiheit bedeutete. Es ist ein facettenreiches und unwiederbringlich vergangenes Bild des damaligen Hamburg, in dem sie von 1924 bis 1937 lebte. Mit ihrem ersten Mann, dem Mathematiker Emil Artin (1898 - 1962), und den Kindern Karin (*1933) und Michael (*1934) musste sie ihrer jüdischen Herkunft wegen Deutschland verlassen. Sie hörte mit dem Fotografieren auf, als ihr, der "enemy alien" (feindliche Ausländerin), die Kamera abgenommen wurde. Ihre Bilder gerieten völlig in Vergessenheit und wurden erst 1996 zufällig vom Sohn Tom (*1938) wiederentdeckt, der sie sogleich als bedeutend erkannte. Statt ihrem Wunsch, am Bauhaus Architektur zu belegen, entschied sie sich aus finanziellen Gründen für das Mathematikstudium und Kunstgeschichte im Nebenfach, unter anderem bei Erwin Panofsky und Ernst Cassirer, die beide bis 1933 in Hamburg lehrten.
Schon als Schülerin der Hamburger Lichtwarkschule, die sich durch die Integration von wissenschaftlicher, praktischer und kreativer Bildung auszeichnete, hatte Natascha Brunswick mit einer Box-Kamera gearbeitet. Später fotografierte sie mit einer Leica. Ein Beispiel für spontane, lebendige Momentaufnahmen mit der hochwertigen Kleinbildkamera zeigt eine Dreierserie der Schwester Tanja. Das Mädchen trägt eine moderne Kurzhaarfrisur und sitzt auf dem sonnigen Balkon, was den gesundheitspolitischen Vorstellungen der Weimarer Zeit entspricht. Das Lesen eines Buches erzählt von Schulbildung und Lernen, zugleich kann es Freizeitvergnügen sein, lässt also auf eine bürgerliche Familie schließen. Die Leica mit dem lichtstarken Objektiv rückte Privates und Persönliches ins Blickfeld, ohne an gestalterischer Kraft zu verlieren. Die Fotografin suchte das Spiel von Licht und Schatten, komponierte knappe Bildausschnitte und inszenierte die abwechslungsreichen Oberflächen der Dinge und des menschlichen Körpers (Haut, Haar) in der Umgebung von geometrischen Strukturen von Wänden, Balkontür und Tisch. Modelle und Motive fand Brunswick in ihrer eigenen Umgebung: Mann und Kinder, die Mutter, befreundete Kollegen mit ihren Familien, Künstler wie Heinrich Stegemann und seine Frau, Hamburgs Straßen und Gebäude, Architektur und Landschaft unterwegs auf Fahrten durch Deutschland. Es ist eine Zeitreise in die zwanziger Jahre: „Wie ich es sah.“
Das fotografische Werk von Hildi Schmidt Heins gründet nicht nur gestalterisch in den zwanziger Jahren, als der Vater ihr früh das fotografische Handwerk nahe brachte. Der technikbegeisterte Baumschuler Wilhelm Heins (1884 - 1959) pflegte eine damals anspruchsvolle Liebhaberei und hinterließ als Amateurfotograf ein Werk, das sich stilistisch in die Epoche der Kunstfotografie einreiht. Schmidt Heins (*1915) studierte ab 1934 Gebrauchsgrafik und Fotografie an der Hansischen Hochschule für bildende Künste in Hamburg (heutige HfbK) bei: Hugo Meier-Thur (1881 - 1943, in Gestapo-Haft ermordet), einem überzeugten Vertreter des Bauhauses, der ab 1926 die Klasse für Schriftzeichen und Gebrauchsgrafik leitete; Johannes Grubenbecher (1886–1967), der seit 1914 Fotografie unterrichtete; Carl Otto Czeschka (1878 - 1960), der seit 1907 Flächenkunst und Malerei, später Gebrauchgrafik lehrte; Rudolf Neugebauer (1892 - 1961), der als ‚künstlerisch freischaffender Lehrer’ von 1933 bis 1945 am Lerchenfeld wirkte. Bezeichnend für die künstlerische Auffassung von Schmidt Heins ist ihre Einstellung, wie sie bei ihrem geplanten Wechsel zu Czeschka zum Ausdruck kommt. Die Studentin will gleichzeitig in der Fotografieklasse bleiben und bei Czeschka Grafik studieren. Als dieser eine Entscheidung für eine der Gestaltungsformen verlangt, bekommt er zur Antwort: Das gehört für mich zusammen. Beide Medien gehen in den zwanziger Jahren eine spezifische Verbindung ein. Die Fotografie des Neuen Sehens misst der Gestaltung der Bildfläche eine wesentliche Bedeutung zu und emanzipiert sich somit endgültig als Kunst.
1938 wurde Schmidt Heins wegen Nichterscheinens zu einem Pflichtappell von der Schule verwiesen, ein von Zivilcourage bestimmtes Verhalten. Es folgte ein Semester an der Akademie der Bildenden Künste München. 1939 trat sie eine Stelle als Gebrauchsgrafikerin im Deutschen Handwerksinstitut in Berlin an und fotografierte in dessen Auftrag von 1941 bis 1943 prototypisch Werkstätten in streng neusachlicher Manier. Nach 1945 wandte sie sich vollständig der bildenden Kunst zu. Die 1949 geborenen Zwillingsschwestern Barbara und Gabriele Schmidt Heins, die nach einem Studium am Lerchenfeld in der nächsten Generation als freischaffen-de Künstlerinnen wirken, thematisierten in der Ausstellung „Heins ▪ Schmidt Heins – Drei Generationen Fotografie“ 2004 im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg ‚die eigene GESCHICHTE“ im musealen Kontext mit aktuellem Bezug zur Gegenwart.
Publikation: Das Buch „Himmel auf Zeit. Die Kultur der 1920er in Hamburg“, Wachholts Verlag Neumünster, 28 Euro, gibt einen umfassenden Einblick in die Entwicklungen und Ausprägungen einzelner Kulturgattungen zur Zeit der Weimarer Republik in Hamburg: in Theater, Literatur, Tanz, Kino, Musik, Radio, Architektur, Raumgestaltung, Kunst, Fotografie, Gartenkunst und angewandte Kunst. Das Buch verdeutlicht die Vernetzung der einzelnen Kulturgattungen und die Zusammenarbeit der Künstler. Mit einem Vorwort von Dr. Sebastian Giesen, Hermann Reemtsma Stiftung, und Beiträgen von: Gabriele Betancourt Nuñez, Ina Ewers-Schultz, Oliver Fok, Michaela Giesing, Gabriele Grumke, Hanns-Werner Heister, Dirk Hempel, Rüdiger Joppien, Ursula Kellner, Nele Lipp, Katrin Maibaum, Corinna Müller, Sonja Neumann, Hanjo Polk, Jörg Schilling, Wencke Stegemann, Andreas Stuhlmann, Hans-Ulrich Wagner, Friederike Weimar. Mit einer Auswahlbibliografie zur Hamburger Kulturgeschichte, Namensregister, Veranstaltungskalender und Abbildungsnachweis.
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