SWR2 Wissen : Sterbehilfe in Deutschland . Die schwierige Neuregelung . Von Anne Kleinknecht
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SWR2 Wissen : Sterbehilfe in Deutschland . Die schwierige Neuregelung . Von Anne Kleinknecht
Sendung: Donnerstag, 25. März 2021, 8:30 Uhr Redaktion: Vera Kern Regie: Günter Maurer Produktion: SWR 2021
Gut ein Jahr nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts bleibt unklar: Wie wird
die Hilfe zum Suizid geregelt, die selbstbestimmtes Sterben ermöglicht und
Missbrauch verhindert?
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MANUSKRIPT
Musik
OT 01:
Bernd Hudlar: Irgendwann kommt der Punkt, wenn man schon ein Leben lang
gekämpft hat, wo man sagt: Jetzt kann ich nicht mehr kämpfen, und meine
Menschenwürde ist einfach nicht mehr gegeben.“
Musik
OT 02:
Ruth Weinbauer: Wenn ich irgendeinen Tumor habe, der nicht mehr operabel ist
und ich weiß, dass alle möglichen Therapien nur dazu führen, meine Qualen zu
verlängern. Dann weiß ich nicht, warum ich mir die Qualen nicht ersparen soll.
Musik
Autorin:
Bernd Hudlar und Ruth Weinbauer wollen – irgendwann mal – ihrem Leben
selbstbestimmt ein Ende setzen. Dass andere ihnen dabei helfen dürfen, hat das
Bundesverfassungsgericht im Februar 2020 in einem aufsehenerregenden Urteil zur
Sterbehilfe klargestellt. Seitdem steht fest: Jeder hat die Freiheit, sich das Leben zu
nehmen und sich hierbei von Dritten helfen zu lassen. Doch wie soll das
selbstbestimmte Sterben hierzulande ermöglicht und gleichzeitig Betroffene vor
Missbrauch geschützt werden? Wer berät sterbewillige Menschen und stellt fest, wie
stark ihr Wunsch tatsächlich ist? Wer hilft ihnen schließlich beim Suizid? Diese und
andere Fragen hat die Politik noch nicht beantwortet.
Ansage:
„Sterbehilfe in Deutschland – Die schwierige Neuregelung“. Von Anne Kleinknecht.
Musik
Autorin:
Bernd Hudlar ist seit einem Autounfall querschnittsgelähmt und auf den Rollstuhl
angewiesen.
OT 03:
Hudlar: Jetzt eben nach 33 Jahren Querschnitt im Rollstuhl merkt man halt, dass
einfach alles ein bisschen schlechter wird. Und deswegen möchte ich halt ein wenig
vorsorgen, wenn es gar nicht mehr geht, dass man dann sanft aus dem Leben
scheiden kann.
Autorin:
Der 56-Jährige möchte, dass ihm jemand beim Sterben hilft. Irgendwann, wenn er
entscheidet, dass die Zeit dafür reif ist. Dass die Hilfe zum Suizid nun in Deutschland
3
möglich ist, erleichtert den Mann aus Weilheim in Oberbayern. Er hat in letzter Zeit
viel mitgemacht: Seit einer missglückten Schulter-Operation kann Hudlar nicht mehr
alleine duschen oder Autofahren. Im Krankenhaus hatte er sich zudem einen
lebensbedrohlichen Keim eingefangen. Pflegekräfte und Angehörige mussten ihn
wochenlang daheim versorgen.
OT 04:
Hudlar: Meine Menschenwürde war mit Füßen getreten. Und ich bin eigentlich kein
Weintyp, aber so viel geweint wie in derer Zeit habe ich noch nie… In der Zeit – wenn
es schon gegangen wäre – wenn es da professionelle Hilfe gegeben hätte – ich
glaube, da hätte ich gesagt, nein, es reicht. Ich habe jetzt 33 Jahre hinter mir. Es
wird, es wird nichts besser. Es wird ja alles eigentlich immer schlimmer. Und dann,
habe ich auch das Recht dazu zu sagen, so, jetzt kann ich und mag ich nicht mehr.
Autorin:
In Deutschland darf niemand einem sterbewilligen Menschen eine Giftspritze
verabreichen. Die Tötung auf Verlangen ist verboten. Der assistierte Suizid hingegen
ist seit Februar 2020 möglich. Ein Betroffener wie Bernd Hudlar kann also zum
Beispiel einen Angehörigen, Bekannten oder eine Ärztin bitten, ihm eine tödliche
Substanz zu beschaffen. Das Gift muss der Sterbewillige selbst nehmen. Das hat
das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil klargestellt. Der damalige Vorsitzende
Andreas Vosskuhle sagte bei der Urteilsverkündung:
OT 05:
Vosskuhle: Das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasst als Ausdruck persönlicher
Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Dieses Recht schließt die
Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und,
soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen.
Autorin:
Weil der assistierte Suizid jetzt möglich ist, hat Bernd Hudlar den Rentner Gerhard
Groß zu sich eingeladen. Groß kennt sich aus mit allen Fragen rund um das
Lebensende. Er arbeitet ehrenamtlich für die Deutsche Gesellschaft für Humanes
Sterben. Die DGHS betont zwar, sie sei kein Sterbehilfeverein. Doch sie vermittelt
Ärztinnen und Ärzte, die bereit sind, Betroffenen beim Suizid zu helfen.
OT 06:
Groß: Worauf Sie gerade warten, ist, dass sich jemand bei Ihnen meldet – ein Arzt
im Regelfall – um Sie persönlich kennenzulernen. Was sind Sie für einer? Sind Sie,
wie es so schön heißt, einwilligungsfähig, wie denken Sie darüber? Sich sicher
macht, dass das, was Sie vorab mal beschrieben haben, auch wirklich zutrifft.
OT 07:
Hudlar: Ja, das ist schon irgendwie beruhigend, wenn man das im Hinterkopf hat.
Wenn du nur noch schlechte Tage hast, dass der dann geholfen werden kann. Das
ist irgendwie beruhigend, wenn man das im Hinterkopf hat. Groß: Das können wir
jetzt leisten. Hudlar: Ja.
4
Musik
Autorin:
Seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist klar: Bernd Hudlar könnte
jederzeit jemanden bitten, ihm eine tödliche Substanz zu beschaffen. Zwischen 2015
und 2020 machte der Paragraf 217 im Strafgesetzbuch diese Hilfe zum Suizid quasi
unmöglich. Wer jemandem „geschäftsmäßig“ dabei half, sich das Leben zu nehmen,
musste mit bis zu drei Jahren Haft rechnen. Das Gesetz sollte vor allem die
Sterbehilfevereine stoppen, die regelmäßig Hilfe zum Suizid leisteten. 2020 wurde
der Paragraf für nichtig erklärt und Verfassungsrichter Andreas Vosskuhle machte
bei der Urteilsverkündung klar: Jeder darf selbst bestimmen, wann, aus welchem
Grund und wie er aus dem Leben scheidet.
Die Richterinnen und Richter liegen mit ihrer Argumentation auf der Linie der
Sterbehilfevereine, die gegen das Gesetz geklagt hatten. Sie bieten sterbewilligen
Mitgliedern seit der Urteilsverkündung wieder ihre Unterstützung an. Der Verein
Sterbehilfe mit Büros in der Schweiz und in Hamburg zum Beispiel. Die Organisation
hat seit dem Urteil knapp über hundert Mal Hilfe zum Suizid geleistet, berichtet
Geschäftsführer Jakub Jaros.
OT 09:
Jaros: Also bei unserem Verein ist also das System nach dem Vorbild des
Schweizer Vereins Exit. Und alle unsere Suizidbegleitungen sind ärztlich assistiert.
Das heißt, auch wenn der Arzt am Ende bei dem Sterbeprozess nicht anwesend ist,
kommen die Medikamente, die wir anwenden, von einem Arzt aus einer deutschen
Apotheke. Und jedes Mitglied unseres Vereins wird ärztlich begutachtet. Es wird
begutachtet, dass jedes Mitglied über die Freiverantwortlichkeit verfügt.
Autorin:
Der Verein arbeitet in Deutschland mit 25 Medizinern und zehn Sterbebegleitern
zusammen. Bevor sie die tödliche Substanz übergeben, muss ein unabhängiges
Gutachten versichern, dass der oder die Sterbewillige aus freien Stücken handelt
und der Entschluss keine Kurzschlussreaktion ist. Diese Richtlinien hat sich der
Verein selbst gegeben. Denn gesetzliche Vorgaben für den assistierten Suizid gibt es
bislang nicht.
OT 10:
Jaros: Es wird eine Audio- oder Videoaufnahme bei jedem Gespräch gemacht. Und
das sind extra Schritte, die wir gehen, um den freien Willen des Mitglieds zu
dokumentieren. Und in der Tat, nach einem Suizid, wird es häufig von der
Kriminalpolizei oder von der Staatsanwaltschaft auch nachgefragt… entweder das
psychiatrische Gutachten oder in Einzelfällen auch das Audio- oder Videogespräch,
das wir aufgenommen haben.
Autorin:
Psychiatrische Gutachten sind nicht vom Gesetz vorgeschrieben. Trotzdem geben
die Vereine sie in vielen Fällen in Auftrag. Zum Beispiel bei Johann Friedrich Spittler.
Der Neurologe und Psychiater hat in seiner Laufbahn mehr als 400 Gutachten für
Sterbehilfevereine in der Schweiz und in Deutschland erstellt.
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OT 11:
Spittler: Ich bin dafür immer zu den betreffenden Personen hingefahren und habe
sie ungefähr zwei Stunden lang befragt. Zwei Stunden mag für den einen oder
anderen sehr kurz erscheinen und es ist sicherlich auch eine begrenzte Zeit. Auf der
anderen Seite muss man bedenken: Die Menschen, die sich dazu entschließen, ihr
Leben beenden zu wollen, aus den verschiedensten Gründen, die Menschen sind in
ihren Überlegungen sehr weit fortgeschritten und sind bereit, sich einem sich
freundlich zuwendenden, anderen Menschen zu öffnen.
Autorin:
Seit dem Urteil aus Karlsruhe leistet Johann Spittler auch wieder selbst Hilfe zum
Suizid.
OT 12:
Spittler: Das eine war ein Mann mit der klassischen Lähmungskrankheit, die mich
überhaupt an diese Tätigkeit herangebracht hat, der Amyotrophen Lateralsklerose,
die ja im späteren Verlauf mit Atemnot einhergeht. Und dieser Mann hatte eine
Lähmung des einen Armes, sodass der nicht mehr gebrauchsfähig war, und der
andere Arm verschlechterte sich deutlich, sodass er sagen konnte: Es ist absehbar,
dass ich die Medikamente nicht mehr selber trinken kann. Und das war für ihn der
Grund zu sagen: Ich will jetzt nicht weiter abwarten…
Autorin:
Johann Spittler begleitet aber auch gesunde Menschen in den Tod, die mit ihrem
Leben abgeschlossen haben.
OT 13:
Spittler: Ich habe auch eine hochbetagte Frau mit besten äußeren Bedingungen
gehabt, die mich über Jahre immer wieder freundschaftlich kontaktiert hat und dann
gesagt hat: Jetzt will ich dieses Leben nicht mehr. Auch weit über 80 im Alter.
Autorin:
Im Gespräch mit Johann Spittler wird klar: Er bringt viel Verständnis für die oft als
ausweglos empfundene Situation der Betroffenen auf. Seine Gutachten fallen in 92
Prozent der Fälle zugunsten der Sterbehilfe aus.
OT 14:
Spittler: Ich habe in den verbleibenden ungefähr acht Prozent zu einem Teil eine
Wartezeit-Auflage ausgesprochen oder eine nochmalige Therapieauflage. Und das,
was mich dann eben im Laufe der Jahre erschüttert hat ist, von diesen Menschen,
denen ich gesagt habe: Du solltest vielleicht nochmal eine Therapie machen, oder
wir müssen eine Wartezeit einhalten, damit du dir das noch mal überlegen kannst.
Von diesen Menschen haben immerhin zwölf einen einsamen Suizid gemacht, weil
sie ihr Leben nicht mehr ertragen konnten.
Musik
6
Autorin:
Verhindert die Hilfe zum Suizid, dass sich Menschen selbst töten? Weil die
Sterbehilfe für sie eine Art Notausgang ist, der sie beruhigt, den sie aber vielleicht nie
nutzen werden? Diese Frage beschäftigt auch Ute Lewitzka. Die Psychiaterin betreut
Patientinnen und Patienten an der Uniklinik Dresden und ist Vorsitzende der
Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention.
OT 15:
Lewitzka: Wenn wir uns die Entwicklung in anderen Ländern anschauen, wo der
ärztlich assistierte Suizid schon relativ lange Zeit besteht, dann ist es nicht so, dass
dadurch Suizidzahlen gesenkt werden können. Ist es auch nicht so, dass dadurch die
Suizide, die mit harten Methoden durchgeführt wurden, die vielleicht auch grausam
sind, dass die dadurch runtergingen. Das ist nicht so.
Autorin:
Im Jahr 2019 haben sich laut Statistischem Bundesamt offiziell 9.041 Menschen das
Leben genommen. Darüber hinaus vermutet man eine Dunkelziffer. Denn nicht jeder
Suizid wird als solcher erkannt und von den Behörden erfasst. Aus ihrer Forschung
weiß Lewitzka einiges über die Beweggründe der Menschen, die sich in Deutschland
das Leben nehmen. 90 Prozent der Betroffenen leiden zum Zeitpunkt des Suizids an
einer psychischen Störung.
OT 14:
Lewitzka: Wir wissen, innerhalb der psychischen Erkrankungen haben insbesondere
Menschen mit Depressionen, aber auch Menschen mit manisch-depressiven
Erkrankungen ein sehr hohes Risiko. Letztlich hat jede psychiatrische Erkrankung,
vor allen Dingen auch eine Suchterkrankung, eine Persönlichkeitsstörung, eine
Schizophrenie... auch die haben ein erhöhtes Risiko... Das heißt aber im
Umkehrschluss nicht, dass jeder Mensch mit einer psychischen Erkrankung auch
suizidal werden muss oder auch wird. Und natürlich zum Glück nicht jeder sich das
Leben nimmt. Aber von denen, die sich das Leben nehmen, haben sehr, sehr viele
Menschen eine psychische Erkrankung und hier nun wir immer wieder den
Schwerpunkt darauf legen, dass wir die ja eigentlich gut behandeln können.
Autorin:
Die Betonung liegt hier auf dem Wort „eigentlich“ – denn auch wenn sich die Zahl der
Suizide seit den 1980er Jahren nahezu halbiert hat, fallen immer noch viele
psychisch kranke Menschen durchs Raster und werden nicht ideal betreut.
Bei der Versorgung psychisch kranker Menschen gibt es noch viel Luft nach oben.
Die Hilfe zum Suizid sollte dabei allerdings in Lewitzkas Augen keine Rolle spielen.
Sie plädiert für eine bessere Versorgung psychisch kranker Menschen. Doch was ist
mit todkranken Patientinnen und Patienten, die am Lebensende nicht leiden wollen?
Ist für sie die Hilfe zum Suizid eine Option? Nein, sagt Winfried Hardinghaus. Der
Vorsitzende des Deutschen Hospiz- und Palliativverbands ist überzeugt, niemand
müsse sich aus Angst vor einem qualvollen Tod frühzeitig das Leben nehmen. Er
verweist stattdessen auf die Möglichkeiten der Palliativmedizin.
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OT 19:
Hardinghaus: Wir können mit unseren modernen Mitteln jeden, ich behaupte und
stehe auch dazu, jeden Schmerz nehmen. In seltenen Fällen gehört dazu allerdings
die sogenannte palliative Sedierung. Wenn es nicht anders möglich ist bei einigen
wenigen Patienten mit deren Zustimmung kann man sie sozusagen am Ende des
Lebens … schlafen legen. Das ist eine Möglichkeit, aber immerhin er braucht nicht
leiden. Wir können sehr viel tun gegen Luftnot, gegen Übelkeit, gegen Magen-DarmSymptome. Auch die seelische Begleitung ist wichtig. Die psychosoziale Begleitung
ist wichtig...
Autorin:
Mittlerweile gibt es in vielen Krankenhäusern Palliativstationen, auf denen todkranke
Menschen für kurze Zeit versorgt werden können. Außerhalb der Kliniken sind
Hospize als allerletzter Ort der Ruhe im Leben schwerkranker Personen gedacht.
OT 20:
Hardinghaus: Es ist natürlich immer alles noch ausbaufähig. Aber wir haben in
Deutschland, was Palliativstation und stationäre Hospize betrifft, und auch ambulante
Hospizdienste fast schon eine flächendeckende Versorgung. Das kann man sagen.
Dazu ist ja in den letzten Jahren – und das wollten wir so und wir unterstützen das
auch – die sogenannte spezialisierte ambulante Palliativversorgung verbessert und
eingerichtet worden. Können also spezielle Teams aus Medizin und Pflege und
vielleicht eine dritte Berufsgruppe zu Patienten nach Hause kommen, dort eine
intensive Pflege und Versorgung unterstützen.
Autorin:
Doch obwohl die palliativmedizinische Versorgung in den vergangenen Jahren stark
verbessert wurde, sterben in Deutschland noch immer viele Menschen auf normalen
Stationen im Krankenhaus. Ruth Weinbauer hat jahrelang als Pflegekraft in einer
Münchner Uniklinik gearbeitet. Dort hat sie hautnah miterlebt, wie Ärztinnen und
Ärzte Betroffene auch dann noch operieren oder mit Medikamenten vollpumpen,
wenn eigentlich klar ist, dass die Erkrankung nicht mehr aufzuhalten ist. Damit ihr
das nicht selbst passiert, hat sie sich für eine Patientenverfügung entschieden. Es
war allerdings gar nicht so leicht, ein passendes Formular zu finden.
OT 21:
Weinbauer: Und das hat mich alles nicht zufriedengestellt. Die Formulierungen sind
mir zu schwammig: Immer nach ärztlichem Ermessen und so weiter und so fort. Und
da gibt es einfach dann einen sehr großen Ermessensspielraum. Ja, und es hängt
sehr davon ab, an wen man gerade gerät. Bei Dignitas hat mir gut gefallen, dass ich
dort wirklich sehr genau formulieren kann, dass ich sagen kann: Ich will zum Beispiel
nach 72 Stunden Beatmung, will ich, dass abgestellt wird. Nach 72 Stunden
Ernährungssonde: raus mit dem Ding.
Autorin:
Mit ihrer Patientenverfügung des Sterbehilfevereins Dignitas will die 63-Jährige den
Klinik-Teams schwierige Entscheidungen abnehmen. Und weil Ruth Weinbauer sich
so viele Gedanken über ihr Lebensende gemacht und zahlreiche „was wäre wenn?“-
Fragen für sich beantwortet hat, hat sie auch über die Hilfe zum Suizid nachgedacht.
8
OT 23:
Weinbauer: Der Fall der Fälle wäre einfach, wenn ich eine Erkrankung habe, von der
ich weiß, dass sie zum Tode führen wird, und zwar auf eine Art und Weise, die nicht
schön ist – gibt es ja wirklich Unterschiede – dass ich dann die Möglichkeit habe zu
sagen: Nein, das tue ich mir nicht an. Das schaffe ich nicht, das möchte ich nicht.
Und ich möchte, solange ich noch einigermaßen in Würde und im Vollbesitz meiner
geistigen Kräfte des machen kann, entscheiden, dass ich das beschließe.
Autorin:
Auch deshalb ist Ruth Weinbauer Mitglied beim Sterbehilfeverein Dignitas. Dort hat
sie die Möglichkeit, ihrem Leben ein Ende zu setzen wenn sie den Zeitpunkt für
richtig hält. Ihr Fall macht deutlich, dass die Palliativmedizin und Hospizangebote
zwar für viele todkranke Menschen der richtige Weg sein mögen. Doch nicht alle, die
sterben möchten, haben Krebs im Endstadium. Und auch wer sterbenskrank ist,
muss nicht die letzten Tage auf der Palliativstation verbringen, so sieht es jedenfalls
das Bundesverfassungsgericht:
OT 24:
Richter: „Die Entscheidung für die Beendigung des eigenen Lebens umfasst –
sofern sie frei sowie in Kenntnis und unter Abwägung aller relevanten Umstände
gefasst worden ist – zugleich die Entscheidung gegen bestehende Alternativen. Auch
in diesem negativen Teil ist sie als Akt autonomer Selbstbestimmung zu
akzeptieren.“
Autorin:
Therapie-Angebote ausbauen für Menschen mit psychischen Erkrankungen; die
Palliativmedizin und Hospizarbeit stärken für Patientinnen und Patienten, die nicht
künstlich am Leben erhalten werden möchten – auf diese Weise könnte
möglicherweise vielen Kranken geholfen werden, die mit dem Gedanken spielen,
sich das Leben zu nehmen. Dafür plädieren auch die Kirchen in Deutschland. Sie
sprechen sich aus ethischen Gründen grundsätzlich gegen die Hilfe zum Suizid aus.
Deuten aber auch an, Menschen, die diesen Weg wählen möchten, am Lebensende
nicht allein lassen zu wollen.
Doch daneben bleibt die Option der Sterbehilfe. Wie soll sie hierzulande ausgestaltet
werden? Darum wird seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Frühjahr
2020 gerungen.
Gesundheitsminister Jens Spahn sichtet seit Monaten Stellungnahmen
verschiedener Interessensgruppen zu dem Thema. Sein Haus arbeitet offenbar an
einem Gesetzentwurf – veröffentlicht wurde das Papier bislang nicht. Die Regelung
der Sterbehilfe ist eine Gratwanderung: Der Staat soll die Hilfe zum Suizid
grundsätzlich ermöglichen, gleichzeitig aber Missbrauch verhindern. Wie das gehen
soll, dafür hat der ehemalige Verfassungsrichter Andreas Vosskuhle Vorschläge
gemacht.
9
OT 25:
Vosskuhle: Zum Schutz der Selbstbestimmung über das eigene Leben steht dem
Gesetzgeber in Bezug auf organisierte Suizidhilfe ein breites Spektrum an
Möglichkeiten offen. Sie reichen von prozeduralen Sicherungsmechanismen, etwa
gesetzlich festgeschriebener Aufklärungs- und Wartepflichten, über
Erlaubnisvorbehalte, die die Zuverlässigkeit von Suizidhilfe-Angeboten sichern bis zu
Verboten besonders gefahrträchtiger Erscheinungsformen der Suizidhilfe. Diese
können auch im Strafrecht verankert oder jedenfalls durch strafrechtliche
Sanktionierung von Verstößen abgesichert werden.
Autorin:
Auch das Berufsrecht des Mediziners und der Apothekerin hat das
Bundesverfassungsgericht angesprochen und vorgeschlagen, es so anzupassen,
dass diese Berufsgruppen die Möglichkeit haben, Sterbewillige zu unterstützen. Die
FDP-Politikerin Katrin Helling-Plahr macht sich seit Langem Gedanken dazu, wie
man die Hilfe zum Suizid in Deutschland organisieren könnte. Die
Bundestagsabgeordnete hat im Januar 2021 einen interfraktionellen Gesetzentwurf
vorgestellt. Zusammen mit dem SPD-Politiker Karl Lauterbach und der LinkenPolitikerin Petra Sitte. Ein zweiter Gesetzentwurf stammt aus der Feder der Grünen.
Beiden ist gemein, dass sie auf strafrechtliche Verbote verzichten. Katrin HellingPlahr:
OT 26:
Helling-Plahr: Das Bundesverfassungsgericht hat von sogenannten prozeduralen
Sicherungsmaßnahmen gesprochen. Also man würde Voraussetzungen
aufschreiben, unter denen Sterbehilfe geleistet und auch ein tödliches Medikament
verordnet werden darf am Ende.
Autorin:
Dabei müssen ganz essenzielle Fragen geklärt werden.
OT 27:
Helling-Plahr: Ist derjenige in der Lage, sich einen freien Willen zu bilden oder
liegen möglicherweise Erkrankungen vor, die das verhindern? Hat derjenige eine
vernünftige Aufklärung erfahren, die sicherstellt, dass er sich auch der Tragweite
seiner Entscheidung bewusst ist? Das Bundesverfassungsgericht spricht von innerer
Festigkeit des Sterbewunsches. Das heißt, das ist nicht nur so eine
Kurzschlussreaktion, sondern ist auch sichergestellt, dass der Sterbewunsch mehr
von einer gewissen inneren Festigkeit und Dauerhaftigkeit geprägt ist.
Autorin:
Der Gesetzentwurf sieht staatliche Beratungsstellen vor. Hier könnten Betroffene von
Fachleuten über Alternativen zum Suizid aufgeklärt werden, zum Beispiel über
mögliche Therapieangebote oder Palliativversorgung. Im Gespräch mit einer Ärztin
oder einem Arzt soll anschließend die schwierigste aller Fragen beantwortet werden:
Ist der Sterbewunsch wirklich freiverantwortlich entstanden und dauerhaft?
Über die Rolle der Ärzteschaft hat sich auch Gian Domenico Borasio Gedanken
gemacht. Der Palliativmediziner vom Universitätsspital Lausanne in der Schweiz hat
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schon im Sommer 2020 zusammen mit anderen einen Vorschlag für eine Regelung
der Sterbehilfe präsentiert: Ein neu formulierter Paragraf 207 – verankert im
Strafgesetzbuch.
OT 28:
Borasio: Und in der Tat schreibt unser Vorschlag bewusst Ärztinnen und Ärzten eine
maßgebliche Rolle bei der Suizidhilfe zu. Denn erstens sind die Suizidwilligen, das
sagen uns alle wissenschaftlichen Daten, meistens körperlich schwer erkrankt und
oft hochbetagt. Und zweitens erfordert der Prozess der Suizidhilfe samt Beratung,
Prüfung der Freiverantwortlichkeit, Aufzeigen von Alternativen einschließlich zum
Beispiel Palliativmedizin und gegebenenfalls Verschreibung des tödlichen Mittels und
Erläuterungen zu dessen Einnahme – dieser komplexe Prozess erfordert spezifisch
ärztliche Kenntnisse und Fähigkeiten, die sie in dieser Konstellation in keinem
anderen Beruf finden können.
Autorin:
Susanne Johna sieht das anders. Die Internistin ist Vorsitzende der
Ärztegewerkschaft Marburger Bund und im Vorstand der Bundesärztekammer.
OT 29:
Johna: Die Ärzteschaft hat in der Tat mehrfach zu dem Thema sich beraten – auch
auf dem deutschen Ärztetag – und immer mehrheitlich entschieden, dass die Tötung
eines Menschen und auch der ärztlich assistierte Suizid nicht zu den ärztlichen
Aufgaben gehört.
Autorin:
Ihre Aufgabe als Ärztin sieht Susanne Johna woanders.
OT 30:
Johna: Der Mensch ist für mich, wenn er lebt, als Ärztin, das ist lebenswert, das ist
positiv zunächst mal. Natürlich darf der Mensch nicht leiden. Das ist dann unsere
Aufgabe, ihn zu begleiten und ihn anzunehmen in der Hilflosigkeit, in der wir oft am
Ende des Lebens sind.
Autorin:
Betroffene begleiten und möglichst objektiv beraten – das wird die große
Herausforderung sein. Nicht die gesamte Ärzteschaft wird das im Rahmen der Hilfe
zum Suizid machen wollen – und das müssen laut Gerichtsurteil auch nicht alle. Eine
Möglichkeit wären multidisziplinäre Teams, in denen neben dem Mediziner auch die
Psychologin, der Sozialarbeiter oder die Juristin vertreten sind.
Musik
Autorin:
Der Gesetzesvorschlag der Wissenschaftler um den Palliativmediziner Borasio ist
übrigens nicht an die Schweiz angelehnt, wo sich Sterbehilfevereine ihre eigenen
Leitlinien geben. Sondern an die gesetzlichen Regelungen zur Sterbehilfe im US-
11
amerikanischen Bundesstaat Oregon, erklärt Borasios Kollege Ralf Jox. Er ist
Palliativmediziner und Medizinethiker am Universitätsspital Lausanne.
OT 31:
Jox: Die langjährigen Erfahrungen und Studien zu diesem Modell zeigen
insbesondere folgendes: Erstens – es kommt nicht zu einem Dammbruch, und die
Häufigkeit des assistierten Suizids bleibt dauerhaft gering, etwa zehnmal geringer,
als es in den Niederlanden der Fall ist. Zweitens ist sozialer Druck auf Benachteiligte
nicht festzustellen. Drittens: Das Vertrauen in die Ärzteschaft ist unvermindert und
die Qualität der Palliativversorgung der Versorgung am Lebensende hat sich sogar
verbessert.
Autorin:
Das alles weiß die Forschung, weil der assistierte Suizid in Oregon seit Jahren
wissenschaftlich begleitet wird. Deshalb fordern einige auch für die Sterbehilfe
hierzulande begleitende Studien und ein Register, in dem die Fälle von assistiertem
Suizid anonym erfasst werden. Denn nur wer darüber Bescheid weiß, wer von wem
in welcher Situation Hilfe beim Suizid in Anspruch nimmt, kann die Regeln dafür
nachjustieren.
Musik
Autorin:
Und noch eins zeigt der Blick in den US-amerikanischen Bundesstaat: Es gibt eine
Möglichkeit, Sterbewilligen in einem geregelten Rahmen den Zugang zu einem
tödlich wirksamen Medikament zu ermöglichen. Dort erteilt eine staatliche
Kontrollkommission speziell autorisierten Apotheken die Erlaubnis, die Mittel
abzugeben. In Deutschland hingegen untersagt Gesundheitsminister Jens Spahn
dem Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte, das tödliche Betäubungsmittel
Natrium-Pentobarbital herauszugeben. Das Bundesverwaltungsgericht hatte den
Staat schon vor Jahren dazu aufgefordert hat, das Mittel freizugeben. Jetzt bleibt
abzuwarten, ob die Abgabe solcher Medikamente in einem Gesetz zur Sterbehilfe
geregelt wird oder ob Mediziner und Sterbehilfevereine, wie bisher, auf eigene
Rezepturen setzen.
Musik
Autorin:
Auch nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Sterbehilfe bleibt noch
vieles im Vagen. Während die Sterbehilfevereine bereits mehr als hundert
Betroffenen beim Suizid geholfen haben, sind die Rahmenbedingungen dafür weiter
unklar. Noch gehen die Sterbehelfer nach eigenen, selbst definierten Regeln vor.
Jetzt gilt es zu formulieren, in welchen engen Grenzen die Hilfe zum Suizid
hierzulande in Einzelfällen möglich sein kann und wie man durch bessere
Therapieangebote und Palliativmedizin erreicht, dass die Sterbehilfe eine Ausnahme
bleibt.
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