SWR2 Wissen: Aula.- Ralf Caspary: Gespräch mit Sven Gottschling . Leben ohne Schmerzen - Chancen der Palliativmedizin
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Schmerzen - Palliativmedizin
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SWR2 Wissen: Aula.- Ralf Caspary: Gespräch mit Sven Gottschling . Leben ohne Schmerzen - Chancen der Palliativmedizin
Ralf Caspary: Gespräch mit Sven Gottschling
Sendung: 01.01.2018, 8.30 Uhr Erstsendung: 22.04.2018, 8.30 Uhr
Produktion: SWR 2018 https://www.swr.de/swr2/programm . Kostenlos herunterladen: https://www.swr2.de/app
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede
weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
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ÜBERBLICK
Sven Gottschlings Thesen auf einen Blick:
In Deutschland werden viele Schmerzpatienten falsch behandelt. Ärzte haben zu wenig Zeit für eine differenzierte Diagnostik und Therapie. Und es gibt viel zu wenige Schmerzmediziner, sagt der Palliativmediziner Sven Gottschling.
Es ist eine traurige Statistik: 23 Millionen Menschen leiden in Deutschland an länger dauernden Schmerzen, dazu kommen noch Patienten mit chronischem Befund. Es gibt aber nur cirka 1.000 Schmerzmediziner in Deutschland – das sind viel zu wenig, um diese Menschen adäquat zu behandeln.
Sven Gottschlings Thesen auf einen Blick:
Deutschland muss in Sachen Palliativmedizin endlich aufholen
Palliativmedizin und Schmerzmedizin sind in Deutschland relativ junge Fachrichtungen. Das Fach Schmerzmedizin wird erst seit 2016 an deutschen medizinischen Fakultäten gelehrt. Das ist einer der Gründe, warum das Wissen vieler Ärzte nicht ausreicht, um Menschen hinsichtlich ihrer Schmerzen gut zu versorgen.
Es werden zu viele Medikamente verschrieben
Wenn man einen Hammer hat, wird alles zum Nagel. Wenn das Therapie-Rüstzeug relativ eingeschränkt ist, dann wendet der Arzt das an, was er kennt. Dass man damit den meisten Menschen nicht wirklich und dauerhaft hilft und dass man sie durch die vielen oft unpassenden Medikamente gefährdet, wird verschwiegen.
Arzneimittelverpackung mit roten Pillen
Das Gefühl ist schön einfach: Ich habe ein Problem, dann kommt ein Medikament, das Problem verschwindet, aber das tut es eben in den seltensten Fällen.
Gute Schmerzmedizin ist individualisierte Medizin
Natürlich gibt es auch gute Medikamente, die man kennen und für eine differenzierte Schmerztherapie auch nutzen sollte. Dazu kommen nicht-medikamentöse Therapien: Entspannungstechniken, Physiotherapie, transkutane elektrische Nervenstimulation, Osteopathie bis hin zu Hypnosetechniken, Akupunktur ist eine Möglichkeit. Die Therapien sind vielfältig. Das Wichtigste ist, den Patienten in seiner Gesamtheit mit all seinen Problemen zu erfassen. Deswegen nehmen sich Schmerzmediziner für einen Erstkontakt mit dem Patienten viel Zeit.
Das vollständige Manuskript finden Sie hier.
Autor
Prof. Dr. Sven Gottschling leitet das Zentrum für Palliativmedizin und Kinderschmerztherapie des Universitätsklinikums des Saarlandes.
'Bei der Palliativversorgung geht es um die Betreuung von Menschen mit lebens-limitierenden Erkrankungen.
Nicht Heilung ist das Ziel, sondern eine wirksame Linderung von belastenden Beschwerden, die individuell auf die Wünsche und Bedürfnisse der Patienten und ihrer Angehöriger abgestimmt wird und so die bestmögliche Lebensqualität, Selbstbestimmung und Würde ermöglicht.'
http://www.uniklinikum-saarland.de/einrichtungen/kliniken_institute/kinder_und_jugendmedizin/zpk/
MANUSKRIPT
Ansage:
Mit dem Thema: „Leben ohne Schmerzen – Chancen der Palliativmedizin“. Am
Mikrofon Ralf Caspary.
In unserem zivilisierten und hochtechnisierten Land erleiden viele Menschen völlig
unnötig Qualen. Damit muss Schluss sein, sagt der Schmerztherapeut und
Palliativmediziner Professor Sven Gottschling. Wie man das erreichen kann,
beschreibt er in seinem neuen Buch „Schmerzen los werden“, erschienen bei S.
Fischer.
Ich habe mit ihm über das Thema gesprochen, und meine erste Frage war: Es gibt
zwei traurige Zahlen: 23 Millionen Menschen in Deutschland leiden an länger
andauerndem Schmerz, und nach 80% aller Operationen gibt es noch immer keine
adäquate Schmerzbehandlung. Warum ist das so?
2
Gespräch mit Sven Gottschling:
Frage:
Auf der Buchklappe Ihres Buches steht: 23 Millionen Menschen in Deutschland leiden an
länger andauerndem Schmerz, nach 80% aller OPs gibt es noch immer keine adäquate
Schmerzbehandlung. Das sind zwei große Probleme. Warum gibt es diese Defizite?
Gottschling:
Das sind nur zwei von vielen Problemen. Ich glaube, es herrscht immer noch ein
riesengroßes Wissensdefizit in der Gesamtbevölkerung zum Thema Schmerz, aber leider
auch bei den Profis, also durchaus auch bei den Ärzten.
Frage:
Kann man sagen, dass die Palliativmedizin noch in den Kinderschuhen steckt oder dass die
Ärzte zu wenig wissen?
Gottschling:
Palliativmedizin und Schmerzmedizin sind in Deutschland – und das mag man gar nicht
glauben – relativ junge Fachrichtungen. Das Fach Schmerzmedizin wird erst seit dem Jahr
2016 an deutschen medizinischen Fakultäten gelehrt, d.h. auch Ärzte wie ich haben in ihrer
Ausbildung nichts darüber gehört. Das ist natürlich einer der Mitgründe, dass das Wissen
auch bei ärztlichen Kollegen nicht ausreicht, um Menschen adäquat hinsichtlich ihrer
Schmerzen zu versorgen. Diejenigen, die jetzt frisch die Uni verlassen, haben schon ein
bisschen was gehört. Bis die in Verantwortungspositionen sind als Fach- oder Oberärzte in
Kliniken oder in der Niederlassung, vergehen nochmal vier bis fünf Jahre. Erst dann können
wir einen durchgreifenden Wissenszuwachs erwarten. Und die niedergelassenen Kollegen
haben sich entweder freiwillig weitergebildet oder eben auch nicht.
Frage:
Warum ist das so?
Gottschling:
Ich glaube, dass viele Menschen denken, dass Schmerzen zum einen etwas ziemlich
Banales ist, über das man nicht viel Wissen braucht. Das ist jedoch ein Irrglaube. Als ich
gesagt habe, ich gehe ein komplettes Jahr zu einer schmerzmedizinischen Weiterbildung in
eine andere Klinik, haben mich damals viele Kollegen ungläubig angeschaut. Da kam dieses
Gefühl auf: Wieso? Schmerzen kann doch jeder behandeln, das ist doch kein Problem. Das
stimmt aber nicht. Der andere Irrglaube ist, dass Schmerzen irgendwie zum Leben
dazugehören, zu bestimmten Krankheiten wie z.B. Krebs dazugehören und nach einer
Operation normal sind. Das sei etwas Schicksalhaftes, worauf auch Ärzte nur einen sehr
bedingten Einfluss haben. Und das ist schlicht und ergreifend Blödsinn.
Frage:
Vielleicht denken auch viele, in der Palliativmedizin gibt man halt Schmerzmittel und das
war’s?
Gottschling:
Ja, genau. Wenn man sich überlegt, in welch existentiellen Notlagen unsere Patienten sind,
dann wird jedem klar, dass der Schmerz viele unterschiedliche Dimensionen hat. Das ist weit
mehr als nur ein körperliches Problem. Das will ich an einem Beispiel verdeutlichen: Wenn
man als Mann „Rücken“ hat und liegt zuhause auf der Couch, ziemlich leidend, dann hat es
einen großen Einfluss auf die Heilung, ob die Ehefrau mitleidig sagt: „Komm, bleib liegen, ich
bring Dir noch ein Bier.“ Oder ob sie ihm fünf Ordner hinlegt und sagt: „Die Steuererklärung
kannst Du eigentlich auch im Liegen machen.“ Im zweiten Fall, das ist vermutlich jedem klar,
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wird man sich sehr schnell noch einmal aufrappeln und sich mit allen verfügbaren
Möglichkeiten an seinen Arbeitsplatz wuchten. Im ersten Fall bleibt man vielleicht ein
bisschen länger auf der Couch.
Frage:
Und der zweite Fall ist für Sie besser, wenn man sich trotz „Rücken“ erhebt?
Gottschling:
Das ist absolut wesentlich. Früher hat man das Konzept gefahren, wenn jemand
Beschwerden hat – der Klassiker sind eben Rückenschmerzen –, erstmal in die Schonung
zu gehen. Viele Menschen haben ja auch Angst, dass da irgendetwas ganz Gravierendes ist,
und wenn ich mich jetzt zu viel bewege, dann macht es richtig Knack oder dann bekomme
ich vielleicht Lähmungserscheinungen. Die Grundbotschaft der allermeisten
Rückenschmerzen ist total harmlos und ungefährlich. Und das Beste ist, sich möglichst nicht
zu schonen, in die Bewegung zu gehen, nicht krankschreiben zu lassen, möglichst wenig
Medikamente. Bildgebung ist meist auch verzichtbar, Operationen gleich schon drei Mal. In
Australien beispielsweise hat alleine eine Aufklärungskampagne der Bevölkerung, der
gesagt wurde „Rückenschmerzen sind häufig eine Form bedingten Gesundseins, lasst euch
nicht krankschreiben, treibt Sport, nehmt wenig Medikamente, lasst euch nicht operieren,
und wenn, dann nur nach Zweitmeinung“ dazu geführt, dass die Krankheitskosten für
Rückenschmerzen, Operationen und Medikamentenverschreibungen dramatisch
zurückgegangen sind bei einem gleichzeitig deutlich gestiegenen Wohlbefinden. Also ich
glaube, hier kommt es auf Aufklärung an. Das Stichwort beim Rückenschmerz heißt seit
vielen Jahren: „Tango statt Fango“.
Frage:
Das ist ein regelrechter Paradigmenwechsel.
Gottschling:
Ja, aber nicht für uns weitergebildete Schmerzmediziner. Wir wissen das schon länger.
Natürlich muss man die paar Menschen rauspicken, die wirklich etwas Gravierendes haben
und einer anderen Behandlung bedürfen, das ist klar. Im Grunde gilt es, zwischen der
überwiegenden Anzahl von Menschen, die harmlose Rücken- oder Kopfschmerzen oder
andere Beschwerden haben, und den wenigen, die wirklich etwas Gravierendes haben, zu
differenzieren. Die brauchen eine andere, intensivere Form der Zuwendung. Der Rest
braucht eine gesunde Aufklärung. Und die muss man dann eben zur Not auch mal durch den
Wald scheuchen oder ins Fitness-Studio. Das ist etwas, das wollen viele Menschen ungerne
hören; lieber eine Pille einschmeißen und gut ist.
Frage:
Das Wichtige für Sie als Schmerzmediziner ist, dass man auf viele Schmerzmedikamente
verzichten kann. Üblich ist, wenn man z.B. „Rücken“ hat, der Gedanke, es könnte vielleicht
ein Bandscheibenvorfall sein. Dann gibt es erstmal die Spritzenkur beim Orthopäden?
Gottschling:
Ja. Das ist der vermeintlich bequemere Weg. Ich habe ein Problem und gehe zum
Spezialisten, der Spezialist macht mich dann wieder fit. Das ist in vielen Belangen beim
Thema Schmerz eine mittelgute Idee. Es geht eher darum, Menschen aufzuklären, was das
echte Problem ist, und sie zu befähigen, damit anders umzugehen. Das werden viele
bestätigen können, dass diese Spritzenkur vielleicht kurzfristig zur Überbrückung hilft und die
Beschwerden lindert, sie aber langfristig das Problem nicht behebt.
Frage:
Ist Ihr Ansatz schon in der Ärzteschaft angekommen? Ich kenne das aus meinem
Bekanntenkreis – das ist zugegeben ein subjektiver Eindruck: Das Schultergelenk schmerzt,
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dann gibt der Orthopäde erstmal über drei Wochen hinweg Spritzen. Und auch bei anderen
Muskel-, Gelenkbeschwerden wird das gemacht.
Gottschling:
Das ist ja das Problem. Wenn man einen Hammer hat, wird alles zum Nagel. Wenn mein
Rüstzeug relativ eingeschränkt ist, dann wende ich das an, was ich kenne und was ich kann.
Dass man damit den meisten Menschen nicht wirklich und dauerhaft hilft und dass man
Menschen auch durch die angewandten Medikamente z.T. massiv gefährdet, wird immer
verschwiegen. Das Gefühl ist immer schön einfach: Ich habe ein Problem, dann kommt ein
Medikament, das Problem verschwindet, aber das tut es eben in den seltensten Fällen, und
wenn, sind diese Effekte häufig Kurzzeiteffekte.
Frage:
Ich bleibe bei Ihrer schönen Metapher mit dem Hammer und dem Nagel. Was haben Sie
denn außer dem Hammer dabei?
Gottschling:
Natürlich setzen auch wir Medikamente ein. Allerdings in einer etwas differenzierteren Form.
Es gibt Hunderte von Medikamenten, die man kennen und für eine differenzierte
Schmerztherapie auch nutzen sollte. Dazu kommen nicht-medikamentöse Therapien:
Entspannungstechniken, gute Physiotherapie, transkutane elektrische Nervenstimulation,
Osteopathie bis hin zu Hypnosetechniken, die man auch Patienten beibringen kann, die sich
dann im Rahmen von Selbsthypnose helfen können; Akkupunktur ist eine Möglichkeit. Die
Therapien sind vielfältig, aber das Wichtigste – das ist mir nochmal ganz wesentlich – ist,
den Patienten in seiner Gesamtheit mit all seinen Problemen zu erfassen. Und das ist schon
mal der erste und größte Stolperstein. Wenn Sie überlegen: Ein normaler Arzttermin – fünf
bis sieben Minuten Kontaktzeit- , da ist es völlig unmöglich zu erfassen, dass diese
Rückenschmerzen des Patienten evtl. dadurch ausgelöst sind, dass er Angst vor seinem
Chef hat und eben nicht, weil er ein Problem im Rücken hat. Ihm dann immer wieder
Spritzen in den Rücken zu verpassen, löst sein Problem nicht. Deswegen nehmen wir
Schmerzmediziner uns für einen Erstkontakt eine Stunde Zeit.
Frage:
D.h. Sie plädieren für individualisierte Medizin, zugeschnitten auf den einzelnen Patienten?
Gottschling:
Ja, das ist das A und O. Die sprechende Medizin kommt innerhalb unserer momentanen
medizinischen Landschaft einfach viel zu kurz. Und da sehe ich das eigentliche riesengroße
Manko. Das ist auch der Grund, warum immer mehr Menschen zum Heilpraktiker gehen
oder sich – Stichwort: Ganzheitsmedizin – andere Versorgungsformen wünschen, z.T. sich
auf dubiose Angebote einlassen, weil sie das Gefühl haben, dass ihnen wenigstens jemand
zuhört.
Frage:
Das ist ein interessantes Paradox: Auf der einen Seite individualisierte Medizin, es gibt
immer komplexere Behandlungsmethoden, es gibt eine ganze Reihe von Medikamenten, die
man je nach Bedürfnis einsetzen kann. Über diese neue Art der Medizin haben wir auch
immer wieder in unserem Wissens-Magazin berichtet. Aber das Gesundheitssystem lässt
das doch gerade nicht zu?
Gottschling:
Deswegen ist es umso wesentlicher, immer wieder darauf aufmerksam zu machen und zu
sagen: Leute, der Weg ist der falsche. Wir geben soviel Geld für unnötige Diagnostik und für
teilweise nicht wirklich hilfreiche Therapien für Patienten aus. Ich behandele sehr viele
Kinder mit Kopfschmerzen. Wenn die zu mir kommen, reicht mir eigentlich ein Gespräch und
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eine körperliche Untersuchung, um zu sagen, was ein Spannungskopfschmerz oder eine
Migräne ist. Dazu brauche ich keine Bildgebung vom Kopf oder Blutuntersuchungen, die die
Kinder auch noch zusätzlich belasten. Wenn diese Kinder aber zu mir kommen, dann haben
die schon eine ganze Tüte mit Röntgenbildern, mit Kernspin-Aufnahmen bei sich. Dieses
Geld und diesen leidvollen Weg für die Patienten könnte man sich sparen, wenn man es von
Anfang an vernünftig macht.
Frage:
Ich gehe mal davon aus, Sie sind ein super Diagnostiker. Wenn ein Kind zu Ihnen kommt
und seine Schmerzen schildert, und Kinder können das ja oft nicht so differenziert tun, dann
wissen Sie schon, das ist ein Spannungskopfschmerz und das ist etwas anderes?
Gottschling:
Das hat auch mit Erfahrung zu tun. Aber wo viele so reflexartig sagen, das Kind muss eine
Kernspintomografie vom Kopf haben, bedeutet das eigentlich: Ich brauche für mich die
Gewissheit oder die Entlastung, dass da nicht z.B. ein Hirntumor dahintersteckt. Wenn man
sich jetzt überlegt, dass in ganz Deutschland pro Jahr fünf Kinder von einer Million Kindern
neu an einem Hirntumor erkranken, dass von diesen fünf überhaupt nur zwei mit
Kopfschmerzen auffällig werden und dass die beiden Kinder, die einen Hirntumor und
Kopfschmerzen haben, auch neurologische Auffälligkeiten haben, die mir bei der
körperlichen Untersuchung auffallen müssen, weiß ich doch, dass bei einem Kind, das
neurologisch unauffällig ist und das eine typische Erkrankungsgeschichte schildert oder die
Eltern mir das schildern, eine Bildgebung verzichtbar ist. Wenn ich jetzt überlege, wie viele
Kinder unter Kopfschmerzen leiden, dann muss jedem klar werden, was für ein unfassbares
Geld wir für eine absolut nicht angezeigte Überdiagnostik raus blasen. Erschwerend kommt
hinzu, dass Kinder, wenn sie sich wirklich nicht so gut äußern können oder kleiner sind, z.T.
in Narkose gelegt werden, um diese Untersuchungen durchzuführen. Oder sie haben zig
Arzttermine, wo wir sie traumatisieren. Wir machen Kinder krank, indem wir so tun, als wäre
da etwas ganz Gravierendes, was wir bloß noch nicht gefunden haben.
Frage:
Das klingt nach einem heißgelaufenen medizinischen Apparat.
Gottschling:
Man will sich ja immer absichern. Das ist ein grundsätzliches Problem, das ich ohnehin in der
Medizin sehe, das schwappt auch ein bisschen aus den USA rüber: Bevor ich irgendetwas
total Seltenes übersehe, untersuche ich lieber alles, gebe viel Geld aus, aber ich bin damit
zumindest juristisch abgesichert und habe nichts übersehen. Wenn wir wirklich bei jedem
Menschen alles untersuchen, was wir können, sind wir ratzfatz pleite. Das nützt den
Menschen nichts und das macht unser Gesundheitssystem kaputt.
Frage:
Auf der anderen Seite haben wir die Apparatemedizin. Wenn eine Röntgenpraxis den teuren
Computertomografen bei sich stehen hat, dann muss man den halt auch öfter benutzen,
oder?
Gottschling:
Zumal man auch sagen muss, um nochmal auf das Thema Rücken zu kommen: Ich weiß
nicht, wie viele Röntgenaufnahmen von Wirbelsäulen gemacht werden. Und dann wird
versucht, von einem Standbild auf ein funktionelles Problem eines Menschen zu schließen.
Das ist totaler Schwachsinn. Ich kann mir zwei Röntgenbilder an die Wand hängen, eine
Wirbelsäule sieht total gruselig verändert aus, die andere sieht super aus. Dann kommen
zwei Menschen in den Raum, der eine auf allen Vieren, weil er vor Schmerzen kaum noch
krabbeln kann, der andere tänzelt rein. Und ich schwöre Ihnen, ich kann anhand des
Röntgenbildes nicht sagen, welches Bild zu welchem Menschen gehört. Das ist genauso,
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wenn ich Ihnen ein Foto von einem traumhaft schönen Sportwagen zeige und Sie frage, wie
viel Bar Luftdruck der Ersatzreifen im Kofferraum hat. Wir stellen die falschen Fragen und
nutzen die falschen diagnostischen Methoden. Das ist schlicht und ergreifend ganz großer
Blödsinn, den wir da betreiben.
Frage:
Können Sie ungefähr abschätzen, wie viel Prozent der Kinder zwischen sechs und zehn
Jahren unter Kopfschmerzen leiden?
Gottschling:
Jedes vierte bis fünfte Kind hat damit auf jeden Fall regelhaft zu tun. Wir wissen, dass bis zu
90% aller Jugendlichen Kopfschmerzerfahrung haben. Nicht dauerhaft und regelmäßig, aber
wir reden ganz grundsätzlich von einer halben Million chronisch schmerzkranker Kinder.
Frage:
Würden Sie sagen, man könnte ein gerüttelt Maß dieser Kinder mit einer konventionellen
Therapie behandeln?
Gottschling:
Ich glaube, das Wesen einer guten Schmerzmedizin, nicht nur Therapie, besteht darin,
erstmal das Grundproblem zu erfassen. Zu dieser Erfassung gehört eben nicht im ersten
Schritt eine ausgedehnte Laboruntersuchung und Bildgebung, sondern wirklich danach zu
gucken, was dieses Kind belastet. Oftmals sind Schmerzen der nach außen getragene
Schrei: Ich habe hier irgendein Problem. Manchmal ist es eine schulische Belastung,
manchmal ist es Streit mit den Eltern, manchmal aber auch eine banale vererbte Migräne,
die ich als Arzt entsprechend medikamentös therapieren muss. Aber ich muss das Kind in
seiner Gesamtheit erfassen. Das gelingt mir nicht in fünf Minuten und schon gar nicht mit
irgendwelchen standarddiagnostischen Maßnahmen.
Frage:
Das war ein Plädoyer für eine andere Diagnostik mit anderen Schwerpunkten, also genau
hinzuschauen und rational zu reflektieren. Ich hatte am Anfang unseres Gesprächs gesagt,
in Ihrem Buch steht die Zahl 23 Millionen Menschen leiden in Deutschland an länger
andauerndem Schmerz. Das ist der chronische Schmerz. Eine sehr große Zahl. Was macht
man mit dieser Bevölkerungsgruppe?
Gottschling:
Die meisten Menschen, die diesen lang andauernden Schmerz haben, waren irgendwann
mal Akut-Schmerzpatienten, die nicht adäquat behandelt wurden und die überhaupt erst die
Chance hatten zu chronifizieren. Hier ist das Kind in aller Regel schon in den Brunnen
gefallen. Akutschmerz ist viel leichter vernünftig zu behandeln als ein chronifizierter
Schmerz. Das ist etwas, wo wir uns häufig viel mehr Mühe geben müssen, mit diesem
Problem umzugehen. Dann muss man sich immer klar machen: Was ist Schmerz
überhaupt? Schmerz ist ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, da muss gar nichts
kaputt sein. Das ist die wesentliche Kernbotschaft. Und Schmerz ist immer subjektiv, d.h. all
das, was der Patient mir rückmeldet, spürt er so, auch wenn der Schmerz eigentlich rein
logisch gar nicht nachvollziehbar ist. Ein Beispiel: Wenn jemand sein Bein verloren hat,
vielleicht durch einen Unfall, und zehn Jahre später tut ihm immer noch der Fuß weh, dann
ist klar, das kann nicht der Fuß sein. Aber das dazugehörige Areal im Gehirn ist noch aktiv.
Deswegen reden wir von einem Schmerzgedächtnis. Jedweder Schmerz entsteht im Kopf.
Das muss uns immer wieder klar sein. Auch der Rückenschmerz, den wir spüren, entsteht im
Kopf. Und wenn wir diese Komponente nicht beachten, unser Schmerzgedächtnis nicht
beachten, auch nicht mit ganz gezielten Techniken versuchen, solche, auch unangenehmen
Schmerzerlebnisse und chronische Schmerzereignisse nochmal zu überschreiben – mit
Entspannungstechniken, mit psychologischen Interventionen, mit teilweise auch einem
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gezielten Einsatz von Medikamenten –, dann werden wir diesen Menschen nicht dauerhaft
helfen können.
Frage:
Ich als Laie dachte immer, ein Organ hat irgendein Problem und sendet Schmerzsignale ans
Gehirn?
Gottschling:
Das ist der Akut-Schmerz.
Frage:
Der Akut-Schmerz übermittelt also schon ein realistisches Signal, dass etwas nicht in
Ordnung ist?
Gottschling:
Nicht immer. Ich will Ihnen mal ein Beispiel aufzeigen: Die meisten Menschen hatten in ihrem
Leben schon einmal einen Sonnenbrand. Wenn Sie dann auf diesen krebsroten Rücken ein
T-Shirt ziehen, dann tut Ihnen das T-Shirt auf der Haut weh. Ein eigentlich nicht
schmerzhaftes Ereignis führt zu Schmerzdruck und Berührung löst Schmerz aus. D.h. wir
haben hier hochgeregelte Rezeptoren und wir haben eine bestimmte Form von
Nervenschmerz. Deswegen kann man nicht sagen, dass in jedem Menschen realistische
Signale weitergeleitet werden. Es gibt gute Gründe, warum Menschen schon massive
Schmerz-Attacken haben aufgrund leichtester Berührungsreize. Da sind bestimmte
Rezeptoren verstellt, da sind bestimmte Weiterleitungsschritte auf Rückenmarksebene dejustiert
und auch unsere Schmerzschwelle im Gehirn runtergefahren. D.h. unsere
Schmerzverarbeitung kann auf mehreren Ebenen auch fehlerhaft sein, so dass der Schmerz
seine eigentliche Schutz- und Warnfunktion verloren hat. Also wenn wir auf eine heiße
Herdplatte fassen, ist es schon gut, wir spüren das rechtzeitig, damit wir die Hand
zurückziehen. Da ist die Schutz- und Warnfunktion da. Der chronifizierte Schmerz ist eine
eigenständige Erkrankung, da werden wir in der Regel nicht mehr sinnvoll vor etwas
gewarnt, dieser Schmerz belastet uns nur noch und zieht uns auch, wenn es ganz dumm
läuft, in eine tiefe Depression.
Frage:
Wie kommen wir an dieses Schmerzgedächtnis ran?
Gottschling:
Dieses Schmerzgedächtnis hat leider keine Löschtaste. Es ist in der Tat so, dass man das
mit anderen neuen positiven Erfahrungen überschreiben muss, dass man hier auch ein
Zutrauen finden muss, ja, ich kann meinen Schmerz tatsächlich beeinflussen. Ich führe
nochmal so ein Verfahren an wie Selbsthypnose. Also es gibt durchaus Menschen, denen
man klarmachen kann, dass es Momente gibt, in denen sie sich sehr wirksam von ihrem
Schmerz ablenken können. Das kann man bei Kindern wunderbar demonstrieren: Auch
wenn sie stärkste Schmerzen haben und man setzt sie vor die Glotze oder macht ihnen ein
Computerspiel an, „vergessen“ sie ihre Schmerzen. Wir nutzen das auch z.B. für eine
unvermeidbare Blutentnahme, indem wir diese Ablenkungsstrategien anwenden. Und siehe
da, die Kinder haben überhaupt keinen Schmerz bei dem Pieks, weil sie mit etwas anderem
beschäftigt sind. Also das ist möglich, und darüber kann man Menschen auch zeigen,
Schmerz ist verlernbar und es gibt durchaus Medikamente, die das unterstützen und die z.B.
auch die Schmerzschwelle nochmal auf ein normales Maß regulieren. Denn jeder Mensch,
der lang andauernd Schmerzen hat, wird nicht – und das ist ein Irrglaube in der Bevölkerung
– immer härter im Nehmen. Nein, er wird im Gegenteil immer empfindlicher. Kein Mensch
gewöhnt sich jemals an Schmerz.
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Frage:
Dieses Schmerzgedächtnis ist eine flexible Struktur. Sie haben mehrmals das Wort
„überschreiben“ benutzt. D.h. es ist eine Erinnerungsspur da, die ist in den Synapsen
sozusagen gespeichert?
Gottschling:
Man muss sich das so vorstellen: Unser Gehirn ist ja eine Festplatte. Und da ist eine
Fehlinformation im Wesentlichen eingespeichert. Da kann es durchaus sein, dass ganz
falsche Impulse dazu führen, dass da immer wieder die Nadel der Platte in die falsche Rille
springt und mir das Lied vom Schmerz vorspielt. Es muss mir bewusst sein, dass das eine
Fehlleistung meines Gehirns ist und dass das nicht der Impuls aus dem Rücken oder dem
Kniegelenk oder wo auch immer ist, sondern dass das tatsächlich ein Problem des Gehirns
ist, das im Wesentlichen eine Fehlfunktion hat.
Frage:
Und das Überschreiben müsste dann ein Psychologe übernehmen?
Gottschling:
Das muss nicht zwingend ein Psychologe übernehmen. Grundsätzlich kann man sagen,
jeder chronifizierte Schmerzpatient sollte von einem Behandlungsteam versorgt werden. D.h.
ein Arzt ist notwendig für bestimmte Gespräche und für die Verschreibung von
Medikamenten, ein Schmerzpsychologe ist sinnvoll und teilweise eben auch z.B. ein
Physiotherapeut, der einem Patienten nochmal zeigt, wie bewege ich mich denn angstfrei.
Viele Menschen haben sich aufgrund ihrer Schmerzsymptomatik eine unfassbare
Fehlhaltung angewöhnt, die das ganze Problem noch verschlimmert. Das Kernthema ist
immer: Wie nehme ich Menschen Angst vor ihrem Schmerz oder auch die Angst davor, dass
sie gravierend krank sind. Angst erzeugt Hilflosigkeit, diese Hilflosigkeit ist ein
Schmerzverstärker und damit bewegen sich Menschen immer weiter in eine Abwärtsspirale
hinein, dadurch werden die Schmerzen immer schlimmer, und irgendwann finden diese
Menschen ohne fremde Hilfe überhaupt nicht mehr raus.
Caspary:
Wie viel Prozent der Schmerzpatienten, die unter chronischen Schmerzen leiden, könnte
man so helfen, also z.B. durch psychologische Betreuung, Betreuung durch ein Ärzte-Team?
Gottschling:
Ich will jetzt nicht so tun, als könnten wir 100% wieder auf die Beine stellen. Ich glaube aber,
dass wir gut drei Viertel aller, auch chronifizierter Schmerzpatienten soweit helfen können,
dass sie nochmal eine gute Alltagstauglichkeit mit akzeptablen Einschränkungen erreichen.
Das ist mir nochmal ganz wichtig. Man braucht ein realistisches Behandlungsziel. Man muss
Patienten auch klar machen, dass die Überschreibung des Schmerzgedächtnisses Zeit in
Anspruch nimmt. Wenn man langjährige Probleme hat, muss man mit einem halben bis
einem Jahr mindestens rechnen. Und man muss sich kleine realistische Ziele setzen.
Ansonsten sind alle Beteiligten schnell enttäuscht.
Frage:
Wenn diese Utopie realisiert werden würde – wie viel Tonnen Schmerzmittel könnte man
sparen?
Gottschling:
Ich kann Ihnen sagen, dass in Deutschland pro Jahr Diclofenac 80 Tonnen, Ibuprofen 150
Tonnen über die Apothekentresen wandern. Das sind Medikamente, von denen ich lieber
weniger im Menschen sehen wollte, weil sie die Menschen massiv gefährden. Es gibt andere
geeignetere Substanzen. Ich rede u.a. von Opioid-Schmerzmitteln, d.h. Morphin und
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verwandte Stoffe. Ich glaube, dass wir damit bei bestimmten Krankheitsbildern immer noch
zu zögerlich sind. Aber mir geht es gar nicht so sehr um: Was kann ich wo wie überall an
Medikamenten einsparen, sondern ich glaube, wir brauchen insgesamt eine viel
differenziertere Herangehensweise an jeden einzelnen Schmerzpatienten.
Frage:
Das wäre wieder die individualisierte Medizin. Wir drehen uns im Kreis, wenn ich sage, unser
System gibt das nicht her!
Gottschling:
Ja, aber es gibt 1.000 Schmerzmediziner in Deutschland – für 23 Millionen Schmerzkranke.
Da wird doch jedem klar, dass das viel zu wenige sind. Und das erklärt auch, warum ein
Schmerzpatient im Mittel sechs bis acht Jahre in der Regel eine Odyssee von Arztterminen,
Heilpraktikern oder Physiotherapeuten hinter sich gebracht hat, bis er das erste Mal in
seinem Leben auf einen Schmerzmediziner trifft. Hätte man diese Menschen alle schon
frühzeitig gesehen, dann hätten wir dieses Problem mit den 23 Millionen Schmerzkranken
gar nicht. D.h. wir müssen es jetzt anpacken, um zumindest in der Zukunft zu verhindern,
dass diese Zahl weiter anwächst. Ich glaube, wir müssen sehr frühzeitig starten. Ich erinnere
nochmal an diese Aufklärungskampagne in Australien. Das war so wunderbar und einfach,
allein die hat schon vielen Menschen viele Probleme erspart und ganz viel
Gesundheitskosten eingespart.
Frage:
Kann man sich heute im Studium als Medizinstudent auf Schmerzmedizin spezialisieren?
Gottschling:
Im Studium nein. Die müssen das jetzt alle hören, d.h. sie kriegen alle eine gute Basis
gelegt, und die eigentliche Weiterbildung zum Schmerzspezialisten erfolgt nach dem
Facharzt, also nochmal etwas später.
Frage:
Aber immerhin: Im Studium wird es gelehrt.
Gottschling:
Ja, pflichtmäßig. Jeder muss es hören, jeder muss sogar eine benotete Prüfung machen.
Frage:
Herr Gottschling, ich bedanke mich ganz herzlich für das Gespräch.
Gottschling:
Sehr gerne.
*****
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Wissen: Aula
Leben ohne Schmerzen
Chancen der Palliativmedizin
Gespräch mit Sven Gottschling
Sendung: 01.01.2018, 8.30 Uhr
Erstsendung: 22.04.2018, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Caspary
Produktion: SWR 2018
In Deutschland werden viele Schmerzpatienten falsch behandelt. Ärzte haben zu wenig Zeit
für eine differenzierte Diagnostik und Therapie. Und es gibt viel zu wenige
Schmerzmediziner, sagt der Palliativmediziner Sven Gottschling.
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede
weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des
Urhebers bzw. des SWR.
MANUSKRIPT
Ansage:
Mit dem Thema: „Leben ohne Schmerzen – Chancen der Palliativmedizin“. Am
Mikrofon Ralf Caspary.
In unserem zivilisierten und hochtechnisierten Land erleiden viele Menschen völlig
unnötig Qualen. Damit muss Schluss sein, sagt der Schmerztherapeut und
Palliativmediziner Professor Sven Gottschling. Wie man das erreichen kann,
beschreibt er in seinem neuen Buch „Schmerzen los werden“, erschienen bei S.
Fischer.
Ich habe mit ihm über das Thema gesprochen, und meine erste Frage war: Es gibt
zwei traurige Zahlen: 23 Millionen Menschen in Deutschland leiden an länger
andauerndem Schmerz, und nach 80% aller Operationen gibt es noch immer keine
adäquate Schmerzbehandlung. Warum ist das so?
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Gespräch mit Sven Gottschling:
Frage:
Auf der Buchklappe Ihres Buches steht: 23 Millionen Menschen in Deutschland leiden an
länger andauerndem Schmerz, nach 80% aller OPs gibt es noch immer keine adäquate
Schmerzbehandlung. Das sind zwei große Probleme. Warum gibt es diese Defizite?
Gottschling:
Das sind nur zwei von vielen Problemen. Ich glaube, es herrscht immer noch ein
riesengroßes Wissensdefizit in der Gesamtbevölkerung zum Thema Schmerz, aber leider
auch bei den Profis, also durchaus auch bei den Ärzten.
Frage:
Kann man sagen, dass die Palliativmedizin noch in den Kinderschuhen steckt oder dass die
Ärzte zu wenig wissen?
Gottschling:
Palliativmedizin und Schmerzmedizin sind in Deutschland – und das mag man gar nicht
glauben – relativ junge Fachrichtungen. Das Fach Schmerzmedizin wird erst seit dem Jahr
2016 an deutschen medizinischen Fakultäten gelehrt, d.h. auch Ärzte wie ich haben in ihrer
Ausbildung nichts darüber gehört. Das ist natürlich einer der Mitgründe, dass das Wissen
auch bei ärztlichen Kollegen nicht ausreicht, um Menschen adäquat hinsichtlich ihrer
Schmerzen zu versorgen. Diejenigen, die jetzt frisch die Uni verlassen, haben schon ein
bisschen was gehört. Bis die in Verantwortungspositionen sind als Fach- oder Oberärzte in
Kliniken oder in der Niederlassung, vergehen nochmal vier bis fünf Jahre. Erst dann können
wir einen durchgreifenden Wissenszuwachs erwarten. Und die niedergelassenen Kollegen
haben sich entweder freiwillig weitergebildet oder eben auch nicht.
Frage:
Warum ist das so?
Gottschling:
Ich glaube, dass viele Menschen denken, dass Schmerzen zum einen etwas ziemlich
Banales ist, über das man nicht viel Wissen braucht. Das ist jedoch ein Irrglaube. Als ich
gesagt habe, ich gehe ein komplettes Jahr zu einer schmerzmedizinischen Weiterbildung in
eine andere Klinik, haben mich damals viele Kollegen ungläubig angeschaut. Da kam dieses
Gefühl auf: Wieso? Schmerzen kann doch jeder behandeln, das ist doch kein Problem. Das
stimmt aber nicht. Der andere Irrglaube ist, dass Schmerzen irgendwie zum Leben
dazugehören, zu bestimmten Krankheiten wie z.B. Krebs dazugehören und nach einer
Operation normal sind. Das sei etwas Schicksalhaftes, worauf auch Ärzte nur einen sehr
bedingten Einfluss haben. Und das ist schlicht und ergreifend Blödsinn.
Frage:
Vielleicht denken auch viele, in der Palliativmedizin gibt man halt Schmerzmittel und das
war’s?
Gottschling:
Ja, genau. Wenn man sich überlegt, in welch existentiellen Notlagen unsere Patienten sind,
dann wird jedem klar, dass der Schmerz viele unterschiedliche Dimensionen hat. Das ist weit
mehr als nur ein körperliches Problem. Das will ich an einem Beispiel verdeutlichen: Wenn
man als Mann „Rücken“ hat und liegt zuhause auf der Couch, ziemlich leidend, dann hat es
einen großen Einfluss auf die Heilung, ob die Ehefrau mitleidig sagt: „Komm, bleib liegen, ich
bring Dir noch ein Bier.“ Oder ob sie ihm fünf Ordner hinlegt und sagt: „Die Steuererklärung
kannst Du eigentlich auch im Liegen machen.“ Im zweiten Fall, das ist vermutlich jedem klar,
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wird man sich sehr schnell noch einmal aufrappeln und sich mit allen verfügbaren
Möglichkeiten an seinen Arbeitsplatz wuchten. Im ersten Fall bleibt man vielleicht ein
bisschen länger auf der Couch.
Frage:
Und der zweite Fall ist für Sie besser, wenn man sich trotz „Rücken“ erhebt?
Gottschling:
Das ist absolut wesentlich. Früher hat man das Konzept gefahren, wenn jemand
Beschwerden hat – der Klassiker sind eben Rückenschmerzen –, erstmal in die Schonung
zu gehen. Viele Menschen haben ja auch Angst, dass da irgendetwas ganz Gravierendes ist,
und wenn ich mich jetzt zu viel bewege, dann macht es richtig Knack oder dann bekomme
ich vielleicht Lähmungserscheinungen. Die Grundbotschaft der allermeisten
Rückenschmerzen ist total harmlos und ungefährlich. Und das Beste ist, sich möglichst nicht
zu schonen, in die Bewegung zu gehen, nicht krankschreiben zu lassen, möglichst wenig
Medikamente. Bildgebung ist meist auch verzichtbar, Operationen gleich schon drei Mal. In
Australien beispielsweise hat alleine eine Aufklärungskampagne der Bevölkerung, der
gesagt wurde „Rückenschmerzen sind häufig eine Form bedingten Gesundseins, lasst euch
nicht krankschreiben, treibt Sport, nehmt wenig Medikamente, lasst euch nicht operieren,
und wenn, dann nur nach Zweitmeinung“ dazu geführt, dass die Krankheitskosten für
Rückenschmerzen, Operationen und Medikamentenverschreibungen dramatisch
zurückgegangen sind bei einem gleichzeitig deutlich gestiegenen Wohlbefinden. Also ich
glaube, hier kommt es auf Aufklärung an. Das Stichwort beim Rückenschmerz heißt seit
vielen Jahren: „Tango statt Fango“.
Frage:
Das ist ein regelrechter Paradigmenwechsel.
Gottschling:
Ja, aber nicht für uns weitergebildete Schmerzmediziner. Wir wissen das schon länger.
Natürlich muss man die paar Menschen rauspicken, die wirklich etwas Gravierendes haben
und einer anderen Behandlung bedürfen, das ist klar. Im Grunde gilt es, zwischen der
überwiegenden Anzahl von Menschen, die harmlose Rücken- oder Kopfschmerzen oder
andere Beschwerden haben, und den wenigen, die wirklich etwas Gravierendes haben, zu
differenzieren. Die brauchen eine andere, intensivere Form der Zuwendung. Der Rest
braucht eine gesunde Aufklärung. Und die muss man dann eben zur Not auch mal durch den
Wald scheuchen oder ins Fitness-Studio. Das ist etwas, das wollen viele Menschen ungerne
hören; lieber eine Pille einschmeißen und gut ist.
Frage:
Das Wichtige für Sie als Schmerzmediziner ist, dass man auf viele Schmerzmedikamente
verzichten kann. Üblich ist, wenn man z.B. „Rücken“ hat, der Gedanke, es könnte vielleicht
ein Bandscheibenvorfall sein. Dann gibt es erstmal die Spritzenkur beim Orthopäden?
Gottschling:
Ja. Das ist der vermeintlich bequemere Weg. Ich habe ein Problem und gehe zum
Spezialisten, der Spezialist macht mich dann wieder fit. Das ist in vielen Belangen beim
Thema Schmerz eine mittelgute Idee. Es geht eher darum, Menschen aufzuklären, was das
echte Problem ist, und sie zu befähigen, damit anders umzugehen. Das werden viele
bestätigen können, dass diese Spritzenkur vielleicht kurzfristig zur Überbrückung hilft und die
Beschwerden lindert, sie aber langfristig das Problem nicht behebt.
Frage:
Ist Ihr Ansatz schon in der Ärzteschaft angekommen? Ich kenne das aus meinem
Bekanntenkreis – das ist zugegeben ein subjektiver Eindruck: Das Schultergelenk schmerzt,
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dann gibt der Orthopäde erstmal über drei Wochen hinweg Spritzen. Und auch bei anderen
Muskel-, Gelenkbeschwerden wird das gemacht.
Gottschling:
Das ist ja das Problem. Wenn man einen Hammer hat, wird alles zum Nagel. Wenn mein
Rüstzeug relativ eingeschränkt ist, dann wende ich das an, was ich kenne und was ich kann.
Dass man damit den meisten Menschen nicht wirklich und dauerhaft hilft und dass man
Menschen auch durch die angewandten Medikamente z.T. massiv gefährdet, wird immer
verschwiegen. Das Gefühl ist immer schön einfach: Ich habe ein Problem, dann kommt ein
Medikament, das Problem verschwindet, aber das tut es eben in den seltensten Fällen, und
wenn, sind diese Effekte häufig Kurzzeiteffekte.
Frage:
Ich bleibe bei Ihrer schönen Metapher mit dem Hammer und dem Nagel. Was haben Sie
denn außer dem Hammer dabei?
Gottschling:
Natürlich setzen auch wir Medikamente ein. Allerdings in einer etwas differenzierteren Form.
Es gibt Hunderte von Medikamenten, die man kennen und für eine differenzierte
Schmerztherapie auch nutzen sollte. Dazu kommen nicht-medikamentöse Therapien:
Entspannungstechniken, gute Physiotherapie, transkutane elektrische Nervenstimulation,
Osteopathie bis hin zu Hypnosetechniken, die man auch Patienten beibringen kann, die sich
dann im Rahmen von Selbsthypnose helfen können; Akkupunktur ist eine Möglichkeit. Die
Therapien sind vielfältig, aber das Wichtigste – das ist mir nochmal ganz wesentlich – ist,
den Patienten in seiner Gesamtheit mit all seinen Problemen zu erfassen. Und das ist schon
mal der erste und größte Stolperstein. Wenn Sie überlegen: Ein normaler Arzttermin – fünf
bis sieben Minuten Kontaktzeit- , da ist es völlig unmöglich zu erfassen, dass diese
Rückenschmerzen des Patienten evtl. dadurch ausgelöst sind, dass er Angst vor seinem
Chef hat und eben nicht, weil er ein Problem im Rücken hat. Ihm dann immer wieder
Spritzen in den Rücken zu verpassen, löst sein Problem nicht. Deswegen nehmen wir
Schmerzmediziner uns für einen Erstkontakt eine Stunde Zeit.
Frage:
D.h. Sie plädieren für individualisierte Medizin, zugeschnitten auf den einzelnen Patienten?
Gottschling:
Ja, das ist das A und O. Die sprechende Medizin kommt innerhalb unserer momentanen
medizinischen Landschaft einfach viel zu kurz. Und da sehe ich das eigentliche riesengroße
Manko. Das ist auch der Grund, warum immer mehr Menschen zum Heilpraktiker gehen
oder sich – Stichwort: Ganzheitsmedizin – andere Versorgungsformen wünschen, z.T. sich
auf dubiose Angebote einlassen, weil sie das Gefühl haben, dass ihnen wenigstens jemand
zuhört.
Frage:
Das ist ein interessantes Paradox: Auf der einen Seite individualisierte Medizin, es gibt
immer komplexere Behandlungsmethoden, es gibt eine ganze Reihe von Medikamenten, die
man je nach Bedürfnis einsetzen kann. Über diese neue Art der Medizin haben wir auch
immer wieder in unserem Wissens-Magazin berichtet. Aber das Gesundheitssystem lässt
das doch gerade nicht zu?
Gottschling:
Deswegen ist es umso wesentlicher, immer wieder darauf aufmerksam zu machen und zu
sagen: Leute, der Weg ist der falsche. Wir geben soviel Geld für unnötige Diagnostik und für
teilweise nicht wirklich hilfreiche Therapien für Patienten aus. Ich behandele sehr viele
Kinder mit Kopfschmerzen. Wenn die zu mir kommen, reicht mir eigentlich ein Gespräch und
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eine körperliche Untersuchung, um zu sagen, was ein Spannungskopfschmerz oder eine
Migräne ist. Dazu brauche ich keine Bildgebung vom Kopf oder Blutuntersuchungen, die die
Kinder auch noch zusätzlich belasten. Wenn diese Kinder aber zu mir kommen, dann haben
die schon eine ganze Tüte mit Röntgenbildern, mit Kernspin-Aufnahmen bei sich. Dieses
Geld und diesen leidvollen Weg für die Patienten könnte man sich sparen, wenn man es von
Anfang an vernünftig macht.
Frage:
Ich gehe mal davon aus, Sie sind ein super Diagnostiker. Wenn ein Kind zu Ihnen kommt
und seine Schmerzen schildert, und Kinder können das ja oft nicht so differenziert tun, dann
wissen Sie schon, das ist ein Spannungskopfschmerz und das ist etwas anderes?
Gottschling:
Das hat auch mit Erfahrung zu tun. Aber wo viele so reflexartig sagen, das Kind muss eine
Kernspintomografie vom Kopf haben, bedeutet das eigentlich: Ich brauche für mich die
Gewissheit oder die Entlastung, dass da nicht z.B. ein Hirntumor dahintersteckt. Wenn man
sich jetzt überlegt, dass in ganz Deutschland pro Jahr fünf Kinder von einer Million Kindern
neu an einem Hirntumor erkranken, dass von diesen fünf überhaupt nur zwei mit
Kopfschmerzen auffällig werden und dass die beiden Kinder, die einen Hirntumor und
Kopfschmerzen haben, auch neurologische Auffälligkeiten haben, die mir bei der
körperlichen Untersuchung auffallen müssen, weiß ich doch, dass bei einem Kind, das
neurologisch unauffällig ist und das eine typische Erkrankungsgeschichte schildert oder die
Eltern mir das schildern, eine Bildgebung verzichtbar ist. Wenn ich jetzt überlege, wie viele
Kinder unter Kopfschmerzen leiden, dann muss jedem klar werden, was für ein unfassbares
Geld wir für eine absolut nicht angezeigte Überdiagnostik raus blasen. Erschwerend kommt
hinzu, dass Kinder, wenn sie sich wirklich nicht so gut äußern können oder kleiner sind, z.T.
in Narkose gelegt werden, um diese Untersuchungen durchzuführen. Oder sie haben zig
Arzttermine, wo wir sie traumatisieren. Wir machen Kinder krank, indem wir so tun, als wäre
da etwas ganz Gravierendes, was wir bloß noch nicht gefunden haben.
Frage:
Das klingt nach einem heißgelaufenen medizinischen Apparat.
Gottschling:
Man will sich ja immer absichern. Das ist ein grundsätzliches Problem, das ich ohnehin in der
Medizin sehe, das schwappt auch ein bisschen aus den USA rüber: Bevor ich irgendetwas
total Seltenes übersehe, untersuche ich lieber alles, gebe viel Geld aus, aber ich bin damit
zumindest juristisch abgesichert und habe nichts übersehen. Wenn wir wirklich bei jedem
Menschen alles untersuchen, was wir können, sind wir ratzfatz pleite. Das nützt den
Menschen nichts und das macht unser Gesundheitssystem kaputt.
Frage:
Auf der anderen Seite haben wir die Apparatemedizin. Wenn eine Röntgenpraxis den teuren
Computertomografen bei sich stehen hat, dann muss man den halt auch öfter benutzen,
oder?
Gottschling:
Zumal man auch sagen muss, um nochmal auf das Thema Rücken zu kommen: Ich weiß
nicht, wie viele Röntgenaufnahmen von Wirbelsäulen gemacht werden. Und dann wird
versucht, von einem Standbild auf ein funktionelles Problem eines Menschen zu schließen.
Das ist totaler Schwachsinn. Ich kann mir zwei Röntgenbilder an die Wand hängen, eine
Wirbelsäule sieht total gruselig verändert aus, die andere sieht super aus. Dann kommen
zwei Menschen in den Raum, der eine auf allen Vieren, weil er vor Schmerzen kaum noch
krabbeln kann, der andere tänzelt rein. Und ich schwöre Ihnen, ich kann anhand des
Röntgenbildes nicht sagen, welches Bild zu welchem Menschen gehört. Das ist genauso,
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wenn ich Ihnen ein Foto von einem traumhaft schönen Sportwagen zeige und Sie frage, wie
viel Bar Luftdruck der Ersatzreifen im Kofferraum hat. Wir stellen die falschen Fragen und
nutzen die falschen diagnostischen Methoden. Das ist schlicht und ergreifend ganz großer
Blödsinn, den wir da betreiben.
Frage:
Können Sie ungefähr abschätzen, wie viel Prozent der Kinder zwischen sechs und zehn
Jahren unter Kopfschmerzen leiden?
Gottschling:
Jedes vierte bis fünfte Kind hat damit auf jeden Fall regelhaft zu tun. Wir wissen, dass bis zu
90% aller Jugendlichen Kopfschmerzerfahrung haben. Nicht dauerhaft und regelmäßig, aber
wir reden ganz grundsätzlich von einer halben Million chronisch schmerzkranker Kinder.
Frage:
Würden Sie sagen, man könnte ein gerüttelt Maß dieser Kinder mit einer konventionellen
Therapie behandeln?
Gottschling:
Ich glaube, das Wesen einer guten Schmerzmedizin, nicht nur Therapie, besteht darin,
erstmal das Grundproblem zu erfassen. Zu dieser Erfassung gehört eben nicht im ersten
Schritt eine ausgedehnte Laboruntersuchung und Bildgebung, sondern wirklich danach zu
gucken, was dieses Kind belastet. Oftmals sind Schmerzen der nach außen getragene
Schrei: Ich habe hier irgendein Problem. Manchmal ist es eine schulische Belastung,
manchmal ist es Streit mit den Eltern, manchmal aber auch eine banale vererbte Migräne,
die ich als Arzt entsprechend medikamentös therapieren muss. Aber ich muss das Kind in
seiner Gesamtheit erfassen. Das gelingt mir nicht in fünf Minuten und schon gar nicht mit
irgendwelchen standarddiagnostischen Maßnahmen.
Frage:
Das war ein Plädoyer für eine andere Diagnostik mit anderen Schwerpunkten, also genau
hinzuschauen und rational zu reflektieren. Ich hatte am Anfang unseres Gesprächs gesagt,
in Ihrem Buch steht die Zahl 23 Millionen Menschen leiden in Deutschland an länger
andauerndem Schmerz. Das ist der chronische Schmerz. Eine sehr große Zahl. Was macht
man mit dieser Bevölkerungsgruppe?
Gottschling:
Die meisten Menschen, die diesen lang andauernden Schmerz haben, waren irgendwann
mal Akut-Schmerzpatienten, die nicht adäquat behandelt wurden und die überhaupt erst die
Chance hatten zu chronifizieren. Hier ist das Kind in aller Regel schon in den Brunnen
gefallen. Akutschmerz ist viel leichter vernünftig zu behandeln als ein chronifizierter
Schmerz. Das ist etwas, wo wir uns häufig viel mehr Mühe geben müssen, mit diesem
Problem umzugehen. Dann muss man sich immer klar machen: Was ist Schmerz
überhaupt? Schmerz ist ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, da muss gar nichts
kaputt sein. Das ist die wesentliche Kernbotschaft. Und Schmerz ist immer subjektiv, d.h. all
das, was der Patient mir rückmeldet, spürt er so, auch wenn der Schmerz eigentlich rein
logisch gar nicht nachvollziehbar ist. Ein Beispiel: Wenn jemand sein Bein verloren hat,
vielleicht durch einen Unfall, und zehn Jahre später tut ihm immer noch der Fuß weh, dann
ist klar, das kann nicht der Fuß sein. Aber das dazugehörige Areal im Gehirn ist noch aktiv.
Deswegen reden wir von einem Schmerzgedächtnis. Jedweder Schmerz entsteht im Kopf.
Das muss uns immer wieder klar sein. Auch der Rückenschmerz, den wir spüren, entsteht im
Kopf. Und wenn wir diese Komponente nicht beachten, unser Schmerzgedächtnis nicht
beachten, auch nicht mit ganz gezielten Techniken versuchen, solche, auch unangenehmen
Schmerzerlebnisse und chronische Schmerzereignisse nochmal zu überschreiben – mit
Entspannungstechniken, mit psychologischen Interventionen, mit teilweise auch einem
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gezielten Einsatz von Medikamenten –, dann werden wir diesen Menschen nicht dauerhaft
helfen können.
Frage:
Ich als Laie dachte immer, ein Organ hat irgendein Problem und sendet Schmerzsignale ans
Gehirn?
Gottschling:
Das ist der Akut-Schmerz.
Frage:
Der Akut-Schmerz übermittelt also schon ein realistisches Signal, dass etwas nicht in
Ordnung ist?
Gottschling:
Nicht immer. Ich will Ihnen mal ein Beispiel aufzeigen: Die meisten Menschen hatten in ihrem
Leben schon einmal einen Sonnenbrand. Wenn Sie dann auf diesen krebsroten Rücken ein
T-Shirt ziehen, dann tut Ihnen das T-Shirt auf der Haut weh. Ein eigentlich nicht
schmerzhaftes Ereignis führt zu Schmerzdruck und Berührung löst Schmerz aus. D.h. wir
haben hier hochgeregelte Rezeptoren und wir haben eine bestimmte Form von
Nervenschmerz. Deswegen kann man nicht sagen, dass in jedem Menschen realistische
Signale weitergeleitet werden. Es gibt gute Gründe, warum Menschen schon massive
Schmerz-Attacken haben aufgrund leichtester Berührungsreize. Da sind bestimmte
Rezeptoren verstellt, da sind bestimmte Weiterleitungsschritte auf Rückenmarksebene dejustiert
und auch unsere Schmerzschwelle im Gehirn runtergefahren. D.h. unsere
Schmerzverarbeitung kann auf mehreren Ebenen auch fehlerhaft sein, so dass der Schmerz
seine eigentliche Schutz- und Warnfunktion verloren hat. Also wenn wir auf eine heiße
Herdplatte fassen, ist es schon gut, wir spüren das rechtzeitig, damit wir die Hand
zurückziehen. Da ist die Schutz- und Warnfunktion da. Der chronifizierte Schmerz ist eine
eigenständige Erkrankung, da werden wir in der Regel nicht mehr sinnvoll vor etwas
gewarnt, dieser Schmerz belastet uns nur noch und zieht uns auch, wenn es ganz dumm
läuft, in eine tiefe Depression.
Frage:
Wie kommen wir an dieses Schmerzgedächtnis ran?
Gottschling:
Dieses Schmerzgedächtnis hat leider keine Löschtaste. Es ist in der Tat so, dass man das
mit anderen neuen positiven Erfahrungen überschreiben muss, dass man hier auch ein
Zutrauen finden muss, ja, ich kann meinen Schmerz tatsächlich beeinflussen. Ich führe
nochmal so ein Verfahren an wie Selbsthypnose. Also es gibt durchaus Menschen, denen
man klarmachen kann, dass es Momente gibt, in denen sie sich sehr wirksam von ihrem
Schmerz ablenken können. Das kann man bei Kindern wunderbar demonstrieren: Auch
wenn sie stärkste Schmerzen haben und man setzt sie vor die Glotze oder macht ihnen ein
Computerspiel an, „vergessen“ sie ihre Schmerzen. Wir nutzen das auch z.B. für eine
unvermeidbare Blutentnahme, indem wir diese Ablenkungsstrategien anwenden. Und siehe
da, die Kinder haben überhaupt keinen Schmerz bei dem Pieks, weil sie mit etwas anderem
beschäftigt sind. Also das ist möglich, und darüber kann man Menschen auch zeigen,
Schmerz ist verlernbar und es gibt durchaus Medikamente, die das unterstützen und die z.B.
auch die Schmerzschwelle nochmal auf ein normales Maß regulieren. Denn jeder Mensch,
der lang andauernd Schmerzen hat, wird nicht – und das ist ein Irrglaube in der Bevölkerung
– immer härter im Nehmen. Nein, er wird im Gegenteil immer empfindlicher. Kein Mensch
gewöhnt sich jemals an Schmerz.
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Frage:
Dieses Schmerzgedächtnis ist eine flexible Struktur. Sie haben mehrmals das Wort
„überschreiben“ benutzt. D.h. es ist eine Erinnerungsspur da, die ist in den Synapsen
sozusagen gespeichert?
Gottschling:
Man muss sich das so vorstellen: Unser Gehirn ist ja eine Festplatte. Und da ist eine
Fehlinformation im Wesentlichen eingespeichert. Da kann es durchaus sein, dass ganz
falsche Impulse dazu führen, dass da immer wieder die Nadel der Platte in die falsche Rille
springt und mir das Lied vom Schmerz vorspielt. Es muss mir bewusst sein, dass das eine
Fehlleistung meines Gehirns ist und dass das nicht der Impuls aus dem Rücken oder dem
Kniegelenk oder wo auch immer ist, sondern dass das tatsächlich ein Problem des Gehirns
ist, das im Wesentlichen eine Fehlfunktion hat.
Frage:
Und das Überschreiben müsste dann ein Psychologe übernehmen?
Gottschling:
Das muss nicht zwingend ein Psychologe übernehmen. Grundsätzlich kann man sagen,
jeder chronifizierte Schmerzpatient sollte von einem Behandlungsteam versorgt werden. D.h.
ein Arzt ist notwendig für bestimmte Gespräche und für die Verschreibung von
Medikamenten, ein Schmerzpsychologe ist sinnvoll und teilweise eben auch z.B. ein
Physiotherapeut, der einem Patienten nochmal zeigt, wie bewege ich mich denn angstfrei.
Viele Menschen haben sich aufgrund ihrer Schmerzsymptomatik eine unfassbare
Fehlhaltung angewöhnt, die das ganze Problem noch verschlimmert. Das Kernthema ist
immer: Wie nehme ich Menschen Angst vor ihrem Schmerz oder auch die Angst davor, dass
sie gravierend krank sind. Angst erzeugt Hilflosigkeit, diese Hilflosigkeit ist ein
Schmerzverstärker und damit bewegen sich Menschen immer weiter in eine Abwärtsspirale
hinein, dadurch werden die Schmerzen immer schlimmer, und irgendwann finden diese
Menschen ohne fremde Hilfe überhaupt nicht mehr raus.
Caspary:
Wie viel Prozent der Schmerzpatienten, die unter chronischen Schmerzen leiden, könnte
man so helfen, also z.B. durch psychologische Betreuung, Betreuung durch ein Ärzte-Team?
Gottschling:
Ich will jetzt nicht so tun, als könnten wir 100% wieder auf die Beine stellen. Ich glaube aber,
dass wir gut drei Viertel aller, auch chronifizierter Schmerzpatienten soweit helfen können,
dass sie nochmal eine gute Alltagstauglichkeit mit akzeptablen Einschränkungen erreichen.
Das ist mir nochmal ganz wichtig. Man braucht ein realistisches Behandlungsziel. Man muss
Patienten auch klar machen, dass die Überschreibung des Schmerzgedächtnisses Zeit in
Anspruch nimmt. Wenn man langjährige Probleme hat, muss man mit einem halben bis
einem Jahr mindestens rechnen. Und man muss sich kleine realistische Ziele setzen.
Ansonsten sind alle Beteiligten schnell enttäuscht.
Frage:
Wenn diese Utopie realisiert werden würde – wie viel Tonnen Schmerzmittel könnte man
sparen?
Gottschling:
Ich kann Ihnen sagen, dass in Deutschland pro Jahr Diclofenac 80 Tonnen, Ibuprofen 150
Tonnen über die Apothekentresen wandern. Das sind Medikamente, von denen ich lieber
weniger im Menschen sehen wollte, weil sie die Menschen massiv gefährden. Es gibt andere
geeignetere Substanzen. Ich rede u.a. von Opioid-Schmerzmitteln, d.h. Morphin und
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verwandte Stoffe. Ich glaube, dass wir damit bei bestimmten Krankheitsbildern immer noch
zu zögerlich sind. Aber mir geht es gar nicht so sehr um: Was kann ich wo wie überall an
Medikamenten einsparen, sondern ich glaube, wir brauchen insgesamt eine viel
differenziertere Herangehensweise an jeden einzelnen Schmerzpatienten.
Frage:
Das wäre wieder die individualisierte Medizin. Wir drehen uns im Kreis, wenn ich sage, unser
System gibt das nicht her!
Gottschling:
Ja, aber es gibt 1.000 Schmerzmediziner in Deutschland – für 23 Millionen Schmerzkranke.
Da wird doch jedem klar, dass das viel zu wenige sind. Und das erklärt auch, warum ein
Schmerzpatient im Mittel sechs bis acht Jahre in der Regel eine Odyssee von Arztterminen,
Heilpraktikern oder Physiotherapeuten hinter sich gebracht hat, bis er das erste Mal in
seinem Leben auf einen Schmerzmediziner trifft. Hätte man diese Menschen alle schon
frühzeitig gesehen, dann hätten wir dieses Problem mit den 23 Millionen Schmerzkranken
gar nicht. D.h. wir müssen es jetzt anpacken, um zumindest in der Zukunft zu verhindern,
dass diese Zahl weiter anwächst. Ich glaube, wir müssen sehr frühzeitig starten. Ich erinnere
nochmal an diese Aufklärungskampagne in Australien. Das war so wunderbar und einfach,
allein die hat schon vielen Menschen viele Probleme erspart und ganz viel
Gesundheitskosten eingespart.
Frage:
Kann man sich heute im Studium als Medizinstudent auf Schmerzmedizin spezialisieren?
Gottschling:
Im Studium nein. Die müssen das jetzt alle hören, d.h. sie kriegen alle eine gute Basis
gelegt, und die eigentliche Weiterbildung zum Schmerzspezialisten erfolgt nach dem
Facharzt, also nochmal etwas später.
Frage:
Aber immerhin: Im Studium wird es gelehrt.
Gottschling:
Ja, pflichtmäßig. Jeder muss es hören, jeder muss sogar eine benotete Prüfung machen.
Frage:
Herr Gottschling, ich bedanke mich ganz herzlich für das Gespräch.
Gottschling:
Sehr gerne.
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…