Menschen mit einer seltenen Erkrankung sind die Stiefkinder der Medizin

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Rheuma - Seltenen Erkrankungen -


Bonn, 22.02.2016. Von einem Volksleiden sind sie weit entfernt: Menschen mit einer seltenen Erkrankung sind oft die Stiefkinder der Medizin. Zu unbekannt sind ihre Symptome, zu gering ihre Einzelfallzahl. Der 29. Februar, der Tag der Seltenen Erkrankungen, will den Blick für die Problematik unter dem Motto: „Gebt den Seltenen Eure Stimme“ schärfen. Zum Beispiel Concetta Tatti, die seit ihrem dritten Lebensjahr an Dermatomyositis erkrankt ist. Heute ist sie 40 Jahre alt und so groß und so schwer wie ein neunjähriges Mädchen – und rund um die Uhr auf Hilfe angewiesen.
Vom 29. Februar bis 7. März 2016 beraten Experten im Internetforum der Deutschen Rheuma-Liga. Betroffene erhalten Tipps und können sich über Erfahrungen und Alltagsprobleme mit einer seltenen rheumatischen Erkrankung austauschen:

INHALT
Weiterführende Informationen zur Hilfe und Selbsthilfe:  
Concetta Tatti war drei Jahre alt, als sie plötzlich Schmerzen beim Gehen hatte, häufig stolperte und hinfiel, ständig extrem hohes Fieber bekam und sich glühende rote Flecken auf ihrem Gesicht ausbreiteten. Ein halbes Jahr lief ihre Mutter von Arzt zu Arzt. Bis die Eltern in der Kinderklinik erfuhren, dass ihr Kind juvenile Dermatomyositis hat. „Damals war die Erkrankung kaum erforscht, die Kinderärzte hatten einen solchen Verlauf kaum zu Gesicht bekommen. Das einzige, was sie meiner Mutter sagen konnten war, dass es eine Autoimmunerkrankung war“, sagt die heute 40-Jährige. In ihrem kleinen Körper war die Immunabwehr völlig durcheinander geraten.
Bei Autoimmunerkrankungen ist das Abwehrsystem fehlgesteuert: Statt Krankheitserreger zu vernichten, richtet es sich gegen den eigenen Körper. Allein bei den rheumatischen Erkrankungen finden sich mehr als hundert verschiedene Formen, die äußerst selten sind – das Immunsystem kämpft dann nicht mehr nur gegen Krankheitserreger, sondern attackiert wie bei Concetta Tatti den eigenen Körper. Ein Leiden gilt dann als „selten“, wenn nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen daran erkranken. Das stellt die Patienten, aber auch ihre Angehörigen und ihre Ärzte, vor große Herausforderungen: Häufig dauert es Monate oder sogar Jahre, bis die richtige Diagnose steht. Selbst dann gibt es nur wenige Experten und Kliniken, die sich mit der jeweiligen Erkrankung auskennen. Immer wieder stoßen Betroffene auf Probleme – so auch Concetta Tatti: Weil sie so zierlich und leicht ist wie ein neunjähriges Mädchen, muss sie stets in Kliniken behandelt werden, die auf Kinder eingestellt sind: Ärzte können ihren Blutdruck nur mit einem Gerät für Kinder messen, normale Kanülen für die Blutabnahme oder Infusionen sind zu groß für sie. „Die Aufnahme in einer Erwachsenenklinik kann für mich lebensbedrohlich sein!“
Hinzu kommt der Mangel an Medikamenten: Für viele seltene Erkrankungen gibt es keine zugelassene Therapie: Das Augenmerk der Pharma-Industrie richtet sich verstärkt auf absatzstarke „Blockbuster“ gegen Volksleiden, statt viel Geld in Medikamente zu investieren, die nur einer kleinen Anzahl Patienten zugutekommen. Wirkt es, oder wirkt es nicht? Concetta Tatti hatte als Kind oft das Gefühl, Ärzten als „Versuchskaninchen“ zu dienen. Noch heute fühlt sie sich wie ein Stiefkind der Medizin. „Ich finde es anstrengend, immer der besonders seltene Fall zu sein. Ebenso unerträglich ist es, dass ich das Gefühl habe, mich besser mit meinem erkrankten Körper auszukennen als die Mediziner“, sagt Tatti mit einem Unterton der Resignation.
Wie selten die Erkrankung von Concetta Tatti ist, zeigen Zahlen aus einer wissenschaftlichen Übersichtsarbeit. „Zirka zehn Neuerkrankungen an Dermatomyositis pro einer Million Einwohner zählt die Wissenschaft jedes Jahr“, sagt der Aachener Rheumatologe und ehemalige Präsident der Deutschen Gesellschaft für Rheumatologie, Professor Ekkehard Genth. Die Erkrankung trete bei Kindern und Jugendlichen als juvenile Dermatomyositis im fünften oder sechsten Lebensjahr auf, bei Frauen häufiger als bei Männern. Eine seltene Erkrankung also. „Wer die Symptome noch nie gesehen hat, wird nicht gleich auf diese rheumatische Erkrankung kommen“, meint Genth.
Die Lider schwellen an und färben sich in einen rötlichen Violett. Diese Ausschläge können im gesamten Gesicht, aber auch am Hals, an den Händen und am ganzen Körper auftreten. „Auffällig ist, dass die Kapillaren, also die ganz kleinen Blutgefäße, sichtbar an der Nagelfalz erweitert sind“, erklärt Prof. Genth. Muskelschmerzen kommen hinzu, das Gehen und Aufstehen vom Stuhl fällt schwer, die Betroffenen haben Schwierigkeiten ihre Arme anzuheben. Auch innere Organe, wie die Lunge, können betroffen sein. Einzeln betrachtet können diese Symptome auf verschiedene Haut- oder Muskelkrankheiten hinweisen. Die Rheumatologen indes kennen heute diese spezielle Systemerkrankung (Multiorganerkrankung) und ihre Varianten recht gut. Für die genaue Diagnose sind Untersuchungen des Gewebes der Muskulatur und der Nachweis von krankheitstypischen Autoantikörpern im Blut eine wichtige Hilfe. „Das Problem der Therapie ist es, dass es wegen der Seltenheit der Krankheit bisher nur wenige gute wissenschaftlichen Studien hierzu gibt. Dies hat zur Folge, dass es zwar eine Reihe von Medikamenten einschließlich der Kortisonpräparate auf dem Markt gibt, die bei Dermatomyositis eingesetzt werden, die aber nicht ausreichend untersucht sind“, erklärt Prof. Genth. Eine traurige Gemeinsamkeit aller seltenen Erkrankungen. Dieser kann die Medizin nur entgehen, in dem die Fachgesellschaften auf der ganzen Welt eng vernetzt sind, um die nötigen Betroffenenzahlen für die wissenschaftlichen Studien zu erreichen. Was sie auch zunehmend tun.
Behandelt wird die Dermatomyositis mit Kortisonpräparaten und Immunsuppressiva. Hinzu kommen zusätzliche Behandlungen je nach Organbefall. „Etwa 50 Prozent aller Betroffenen haben Probleme mit der Lunge, zunehmend stellen wir auch eine Beteiligung des Herzens fest“, sagt Prof. Genth, der betont, dass die Medizin Fortschritte gemacht hat. So kann die Dermatomyositis anhand von Blutproben und einer Untersuchung im Kernspintomografen nachgewiesen werden. Bei Laboruntersuchungen fallen oft erhöhte Entzündungswerte auf. Typisch ist auch eine deutliche Erhöhung der Muskelenzyme. Eine Untersuchung im Kernspintomografen zeigt, welche Bereiche der Skelettmuskulatur betroffen sind, die histologische Untersuchung einer Gewebeprobe aus der Muskulatur klärt in Zweifelsfällen die Diagnose.
Weil es aber für die Betroffenen wichtig ist, ernst genommen zu werden, sich austauschen zu können, hat Concetta Tatti eine Selbsthilfegruppe in München unter dem Dach der Deutschen Rheuma-Liga ins Leben gerufen. „Die Betroffenen können sich gegenseitig Mut machen, sich austauschen und merken, sie sind nicht allein“, sagt Tatti. Eine weitere Möglichkeit, sich auszutauschen und Fragen zu stellen, ist das jährliche Online-Expertenforum der Deutschen Rheuma-Liga, das am 29. Februar startet und bis zum 7. März läuft.

Teilnehmer des online-Expertenforums stehen auch als Interviewpartner zur Verfügung:
Prof. Dr. Erika Gromnica-Ihle, internistische Rheumatologin und Präsidentin der Deutschen Rheuma-Liga
Prof. Dr. Eva Reinhold-Keller, internistische Rheumatologin, Spezialgebiet Vaskulitiden
Prof. Dr. Martin Aringer, internistischer Rheumatologe, Universitätsklinikum TU Dresden, Spezialgebiete: Systemischer Lupus Erythematodes und Sklerodermie
Prof. Dr. Wolfgang Rüther, orthopädischer Rheumatologe, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und Klinikum Bad Bramstedt
Borgi Winkler-Rohlfing, Vorsitzende der Lupus Erythematodes Selbsthilfegemeinschaft
Emma Margarete Reil, Vorsitzende der Sklerodermie Selbsthilfe
Ingrid Winter, Landessprecherin für Kollagenosen und Vaskulitiden in der Rheuma-Liga Baden-Württemberg
Ute Garske, Vaskulitis-Patienten-Selbsthilfegruppe Hamburg und Vorstandsmitglied der Rheuma-Liga Hamburg
Über die Deutsche Rheuma-Liga
Die Deutsche Rheuma-Liga ist mit aktuell 290.000 Mitgliedern die größte deutsche Selbsthilfeorganisation im Gesundheitsbereich. Der Verband informiert und berät Betroffene unabhängig und frei von kommerziellen Interessen. Die Rheuma-Liga bietet Menschen mit rheumatischen Erkrankungen Rat und praktische Hilfen wie zum Beispiel Funktionstraining, unterstützt aber auch Forschungsprojekte zu rheumatischen Erkrankungen und tritt für die Interessen rheumakranker Menschen in der Gesundheits- und Sozialpolitik ein. Die Rheuma-Liga finanziert ihre Arbeit vorrangig durch Mitgliedsbeiträge, Förderungen der Kranken- und Rentenversicherer, Projektmittel und Spenden. :

Ansprechpartner für Rückfragen
Deutsche Rheuma-Liga Bundesverband e.V.
Maximilianstr. 14
D-53111 Bonn
Susanne Walia | Referentin für Öffentlichkeitsarbeit
Telefon:    +49 (0) 228 76 60 6 - 11
mailto:bv.walia@rheuma-liga.de
Julia Bidder | mobil-Chefredaktion
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