Gewalt gegen ältere Menschen: Pflegeteams schützen Opfer
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Pflegeteams - Gewaltschutz
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Es ist eines der letzten großen Tabuthemen in der Öffentlichkeit: Gewalt gegen ältere, pflegebedürftige Menschen. Schläge, Beleidigungen oder auch finanzielle Ausbeutung finden im engsten Kreis statt. In der Familie zu Hause, in Pflegeheimen oder auch in Kliniken. Nur kaum einer redet drüber. Dabei gibt es Strategien zur Hilfe. Die Deutsche Gesellschaft für Geriatrie (DGG) und die Deutsche Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie (DGGG) wollen deshalb aufklären. Wie können Misshandlungen erkannt und vor allem vorgebeugt werden? Darüber sprechen in einem Doppelinterview Dr. Mark Lachs vom Weill Cornell Medical College in New York und Frau Prof. Dr. Susanne Zank von der Universität Köln.
Erhebungen zufolge berichtet jeder zehnte pflegebedürftig, alte Mensch in Deutschland von Übergriffen in seinem direkten Umfeld – wobei von einer großen Dunkelziffer auszugehen ist. Wieso ist dies so?
Prof. Dr. Susanne Zank: Es ist leider sehr, sehr schwer, verlässliche Daten über die Verbreitung zu erheben. Die Opfer schweigen aus Scham oder Angst. In der Familie sind sie psychologisch oder aus pflegerischen Gründen abhängig von den misshandelnden Familienmitgliedern. Wobei Misshandlung auch psychische Qual oder finanzielle Ausbeutung umfasst. Trotzdem haben die Opfer Angst, dass sie die Familie verlassen und in eine Institution ziehen müssten. Die Furcht vor einem Heim ist häufig so groß, dass die Opfer sich lieber schlecht behandeln lassen.
In der Pflege wiederum spielt Vernachlässigung eine große Rolle. So werden zum Beispiel Medikamente vorenthalten, Windeln selten gewechselt oder zu wenig Flüssigkeit angeboten. Da die Menschen sehr abhängig von den Pflegekräften sind, trauen sie sich manchmal nicht, sich zu beschweren. Selbst Angehörige, die unangemessenes oder gewalttätiges Verhalten der Pflegekräfte beobachten, schweigen mitunter aus Angst, dass sie den Pflegebedürftigen nicht wirklich schützen können. Und die Institutionen selber möchten natürlich nicht, dass entsprechendes Fehlverhalten publik wird.
Dr. Mark Lachs: Dass Fälle von Misshandlungen älterer Menschen so selten gemeldet werden, hat auch etwas damit zu tun, dass sie eher sozial isoliert sind als jüngere. Wenn ein Kind mit einer verdächtigen Verletzung in die Schule kommt, gibt es Lehrer und andere, die den Vorfall melden und notwendige Maßnahmen einleiten können. Alte Menschen – gerade jene, die in Rente sind – haben deutlich kleinere zwischenmenschliche Netzwerke, in denen Misshandlungen entdeckt werden können.
Wer sind die Täter?
Lachs: Anhand der wenigen Daten, die uns zur Problematik vorliegen, können wir feststellen, dass es sich bei den Tätern zumeist um die erwachsenen Kinder der Opfer oder auch um den Ehepartner handelt. Sie sind eher männlich, haben oder hatten in der Vergangenheit Probleme mit Medikamentenmissbrauch oder Drogen, leiden unter psychischen oder körperlichen Erkrankungen oder sind bereits mit der Polizei in Konflikt geraten. Zudem sind sie meistens sozial isoliert, arbeitslos oder in finanziellen Schwierigkeiten und leiden unter starkem Stress.
Immer wieder ist auch von Gewalt unter betagten Menschen zu hören, beispielsweise in Seniorenheimen. Woran liegt das? Und was lässt sich dagegen tun?
Lachs: Diese Art von Gewalt gegen ältere Menschen sehen wir in zunehmendem Maße, und wir müssen dem sehr viel Bedeutung beimessen. Nach unseren Erkenntnissen ist es wohl sehr viel wahrscheinlicher, in einem Seniorenheim Gewalt durch andere Bewohner zu erfahren als durch das Pflegepersonal. Dafür gibt es viele Gründe, aber ein bedeutender Faktor ist, dass in den Einrichtungen viele Patienten mit Demenz oder Verhaltensstörungen auf engstem Raum zusammenleben. Unsere Gruppe entwickelt und testet derzeit eine Interventionsstrategie, die Missbrauch zwischen den Bewohnern von Einrichtungen verhindern soll.
Zank: Menschen mit einer demenziellen Erkrankung missverstehen Verhaltensweisen von Mitbewohnern häufig auch als aggressives Verhalten oder Bedrohung. Hier können Pflegekräfte deeskalierend eingreifen. Wichtig ist vor allem die genaue Analyse des Geschehens: Was hat das aggressive Verhalten ausgelöst? Lässt sich ein Muster wiederkehrender Situationen erkennen? Und: Kann man diese zukünftig vermeiden?
Wie können die Opfer geschützt werden? Gibt es hierzu Strategien?
Lachs: Eine wichtige Strategie ist zunächst einmal die Erkennung von Missbrauch. Wir müssen erreichen, dass diejenigen, die in Kontakt mit älteren Erwachsenen kommen, auf Anzeichen von Missbrauch achten. Ärzte sind bisher in diesem Bereich noch nicht besonders involviert, obwohl sie manchmal die einzigen Personen sind, die außerhalb der Täter-Opfer-Beziehung Kontakt zum Missbrauchsopfer haben.
Ist ein Fall erst einmal bekannt, gibt es verschiedene Strategien, um gegen Missbrauch vorzugehen. Obwohl noch keine randomisierten kontrollierten Studien vorliegen, ist eine vielversprechende Strategie in den Vereinigten Staaten der Einsatz fachübergreifender Teams, in denen Spezialisten aus unterschiedlichen Gebieten (Medizin, Recht, Sozialarbeit, Wohnungswesen, Polizei) zusammenarbeiten und einen umfassenden Plan zum Schutz der Opfer erstellen. Ich glaube, dass sich diese Strategie auch sehr gut in vielen anderen Ländern und Gesellschaften anwenden lässt. Die Interventionsansätze sollten die gleichen sein.
Frau Professor Zank, welche politischen Weichenstellungen sind nötig, um Misshandlungen zu verhindern?
Zank: Für pflegebedürftige Menschen gelten die gleichen Rechte wie für alle anderen Menschen. Dennoch gibt es eine besondere Verantwortung von Staat und Gesellschaft, dass sie würdevoll und ohne Gefahr für Leben und Gesundheit versorgt werden. Allerdings bewegen wir uns rechtlich häufig in einer Grauzone.
Wir benötigen daher in Anlehnung an das Kinder- und Jugendhilferecht ein Altenhilferecht! Bei jedem Verdacht auf Kindeswohlgefährdung findet eine Überprüfung statt – wesentliche Fragestellungen sind dabei, ob eine Kindeswohlgefährdung vorliegt und ob beziehungsweise welcher Handlungsbedarf besteht.
Die Möglichkeit, eine solche Überprüfung durchzusetzen, gibt es bei alten Menschen nicht. Nur bei Gefahr für Leib und Leben liegt ein sofortiger Handlungsbedarf vor, befreit Pflegedienste von der Schweigepflicht und ermöglicht polizeiliches Eingreifen. Das sollte sich ändern.
Was können Angehörige, Pflegende und Ärzte, aber auch ältere Patienten selbst tun, um sich zu schützen?
Lachs: Beim Umgang mit älteren Personen wachsam bleiben. Machen Sie sich mit den Anzeichen und Symptomen vertraut. Gehen Sie Partnerschaften mit Nichtregierungsorganisationen und anderen Institutionen in Ihrer Region ein, mit denen Sie gemeinsam Aufklärungsarbeit leisten und zusammenarbeiten können, um den Missbrauch von älteren Menschen zu verhindern.
Zank: In Institutionen: Gewalt nicht einfach hinnehmen! Stattdessen Ansprechen der Person, die sich falsch verhalten hat. Besprechung mit einer vertrauten Person wie der Bezugspflegekraft, Schicht- oder Heimleitung. Pflegende und Ärzte sollten durch Fortbildungen Sicherheit gewinnen in der Identifizierung von Misshandlung und Vernachlässigung. Zugleich sollten sie Interventionsmaßnahmen kennenlernen.
Angehörige und professionell Pflegende müssen auf Anzeichen von Überforderung, Erschöpfung, depressiven Symptomen bei sich achten und Hilfe annehmen. Das kann Beratung sein, die beispielsweise zur Nutzung von Entlastungsmöglichkeiten (Tagespflege, Urlaub, freiwillige Helfer, Selbsthilfegruppen) führt. In Institutionen sollte es Supervisionsangebote geben. Bei längerfristigen Belastungs- beziehungsweise Überforderungssituationen kann auch eine Psychotherapie indiziert sein.
Zu den Personen:
Dr. Mark S. Lachs ist Absolvent der New York University School of Medicine. Im Anschluss entschied er sich für ein zusätzliches Masterprogramm in Public Health an der renommierten Yale University. Dort war er dann auch einige Jahre als Assistant Professor of Medicine tätig, bevor er als Leiter der Geriatrie ans Cornell University Medical College wechselte. Seitdem bekleidet Mark S. Lachs zahlreiche Positionen im akademischen Bereich – er ist aber auch an vielen außeruniversitären Einrichtungen aktiv. Aktuell arbeitet Mark S. Lachs als Professor der Medizin am Weill Cornell Medical College. Er ist dort einer der Leiter der Abteilung für Geriatrie und Palliativmedizin. Daneben ist er Direktor des Bereichs Geriatrie für das New York Presbyterian Health Care System. Sein Interesse gilt dem Einsatz für ältere Menschen. Davon zeugen auch seine zahlreichen Publikationen, Lehraufträge und über 100 Gastvorträge, die sich mit der Vernachlässigung und Gewalt gegen ältere Menschen, ethischen Themen und der Finanzierung des Gesundheitswesens beschäftigen.
Prof. Dr. Susanne Zank studierte Psychologie an der TU Berlin und Vancouver/Canada und arbeitete u. a. als Psychologische Psychotherapeutin in der Gerontopsychiatrischen Tages- und Poliklinik der Universitätsklinik Berlin. Seit 2010 leitet Frau Prof. Zank den Lehrstuhl für Rehabilitationswissenschaftliche Gerontologie an der Universität Köln und ist Direktorin des Zentrums für Heilpädagogische Gerontologie.
Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen Belastungs- und Interventionsforschung bei pflegenden Angehörigen von Demenzpatienten, Interventions- und Rehabilitationsforschung bei alten Menschen und die Evaluation ambulanter und stationärer Versorgung. Zusammen mit ihren Mitarbeiterinnen entwickelte sie Erhebungsinstrumente zur Belastung pflegender Angehöriger und zum Screening von Depressionen, die sowohl in der Forschung als auch in der Praxis zur Qualitätssicherung einsetzbar sind. Ihr Team entwickelte ein Screeninginstrument zur Erfassung von Gewalt in der ambulanten Pflege und ein Fortbildungsprogramm für Pflegekräfte.
Dr. Mark Lachs wird seine Ergebnisse auf dem Jahreskongress der DGG und der DGGG vorstellen und gemeinsam mit den deutschen Kollegen diskutieren. Hierzu laden wir alle Vertreter der Presse bereits heute herzlich ein!
Jahreskongress der DGG (Deutsche Gesellschaft für Geriatrie) und der DGGG (Deutsche Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie) in Stuttgart 7. bis 10. September 2016
Mark S. Lachs, New York
Keynote-Lecture: „Elder Abuse: Advances in Science and Service“
Freitag, 09.09.2016
09.45 – 10.30 Uhr Haus der Wirtschaft (König-Karl-Halle)
Vortragssprache der Keynote ist Englisch. Um das Verständnis zu fördern, werden jedoch neben den englischen Slides simultan auch deutsche Slides gezeigt.
Kontakt
Nina Meckel
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Die Deutsche Gesellschaft für Geriatrie (DGG) ist die wissenschaftliche Fachgesellschaft der Ärzte, die sich auf die Medizin der späten Lebensphase spezialisiert haben. Sie wurde 1985 gegründet und hat augenblicklich rund 1.700 Mitglieder.
Die Deutsche Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie (DGGG) unterstützt Gerontologen und Geriater aktiv in der Alternsforschung und alle in diesem Arbeitsfeld beteiligten Berufsgruppen bei der praktischen Umsetzung der Ergebnisse.
Herausgeber:
Deutsche Gesellschaft für Geriatrie e.V., Kunibertskloster 11–13, 50668 Köln – vertreten durch den Kongresspräsidenten Prof. Dr. Jürgen M. Bauer
Deutsche Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie, Seumestr. 8, 10245 Berlin – vertreten durch die Kongresspräsidentin Prof. Dr. Susanne Zank
Key Visual erstellt unter Verwendung eines Bildes von Werner Dieterich, Stuttgart-Marketing GmbH.
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