: "Erste Schritte in Richtung Präzisionsmedizin Neurotraumatologie werden jetzt gemacht"

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Neurotraumatologie
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1,5 Millionen Patienten werden EU-weit jedes Jahr aufgrund einer Kopfverletzung in einer Klinik aufgenommen, rund 57.000 von ihnen versterben. Das Schädel-Hirn-Trauma (SHT) ist eines der häufigsten Krankheitsbilder auf der NeuroIntensivstation. Auch wenn SHT-Patienten heute eher überleben als noch vor 50 Jahren, haben sich die Ergebnisse nach Abschluss der Behandlung noch nicht entscheidend verbessert – das SHT führt immer noch häufig zu erheblichen Behinderungen.
 „In Zeiten der Präzisionsmedizin, wie sie sich gegenwärtig z.B. in der Onkologie entwickelt, kann die traditionelle Einteilung in leichtes, moderates und schweres SHT anhand der ‚Glasgow Coma Scale‘ nicht mehr überzeugen“, gibt Prof. Dr. med. Oliver W. Sakowitz (Ludwigsburg), Neurochirurg und Präsident der Deutschen Gesellschaft für NeuroIntensiv- und Notfallmedizin (DGNI), zu bedenken. „Weitere  historische Klassifikationen allerdings noch weniger. Die Behandlungspfade – gleich ob operativ, konservativ oder sekundär-operativ –, sind facettenreich und größtenteils nur mit niedrigem klinischen Evidenzniveau belegt.“ Bis heute sei das SHT nur schlecht charakterisiert, beteiligte Behandler müssten ihre Therapieentscheidungen immer wieder individuell abwägen und die klinischen Endergebnisse seien heutzutage nicht signifikant besser als vor 50 Jahren. Doch scheint jetzt eine gesamteuropäische Untersuchung traumatischer Hirnverletzungen „den Startschuss für einen möglichen Zeitenwechsel in der Neurotraumatologie“ abzugeben, so Prof. Sakowitz. Die ersten Ergebnisse zur aktuellen CENTER-TBI Studie von Ewout W. Steyerberg  (Leiden, Niederlande) mit seinem Team erschienen in der hochrangigen wissenschaftlichen Fachzeitschrift „Lancet Neurology“.
In dieser ersten gebündelten Arbeit zum Case Mix, den Behandlungspfaden und den klinischen Ergebnissen wurden die Daten von insgesamt 4.509 Patientenfällen aus 18 europäischen Ländern und Israel sowie von 22.782 Patientenfällen aus einem parallel geführten strukturierten Register ausgewertet. Von Dezember 2014 bis Dezember 2017 wurden an insgesamt 65 Zentren alle Patienten mit klinischer Diagnose „SHT“ und der Indikation zur cranialen Computertomographie (CT) in die Studie eingeschlossen, wenn sie innerhalb von 24 Stunden nach dem Ereignis untersucht werden konnten. Sie wurden, der individuellen Behandlung entsprechend, in drei verschiedene Gruppen eingeordnet: Notaufnahme, reguläre Aufnahme oder Intensivstation.
Während in der Kernstudie eine detaillierte Datenerfassung multipler Aspekte des SHT mit epidemiologischen Daten, klinischen Parametern, Bildgebung, Blutwerten und Behandlungsintensität erfolgte, wurden im Register in erster Linie administrative sowie einfache kennzeichnende Daten zur Überprüfung der Generalisierbarkeit erfasst. Indem erste Analysen zur Bildgebung durch CT und MRT mit Messwerten von SHT-relevanten Biomarkern zusammengefasst wurden, zeigte sich, dass die Betroffenen nicht mehr dem Bild „ansonsten gesunder junger Männer“ entsprachen. Im Vergleich zu früheren Studien waren die Patienten älter und kränker. Das mittlere Alter lag bei 50 Jahren, 28% der Patienten waren älter als 65 Jahre. Etwa 11% hatten schwere Komorbiditäten und 18% nahmen zum Zeitpunkt des Unfalls blutverdünnende oder gerinnungshemmende Medikamente. Die Mortalität war mit 15% auf den Intensivstationen niedriger als erwartet, doch war das klinisch-neurologische Ergebnis nach 6 Monaten bei 43% der Patienten schlechter als zuvor angenommen.
Wie Prof. Sakowitz hervorhebt, komme dem „leichten SHT“, das für Intensivmediziner weniger bedeutsam erscheine, durch die Häufigkeit und gesellschaftliche Aspekte – z.B. im Rahmen von Sport- und Freizeitverletzungen – ein besonderes Interesse zu. Dass etwa 25% der Patienten aus der Notaufnahme-Gruppe nach 6 Monaten noch nicht zu ihrem Befinden vor dem SHT zurückgefunden habe, sei „angesichts der Tatsache, dass diese Patienten oft ohne besondere Nachsorge und ohne therapeutische Optionen aus der Notaufnahme entlassen werden, ein ernüchterndes Ergebnis“. In der prähospitalen Behandlung sowie den späteren Behandlungspfaden fanden sich substanzielle Unterschiede zwischen den Ländern der EU. „Es wird sicher noch einige Jahre brauchen, bis sich durch erste Erkenntnisse aus diesen Studien unser Vorgehen auf den NeuroIntensivstationen verändern wird“, zeigt sich Prof. Sakowitz überzeugt, „Aber die ersten Schritte in Richtung ‚Neurotraumatologischer Präzisionsmedizin‘ werden jetzt gemacht!“
Hintergrund
Die Grundlagen der CENTER-TBI Netzwerkstudie „Collaborative European NeuroTrauma Effectiveness Research in TBI“ (https://www.center-tbi.eu) mit einem Gesamtbudget von über 39 Millionen Euro und einem internationalen Forscherteam aus über 300 Wissenschaftlern wurden bereits 2017 in einer Sonderausgabe der „Lancet Neurology“ zusammengefasst. Die komplexe Datenauswertung zu den verschiedenen Aspekten des SHT erfolgt aufgrund unterschiedlicher Datensammlungen z.B. der Bildgebung, Genanalysen, physiologischen Daten, Daten aus der Serumanalytik von Blutgerinnung und Biomarkern. Dass bei der akribischen Erfassung dieser Daten sowie der Daten zur konkreten Behandlung der betroffenen Patienten, je nach Land und Zentrum, enorme Variationen zu erwarten seien, sollte mit den statistischen Mitteln des comparative effectiveness research (CER) zu einem Vorteil „umgemünzt“ werden. Im Vergleich von Versorgungsketten und Behandlungskontexten  versucht die breit angelegte Beobachtungsstudie den aktuellen Entwicklungsstand zu erfassen.
Die CENTER-TBI Studie „International Initiative for Traumatic Brain Injury Research“ (https://intbir.nih.gov) wurde als Europäischer Arm auf dem Hintergrund der internationalen InTBIR-Studie entwickelt – ein seit 2011 aufgesetztes gemeinsames Rahmenprogramm der European Commission (EC), des Canadian Institutes of Health Research (CIHR) und des National Institutes of Health (NIH). Die Vernetzung mit zeitgleich durchgeführten Observationsstudien in den USA, Kanada, Australien, Neuseeland und China soll es zukünftig ermöglichen, präzisere Vorhersagen zu treffen, unter welchen Bedingungen welches SHT optimal behandelt werden kann.
 
 
  Die Deutsche Gesellschaft Gesellschaft für NeuroIntensiv- und Notfallmedizin (DGNI):
Die Deutsche Gesellschaft für NeuroIntensiv- und Notfallmedizin e.V. (DGNI) ist eine medizinische Fachgesellschaft, die sich für alle Belange der neurologischen und neurochirurgischen Intensivmedizin einsetzt. Mitglieder der Gesellschaft sind in erster Linie Neurologen und Neurochirurgen wie auch Pflegekräfte und Therapeuten, die in der Wissenschaft, Forschung und Gesundheitspolitik die Interessen der Intensivmedizin fördern. Die Gesellschaft setzt sich für den Erhalt und den Ausbau von spezialisierten neurologischen und neurochirurgischen Intensivstationen ein, damit den schwerstkranken neurologischen und neurochirurgischen Patienten eine fachgerechte Behandlung zuteil wird.

Herausgeber:
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