SWR2 : Die Geschäftemacherei mit Nahrungsmittel-Unverträglichkeiten . Von Anja Schrum und Ernst-Ludwig von Aster

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cerascreen GmbH
Güterbahnhofstraße 16
D-19059 Schwerin

SWR2:  Angst vor Gluten, Laktose & Co.

Sendung: Mittwoch, 1. Juli 2015, 08.30 Uhr
Wiederholung: Mittwoch, 3. August 2016, 08.30 Uhr
Redaktion: Sonja Striegl
Regie: Sonja Striegl
Produktion: SWR 2015
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

INHALT
MANUSKRIPT
Atmo: Messehalle / Glücksrad…
Sprecher:
Unermüdlich dreht sich ein Glücksrad in Halle 26 b. Messebesucher stehen Schlange beim Gewinnspiel eines großen Backwarenherstellers. Jeder Zweite gewinnt einen gluten-freien Powersnack.
Atmo hochziehen
Sprecher:
Ernährungs-Glücksspiel auf der Internationalen Grünen Woche in Berlin Anfang des Jahres. 1.200 Aussteller, mehr als 400.000 Besucher. Erstmals dabei: eine ganze Halle nur für „Vegetarier, Veganer und Allergiker“.
Atmo hochziehen
Sprecher:
An ihrem Stand nimmt Britta Diana Petri einen Schluck von einem tiefgrünen Getränk, das in einem kompostierbaren Becher schwappt.
Take 1 - Britta Diana Petri:
Der grüne Drink, da haben wir flüssiges Chlorophyll drin, filtriertes, ionisiertes grünes Wasser, dann haben wir drin „supergreens“, das sind verschiedene Gräser und Kräuter, das ist ein sehr grünes, sehr klares Getränk, was sehr fein schmeckt, eher wie ein Tee. Wollen sie gerne mal probieren eins? Ich gebe einen aus?
ANSAGE / Sprecherin:
„Angst vor Gluten, Laktose & Co. - Die Geschäftemacherei mit Nahrungsmittel-Unverträglichkeiten“. Eine Sendung von Anja Schrum und Ernst-Ludwig von Aster.
Sprecher:
Neugierig stoppen die Besucher am Stand der Rainbow-Way Academy. Probieren Chlorophyll-Drinks und Rohkostteller. Seit vier Jahrzehnten ernährt sich Petri vegetarisch, als Rohkostlerin verzichtet sie auch aufs Kochen und Erhitzen.
Take 2 - Britta Diana Petri:
Die meisten denken, aah Salat, es ist nicht nur Salat. Es ist eine vegane Vitalkost, Roh, vegan, glutenfrei. Und mit sehr vielen Geschmackserlebnissen. Es kommen viele Leute, es kommt auch Publikum, was sonst nicht auf Fachmessen kommt.
Sprecher:
Die Besucher stehen, trinken, kauen und staunen. Eine Mittvierzigerin, einige Einkaufstüten in der Hand, probiert vom Rohkostteller. Sie hat sich für den Messebesuch extra freigenommen. „V-delicious“ (Aussprache Englisch) heißt trendig der vegan-vegetarische Teil, „Allergy and free-from-show“ der Gesundheitsbereich.
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Take 3 - Besucherin:
Ich habe ja mehrere Unverträglichkeiten, so dass ich gucken muss, was ich esse, damit ich nicht in den Mangel komme, weil ich keine Milch, und kein Gluten und kein Histamin, muss ich halt gucken, was ich esse. Und dann esse ich das, wonach mein Körper ruft…
Sprecher:
„Der Umsatz von Speziallebensmitteln steigt bis zu 20 Prozent pro Jahr“, jubilieren die Messeveranstalter. „Jeder dritte Deutsche leidet unter Allergien, Unverträglichkeiten, Asthma oder Neurodermitis“, umschreiben sie das Marktpotential.
Atmo: Glücksrad
Sprecher:
Ein Großbäcker lockt mit glutenfreien Backwaren, daneben gibt es „organische Power-Riegel“ mit viel Liebe hergestellt. Und garantiert ohne Laktose und Nüsse. Ein Stück weiter wirbt ein Unternehmen für seine Pille vor dem Essen: „Verzichten sie aufs Verzichten“. „Der Schlüssel zum Genuss bei Histamin-Intoleranz“. Histamin ist ein körpereigener Botenstoff. Er findet sich aber auch in Lebensmitteln wie Fisch oder Rotwein.
Atmo: Glücksrad
Sprecher:
An Stand Nr. 202 sitzen Vater und Sohn auf Messehockern an einem niedrigen Tisch. „Kein Mensch verträgt jedes Lebensmittel gleich gut“, warnt ein Infoblatt. So wirbt die Firma „Cerascreen“ (sprich: Sära-screen/screen englisch) für ihren Test auf Nahrungsmittelallergien und -Unverträglichkeiten.
Take 4 - Vater:
In dieser Halle bin ich zufällig gelandet, weil sie ja eigentlich nicht so dazugehört zur Grünen Woche. Aber da er Unverträglichkeiten hat oder wir zumindest mal den Verdacht hatten und die Ärzte das nicht rausgefunden hatten, dachten wir mal, machen wir das mal. Und das ist ja auch ein Mutiger. Und so ein kleiner Nadelstich macht ja anscheinend nichts.
Sprecher:
Schweigend nickt der Neunjährige. Olaf Schneider von Cerascreen nimmt vorsichtig seine Hand, pikst in die Fingerkuppe. Langsam tropft Blut in ein transparentes Plastikröhrchen:
Take 5 - Kind / Olaf Schneider:
Schneider: Dann brauchen wir so ungefähr acht bis zehn Tropfen Blut, die wir hier in dem kleinen Röhrchen sammeln. Kind: Und was machen sie dann mit dem Blut? Schneider: Das Blut schicken wir dann ins Labor, das ist ein Einsendetest, den kann man auch selber zuhause durchführen ... so das war´s.
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Sprecher:
Olaf Schneider verschließt und beschriftet das Röhrchen mit der Blutprobe. Notiert die Anschrift.
Take 6 - Olaf Schneider:
Wir werten einmal Nahrungsmittelallergien und Nahrungsmittelunverträglichkeiten aus... Und wir können mit den Lebensmitteln, die wir untersuchen, 95 Prozent der in Europa auftretenden Lebensmittelallergien identifizieren.
Sprecher:
Ein Nahrungsmittelunverträglichkeitstest „to go“. Schnell und ohne Arztbesuch. Der Vater nickt zufrieden.
Take 7 - Vater:
Jetzt müssen wir mal gucken, was das Ergebnis bringt, ich bin mal gespannt... Also er hat Rötungen im Gesicht, wenn er bestimmte Sachen isst, aber wir wissen nicht, was es ist. Jetzt wollen wir mal so einen Test machen.
Atmo: Glücksrad - Kreuzblende mit Atmo: Schritte / Flur
Take 8 - Armin Valet:
So, also da gehen wir gerade mal durch… so das ist mein Reich.
Sprecher:
Während in Berlin die Lebensmittel-Branche für ihre neuesten Produkte wirbt, beschäftigt sich Armin Valet ((sprich: Walee) in Hamburg mit den Schattenseiten des Geschäfts. Ein großes Büro, zwei Schreibtische, ein schöner Blick über die engen Straßen des Stadtteils St. Georg - das ist sein Reich. Dutzende Aktenordner stehen in den Regalen. Darüber thronen, wie Zinnen von einem gigantischen Legoschloss, große Plastikkisten. Jede fasst 64 Liter. Und ist vollgestopft mit Lebensmittelverpackungen
Take 9 - Armin Valet:
Hier sehen sie ist alles voll, wir haben mal zu health claims was gemacht, einen Marktcheck, ja mit den Gesundheitsversprechen.
Sprecher:
Einkaufen, auspacken, analysieren. Seit 15 Jahren beobachtet Armin Valet das Geschäft mit den Nahrungsmitteln. Der Lebensmittelchemiker arbeitet für die Verbraucherzentrale Hamburg. Einmal im Jahr rücken er und seine Kollegen zum Großeinkauf aus. Marktcheck nennen sie das
Take 10 - Armin Valet:
Wir gehen in die Supermärkte und gucken was da angeboten wird, gucken uns das genauer an. Und gucken das natürlich mit unseren Augen an: Sind da verbotene Werbesprüche drauf, wir haben ja jetzt die health claims Verordnung, die seit einiger Zeit gilt. Und da gibt es schon klare Vorgaben, was erlaubt ist und was nicht.
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Sprecher:
Die Health-Claims-Verordnung der EU regelt die Nährwert- und gesundheitsbezogenen Angaben auf Lebensmitteln. Wollen Hersteller mit gesundheitsbezogenen Argumenten für ihre Produkte werben, müssen sie ein aufwändiges Zulassungsverfahren durchlaufen.
Fast jeder Trend der Nahrungsmittelbranche befüllt in Valets Büro einen eigenen Plastikcontainer. Jede Fehlentwicklung ist in einem Ordner dokumentiert: Ob Analogkäse oder Mogelpackungen:
Take 11 - Armin Valet:
Wenn man so einen Trend am Anfang noch packen kann, wenn man da die Öffentlichkeit bekommt, dann kann man den auch noch aufhalten mit Aufklärung. Andere Trends sind schon so groß, dass man mit Aufklärung dann nicht mehr so viel erreichen kann. - Der „Frei von“-Markt natürlich es ist immer ein Thema.
Sprecher:
Der „Frei von“-Markt sorgt seit Jahren für steigende Umsätze in der Lebensmittelbranche. Ob zuckerfrei, glutenfrei oder laktosefrei - das was nicht im Produkt ist, wird immer mehr zum Verkaufsargument.
Take 12 - Armin Valet:
Vorher waren es Nischenprodukte. Und dann hat es die Industrie entdeckt. Und die Industrie springt jetzt auf. Wir haben ja jedes Supermarktregal voll, es gibt sogar extra Regale mit diesen „Frei von“ Laktose oder ohne Gluten. Und das ist das Interessante, weil in dem Bereich wirklich noch Geld zu verdienen ist, große Konzerne wie Nestle wollen wirklich in diesen Gesundheitsmarkt.
Sprecher:
Valet greift zu einer Anzeige aus der „Lebensmittelzeitung“, dem Leib- und Magenblatt der Nahrungsmittelbranche. Ganzseitig wirbt der Schweizer Konzern für sein neuestes Produkt: „Glutenfrei, Trendbewusst. Designstark“. Es geht um Cornflakes... „Neuer Konsumenten Trend“, frohlocken die Werber. Weiter heißt es, Zitat: „Viele Konsumenten, die glutenfreie Produkte kaufen, haben keine Glutenunverträglichkeit, verzichten aber auf Gluten, da sie sich damit besser fühlen“. Missbilligend schüttelt Valet den Kopf. Rund ein Prozent der Bevölkerung leidet an der sogenannten Zöliakie, einer schweren Glutenunverträglichkeit. Und muss das sogenannte Klebe-Eiweiß aus gesundheitlichen Gründen meiden. Nestle aber hat vor allem die gesunden Verbraucher im Blick. Denn nur die garantieren einen hohen Absatz.
Take 13 - Armin Valet:
Große Konzerne wollen auch ganz offensiv im Marketing nicht nur die Erkrankten oder die Verbraucher ansprechen die da eine Unverträglichkeit haben: Nein, es ist ein Trendprodukt, ein Modeprodukt und da will man mit aufspringen.
Sprecher:
Die Profitmargen im „Frei von“-Markt sind gigantisch. Bis zu dreimal mehr kassieren die Hersteller für Produkte, bei denen sie mal auf Gluten verzichten, mal auf Laktose,
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haben die Verbraucherschützer bei ihren Untersuchungen herausgefunden. Nicht eine Krankheit verlockt in den meisten Fällen zum Kauf. Sondern die Angst vor ihr.
Take 14 - Armin Valet:
Wir aber meinen, dass das nicht der richtige Weg ist, Verbraucher anzusprechen, die überhaupt nicht erkrankt sind, die dann aber oft das Doppelte oder Dreifache bezahlen sollen. Es ist natürlich auch unsere Arbeit, die Verbraucher aufzuklären, ihnen klar und deutlich zu machen: Ihr müsst dieses Produkt nicht kaufen, es bringt euch kein bisschen mehr Gesundheit. Das ist aber schwierig. Weil es einfach gerade ein Trendprodukt ist, ein Lifestyleprodukt, wo man gerne zugreift und gerne auch mehr bezahlt.
Sprecher:
Dreimal so viele Menschen wie 2007 kaufen mittlerweile laktosefreie Produkte, berichtet die Gesellschaft für Konsumforschung. 23 Prozent der Verbraucher geben an, auf bestimmte Lebensmittel zu verzichten, da sie diese nicht vertragen.
Atmo: Charité / Flur
Sprecher:
Berlin, Universitätsklinikum Charité. Dutzende Patienten warten auf dem langen Flur des Allergiezentrums. Auf dem Schreibtisch von Margitta Worm stapeln sich rote Patientenakten. Die Professorin leitet die Hochschulambulanz, ist spezialisiert auf Allergologie und Ernährungsmedizin.
Take 15 - Margitta Worm:
Wir haben hier eine Sprechstunde zur Nahrungsmittelunverträglichkeit. Wobei hier als Allergiezentrum unser Schwerpunkt darauf liegt, dass wir uns um Patienten kümmern, die schwere allergische Reaktionen auf Nahrungsmittel erlitten haben. Es melden sich Patienten mit ganz diversen Symptomen und Problematiken, also nicht nur Allergie sondern auch Unverträglichkeit.
Sprecher:
Nahrungsmittelunverträglichkeit und Allergie. Ein Begriffspaar, das oft gemeinsam auftritt. Und meist für Verwirrung sorgt. Streng genommen ist die Allergie eine Form der Nahrungsmittelunverträglichkeit. Eine, bei der das Immunsystem auf bestimmte Nahrungsmittel reagiert.
Take 16 - Margitta Worm:
Insgesamt die Häufigkeit der Nahrungsmittelunverträglichkeit ist so bei zwei bis drei, zwei bis vier Prozent. Zwei Drittel davon sind Allergien, ein Drittel sind nicht allergische Unverträglichkeiten.
Sprecher:
Anamnese, Hauttest, Bluttest, eventuell Provokation - eine allergische Reaktion ist medizinisch in der Regel gut nachweisbar. Schritt für Schritt lassen sich so problematische Lebensmittel identifizieren. Bei den Erwachsenen trifft es oft jene, die bereits unter einer Birkenpollenallergie leiden.
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Take 17 - Margitta Worm:
Und dann haben wir eben bei den Erwachsenen diese pollenassoziierten Nahrungsmittelallergien, also jemand, der Birkenpollenallergie, hat, Heuschnupfen im Frühjahr, der hat dann vielleicht durch die Ähnlichkeit der Eiweißstoffe Probleme mit Apfel, Nuss und Mandelkern, sage ich immer…
Sprecher:
Rund zwei Prozent der Erwachsenen leiden heute unter einer Nahrungsmittelallergie. In der gesamten Bevölkerung liegt der Anteil der Betroffenen zwischen drei und vier Prozent.
Take 18 - Margitta Worm:
Und wenn wir jetzt nochmal differenzieren, Erwachsene, Kinder, dann ist es so, bei Kindern hat die Nahrungsmittelallergie eine Häufigkeit von fünf bis sechs Prozent und bei den Erwachsenen von ungefähr zwei Prozent. Und bei den Kindern ist eben immer wichtig: Der höchste Anteil findet sich bei Kindern zwischen dem ersten und sechsten Lebensjahr. Und auch wichtig zu wissen für Eltern ist, dass zum Beispiel eine Milcheiweiß- und auch eine Hühnereiweißallergie sich wieder zurückbilden kann.
Sprecher:
Bei fast zwei Dritteln der Kinder hören die allergischen Reaktionen bis zum Beginn des Schulalters auf. Warum ist bis heute nicht geklärt.
Neben Allergikern suchen an der Charité immer wieder Patienten Hilfe, die über Unverträglichkeiten klagen, deren Beschwerden aber nichts mit einer Überreaktion des Immunsystems zu tun haben:
Take 19 - Margitta Worm:
Dazu gehört die häufigste Form, zum Beispiel die Aversion, ich habe also ein negatives Ereignis, wenn ich etwas gegessen habe und wenn ich beim nächsten Mal dieses Nahrungsmittel sehe, zum Beispiel Kartoffelsalat mit Ei, dann wird mir komisch. Dann gehört dazu die Milchzuckerunverträglichkeit, dann die Pseudoallergie oder auch Histamin-Intoleranz.
Sprecher:
Bei der Laktose-Unverträglichkeit mangelt es dem Körper an einem Enzym, das den Milchzucker aufspaltet. Ein Atemtest kann diese Form der Intoleranz schnell und sicher diagnostizieren. Ganz anders bei der Fruktose-Unverträglichkeit. Hier wird, das Verdauungssystem durch die veränderte Ernährung schlicht überlastet, besonders durch den Zusatz von vermeintlich gesundem Fruchtzucker in vielen Produkten:
Um nichtallergische Unverträglichkeiten nachzuweisen, bleibt meist nur der „Provokationstest“: Der Patient muss das verdächtige Lebensmittel zu sich nehmen, die körperliche Reaktion wird genau beobachtet. Allerdings ist dies nur der erste Schritt:
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Take 20 - Margitta Worm:
Jetzt ist immer wichtig, dass eben auch unsere Psyche einen großen Einfluss hat auf Reaktionen. Das ist bei jedem Menschen so. Und deshalb sollte man solche Testungen immer placebokontrolliert durchführen, das heißt der Betroffene bekommt dann einmal den Zusatzstoff und einmal Kapseln wo auch nichts enthalten ist, um diese, wir nennen das dann unspezifische Reaktionen, von realen Reaktionen abzugrenzen.
Sprecher:
Ein aufwändiges Prozedere. An dessen Ende manchmal auch der Freispruch für ein zuvor verdächtigtes Lebensmittel steht. Allerdings akzeptieren nicht alle Patienten diese Art von Diagnose:
Take 21 - Margitta Worm:
Wir haben auch Patienten, wo wir in der Provokation das vielleicht nicht bestätigen konnten und die dann aber gesagt haben: Wenn ich die Diät mache, fühle ich mich besser. Und ihr Essverhalten nicht ändern wollten. Ich denke, da erreichen wir dann auch die Grenze. Unsere Aufgabe ist zu diagnostizieren, zu beraten…
Sprecher:
Wenn die Selbstdiagnose für den Patienten wichtiger ist als der medizinische Befund, dann kann auch Margitta Worm daran nichts ändern. Bei Nahrungsmitteln scheinen viele Verbraucher hochsensibilisiert. In Umfragen bejaht fast ein Viertel der Erwachsenen allergische Reaktionen auf Lebensmittel. Mit medizinisch gesicherten Daten lassen sich diese Zahlen nicht auf einen Nenner bringen.
Take 22 - Margitta Worm:
Das ist ja auch ein bisschen modebedingt, dass viele im Internet recherchieren und dann gucken, welche Diagnose könnte für mich passen. Also die Nachfrage ist groß und das Interesse ist groß, aber in der Realität, dass was wir jetzt sehen, dass wir Patienten das nachweisen, muss man doch sagen, kann ich nicht zustimmen, dass wir da einen dramatischen Anstieg haben…
Sprecher:
Schon sprechen viele Mediziner vom „Morbus google“, der krankmachenden Symptom-Suche via Internetrecherche. Verstärkt wird dieser Trend zur Selbstdiagnose noch durch eine Vielzahl von Testangeboten im Internet.
Take 23 - Margitta Worm:
Patienten zahlen 300 Euro, erstens haben sie Kosten und zweitens haben sie dann 20 Seiten mit Nahrungsmitteln, die sie angeblich nicht vertragen. Das haben wir schon gehabt: Patienten die sagen; Ich bin ganz verzweifelt: Gemäß diesem Test kann ich ganz viel nicht vertragen. Was soll ich denn jetzt machen?
Geräusch-Take: Straße / Schwerin
Sprecher:
Die Güterbahnhofstraße in Schwerin. Kopfsteinpflaster führt zu alten Verladehallen der Bahn. Zwischen den Gehwegplatten wächst Gras.
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Atmo: Labor / Purifier...
Sprecher:
Im Keller eines alten Postgebäudes surrt ein sogenannter Purifier (Aussprache englisch: Pjuriefeie). Verarbeitet mal Birkenpollen. Mal Ananas. Mehr als 600 Allergene stellt die Firma DST hier in ihren Laboren her. Die sie weltweit an Kliniken und Ärzte vertreibt. Oft mit den dazugehörigen Testsystemen.
Take 24 - Marc Dangers:
Das hier ist der vorletzte Schritt, der Reinigungsschritt über eine große Säule, sie sehen, das war etwas was gelb war, das war mit Sicherheit ein Pollen. Die Allergene werden dann gesammelt.
Sprecher:
Dr. Marc Dangers, ein großer, schlanker Niedersachse, leitet bei DST die Forschung und Entwicklung. Neben ihm steht Olaf Schneider. Er ist der Geschäftsführer der jüngsten DST-Tochter: Cerascreen ((sprich: Sära-Screen/Screen englisch). Seit 2012 vertreibt sie Test-Sets über das Internet. „Finden Sie jetzt mit einem einfachen Test heraus, welche Lebensmittel Sie nicht gut vertragen und verbessern Sie Ihr Wohlbefinden!“ wirbt das Unternehmen.
Take 25 - Olaf Schneider:
Wir merken deutlich, dass das Interesse nach den Tests steigt. Wir haben letztes Jahr den Absatz ungefähr vervierfacht. Und jetzt in den ersten Monaten ist die Entwicklung ähnlich…
Sprecher:
Aus der ganzen Republik schicken Kunden ihre Blutstropfen an das Unternehmen. Auf der Suche nach problematischen Nahrungsmitteln.
Take 26 - Olaf Schneider:
Das heißt, jemand kommt mit einer Beschwerde, beispielsweise mit Magenschmerzen zum Arzt. Und macht dort einen Allergietest. Und kriegt dort häufig das Ergebnis, wir konnten nichts finden, das muss an was anderem liegen.
Sprecher:
Bei allergischen Reaktionen produziert der Organismus Antikörper vom Typ IgE (sprich: I-G-E). Ein sicherer Hinweis auf eine Immun-Antwort. Deshalb gehört die IgE-Bestimmung zum diagnostischen Handwerkszeug aller Allergologen. Auch bei Cerascreen sucht man nach diesem Antikörpertyp.
Take 27 - Olaf Schneider:
Grundsätzlich sind wir schon wissenschaftlich ausgerichtet, und deswegen liegen uns die IgE-Werte also sehr nahe, das sind die Allergie-Werte, die auch beim Arzt gemessen werden. Allerdings haben wir aus vielen Gesprächen mit Heilpraktikern und auch Apotheken die Erfahrung gemacht, dass die reinen IgE-Werte nicht weiterhelfen.
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Sprecher:
Weil sie keinen Befund liefern. Und die Patienten trotzdem über Beschwerden klagen. Darum haben Schneider und seine Kollegen die Test-Palette erweitert. Und bestimmen auch noch Antikörper vom Typ IgG4 (sprich: I-G-G-4). Die werden von Ärzten in der Regel nicht berücksichtigt, da sie nichts über ein Krankheitsgeschehen aussagen. Das Cerascreen-Team sieht das hinsichtlich Nahrungsmittel-Unverträglichkeiten anders:
Take 28 - Olaf Schneider:
Und dann haben wir eben in diesen Gesprächen mit Heilpraktikern, Apothekern und Ernährungsberatern rausgefunden, dass es über IgG4-Werte erklärt werden kann. Das ist nicht immer so, das kann aber in Einzelfällen der Fall sein.
Sprecher:
„Erfahrungsmedizinisch“ gäbe es oft einen Zusammenhang von IgG4-Antikörpern im Blut und Nahrungsmittelunverträglichkeiten, schreibt Cerascreen auf seiner Homepage. „Erfahrungsmedizinisch“ heißt schlicht, dass ein wissenschaftlich eindeutiger Nachweis fehlt.
Müdigkeit, Blähbauch, Konzentrationsstörungen, Magenschmerzen, innere Unruhe, Übergewicht, trockene Haut. Verdauungsprobleme. All das kann - laut Cerascreen - auf eine Nahrungsmittelunverträglichkeit hindeuten. Bei Kopfschmerzen, Übelkeit, Hautreizungen oder Menstruationsbeschwerden, könnte es sich dagegen um eine Histamin-Intoleranz handeln. Auch dafür hat Cerascreen einen Test im Angebot. Die Ergebnisse gibt es als Befundbericht:
Take 29 - Olaf Schneider:
Das ist ein PDF, das man sich in dem Kundenbereich herunterladen kann, dazu gibt es zwei Tabellen: einmal zu den Allergien und einmal zu den Unverträglichkeiten. Und zu allen Nahrungsmitteln, zu denen wir irgendwas gefunden haben, gibt es nochmal einen individuellen Text. Und dann gibt es auch noch weitere Texte. Wie man mit den Befunden umgehen kann, was man da machen könnte.
Sprecher:
In jedem Befundbericht findet sich die Warnung, auf keinen Fall alle Nahrungsmittel auf einmal zu vermeiden. Sondern Schritt für Schritt auszuprobieren, ob ein Verzicht das Wohlbefinden verbessert. Gleichzeitig bietet das Unternehmen seinen Kunden noch einen Extra-Service.
Take 30 - Olaf Schneider:
Basierend auf dem Test für Nahrungsmittel-Allergien und -Unverträglichkeiten haben wir auch ein eigenes Produkt, also ein eigenes Nahrungsergänzungsmittel entwickelt. Es ist ein individualisierter Protein-Shake. Je nachdem was ich für ein Stoffwechseltyp bin, welche Proteine ich vertrage, mischen wir tatsächlich für jeden Kunden individuell einen Proteinshake, das ganze kommt aus dem Profisportbereich.
Sprecher:
Vom Test über die Diagnose bis zum Nahrungsergänzungsmittel - alles aus einer Hand. Ein umfassendes Geschäftsmodell. „Wir sind Gesundheitsdienstleister“, sagt Olaf Schneider. Für alle, die nicht krank sind:
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Take 31 - Olaf Schneider:
Leute, die krank sind, die sollen zum Arzt gehen. Das sehen wir genauso, wie es auch vorgesehen ist… Wir sehen uns eigentlich als die Ergänzung, wenn die Schulmediziner nicht weiterhelfen können, es wurde eben keine Krankheit mehr festgestellt und es gibt von der Krankenversicherung eben auch kein Budget mehr für den Arzt. Und die Patienten haben eben trotzdem noch ein Problem, dass sie gerne lösen möchten…
Geräusch-Take: Tastatur / Tastatur Immupro…, da ist es ja
Take 32 - Jörg Kleine-Tebbe:
Hier im Internet gibt es zum Beispiel Anbieter, die gleich 270 Nahrungsmittel auf einen Streich im Test anbieten.
Sprecher:
Langsam schüttelt Dr. Jörg Kleine-Tebbe den Kopf. Der Allergologe blickt streng durch die große Brille.
Take 33 - Jörg Kleine-Tebbe:
Diese Tests können gar nicht unterscheiden, ob jemand tatsächlich eine Unverträglichkeit oder eine Überempfindlichkeit auf bestimmte Lebensmittel hat. Weil diese IgG-Antikörper werden ohnehin durch das Immunsystem produziert. Einfach als Zeichen, dass wir als menschliche Organismen das wir ein fremdes Eiweiß zu uns genommen haben. Insofern ist es eher ein Hinweis dafür, ok du hast schon mal dieses Nahrungsmittel zu Dir genommen.
Sprecher:
Kleine-Tebbe sitzt auch im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Allergologie. Seit Jahren warnen er und seine Kollegen regelmäßig vor dubiosen IgG4-Tests. 2009 schlossen sich Fachgesellschaften aus ganz Europa dem Votum an.
Take 34 - Jörg Kleine-Tebbe:
Aber es hat nicht verhindern können, dass nach wie vor diese Labors diese Tests anbieten. Und wir finden auch immer wieder neue Labors, die unter neuen Bezeichnungen, neuen Namen und neuen Marken diese Tests versuchen zu vermarkten.
Sprecher:
Dass sich medizinische Testsysteme entgegen der Empfehlung aller Fachgesellschaften am Markt halten, und sogar ihr Angebot ausweiten, ist ungewöhnlich. Ein Indiz dafür, dass in dem diagnostischen Graubereich viel Geld verdient werden kann:
Take 35 - Jörg Kleine-Tebbe:
Es ist ein heikles Thema warum trotzdem diese Tests weiterhin empfohlen werden. Es ist immer wieder mal vermutet worden, das es ein sogenanntes Cashback-System gibt, dass also derjenige, der den Test empfohlen hat, und veranlasst hat, dass der letztendlich auch durch eine Rückvergütung davon profitiert. Allerdings gibt es dafür keine Beweise. Und das macht es dann schwierig, der ganzen Sache auf den Grund zu gehen.
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Sprecher:
Wie so oft im Geschäft mit den Nahrungsmittel-Unverträglichkeiten. Dubiose Hilfs- und Heilsversprechen haben dort seit Jahren Konjunktur.
In vielen Fällen ergänzen sich diagnostische und diätetische Angebote. Auch die Ratgeber-Literatur profitiert vom weitverbreiteten Unverträglichkeits-Empfinden. Mal heißt es „Wenn Essen krank macht“, mal die „unentdeckte Krankheit“. Als Auslöser unspezifischer Beschwerden, wird mal der eine, mal der andere Nahrungsmittelbestandteil ausgemacht. Gerade hat mal wieder Histamin Konjunktur. Ein körpereigener Botenstoff, der auch in Nahrungsmitteln wie Rotwein oder Fisch vorkommt. Mehr als zehn Patientenratgeber hat Kleine-Tebbe zum Thema „Histamin-Intoleranz“ gezählt. Kochbücher nicht mitgerechnet.
Take 36 - Jörg Kleine-Tebbe:
Histamin ist ja ein Botenstoff, den wir im Körper dringend benötigen. Dieser Botenstoff kennt verschiedene Rezeptoren, das heißt also, das sind die Schlüsselstellen, wo das Histamin binden kann. Und wir kennen mittlerweile vier Rezeptortypen.
Sprecher:
Einer vermittelt Juckreiz, einer steuert die Magensäuresekretion, ein anderer den Wach-Schlafrhythmus. Der vierte kontrolliert wahrscheinlich Immunreaktionen. Ein komplexes Regulations-Management steuert den Histamin-Haushalt im Körper.
Take 37 - Jörg Kleine-Tebbe:
Aber leider ist es so, wir haben keine Möglichkeit mit Hilfe von Labortests oder anderen Tests diese sogenannte Histamin-Intoleranz nachzuweisen.
Sprecher.
Denn eine Provokation mit dem lebenswichtigen Botenstoff ist meist zu riskant. Da bleibt also nur die Ausschlussdiagnose. Bei der alle anderen möglichen Ursachen zuerst überprüft und gegebenenfalls ausgeschlossen werden. Eine langwierige und mühsame Prozedur. Da setzen viele Patienten lieber gleich auf die Eigen-Diagnose.
Take 38 - Jörg Kleine-Tebbe:
Insofern ist die Histamin-Intoleranz doch etwas, was uns große Probleme bereitet. Weil sehr viele sich diese Diagnose selbst gestellt haben und damit dann letztendlich Ärzte zu denen sie gehen, regelrecht verunsichern, weil sie gar nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen... Bevor jemand den Begriff Histamin-Intoleranz von ärztlicher Seite in den Mund nimmt, sollte er sich klar sein, was er damit anrichtet, Das bohrt sich in den Kopf. Und geht nie wieder raus bei den Betroffenen.
Atmo: (Blättern) „Dann ist was frei von, haben wir da Laktose, das ist Gluten, hier ist Laktose, das ist Gluten, 1,2,3,4,5,7. Und da habe ich frei von…“
Sprecher:
In Hamburg sortiert Armin Valet Ratgeber für Mitarbeiter der Verbraucherzentralen. Damit alle Kollegen Schritt halten mit der rasanten Entwicklung auf dem Lebensmittelmarkt, in dem immer mehr Produkte mit dem „Frei von“-Label in die Regale drängen.
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Take 39 - Armin Valet:
Zum Teil sind ja Produkte wie zum Beispiel Hartkäse frei von Laktose weil während der Reifung, die sind ja manchmal monatelang gereift, bauen die Mikroorganismen, die Milchsäurebakterien, bauen die Laktose ab. Und quasi sind laktosefrei diese Produkte. Es ist eigentlich ja eine Werbung mit Selbstverständlichkeiten im Lebensmittelrecht verboten.
Sprecher:
Und darum zogen die Verbraucherschützer vor Gericht. Und argumentierten: Wenn von Natur aus keine Laktose im Produkt ist, darf es auch nicht mit „laktosefrei“ beworben werben.
Take 40 - Armin Valet:
Da haben wir leider Schiffbruch erlitten: Die meisten Richter sahen das anders, sahen das als eine Information nur für den Verbraucher, die Verbraucherinnen. Deswegen müssen wir jetzt weiter aufklären und den Verbrauchern sagen: Also das ist oft ein Marketingtrick.
Sprecher:
Die Vermarktung des Nichts. Zum Vielfachen des Preises. Ein wahres Wunder der Wertschöpfung.
Ein Trost aber bleibt Armin Valet. Die „Frei-von-Produkte“ schädigen nur die Kasse der Verbraucher. Und nicht die Gesundheit. Das gilt jedoch nur für Erwachsene. Für gesunde Kinder könnte die Ernährung mit „Frei-von-Produkten“ ernste Folgen haben. Denn wenn ihr Immunsystem nicht ausreichend gefordert wird, entwickeln Kinder vermutlich eher Unverträglichkeiten...
Take 41 - Armin Valet:
Diese Trends, die da auf dem Markt sind, die sind wirklich mit Skepsis zu betrachten. Nur, wenn eine Diagnose vorliegt, wenn jemand erkrankt ist, dann müssen die Maßnahmen ergriffen werden. Sonst doktert man hier doch sehr viel herum. Und oftmals nicht zum Vorteil der Kinder…
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