Inkontinenz - Blase & Darm . Wenn Blase und Darm schwächeln

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ÜBERBLICK

"Wo ist die nächste Toilette?" oder "Wo kann ich mich waschen?"
Um diese Fragen dreht sich der Alltag von Menschen mit Inkontinenz. Was für die meisten selbstverständlich ist, funktioniert einfach nicht mehr: Sie schaffen es nicht, Harn oder Stuhl  zu halten.

Rund neun Millionen Deutsche leben nach Schätzungen der Deutschen Kontinenzgesellschaft mit diesem Problem. Meist schamhaft, zurückgezogen, von der Umwelt unbemerkt.
Es trifft keineswegs nur ältere Frauen. Unter Blasen- und Darmschwäche leiden zum Beispiel Männer nach Prostata-OPs, junge Frauen nach schweren Geburten, Spitzensportlerinnen nach stark belastendem Training oder junge Männer nach misslungener Hämorrhoiden-Operation.Sechzig Prozent bleiben unbehandelt
Außerdem ist sie mögliche Begleiterscheinung bei Erkrankungen wie Multiple Sklerose oder Parkinson, erklärt Professor Axel Haferkamp. Der Urologe ist Vorsitzender der Deutschen Kontinenzgesellschaft und leitet ab April die Urologische Klinik der Universitätsmedizin Mainz.
Er schätzt, dass etwa 60% aller Patienten unbehandelt bleiben: weil sie aus Scham nie einen Arzt aufsuchen. Doch nicht nur die Patienten verschweigen ihr Problem, Ärzte reißen sich – vorsichtig ausgedrückt – auch nicht gerade um Patienten mit Blasen- oder Darmschwäche. Denn verschämte Patienten treffen nicht selten auf überforderte Ärzte. Das Ergebnis ist dann das, was man in Fachkreisen das "doppelte Schweigen" nennt.
Angelika Sonnenberg ist "Fachkraft für Kontinenzstörungen" – eine der ganz wenigen in Deutschland. Deshalb kommen die Patientinnen und Patienten aus ganz Deutschland zu ihr in die Kontinenzsprechstunde eines Kölner Krankenhauses. Das Besondere: Hier können sie zunächst einfach nur reden. Über ihre Beschwerden, ihre Scham, die Scheu zum Arzt zu gehen.
 
Viele Möglichkeiten
Verhaltenstraining oder Hilfsmittel wie Pessare und harnröhren-stabilisierende Tampons – Angelika Sonnenberg hat viele Tipps. Was sinnvoll ist, hängt stets von der Ursache der Kontinenz ab: Erschlafftes Gewebe? Gebärmuttervorfall? Fehlstellungen der Harnwegsorgane?
Ohne eine ärztliche Untersuchung geht es auch bei vielen Patienten nicht. Doch Angelika Sonnenberg macht Mut zu diesem nächsten Schritt: mit ihrer selbstverständlichen und gelassenen Art. Und ihrer persönlichen Erfahrung mit dem Thema.
Machen kann man eine ganze Menge. Wäre Inkontinenz nur nicht so furchtbar peinlich. Offenbar hängt das Tabuthema damit zusammen, dass  es zum "Großwerden" dazu gehört, seine Ausscheidungen zu kontrollieren. Wer das nicht mehr schafft, fühlt sich ohnmächtig, zurückversetzt ins Kleinkindalter. Erst recht, wenn er oder sie plötzlich Windelhöschen trägt. Inkontinenz ist eben auch eine "soziale Erkrankung".
Formen der Inkontinez
"Belastungsinkontinenz" ist die häufigste Form der Inkontinenz. Die Patienten verlieren Urin bei muskulärer Belastung des Bauchraums und des Beckens: etwa beim Lachen, Husten und Niesen. Gründe können schwaches Bindegewebe oder komplizierte Geburten sein.
Neben der Belastungsinkontinenz gibt es die so genannte "Dranginkontinenz", bei der die Patienten das Gefühl haben, ihre Blase würde überlaufen. Sie ist medikamentös behandelbar, die Wirkstoffgruppe nennt sich "Anticholinergika".
Bei der "Überlaufinkontinenz" kann die Blase hingegen nicht mehr vollständig entleert werden und der Urin fließt tröpfchenweise und unkontrolliert heraus. Alle drei Formen gibt es sowohl bei Männern als auch bei Frauen.
Minimale Methoden
Große Operationen sind die Ausnahme. Gängiger sind minimalinvasive Methoden: wie Botoxinjektionen in den Blasenmuskel, die helfen, dass der Urin längere Zeit gespeichert werden kann. Oder der operative Einsatz eines "spannungsfreien Bändchens" – auch "Schlingen-OP" genannt.
Die Schlinge, die auch Männern helfen kann, stabilisiert die Harnröhre und verhindert, dass in Belastungssituationen Urin abgeht. Die Erfolgsraten liegen zwischen 50 und 70 Prozent. Risiken sind Verletzung der Blase, Narbenbildung oder dass das Bändchen einfach nicht richtig sitzt.
Männer müssen sich mit dem Thema Inkontinenz aber in erster Linie im Rahmen einer Prostata-Krebs-Operation beschäftigen. Die Blasenschwäche ist dann oft eine – meist vorübergehende – Begleiterscheinung.  Eine, die die Krebspatienten zusätzlich belastet.
Zwei Dritteln kann mit Beckenbodentraining geholfen werden
Ende November 2015: Jahrestagung der Deutschen Kontinenzgesellschaft in München. Mediziner unterschiedlicher Fachrichtungen treffen sich hier um sich auszutauschen: über neue Operationsmethoden und neue Behandlungswege.
Genau wie bei der Harninkontinenz steht auch bei der Stuhlinkontinenz vor jeder Therapie eine umfassende Diagnostik. Neben Dammschnitten und Dammrissen, Bestrahlungen oder Entzündungen des Dickdarms können Operationen an Wirbelsäule oder Mastdarm die Ursache der Darmschwäche sein.
Zwei Drittel aller Patienten kann allein mit einem Beckenbodentraining geholfen werden: biofeedbackgestützt und unter physiotherapeutischer Anleitung – das ist entscheidend für den Erfolg. Bei nur jedem Dritten kommt überhaupt eine Operation infrage. Früher wurde oft ein künstlicher Schließmuskel implantiert, heute ersetzt diese OP in den meisten Fällen der Darmschrittmacher.
Schrittmacher im Gesäß
Bei dieser Methode – auch sakrale Neuromodulation genannt – wird dem Patienten ein scheckkartengroßer Schrittmacher ins Fettgewebe des oberen Gesäßes implantiert. Dieses Gerät ist verbunden mit  ebenfalls implantierten Elektroden, die die Sakralnerven rechts und links des Kreuzbeins stimulieren.
Der Darm wird enger. Studien am Kölner Heilig-Geist-Krankenhaus haben gezeigt, dass 60 bis 70 Prozent der so operierten Patienten den Stuhl besser halten können. Einen ähnlichen Schrittmacher gibt es auch bei Blasenschwäche.
Doch egal ob Harn- oder Stuhlinkontinenz, ob Therapie durch Hilfsmittel, Medikamente oder Operationen: Wichtig ist, darüber zu sprechen! Das fällt umso leichter, je gelassener und offener die Ärzte mit dem Thema umgehen, findet Monika Scheibe, die Leiterin der Initiative Beckenboden am Kölner Heilig-Geist-Krankenhaus.
 
Das Thema aus der Tabuecke herauszuholen ist auch deshalb so wichtig, weil diese Erkrankung in Alten- und Pflegeheimen zum Alltag gehört. Das heißt: Mit steigender Lebenserwartung werden die Patientenzahlen zunehmen.
Aber wie sollen Pfleger das Thema ansprechen? Wie kann eine gute Versorgung aussehen – auch bei Hochbetagten? Im Jahr 2001 untersuchte die Berliner Charité Probleme in der Pflege in Pflegeheim und Krankenhaus. Von den 2.300 Personen in der Studie litten 53% unter Blaseninkontinenz und knapp 30% unter Stuhlinkontinenz.
Allein in Pflegeheimen sind zwei von drei Bewohnern harninkontinent. Oft aber nicht allein, weil organische Ursachen vorliegen. Manchmal nur deshalb, weil sie nicht mehr rechtzeitig den Weg zur Toilette finden. Begleitung ist personalintensiv.
Erhaltung der Mobilität, Toilettentraining, beckenbodenfreundliches, d.h. aufrechtes Sitzen – all das sind Wege, mit der Inkontinenz umzugehen und sie zu lindern. Zuvor aber muss über das Thema gesprochen werden. Offen und empathisch. Das können Ärzte und Pflegekräfte, die täglich damit zu tun haben, in der Regel besser als Patienten.
Die Mediziner auf dem Münchener Kongress Ende des Jahres 2015 resümierten übereinstimmend, dass es sich lohnt, das Thema aus der Tabuecke herauszuholen. Alle, die sich eingehend mit der Inkontinenz beschäftigen, erleben am Ende überaus glückliche Patienten.
SWR2 Wissen. Von Karin Lamsfuß. Internetfassung: J. Schneider & R. Kölbel.
Stand: 8.3.2016, 16.50 Uhr


MANUSKRIPT
O-Ton 1 - Johanna Bost:
Das fing relativ früh an, da muss ich so ungefähr 34, 35 gewesen sein, da hab ich gemerkt, dass ich wesentlich häufiger auf Toilette musste und vor allen Dingen, dass ich das nicht mehr so halten konnte…
O-Ton 2 - Annemarie Groß:
Treppe runter, hoppala. Tröpfchen in der Hose. Auf jeden Fall war’s dann mal so dermaßen schlimm: Wenn ich nur ein bisschen bergab gegangen bin, lief’s!
O-Ton 3 - Richard Seelbach:
Also bin ich auch neun Monate mit solchen Einlagen rumgelaufen, mit zwei Kilo teilweise in der Hose…
O-Ton 4 - Annemarie Groß:
Gut, dass wir weite Röcke haben an den Dirndln: Dann lief’s in die Schuhe, und da hat’s dann schwapp schwapp gemacht….
O-Ton 5 - Johanna Bost:
Später kam hinzu noch, was mir sehr peinlich war, dass ich nachts Urin abgelassen habe, ohne dass ich das merkte.
Sprecherin:
„Wo ist die nächste Toilette?“, „Wo kann ich mich waschen?“ Um diese Fragen dreht sich der Alltag von Menschen mit Inkontinenz. Was für die meisten selbstverständlich ist, funktioniert einfach nicht mehr: Sie schaffen es nicht, Harn oder Stuhl zu halten. Rund neun Millionen Deutsche leben nach Schätzungen der Deutschen Kontinenzgesellschaft mit diesem Problem. Meist schamhaft, zurückgezogen, von der Umwelt unbemerkt.
Ansage:
„Tabuthema Inkontinenz – Wenn Blase und Darm schwächeln“. Eine Sendung von Karin Lamsfuß.
O-Ton 6 - Johanna Bost:
Das Allerpeinlichste ist, wenn die Vorlage nicht mehr ausgereicht hat, und man steht mit nassen Hosen da. Und es kann irgendeiner mitkriegen. Man hat immer das Gefühl, jeder müsste das riechen!
Sprecherin:
Es trifft keineswegs nur ältere Frauen. Unter Blasen- und Darmschwäche leiden zum Beispiel Männer nach Prostata-OPs, junge Frauen nach schweren Geburten, Spitzensportlerinnen nach stark belastendem Training oder junge Männer nach misslungener Hämorrhoiden-Operation. Außerdem ist sie mögliche Begleiterscheinung bei Erkrankungen wie Multiple Sklerose oder Parkinson, erklärt Professor Axel Haferkamp. Der Urologe ist Vorsitzender der Deutschen Kontinenzgesellschaft und leitet ab April die Urologische Klinik der Universitätsmedizin Mainz.
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Er schätzt, dass etwa 60 % aller Patienten unbehandelt bleiben: weil sie aus Scham nie einen Arzt aufsuchen.
O-Ton 7 - Axel Haferkamp:
Es wird von den Betroffenen verschwiegen, und Männer verschweigen ganz besonders, sie finden letztendlich Strategien, wie sie mit ihrer Inkontinenz umgehen – von Vorlagen bis hin zu, dass sie jede Toilette in der Stadt kennen, bis zur Reduktion der Trinkmenge sind das alles Möglichkeiten, die Männer schon machen bevor sie einen Arzt aufsuchen. Und sie werden häufig von ihren Partnern dazu gedrängt, weil z. B. Bettwäsche und Ähnliches immer nass ist.
Sprecherin:
Doch nicht nur die Patienten verschweigen ihr Problem, Ärzte reißen sich – vorsichtig ausgedrückt – auch nicht gerade um Patienten mit Blasen- oder Darmschwäche.
O-Ton 8 - Axel Haferkamp:
Das Wissen ist bei allen medizinischen Fachgruppen nicht gleich verteilt, dazu kommt, dass diese Patienten relativ aufwendig sind, die Diagnostik, wenn man das vollständig machen will, ist aufwendig, d. h. ein Patient, der zu einem niedergelassenen Arzt geht, beansprucht relativ viel von dessen Zeit, und das ist in einer Praxis mit einem hohen Patientendurchsatz oft für den Arzt schwierig leistbar.
Sprecherin:
Verschämte Patienten treffen nicht selten auf überforderte Ärzte. Das Ergebnis ist dann das, was man in Fachkreisen das „doppelte Schweigen“ nennt. Das wollen Mediziner wie Axel Haferkamp und viele seiner Kollegen dringend ändern. Denn:
O-Ton 9 - Axel Haferkamp:
In der Regel kann man allen Patienten helfen: Das reicht von konservativen Therapien wie Beckenbodentraining über kleinere operative Therapien wie Bändchen bis hin zu großen Harnableitungsoperationen als Ultima Ratio, aber es gibt nahezu niemanden, dem man nicht die Situation verbessern kann.
Sprecherin:
Bei Johanna Bost fing es mit Mitte 30 an. Sie stand mitten im Leben, war gefordert in ihrem stressigen Job als Arzthelferin, in dem oft kaum eine Minute blieb, in Ruhe die Toilette aufzusuchen.
O-Ton 10 - Johanna Bost:
Das fing erst im Kleinen an, mit Husten, Niesen, und man sagt: Hoppla, da ist was danebengegangen. Am Anfang sind das nur ein paar Tropfen, und dann denkt man sich noch nichts dabei und sagt ‚die Blase ist halt entzündet, verkühlt oder sonstiges’, aber das lässt dann eben nicht nach, sondern wird immer mehr, dass man eigentlich nach ner Zeit nicht mehr mit ner Slipeinlage auskommt, weil die so viel Feuchtigkeit gar nicht aufnimmt.
Sprecherin:
Zum Arzt traute sich Johanna Bost zunächst nicht. Sie dokterte fünf Jahre lang alleine an ihren Symptomen herum. Zu wem sollte sie auch gehen? Zum Urologen, zur Gynäkologin? Oder lieber erst mal zum Hausarzt?
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Von den „Kontinenz- oder Beckenbodenzentren“ – die es an manchen Uni-Kliniken oder in großen Krankenhäusern gibt, hatte sie nichts gewusst. Diese Zentren wurden eingerichtet, weil die Inkontinenz in der Regel facharztübergreifend untersucht und behandelt werden muss.
Prof. Christl Reisenauer ist Urogynäkologin und leitet das Beckenbodenzentrum der Universitäts-Frauenklinik Tübingen. Bei jeder Patientin klärt sie in einer ausführlichen Diagnostik ab: Gibt es organische Fehlstellungen? Welche Form der Inkontinenz liegt vor? Was sind die Ursachen? Und die können vielfältig sein:
O-Ton 11 - Christl Reisenauer:
Bei den Frauen kann – muss aber nicht – eine Bindegewebsschwäche vorliegen, es kann ne familiäre Vorbelastung da sein, aber alle Faktoren, die den Beckenboden belasten wie Übergewicht, Schwangerschaft, Geburt, schwere körperliche Arbeit können negative Auswirkungen auf den Beckenboden haben und letztendlich dann ne Blasenschwäche zur Folge.
Sprecherin:
Ausführliches Gespräch, gynäkologische Untersuchung, Urinuntersuchung, Ultraschall der Blase, der Harnröhre und Gebärmutter, gegebenenfalls Blasenspiegelung und Blasendruckmessung – all dies kann Auskunft über die Ursache der Blasenschwäche geben. Ob die dann mit Medikamenten, speziellem Beckenbodentraining oder einer Operation therapiert wird, ist von Fall zu Fall verschieden. Oft reichen auch einfache Hilfsmittel, die den Alltag mit der Krankheit erträglicher machen – ganz ohne Eingriff:
Reportage Angelika Sonnenberg:
Das ist so ein Vaginaltampon, und das sind die Würfelpessare. Gibt‘s alles in unterschiedlichen Größen, von klein bis groß und noch größer…
Sprecherin (darüber):
Angelika Sonnenberg ist „Fachkraft für Kontinenzstörungen“ - eine der ganz wenigen in Deutschland. Deshalb kommen die Patientinnen und Patienten bis aus Baden-Baden zu ihr in die Kontinenzsprechstunde eines Kölner Krankenhauses.
Das Besondere: Hier können sie einfach nur reden. Über ihre Beschwerden, ihre Scham, die Scheu zum Arzt zu gehen.
An diesem Tag ist eine 72-Jährige in der Beratung, die allerdings nicht vors Mikrophon möchte. Sie verliert Urin bei der kleinsten Belastung: wenn sie die Haustür aufschließt oder schwere Einkaufstüten nach Hause trägt:
Reportage Angelika Sonnenberg:
Ich hab ein paar Ideen, wie ich Ihnen helfen kann, dann wäre es nötig, dass Sie über drei Tage ein Miktionsprotokoll führen, d. h. ihre Urinmenge messen und es gibt eine Notfallbewegung, die Sie vor der Haustür machen können, damit Sie dann in Ruhe den Schlüssel rumdrehen können.
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Sprecherin:
Verhaltenstraining oder Hilfsmittel wie Pessare und Harnröhren-stabilisierende Tampons – Angelika Sonnenberg hat viele Tipps. Was sinnvoll ist, hängt stets von der Ursache der Kontinenz ab: Erschlafftes Gewebe? Gebärmuttervorfall? Fehlstellungen der Harnwegsorgane? Ohne eine ärztliche Untersuchung geht es auch bei dieser Patientin nicht. Doch Angelika Sonnenberg macht ihr Mut zu diesem nächsten Schritt: mit ihrer selbstverständlichen und gelassenen Art. Und ihrer persönlichen Erfahrung mit dem Thema:
O-Ton 12 - Angelika Sonnenberg:
Mit 28 nach ner sehr schweren Schwangerschaft und Entbindung war ich ein Jahr lang inkontinent und hab dann nach einem Jahr gewagt, die Gynäkologin zu fragen, wie das denn jetzt weitergeht, und die hat mal die Schultern gezuckt und gesagt „Ja, was soll ich denn machen?“
Sprecherin:
Machen kann man eine ganze Menge. Wäre Inkontinenz nur nicht so furchtbar peinlich. Offenbar hängt das Tabuthema damit zusammen, dass es zum „Großwerden“ dazu gehört, seine Ausscheidungen zu kontrollieren. Wer das nicht mehr schafft, fühlt sich ohnmächtig, zurückversetzt ins Kleinkindalter. Erst recht, wenn er oder sie plötzlich Windelhöschen trägt. Inkontinenz ist eben auch eine „soziale Erkrankung“.
O-Ton 13 - Johanna Bost:
Ich habe nicht mehr Sport getrieben, wir sind nicht mehr ausgegangen zum Tanzen, immer nur versteckt.
Sprecherin:
Johanna Bost, bei der die Erkrankung schon mit Mitte 30 begann, leidet unter „Belastungsinkontinenz“. Sie ist die häufigste Form der Inkontinenz. Die Patienten verlieren Urin bei muskulärer Belastung des Bauchraums und des Beckens: etwa beim Lachen, Husten und Niesen.
O-Ton 14 - Christl Reisenauer:
Die Belastungsinkontinenz entsteht dadurch, dass die Harnröhre nicht mehr optimal verankert ist im kleinen Becken. Und wenn der Druck im Bauch ansteigt, wird der Druckanstieg fortgeleitet in Richtung Beckenboden, die Harnröhre ist nicht mehr stabil, kippt dann nach hinten und nach unten weg, und in dem Moment geht Urin unwillkürlich ab, und es kommt drauf an, wie voll die Blase ist, können kleinere oder größere Mengen Urin abgehen.
Sprecherin:
Neben der Belastungsinkontinenz gibt es die so genannte „Dranginkontinenz“, bei der die Patienten das Gefühl haben, ihre Blase würde überlaufen. Sie ist medikamentös behandelbar, die Wirkstoffgruppe nennt sich „Anticholinergika“.
Bei der „Überlaufinkontinenz“ kann die Blase hingegen nicht mehr vollständig entleert werden und der Urin fließt tröpfchenweise und unkontrolliert heraus. Alle drei Formen gibt es sowohl bei Männern als auch bei Frauen.
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O-Ton 15 - Johanna Bost:
Irgendwann wurde es dann so schlimm, was mir dann am unangenehmsten war, dass ich nachts Urin abgelassen habe, ohne dass ich das merkte. Ich wurde dann nur wach, weil ich im Nassen lag. Das konnte ich nun gar nicht mehr steuern. Und das konnte ich auch nicht verstecken!
Sprecherin:
Ihr Partner zeigte Verständnis – auch wenn das Liebesleben schon lange auf Sparflamme köchelte. Trotzdem war klar, dass es so nicht weitergehen konnte. Sie fasste sich ein Herz und ging zu einem Urologen. Der stellte fest, dass sich ihre Blase gesenkt hatte und operativ angehoben werden musste. Seitdem hat für sie ein neues Leben begonnen.
Große Operationen wie diese sind die Ausnahme. Gängiger sind minimalinvasive Methoden: wie Botox-Injektionen in den Blasenmuskel, die helfen, dass der Urin längere Zeit gespeichert werden kann.
Oder der operative Einsatz eines „spannungsfreien Bändchens“ – auch „Schlingen-OP“ genannt, erklärt Christl Reisenauer von der Uni-Frauenklinik Tübingen.
O-Ton 16 - Christl Reisenauer:
Die Schlinge besteht aus einem Kunststoff, Polypropylene, ist etwa einen knappen Zentimeter breit und wird unter die mittlere Harnröhre gelegt, die Patientin erhält eine örtliche Betäubung und ein Schmerzmittel bzw. ein Beruhigungsmittel, es wird im Ultraschall kontrolliert, ob die Patientin die Blase gut entleeren kann, und wenn das der Fall ist, dann darf sie am nächsten Tag das Krankenhaus wieder verlassen.
Sprecherin:
Die Schlinge, die auch Männern helfen kann, stabilisiert die Harnröhre und verhindert, dass in Belastungssituationen Urin abgeht. Die Erfolgsraten liegen zwischen 50 und 70 Prozent. Risiken sind Verletzung der Blase, Narbenbildung oder dass das Bändchen einfach nicht richtig sitzt.
Männer müssen sich mit dem Thema Inkontinenz aber in erster Linie im Rahmen einer Prostata-Krebs-Operation beschäftigen. Die Blasenschwäche ist dann oft eine – meist vorübergehende – Begleiterscheinung. Eine, die die Krebspatienten zusätzlich belastet.
Atmo: Beckenbodentraining
Sprecherin:
Beckenbodentraining im physiotherapeutischen Zentrum des Heilig-Geist-Krankenhauses in Köln.
Der Patient, Anfang fünfzig, möchte anonym bleiben. Vor zwei Monaten wurde er an der Prostata operiert. Seitdem ist er harninkontinent und muss regelmäßig seinen Beckenboden trainieren. „Beckenboden“: Bis vor kurzem wusste er noch nicht einmal, dass er einen hat… jetzt aber weiß er, wie wichtig dieses schalenförmige Netz aus Muskeln und Bindegewebe ist, das alle Organe im Bauchraum stabilisiert.
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O-Ton 17 - Alexander Osieja:
Und bitte anspannen! (Musik ertönt) Und anspannen! Ja, jetzt sieht man auch sehr deutlich, dass die Muskulatur arbeitet! Und entspannen! Und wieder anspannen.
Sprecherin:
Der Patient hat es sich auf der Liege bequem gemacht. Physiotherapeut Alexander Osieja hat ihm Elektroden an die Innenseite der Oberschenkel geklebt. Ziel der so genannten biofeedbackgestützten Methode ist es, dass der Patient während des Trainings ein Signal erhält, ob er die richtigen Muskeln anspannt.
Die Kurve auf dem Bildschirm schnellt sofort in den gelben Bereich. Die Bestätigung für den Patienten, dass er alles richtig macht. Das erfordert nicht nur eine gute Körperwahrnehmung, sondern auch eisernes tägliches Training:
O-Ton 18 - Patient (anonym):
Ich übe das auch zwischen den Therapien hier, zu Hause, jeden Tag mache ich Übungen! Meistens zwei Mal täglich, am Vormittag und am Abend, spanne ich die Muskeln dann an, 10 Sekunden und dann locker lassen.
Sprecherin:
Der Patient ist hoch motiviert. Er will so schnell wie möglich wieder arbeiten. Von Beruf ist er Opernsänger, da muss er die dreistündigen Proben durchstehen – und dabei „trocken bleiben“.
Reportage Beckenbodentraining:
Physio:
Sie sagen mir, wenn’s für Sie deutlich an Druckgefühl im Bereich der Peniswurzel zu spüren ist, ich regele jetzt hoch.
Sprecherin:
Danach folgt die Elektrostimulation, bei der die Beckenbodenmuskulatur von außen mit sanften Stromstößen aktiviert wird.
Patient:
Das kann auch viel stärker sein.
Physio:
Kann noch stärker sein?
Sprecherin:
Der Physiotherapeut notiert die Messwerte und ist zufrieden mit der Steigerung der Beckenbodenkraft seines Patienten. Der Erfolg zeigt sich schon nach der vierten Sitzung:
O-Ton 19 - Patient (anonym)
Früher hab ich das Gefühl gehabt, es läuft ein bisschen – und jetzt eigentlich nichts.
Sprecherin:
Der Mann ist kein Einzelfall, wie die Sportwissenschaftlerin Prof. Birgit Schulte-Frei erzählt. Sie hat dieses spezielle Beckenbodentraining im Rahmen einer Studie an
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der Hochschule Fresenius begleitet. Alle 76 teilnehmenden Inkontinenz-Patienten haben von dem Beckenbodentraining profitiert. Und nicht nur das:
O-Ton 20 - Birgit Schulte-Frei:
Wir konnten zum einen statistisch belegen, dass sich hochsignifikant alle Probleme verbessert haben, und in der tagtäglichen Behandlung sehen wir auch, dass wir den Patienten immer weiterhelfen können. Es geht in der Regel allen Patienten besser.
Sprecherin:
Manche Patienten aus dieser Studie waren am Ende komplett kontinent, bei anderen wurden die Beschwerden massiv gelindert. Ein Allheilmittel ist das biofeedbackgestützte Beckenbodentraining dennoch nicht.
O-Ton 21 - Birgit Schulte-Frei:
Die Grenzen sind dann, wenn wir z. B. eine Diagnose haben mit einer entsprechenden Absenkung der Organe, oder eine Inkontinenz, wo wir konkrete organische Störungen in großem Ausmaß vorfinden, dort können wir allein durch Physiotherapie nichts mehr erreichen.
Atmo: Kongress
Sprecherin:
Ende November 2015. Jahrestagung der Deutschen Kontinenzgesellschaft in München. Mediziner unterschiedlicher Fachrichtungen treffen sich hier um sich auszutauschen: über neue Operationsmethoden und neue Behandlungswege.
Männliche Patienten zu finden, die über ihre Krankheit sprechen, war nicht ganz einfach. Richard Seelbach ist die große Ausnahme. Er versteht die Zurückhaltung seiner Leidensgenossen nicht.
O-Ton 22 - Richard Seelbach:
Es gibt ja so Foren „Was kann ich machen? Dauernd Hose voll!“ Und dann bin ich auch schon mal reingegangen: „Herrgott, lasst euch doch dieses Ding implantieren, dauert ne dreiviertel Stunde, und euch geht’s glänzend, das Leben geht ganz normal weiter“, aber da ist keine Reaktion. Es gibt da viele, die sind nicht so offen oder die verschanzen sich in ihrem ganz kleinen Elend.
Sprecherin:
„Das Ding implantieren“ heißt: Richard Seelbach trägt einen künstlichen Blasenschließmuskel. Nach einer radikalen Prostata-OP half bei ihm kein Beckenbodentraining mehr. Zu viele wichtige Funktionen waren zerstört. Der Endsechziger ist heute glücklich mit seinem künstlichen Blasenschließmuskel – und jettet damit munter durch die Welt. Es gebe nichts, so meint er, worauf er verzichten müsse.
O-Ton 23 - Richard Seelbach:
Man sieht ihn nicht: Er ist im Hodensack implantiert, und innerhalb in dem Bereich ist so ein Blasebalg, der den Ausgleich macht zur Blase.
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Das heißt: wenn ich drücke, dann entleert sich die Blase. Also man kann da nicht stoppen und sagen: den Rest morgen, sondern der leert sich auf einmal und ist ne ganz simple Angelegenheit, und geht ganz toll.
Sprecherin:
Ein dreiviertel Jahr nach der Prostata-OP sei er wieder vollkommen „trocken“ gewesen, erzählt Richard Seelbach. Er lebe gut mit seinem Implantat, das allerdings nach einigen Jahren ausgetauscht werden muss.
Atmo: Kongress
Sprecherin:
Der Münchner Kongress ist die Gelegenheit für viele Patienten ihre Erfahrungen auszutauschen. Selbsthilfegruppen können über ihre Anliegen sprechen oder ein weiteres Tabu brechen: Stuhlinkontinenz. Mutig vors Mikrofon tritt Annemarie Groß. Sie leitet eine Selbsthilfegruppe in Tulling bei München und ist selbst betroffen.
O-Ton 24 - Annemarie Groß:
Es war fürchterlich! Morgens, ziemlich früh, frühstücken, schauen, dass der Stuhlgang kam, Badewanne, möglichst mit Dusche oder mit Handdusche und dann kann man in die Arbeit gehen. Und versuchen, dass kein weiterer Stuhlgang kommt.
Sprecherin:
Alles fing an mit einem misslungenen Dammschnitt. Dabei gelangten Bakterien in die Wunde, es folgten weitere OPs, bei denen alles schief ging, was schief gehen konnte: Der Schließmuskel wurde durchtrennt und dann falsch zusammengenäht. Nach insgesamt acht Operationen in einem Zeitraum von 20 Jahren hatte Annemarie Groß keine Lust mehr auf Ärzte.
Sie beschloss, ihren eigenen Weg zu suchen. Das hieß: mit der Einschränkung zu leben und vor allem Freundschaft mit ihrem Körper zu schließen, der ihr schon so viele Probleme bereitet hatte:
O-Ton 25 - Annemarie Groß:
Man kann seinen Körper nicht eklig finden. Der gehört einem halt! Man muss damit umgehen können und fertig werden. Und schauen, dass man irgendwo Hilfe auftreibt!
Sprecherin:
Hilfe bekam sie schließlich beim Proktologen. Eine Broschüre mit Analtampons lag im Wartezimmer. Das gefiel ihr: selbstverantwortlich das Problem in den Griff kriegen. Die richtige Größe war schnell gefunden, und seitdem fühlt sich Annemarie Groß wieder sicher.
O-Ton 26 - Annemarie Groß:
Ich hab’s schon lernen müssen. Irgendwo brauchst du deinen Humor, sonst gehst du unter.
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Sprecherin:
Die Kontinenz-Selbsthilfe Tulling trifft sich einmal im Monat im dörflichen Gemeindehaus. Um Werbung dafür zu machen, klebt Annemarie Groß selbstbewusst Plakate und erzählt jedem offen davon, der es hören möchte. Sie kennt auch andere in der Gegend, die das gleiche Problem haben wie sie.
O-Ton 27 - Annemarie Groß:
Das weiß jeder, dass ich da meine Einschränkungen hab, und vom Dorf gibt’s welche, die sagen: Ich hätt’s auch, aber ich komm nicht.
Sprecherin:
Ihr größter Wunsch ist, weitere Betroffene aus der Scham zu holen. Dass es weit mehr sind, als man annimmt, berichten die anderen aus der Selbsthilfegruppe. Sobald sie das Schweigen brechen, käme plötzlich heraus, dass es die Schwester hat, und die Oma hatte es auch. Und sogar die Nachbarin druckst rum, denn die hat es womöglich auch!
Die Männer haben übrigens oft keine Ahnung vom versteckten Leid der Frauen. Dabei sind rund 5 % der Bevölkerung von Stuhlinkontinenz betroffen, Frauen wie Männer, so Dr. Monika Scheibe, Chirurgin und Leiterin der Initiative Beckenboden am Kölner Heilig-Geist-Krankenhaus. Manche leben zehn bis 15 Jahre schweigend damit, bevor sie sich jemandem anvertrauen:
O-Ton 28 - Monika Scheibe:
Die verstecken sich vor ihren Partnern, die verstecken sich vor ihren Familienangehörigen, laufen immer zum Klo unter fadenscheinigen Vorwänden, haben hohen Windelkonsum, haben immer Ersatz dabei, kennen jede Toilette, und das bringt die Patienten in eine Ecke, wo sie sich einfach nur verstecken.
Sprecherin:
Genau wie bei der Harninkontinenz steht auch bei der Stuhlinkontinenz vor jeder Therapie eine umfassende Diagnostik. Neben Dammschnitten und Dammrissen, Bestrahlungen oder Entzündungen des Dickdarms können Operationen an Wirbelsäule oder Mastdarm die Ursache der Darmschwäche sein.
Um das herauszufinden macht Monika Scheibe eine Schließmuskeldruckmessung, einen Ultraschall des Schließmuskels, eine Enddarmspiegelung oder eine Mastdarmspiegelung:
O-Ton 29 - Monika Scheibe:
Das hört sich schlimm an, aber wenn man wissen will, woran die eigene Inkontinenz liegt, ist gar nichts schlimm.
Sprecherin:
Zwei Drittel aller Patienten kann allein mit einem Beckenbodentraining geholfen werden: biofeedbackgestützt und unter physiotherapeutischer Anleitung – das ist entscheidend für den Erfolg. Bei nur jedem Dritten kommt überhaupt eine Operation infrage. Früher wurde oft ein künstlicher Schließmuskel implantiert, heute ersetzt diese OP in den meisten Fällen der Darmschrittmacher:
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Bei dieser Methode – auch sakrale Neuromodulation genannt – wird dem Patienten ein scheckkartengroßer Schrittmacher ins Fettgewebe des oberen Gesäßes implantiert. Dieses Gerät ist verbunden mit ebenfalls implantierten Elektroden, die die Sakralnerven rechts und links des Kreuzbeins stimulieren.
O-Ton 30 - Monika Scheibe:
Der Darmschrittmacher ist eine Möglichkeit, den Schließmuskel und den Beckenboden zu aktivieren über Sonden, die über das Kreuzbein zu den Nerven geführt werden. Es gibt verschiedene vegetative Nerven, die da aktiviert werden, das führt letztendlich zu einer Aktivierung des Gesamtsystems, weil in einer bestimmten Frequenz dieser Schrittmacher pulst, als Nebenbefund kommt es zu einer verbesserten Durchblutung des Darms, d. h. zu einer Polsterung des Darms.
Sprecherin:
Der Darm wird enger. Studien am Kölner Heilig-Geist-Krankenhaus haben gezeigt, dass 60 bis 70 Prozent der so operierten Patienten den Stuhl besser halten können. Einen ähnlichen Schrittmacher gibt es auch bei Blasenschwäche.
Doch egal ob Harn- oder Stuhlinkontinenz, ob Therapie durch Hilfsmittel, Medikamente oder Operationen: Wichtig ist, darüber zu sprechen! Das fällt umso leichter, je gelassener und offener die Ärzte mit dem Thema umgehen, findet Monika Scheibe, die Leiterin der Initiative Beckenboden am Kölner Heilig-Geist-Krankenhaus:
O-Ton 31 - Monika Scheibe:
Der Enddarm gehört genauso zum Menschen wie die Zähne, und die Speiseröhre und der Magen, und das riecht auch nicht toll! Aber es gehört einfach zum Menschen dazu! Und ich bin der Meinung: Man muss damit offen umgehen. Weil sonst kann man keine Heilung kriegen, und das ist dann der Supergau: Wenn man dann als Stuhlinkontinente – und meistens sind es Frauen – die haben dann immer ihre Hose voll. Das finde ich eigentlich unmenschlich!
Sprecherin:
Das Thema aus der Tabuecke herauszuholen ist auch deshalb so wichtig, weil diese Erkrankung in Alten- und Pflegeheimen zum Alltag gehört. Das heißt: Mit steigender Lebenserwartung werden die Patientenzahlen zunehmen.
O-Ton 32 - Elke Kuno:
Früher gab’s bösartige Zungen, die sagten: Ein Fuß im Pflegeheim – schon hat man ne Vorlage an, ob man’s braucht oder nicht… das denk ich, kann man so nicht mehr sagen.
Sprecherin:
Sagt Elke Kuno, gelernte Krankenschwester und Pflegeexpertin aus Heidelberg, wo sie ein Beckenbodenzentrum aufgebaut hat. Sie setzt sich seit 20 Jahren dafür ein, dass Inkontinenz als Thema in der Pflege ernstgenommen wird.
O-Ton 33 - Elke Kuno:
Die Menschen, auch wenn sie alt sind, schämen sich, es ist ein großer Angriff auf ihre Persönlichkeit, und die möchten im Grunde gar nicht so gern drüber reden. Also
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muss ich meine Sinne schärfen und sagen: Fällt mir irgendwas auf? Also: Typisches Phänomen: Unterwäsche verstecken. Vorlagen verstecken. Nichts trinken. Immer in der Nähe der Toilette sitzen. Also das sind einfach Dinge, die man wissen muss als Pflegekraft, und dann muss ich natürlich ne entsprechende sprachliche Form finden, wie ich das anspreche!
Sprecherin:
Aber wie sollen Pfleger das Thema ansprechen? Wie kann eine gute Versorgung aussehen – auch bei Hochbetagten? Darüber, so Elke Kuno müsse man sich dringend Gedanken machen.
Im Jahr 2001 untersuchte die Berliner Charité Probleme in der Pflege in Pflegeheim und Krankenhaus. Von den 2.300 Personen in der Studie litten 53 % unter Blaseninkontinenz und knapp 30 % unter Stuhlinkontinenz.
Allein in Pflegeheimen sind zwei von drei Bewohnern harninkontinent. Oft aber nicht allein, weil organische Ursachen vorliegen. Manchmal nur deshalb, weil sie nicht mehr rechtzeitig den Weg zur Toilette finden. Begleitung ist personalintensiv. Und das findet Elke Kuno dramatisch. Denn aus Studien weiß sie, wie groß die Scham gerade bei älteren Menschen ist:
O-Ton 34 - Elke Kuno:
Da sagen auch manche Bewohner: „Es ist eine schreckliche Abhängigkeit, wenn ich merke: Ich muss, ich klingele und es kommt niemand! Es ist eine ungeheure Hilflosigkeit. Und viele sind dann auch resigniert, weil sie sagen: „Manchmal trau ich mich gar nicht zu klingeln, weil ich sehe, wie überlastet die sind!“
Sprecherin:
Erhaltung der Mobilität, Toilettentraining, beckenbodenfreundliches, d. h. aufrechtes Sitzen – all das sind Wege, mit der Inkontinenz umzugehen und sie zu lindern. Zuvor aber muss über das Thema gesprochen werden. Offen und empathisch. Das können Ärzte und Pflegekräfte, die täglich damit zu tun haben, in der Regel besser als Patienten.
O-Ton 35 - Elke Kuno:
Wo nichts angesprochen wird, können keine Hilfen entstehen. Und diese Sprachlosigkeit offensichtlich der Betroffenen überträgt sich auch.
Sprecherin:
Die Mediziner auf dem Münchener Kongress Ende des Jahres 2015 resümierten übereinstimmend, dass es sich lohnt, das Thema aus der Tabuecke herauszuholen. Alle, die sich eingehend mit der Inkontinenz beschäftigen, erleben am Ende überaus glückliche Patienten:
O-Ton 36 - Christl Reisenauer:
Worüber ich mich sehr freue und worauf ich auch sehr stolz bin ist, dass ich ne ganze Menge an Briefen, Karten habe von Betroffenen, die mir sehr, sehr dankbar sind.
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O-Ton 37 - Axel Haferkamp:
Also das Glücksgefühl, was die Patienten empfinden, wenn sie dann wieder kontinent sind, ist nicht zu beschreiben. Wir haben ja eine Erkrankung, die nicht lebensgefährlich ist, die aber mit einem hohen Verlust an Lebensqualität einhergeht, und der Rückgewinn an Lebensqualität wird nahezu von allen Patienten bejubelt.
Sprecherin:
So wie Richard Seelbach, der sich nach der schweren Prostata-OP wieder ins pralle Leben gestürzt hat – trotz künstlichem Blasenschließmuskel. Und darüber manchmal sein wahres Alter vergisst:
O-Ton 38 - Richard Seelbach:
Ich bin so trocken wie ein 20jähriger Mann in seiner Blüte!
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SWR2 Wissen
Tabuthema Inkontinenz
Wenn Blase und Darm schwächeln
Von Karin Lamsfuß
Sendung: Mittwoch, 9. März 2016
Redaktion: Sonja Striegl
Regie: Autorenproduktion
Produktion: SWR 2016
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