Prof. Dr. Manfred Spitzer: Das Gehirn und seine Fehler - Warum irren wir uns

SWR2 Wissen: Aula -  Autor und Sprecher: Professor Manfred Spitzer *
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
Sendung: Sonntag, 6. Januar 2008, 8.30 Uhr, SWR 2
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ÜBERBLICK
Das Gehirn hat täglich eine Flut von Informationen zu bewältigen, und erstaunlicherweise unterlaufen ihm dabei nur wenig Fehler. Das liegt daran, dass zum einen viele Steuerungsvorgänge weitgehend automatisiert sind und dass zum anderen das Gehirn auf einer unbewussten Ebene richtige Entscheidungen trifft, die dem Bewusstsein weitgehend verborgen bleiben. Der Volksmund bezeichnet das als "Bauchgefühl". Unser bewusstes Denken kann viele Fehler machen, unser Gehirn aber macht fast keinen. Professor Manfred Spitzer, Deutschlands wohl bekanntester Hirnforscher, erklärt, warum das so ist.

* Zum Autor:
Manfred Spitzer, geb. 1958, Studium der Medizin, Psychologie und Philosophie, Weiterbildung zum Psychiater, 1989 Habilitation im Fach Psychiatrie; 1990-97 Oberarzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Heidelberg, seit 1997 hat Spitzer den neu eingerichteten Lehrstuhl für Psychiatrie an der Universität Ulm inne, seit 98 leitet er die dortige Psychiatrische Universitätsklinik; seit 2004 ist Spitzer Leiter des von ihm gegründeten Transferzentrums für Neurowissenschaften und Lernen in Ulm.

Bücher von Manfred Spitzer:
- Vorsicht Bildschirm! Elektronische Medien, Gehirnentwicklung, Gesundheit und Gesellschaft. Klett-Verlag.
- Selbstbestimmen. Gehirnforschung und die Frage: Was sollen wir tun. Spektrum-Verlag.
- Musik im Kopf. F. K.-Verlag.
- Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens. Spektrum Verlag.
- Schokolade im Gehirn. F. K.-Verlag.
- Ketchup und das kollektive Unbewußte. F. K.-Verlag.
- Geist im Netz. Spektrum Verlag.
- Nervensachen. Schattauer-Verlag.

Buch zum Thema:

Nur wer Fehler macht, kommt weiter - Wege zu einer neuen Fehlerkultur,
Hrsg: SWR-Redakteur Ralf Caspary, Erscheinungsdatum: 15.01.2008 beim Herder-Verlag.


INHALT
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Ansage:

Heute mit dem Thema: „Das Gehirn und seine Fehler – Warum wir uns irren“.

Seit einiger Zeit lautet in den Etagen vieler Unternehmen die neue Losung: Liebe Mitarbeiter, macht ruhig Fehler, denn aus Fehlern lässt sich vieles lernen, nicht nur über unsere kognitiven Defizite, nicht nur über Schwachstellen im Produktionsprozess, sondern auch darüber, wie unser Gehirn eigentlich funktioniert, warum es Fehler macht, dieselben erkennt und versucht zu korrigieren.

Und auch in der Schule spricht man neuerdings wieder von einer kreativen Fehlerkultur: Der Lehrer soll Fehler nicht als störende Elemente stigmatisieren und ausblenden, er soll mit ihnen arbeiten, um den Lernprozess zu optimieren.

Dieses Credo für eine Fehlerkultur basiert auf neuen Erkenntnissen der Hirnforschung, auch die schaut mit Interesse auf den Fehler, sie beobachtet das Gehirn beim Fehlermachen und hat einige wichtige Forschungsergebnisse liefern können, die man im Betrieb oder in der Schule umsetzen kann.

Professor Manfred Spitzer ist Deutschlands wohl bekanntester Hirnforscher. Er ist Psychiater, Psychologe, ärztlicher Direktor der Psychiatrischen Uniklinik in Ulm, Gründer und Leiter des Ulmer Transferzentrums für Neurowissenschaften und Lernen. In der SWR2 AULA erläutert Spitzer, warum das Gehirn Fehler macht, vor allem aber auch, warum es trotz der ungeheueren Datenmenge, die es sekündlich zu verarbeiten hat, so erstaunlich gut funktioniert.


Manfred Spitzer:

Wenn man mal die Nervenverbindungen zählt, die von allen Sinnesorganen zum Gehirn führen, damit es Informationen von außen aufnehmen und verarbeiten kann, so kommt man auf insgesamt 2,5 Millionen Fasern. Über diese Fasern können bis zu 300 Impulse pro Sekunde transportiert werden; daraus resultiert ein unglaublich hoher Input, den unser Gehirn andauernd verarbeitet. Und es produziert dabei wiederum einen sehr großen Output: Über 1,5 Millionen Fasern geben etwa 300 Impulse pro Sekunde „heraus“, so dass das Gehirn letztlich als ein Hochleistungsrechner verstanden werden kann, der aus einem hohen Input einen mindestens ebenso hohen Output produziert. Was wir bei diesem Prozess der Datenverarbeitung nicht merken ist, dass unser Gehirn trotz immenser Datenmengen meistens ohne Störungen und Fehler perfekt arbeitet und funktioniert.

Wie ist das möglich? Schauen wir uns zunächst die Informationsverarbeitung im Bereich der Sprache und des Sprechens an. Wenn wir einen Menschen sprechen hören, muss unser Gehirn komplizierte akustische Muster identifizieren können, und es muss diese auch noch mit Bedeutungen versehen, die helfen den Inhalt des Gesprochenen zu erschließen. Dabei könnte es passieren, dass der große Input an Informationen das Gehirn einfach überfordert und lahm legt, quasi paralysiert, weil es ja nicht nur mit akustischen Mustern konfrontiert wird, die zusammen Wörter und eine bestimmte Bedeutung ergeben, sondern daneben auch mit solchen Informationen, die für den Inhalt des Gesprochenen unerheblich sind, wie etwa ein unerwünschtes akustisches Nebengeräusch, ein Nießen, ein Schmatzen oder ähnliches. Doch unser Gehirn funktioniert auch hier perfekt, weil wir schon ganz viel gehört haben und weil unser Gehirn dieses Gehörte nicht einzeln abgespeichert hat, sondern sich nur die Regeln gemerkt hat, mit dessen Hilfe es die Informationen strukturiert. Eine dieser Regeln besagt etwa, dass ein „t“ ein Verschlusslaut ist, der eine ganz bestimmte akustische Geometrie hat, die ihn von allen anderen Lauten unterscheidet. Das „t“ können Sie beispielsweise nicht rückwärts aussprechen, weil da der Luftstrom ins Stocken kommt. Und dieses Wissen über die Physik von Luftströmen, über die Physik von Sprachlauten ist gespeichert und hilft dem Gehirn die Datenmenge zu strukturieren.

Ähnliches gilt für die Grammatik der Sprache. Schon Kleinkinder wissen, dass Verben, die auf „ieren“ enden, den Perfekt nicht mit „ge-“ bilden: Ich „habe mich rasiert“ und nicht: ich „habe mich gerasiert“. Auch hier merkt sich das Gehirn nicht alle Verben, für die Ausnahmen gelten, sondern es merkt sich die zugrundeliegenden Regeln.

Das Gehirn ist eben eine effiziente „Maschine“, die nicht jeden Kleinkram speichert. Das Gehirn sucht nach Regeln und Mustern, es abstrahiert und generalisiert also. Und das funktioniert in nahezu allen Lebensbereichen. Warum entscheiden Sie sich meistens richtig, wenn Sie ein Auto kaufen wollen oder den Job wechseln müssen? Weil sie sich auch hier auf Regeln verlassen können, die ihr Gehirn gespeichert hat, und weil hier das Bauchgefühl eine wichtige Rolle spielt. Warum aber können wir uns meistens auf das „Bauchgefühl“ verlassen? Ganz einfach. Nicht weil Sie etwa im Bauch Nervenzellen haben. Sie haben dort zwar ein paar, aber die haben nichts mit dem Denken zu tun.

Wenn wir sagen, wir entscheiden uns „mit dem Bauch“, dann ist das eine erfolgreiche Strategie, weil unsere 20 Milliarden Nervenzellen im Gehirn von alleine schon das Richtige machen und wir deswegen gar nicht mehr groß darüber nachdenken müssen; wir treffen aufgrund der Lebenserfahrungen, die wir schon gemacht haben, meistens eine richtige Entscheidung. Oft, wie gesagt, funktioniert das ohne Nachdenken, einfach so, unser Gehirn macht das automatisch, und es macht ziemlich wenig Fehler dabei. Zum Glück für uns!

Berücksichtigen wir in diesem Zusammenhang ein scheinbar banales Experiment, das vor gar nicht so langer Zeit von Neurowissenschaftlern publiziert worden ist, und dessen Ergebnis so einleuchtend ist, dass man sich wundert, dass man das nicht schon früher herausgefunden hat. Die Versuchspersonen - das waren wie so oft Studenten- mussten ein Auto kaufen. Das war die scheinbar ganz einfach zu bewältigende Aufgabe. Es gab vier Autos im Angebot, von denen sie eins auswählen konnten: A, B, C, D. Der einen Gruppe der Teilnehmer präsentierten die Wissenschaftler vier Sätze pro Auto, die das Objekt näher beschrieben, in dem Sinne: Auto A fährt so und so schnell, Auto B hat so und so viel PS, Auto C hat eine Klimaanlage und Auto D hat ein Schiebedach. Der anderen Gruppe legte man nicht vier, sondern ganze 12 Sätze vor.

Die Forscher haben das Ganze so arrangiert, dass 75 Prozent der Sätze ganz klar ein bestimmtes Auto bevorzugten, es war also eigentlich sonnenklar, welches Auto das Beste ist. Und dieses sollten die Studenten anhand der Informationen, die sie über die Autos erhalten haben, heraussuchen.

Es gab darüber hinaus bei der Durchführung des Experiments noch folgende Variationen: Einige Versuchspersonen hatte drei Minuten Zeit, darüber nachzudenken, welches Auto sie kaufen möchten, nachdem sie alles über die Autos erfahren hatten. In einer anderen Gruppe wiederum mussten die Versuchspersonen, während sie sich fragten, welches Auto wohl das Beste sei, rechnen. Die Wissenschaftler sagten ihnen: „Hört zu, wir wollen einfach wissen, wie clever ihr seid, zieht bitte von 1000 immer 7 ab.“ Und nach einer Weile hat man den Probanden gesagt: „Jetzt müsst ihr Euch beeilen, rechnet so schnell ihr könnt: 1000, 993 usw.“ Nach drei Minuten wurden die Versuchspersonen dann aufgefordert, das Rechnen sofort zu stoppen und ad hoc zu sagen, welches Auto sie kaufen würden. Also einmal konnten die Teilnehmer drei Minuten nachdenken und einmal nicht. Einmal hatten sie viele Informationen über die Autos und einmal nicht so viele. Was kam bei dem Experiment heraus?

Wenn die Probanden nur vier Informationen (in vier Sätzen) pro Auto erfahren hatten und drei Minuten nachdenken konnten, dann kauften sie in 50 Prozent der Fälle das richtige Auto. Und wenn man sie nicht nachdenken ließ, dann kauften nur noch 40 Prozent das richtige Auto. Das heißt, sie waren nicht mehr so ganz gut. Wenn sie aber 12 Informationen (in 12 Sätzen) pro Auto bekommen hatten und drei Minuten darüber nachdenken durften, dann kauften nur sie in ca. 20 Prozent der Fälle das richtige Auto. Und wenn sie bei viel Information (12 Infos) keine Zeit zum Nachdenken hatten, dann kauften sie erstaunlicherweise sogar in 60 Prozent der Fälle das richtige Auto. Mit anderen Worten: Wenn es richtig kompliziert ist und wenn man den Probanden keine Zeit zum Nachdenken lässt, dann fällen sie die richtige Entscheidung mit deutlich größerer Wahrscheinlichkeit, als wenn sie lange darüber nachdenken würden, welches Auto denn nun das Beste sei.

Es wurden weitere ähnliche Experimente durchgeführt und die erbrachten genau die gleichen Ergebnisse: Wenn es einfach ist, dann dürfen Sie ruhig denken, das heißt das Für und Wider genau abwägen. Wenn es kompliziert ist, gibt die Forschung einen wichtigen Tipp: Bloß nicht nachdenken, sondern der Intuition folgen!

Im Grunde genommen ist die Sache logisch. Denn seit etwa 50 Jahren wissen die Neurowissenschaftler und Psychologen, dass unser Gehirn, wie ich schon erwähnt habe - unglaublich viele Informationen verarbeiten kann. Unser Bewusstsein hingegen, unser bewusster Geist, der kann lediglich etwa sieben Sachen oder besser: Informationseinheiten gleichzeitig behalten. Sieben plus minus zwei, um genau zu sein. Mit mehr Informationshäppchen können wir nicht im Gehirn jonglieren, um sie mittels bewusstem Denken zu verarbeiten. Nebenbei gesagt: Schimpansen - das hat man vor ein paar Jahren herausgefunden - schaffen etwa fünf solcher Informationseinheiten; unsere Vorfahren sind nicht ganz so gut wie wir, aber auch nicht viel schlechter.

Wir haben etwa 20 Milliarden Gehirnzellen allein in der Gehirnrinde. Mit diesen können wir unglaublich viel Information gleichzeitig verarbeiten. Und das wiederum heißt, bezogen auf das eben geschilderte Experiment und dessen Ergebnis: Wenn wir diese Verarbeitung durch bewusstes Nachdenken nicht stören, dann macht unser Gehirn auf unbewusster Ebene die Sache meistens „intuitiv“ richtig. Wenn wir aber anfangen, komplizierte Kriterienlisten aufzustellen: diese sechs Punkte sprechen gegen den neuen Job, acht dafür, diese Eigenschaft spricht für das kleinere Auto, diese für das große elegante, und wenn wir glauben, wir könnten wie bei dem Auto-Experiment ohne Probleme 48 verschiedene Aussagen gegeneinander abwägen, um die richtige Entscheidung zu treffen, dann liegen wir falsch und genau dann machen wir die meisten Fehler.

Es klingt paradox, wurde aber mit Hilfe vieler Experimente bestätigt: Unser bewusstes Denken macht dann Fehler, wenn unser Gehirn eigentlich keine macht. Auf der Ebene der Intuition unterlaufen uns fast keine Fehler, auf der Ebene des bewussten Denkens unterliegen wir oft einem Irrtum, fällen falsche Urteile und verhalten uns unlogisch.

Das kann auch fatale Auswirkungen haben, wie eine andere Studie gezeigt hat, die auch noch nicht so alt ist. Wissenschaftler haben gewiefte Börsenmakler in den Scanner gelegt. Man ließ sie dann wie in der beruflichen Situation mit Aktien handeln, und zwar mit volatilen Papieren oder festverzinslichen Wertpapieren. Die Forscher haben natürlich die Rahmenbedingungen des Experiments - die Entwicklung der Aktienkurse, die Risiken und Chancen - im vorhinein festgelegt. Die Makler lagen also bequem in den Scannern und handelten emsig mit ihren Aktien. Ihre Gehirne wurden dabei permanent beobachtet. Nun gibt es prinzipiell zwei Sorten von Fehlern, wenn man mit Aktien handelt: Zum einen geht man ein zu hohes Risiko ein, das man besser nicht eingegangen wäre, aufgrund seiner Erfahrungen an der Börse. Aber man macht es trotzdem, riskiert viel Geld und verliert es. Der andere Fehler ist: Nachdem, was man mit der Aktie schon erlebt hat, müsste man sie eigentlich kaufen. Aber man zögert, hat kein gutes Gefühl, geht nicht das nötige Risiko ein und macht einen Risikovermeidungsfehler.

Der Scanner „beobachtete“ also die ganze Zeit die Gehirne der Börsenmakler und die Wissenschaftler konnten zusehen, was in den Gehirnen der Börsenmakler vor sich ging, wenn ein Fehler gemacht wurde, entweder dadurch, dass ein zu hohes Risiko eingegangen wurde oder dadurch, dass die Versuchsteilnehmer auf Nummer Sicher gehen und jedes Risiko vermeiden wollte. Die Wissenschaftler interessierten sich bei dem Experiment besonders für die Frage, ob es im Gehirn ein Signal gebe, das dem Fehler, den der Makler macht, vorausgeht. Und die Antwort war, ja, das gibt es tatsächlich. Man konnte auch ein Gehirnareal für dieses Signal ausmachen: es befindet sich im Nucleus acumbens und hat mit der Risikobereitschaft etwas zu tun. Eine weitere wichtige Rolle spielte bei dem Experiment ein anderes Areal im Gehirn, die sogenannte „Insel“, das vor allem mit negativen Bauchgefühlen verbunden ist.

Das Experiment zeigte: Im Gehirn des Börsenmaklers lag ein Signal vor, das ihm einen Fehler signalisiert hat. Der Börsenmakler war allerdings nicht fähig, dieses Signal in seinem Bewusstsein auszulesen. Der Scanner dagegen schon. Das Gehirn des Börsenmaklers, das dokumentierte der Scanner, ist also schlauer als der Börsenmakler, als sein Bewusstsein. Mit anderen Worten: Wenn Sie einen Scanner haben und einen Börsenmakler, dann makeln Sie auf jeden Fall gewinnorientierter mit beiden zusammen als nur mit dem Börsenmakler.

Die moderne Neurowissenschaft kann also dem Gehirn beim Fehlermachen zugucken und zeigen, was wo genau passiert. Vielleicht wird es in der Zukunft aufgrund dieser Forschungen sogar möglich sein, dem Gehirn dabei zu helfen, Fehler zu vermeiden.

Prinzipiell kann man sagen: Das Gehirn macht Fehler, weil die Kapazitäten des bewussten Denkens sehr begrenzt sind, weil es zugleich schnell arbeiten muss und eine ungeheure Menge an Informationen zu verarbeiten hat. Wichtig ist in diesem Zusammenhang: Das Gehirn hat es außerdem mit vielen Unwägbarkeiten zu tun, es muss ständig Voraussagen über eine ungewisse Zukunft machen, auch daraus resultieren Fehler. Zum Glück aber macht das Gehirn nur selten schwerwiegende Fehler, meistens macht es sogar alles richtig. Wann sind Sie zum Beispiel das letzte Mal über die Bordsteinkante gestolpert? Das passiert in der Regel sehr selten, es sei denn, man leidet unter einer bestimmten Gehirn- oder Muskelkrankheit, die sich auf die Koordination der Bewegungen auswirkt. Wenn keine Krankheit vorliegt, ist es sehr wahrscheinlich, dass Sie selten stolpern, obwohl Ihr Gehirn bei jedem Schritt komplizierte Differenzialgleichungen löst. Es muss voraussagen können, wann die Schuhsohle die Straße berührt, wie hoch die Bordsteinkante ist, wie Sie die Kräfte verteilen müssen, wie ein paar Dutzend Muskeln zusammenspielen müssen, damit Ihre Bewegungen harmonisch ablaufen, ohne dass Sie auch nur einen Gedanken daran verschwenden müssen. Nicht viel anders ist es, wie wir gerade gesehen haben, mit komplizierten Entscheidungen, und das ist auch gut so. Meistens macht unser Gehirn keine oder nur wenige Fehler.

Was passiert aber, wenn es doch mal einen macht? Die Wissenschaft hat in den letzten 10 bis 15 Jahren hierzu interessante Forschungsergebnisse liefern können. Es scheint wirklich so zu sein, als gäbe es in unserem Gehirn ein bestimmtes Areal, das meldet, wenn wir einen Fehler gemacht haben, und es bringt uns sogar dazu zu versuchen, denselben zu korrigieren.

Schauplatz eines dieser Experimente ist die University of Oregon in Eugene an der Westküste der USA, nördlich von Kalifornien. Dort tragen Studenten und Professoren Sandalen und Jogginganzüge, man legt sehr viel mehr Wert auf Lässigkeit und Kreativität als auf Etikette und Konventionalität. Die Wissenschaftler dieser Universität haben ein Experiment entwickelt und durchgeführt, das die Versuchsteilnehmer unter Zeitdruck setzte, mit folgender Aufforderung: „Versuch’s noch ein bisschen schneller, mach’s noch ein bisschen besser.“ Dabei war die Aufgabe, die die Teilnehmer zu erledigen hatten, ganz einfach: Man musste zwei Tasten drücken und einen Stimulus erkennen und wurde dabei durch weitere Stimuli ablenkt. Weil die Probanden dazu angetrieben wurden, immer schneller zu reagieren, begannen sie bei diesem Experiment natürlich irgendwann Fehler zu machen. Der Witz der Versuchsanordnung war: man hat sie nicht nur irgendwelche Knöpfchen drücken lassen, man hat mit 64 Elektroden, die an der Kopfhaut der Probanden befestigt waren, zugleich die Gehirnströme abgeleitet. Das Interessante an der Versuchsanordnung in Oregon war nun folgendes: Die Wissenschaftler sagten sich, wir gucken jetzt mal nur nach den Fehlern. Früher hatte man die Fehler in der neurowissenschaftlichen Forschung immer ausgeblendet, die waren sozusagen etwas für den Papierkorb, dafür interessierte man sich nicht. Und was früher im Papierkorb landete, war jetzt plötzlich Gegenstand der Analyse. Die Wissenschaftler hatten also die Gehirnpotenziale der Teilnehmer aufsummiert, die immer genau dann entstanden waren, wenn das Gehirn einen Fehler gemacht, der Teilnehmer also den falschen Knopf gedrückt hatte. Im Labor-Jargon nannte man das damals das „Ups-Potenzial“, denn die Versuchspersonen haben meistens schon während sie die Taste gedrückt haben, gemerkt: „Oh, ich hab hier einen Fehler gemacht.“ Und das Interessante war, das Gehirn hat das auch sofort gemerkt, sogar noch ein bisschen früher als es den Versuchspersonen bewusst war, denn es hatte sich immer schon ein Potenzial eingestellt, das diesem „Ups, ich hab einen Fehler gemacht“ vorausgegangen war und das offensichtlich die Ursache für das „Ups, ich hab was falsch gemacht“ darstellte.

Wie kann man dieses Ergebnis interpretieren? Ist das Gehirn schlauer als das Gehirn? Es hat einen Fehler gemacht, ihn bemerkt und sich daraufhin korrigiert. Wie kann das sein? Wie kann es im Gehirn ein System geben, das schlauer ist als das Gehirn selbst, ein System, das einen Fehler identifiziert, bevor der Person diese Fehlleistung bewusst wird? Wenn man darüber nachdenkt, gibt es ziemlich kniffelige Widersprüche aufzulösen, und das hat die Wissenschaftler in Oregon, dann auch in Pittsburgh und in Princeton dazu animiert, noch weiter zu fragen. Die Kollegen in Pittsburgh und Princeton haben sich daraufhin ein Experiment ausgedacht, das noch etwas cleverer war, als das aus Oregon, und das ging so: Man hat dafür gesorgt, dass die Stimuli im Experiment so beschaffen waren, dass manchmal die Chance, einen Fehler zu machen, größer war und manchmal sehr gering. Das Interessante war: Auch dann wenn die Versuchspersonen keinen Fehler gemacht haben, aber die Situation so war, dass die Chance einen Fehler zu machen, größer war, „sprang“ das Gehirn mit seinem Fehlerpotenzial „an“.

Daran entzündete sich dann eine lange Diskussion, die um die Frage kreiste: Haben wir einen Homunkulus, ein „kleines Männchen“ im Kopf, das immer guckt, wann der „Große“ einen Fehler macht und eigentlich immer schon Bescheid weiß. Denn immer wenn Sie merken, Sie haben einen Fehler gemacht, müssen Sie ja wissen, wie die richtige Antwort lautet, sonst könnten Sie ja den Fehler gar nicht als solchen erkennen. Und wenn so ein Männchen da ist, dann kann es natürlich immer sagen, jetzt hast Du wieder falsch gehandelt. Es gibt bei dieser Homunkulus-Theorie allerdings ein Problem: Warum hat das Männchen nicht gleich das Richtige gemacht, wenn es ohnehin als allwissendes Prinzip im Gehirn sitzt? Mit anderen Worten: Wenn Sie dieses Fehlerpotenzial, das es offensichtlich gibt, das man experimentell nachweisen konnte, dadurch erklären, dass sie sagen, im Gehirn gibt es ein bestimmtes Areal, nennen wir es mal nicht Männchen, es wird schon irgendein Stückchen Gehirnrinde sein, das immer schon weiß, was richtig ist und was nicht und das meldet: „Hoppla, jetzt hast du einen Fehler gemacht“, dann stellt sich sofort die Frage, warum dieses Stück Gehirnrinde nicht gleich den Fehler vermeidet. Sinnvoller und weniger mystisch ist es, diese Homunkulus-Theorie ad acta zu legen und zu sagen: Es gibt ein Gehirnareal, das einfach nur merkt, Achtung! Hier schicken sich Gehirnzellen an, Output A und Output B zu produzieren, was dazu führen wird, dass gleich die Finger Taste A und B gleichzeitig drücken werden, hier sind fälschlicherweise zwei am Output am Werk. Und genau dieses Areal könnte dann in der Tat die Wahrscheinlichkeit des jetzt gleich Produzierens eines Fehlers, messen, und dann , wenn der Fehler gemacht ist, sehr rasch anspringen und zu einem Verhalten führen, das diesen Fehler korrigiert.

Man kann auch so sagen: Es ist viel sinnvoller, sich als Neurowissenschaftler einen cerebralen Mechanismus auszudenken, der sozusagen bei vermehrter Unsicherheit die Produktion mehrerer Outputs registriert und dann sofort mit der Aufforderung reagiert: „Regulier doch nochmal nach, stell die Schärfe z. B. in den Input-Kanälen nach, so dass klarer wird, welcher Output als nächstes produziert werden muss.“ Das ist logisch, und das kann man auch mit neuronalen Netzwerken, sprich mit mathematischen Modellen von Gehirnfunktionen mittlerweile theoretisch erfassen und modellieren. Das heißt, man kann das verstehen, ohne dass man an ein allwissendes Männlein glauben muss.

Und so, wie es derzeit aussieht, haben wir ein Stückchen Gehirn im Kopf, man spricht vom „anterioren Gyrus cinguli“, dessen Aufgabe es unter anderem ist, uns einen Fehler zu melden und uns auch schon zu melden, wenn wir im Begriff sind, einen Fehler zu machen, so dass wir, wenn es ganz gut läuft, Zeit zur Korrektur haben und den Fehler gar nicht erst machen.

Warum machen wir dann trotzdem manchmal Fehler? Nun, zum einen - wie im Experiment veranschaulicht- weil wir unter Zeitdruck arbeiten und weil der Zeitdruck dazu führt, dass wir die sogenannte „speed-accuracy trade-off“, das heißt unsere Balance zwischen ganz gut und ganz akkurat, zwischen einigen Fehlern, die uns unterlaufen, und Null Fehlern nicht nach Wunsch in die eine oder andere Richtung verschieben können. Normalerweise, wenn kein Zeitdruck vorhanden ist, funktioniert das ganz gut: Der Fluglotse darf keinen einzigen Fehler machen, sonst gefährdet er Menschenleben. Wenn Sie aber mal in Ihrer Küche grüne und weiße Erbsen für den Sonntagseintopf sortieren, dann macht es nichts, wenn da mal drei grüne oder weiße sind wo sie nicht hingehören., Die Suppe soll schnell fertig werden, also stellen Sie diese Balance eher auf unscharf dafür aber schnell. Und so stellen wir je nachdem, wie die Anforderungen an unsere Arbeit sind, unsere Fehlertoleranzgrenze unterschiedlich ein. Das ist auch gut so.

Vielfach wird diese Fehlertoleranz sogar für uns vom Gehirn automatisch eingestellt, wir verfügen über cerebrale Systeme, die dafür sorgen, dass wir in einer Situation ein bisschen akkurater und in einer anderen ein bisschen lockerer sind, je nach dem, wie die Anforderungsprofile dieser Situationen aussehen. Bei einer Klassenarbeit wird dieses System im Schülergehirn ohne Zweifel zur Akkuratesse tendieren müssen. Bei einer Party hingegen sollte man auf schludrig und entspannt stellen. Und noch ein anderer Aspekt kommt hinzu: Menschen sind unterschiedlich von Geburt an. Da gibt es die gut gelaunten Optimisten, die lassen auch mal fünf gerade sein, und von denen wollen wir wirklich nicht, daß sie für den Flugverkehr und dessen Sicherheit zuständig sind. Und dann gibt es die anderen, die nehmen sich wirklich alles zu Herzen, machen alles ganz akribisch und haben womöglich Alpträume, weil sie vielleicht etwas nicht ganz so gut gemacht haben. Aber sie sind unglaublich zuverlässig. Auch solche Perfektionisten brauchen wir. Es ist gut, dass es unterschiedliche Menschen mit einem unterschiedlichen Fehlerverhalten gibt. Schlimm nur, wenn sich ein Clown in die Flugsicherung oder ein Fluglotse in den Zirkus verirrt, dann geht es richtig schief, und dann kann man sagen: Fehler entstehen häufig dadurch, dass wir Menschen uns in der falschen Umgebung wiederfinden. Oft passiert das nicht, weil es die meisten Menschen schaffen, dem, was in ihnen angelegt ist, Raum zu geben, und so gelangt jeder irgendwann mal dorthin, wo er von seiner genetischen Ausstattung auch hingehört.

Menschen sind also höchst unterschiedlich, auch was das Fehlermachen anbelangt. Wir können und wollen gar nicht Fehler um jeden Preis vermeiden, und umgekehrt kann es auch nicht sein, dass man sagt: „Habt Ihr heute schon einen Fehler gemacht?“ Und wenn ja: „Bestens, man kann ja aus seinen Fehlern nur lernen.“ Natürlich kann man aus Fehlern lernen, aber sie deswegen zu machen, ist auch keine gute Idee.

Ich glaube, mit Fehlern ist es so wie mit allem Menschlichen. Es ist ganz wichtig, dass man das Gehirn kennt, und Gehirnforschung ist in dieser Hinsicht Selbsterfahrung im besten Sinne des Wortes. Wenn man das Gehirn auch beim Fehlermachen beobachten kann, dann lernt man, warum es Fehler macht, wie es auf Fehler reagiert, wofür Fehler gut sind und wie man Fehler vermeiden kann. Die Hirnforschung hat noch viel zu tun!

Prof. Ulrich Herrmann: „Lernen findet im Gehirn statt

 Die Herausforderungen der Pädagogik durch die Hirnforschung“

SWR2 Aula.  Redaktion: Ralf Caspary. Sendung: Sonntag, 29. Februar 2004,8.30 Uhr. Bitte beachten Sie:  Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
Das Experiment über menschliches Lernverhalten mit acht Wochen alten Säuglingen war ebenso einfach wie sein Ergebnis verblüffend: Drei Wochen lang hängten Forscher über die Bettchen der Säuglinge jeden Tag für zehn Minuten Mobiles. Sie bildeten drei Gruppen. Die Gruppe A erhielt gewöhnliche Mobiles, die sich eben bewegten oder auch nicht. Die Gruppe B bekam Mobiles, die jede Minute fünf Sekunden lang eine Drehbewegung ausführten. Der Gruppe C wurden Mobiles über die Bettchen gehängt, die mit Drucksensoren in Verbindung standen, die in die Kopfkissen eingenäht waren, so dass die Kopfbewegungen der Säuglinge über die Drucksensoren in den Kopfkissen die Mobiles in Bewegung setzten. Was zeigte sich nach drei Wochen? In den Gruppen A und B – das sind die Säuglinge, die zufällige bzw. mechanisch wiederkehrende Mobilebewegungen gesehen hatten – veränderte sich die Häufigkeit der Kopfbewegungen nicht, wohl aber in der Gruppe C, also derjenigen Gruppe, wo Kopfbewegungen die Mobiles in Bewegung gesetzt hatten. Die Säuglinge der Gruppe C hatten offensichtlich in wenigen Tagen gelernt, dass sie mit ihren Kopfbewegungen das Mobile beeinflussen konnten. Ihr Interesse am Mobile wurde von Tag zu Tag größer, während die Kinder der Gruppen A und B ihre Mobiles immer weniger beachteten. Das Experiment hatte aber noch aufregend andere, völlig unerwartete Wirkungen auf das Verhalten der Säuglinge der Gruppe C. Im Unterschied zu denen der Gruppen A und B zeigten sie einen lebhafteren Gesichtsausdruck, sie lächelten mehr, und – vor allem – sie versuchten immer wieder, durch die Artikulation von Tönen ihrem Behagen und ihrer Freude Ausdruck zu verleihen. Aus diesem Experiment können mehrere Schlussfolgerungen gezogen werden. Erstens: „Die kindliche Neugier, ausgedrückt als Interesse und Freude, Lebhaftigkeit und Wohlbehagen, wird am meisten geweckt und bleibt am längsten erhalten, wenn sich das Kind aktiv betätigen kann.“ Zweitens: „Die Neugier ist nicht beliebig. Sie wird festgelegt durch diejenigen Fähigkeiten, die heranreifen und durch Erfahrungen gefestigt werden sollen. Die Neugier bringt das Kind dazu, die notwendigen Erfahrungen in seiner Umwelt zu suchen und auch zu machen. Die Neugier leitet das Kind beim Lernen.“ Drittens: „Die Eltern brauchen die Neugier und die Aktivität ihres Kindes nicht zu wecken oder gar zu steuern. Beides bringt das Kind mit. Es ist also ausreichend, wenn die Eltern dem Kind Erfahrungsmöglichkeiten anbieten. Und das Kind soll dann selbst bestimmen können, wie und in welchem Ausmaß es diese nutzen will. So weit die Schlussfolgerungen von Remo H. Largo, Professor für Entwicklungspädiatrie am Zürcher Kinderspital. Weitere Schlussfolgerungen sind aufgrund der aktuellen Gehirnforschung möglich. Sie ergeben sich zum einen aus der kognitiv orientierten Neuro-Wissenschaft, die sich – vereinfacht ausgedrückt – mit den Leistungen des Gehirns beschäftigt wie Wahrnehmen, Ordnen von Informationen, Denken usw. Zum andern ergeben sie sich aus der physiologisch bzw. biologisch orientierten Gehirnforschung, die sich für die Prozesse und die Substanzen in den Gehirnzellen und Gehirnarealen, in den Nervenbahnen und den Nervenverbindungen interessiert, durch die diese Leistungen erbracht werden. Eine vierte Schlussfolgerung formuliert also die Kognitionsforschung: Das Kind lernt offensichtlich „von sich aus“, „von selber“, ziemlich rasch, wenn genügend Gelegenheiten gegeben werden, eine Regel – hier diejenige des Zusammenhangs von Ursache und Wirkung –, ohne dass ihm diese Regel als solche erklärt worden wäre (was bei Säuglingen ja auch praktisch nicht ist). Genau so lernen Kinder im Normalfall in kurzer Zeit auch ihre komplizierte Muttersprache mit allen ihren Regeln und Ausnahmen und im Ausland innerhalb weniger Monate die dortige Landessprache. Daraus formuliert die kognitive Gehirnforschung die fünfte Schlussfolgerung: Was das Kind „von selber“ gelernt hat – in diesem Fall die Grammatik der gesprochenen Sprache –, das hat tatsächlich das Gehirn selber erzeugt. Der Beweis dafür lässt sich leicht führen: Kinder bilden zum Beispiel die regelgerechten Formen für die Mehrzahl, wo es sie in dieser Form umgangssprachlich nicht gibt – „Kohl“/„Köhle“, richtig wäre „Kohlköpfe“ oder – bei Verben – die analoge richtige Vergangenheitsform: weil aus „lernen“ immer „gelernt“ wurde, würde aus „drollen“ – was es nicht gibt – automatisch „gedrollt“. Des weiteren liegt auf der Hand, dass diese Lernprozesse für das Langzeitgedächtnis sehr langsam verlaufen und durch ständiges Üben und Wiederholen unterstützt werden müssen. Andernfalls bleibt das Aufgenommene im Kurzzeitgedächtnis und wird bald wieder vergessen. Daraus ergibt sich die sechste Schlussfolgerung: Das Gehirn erzeugt Wissen sowie die zugehörige Bedeutung auf eine Weise, die unserem Bewusstsein und damit auch unserer willentlichen Beeinflussung entzogen ist. Dieser Befund der Gehirnforschung steht in einem scharfem Gegensatz zur herkömmlichen Auffassung von Lernen als Informationsverarbeitung, eine Auffassung, die meint, das Gehörte bzw. Gelesene müsse nur auf geeignete Weise präsentiert und abgespeichert werden, damit es im Bedarfsfall wieder abgerufen werden kann. Nichts ist falscher als die Vorstellung, das Gehirn funktioniere wie ein Datenspeicher, denn in Wahrheit ist es ein Datenerzeuger. Genau dies hat auch das Experiment mit den Säuglingen bestätigt: die Gehirne der Gruppe C schalteten sich so, dass der Zusammenhang von Kopfbewegung und Drehbewegung des Mobiles als bedeutungsvoll erlebt wurde: die Bedeutung zeigte sich als lustvolle Neugier und als ein Zustand von Wohlbefinden, der durch Eigentätigkeit stimuliert worden war. Die siebte Schlussfolgerung ergibt sich aus der uns inzwischen bekannten Biochemie der zellulären Mechanismen und Prozesse im Gehirn: Gelernt wird nicht nur am besten, wenn damit eine Aktivität des Lernenden verbunden ist, sondern wenn diese Aktivität auch Spaß macht. Denn dieses Wohlbefinden setzt Botenstoffe frei, ohne deren Vorhandensein und Wirkung nichts gelernt werden kann, weil die elektrischen Impulse als Träger der Information nicht weitergegeben werden. Die unbewusst ablaufenden Prozesse der Wissens- und Bedeutungskonstruktion hängen vom Funktionieren eines Systems im Gehirn ab, das das limbische System genannt wird. Gemeint ist die Verteilung bestimmter Funktionen und Leistungen des Gehirns auf verschiedene Areale, die z. B. zuständig sind für unsere bewussten Emotionen und kognitiven Leistungen, für die Organisation unseres Faktengedächtnisses, für die Kontrolle negativer Gefühle und die Belohnung von Erfolgen. Wenn diese Vorgänge im Gehirn ablaufen, kann man sie durch bildgebende Verfahren sichtbar machen. Sichtbar wird natürlich nicht was dort geschieht, sondern dass dort etwas geschieht. Warum dort etwas geschieht, erklären die sogenannten neuro-modularischen Systeme, die – daher die Bezeichnung – die Gehirntätigkeit gestalten: „Steuerung von Aufmerksamkeit, Motivation, Interesse, Lernfähigkeit durch die Neuromodulatoren Noradrenalin für allgemeine Aufmerksamkeit, Erregung, Stress, durch Dopamin für Antrieb, Neugier, Belohnungserwartung, durch Serotonin für Dämpfung, Beruhigung, Wohlgefühl und durch Acetylcholin für gezielte Aufmerksamkeit und Lernförderung. Diese Systeme, schreibt der Bremer Gehirnforscher Gerhard Roth, „bilden das zentrale Bewertungssystem unseres Gehirns. Dieses System bewertet alles, was durch uns und mit uns geschieht, und zwar danach, ob es gut/vorteilhaft/lustvoll war und entsprechend wiederholt werden sollte, oder schlecht/nachteilig/schmerzhaft und entsprechend zu meiden ist. Das Gehirn legt diese Bewertungen im emotionalen Erfahrungsgedächtnis nieder, das weitgehend unbewusst arbeitet. In jeder Situation wird vom limbischen System geprüft, ob diese Situation bereits bekannt ist bzw. einer früheren sehr ähnelt, und welche Erfahrungen wir damit gemacht haben. Dieses System entscheidet insofern grundlegend über den Lernerfolg, als es bei jeder Lernsituation fragt: ‚Was spricht dafür, dass Hinhören, Lernen, Üben usw. sich tatsächlich lohnen?’ Dies geschieht überwiegend aufgrund der vergangenen, meist unbewusst wirkenden Erfahrung. Kommt das System zu einem positiven Ergebnis, so werden über die genannten neuro-modulatorischen Systeme die in der Großhirnrinde vorhandenen Wissens-Netzwerke so umgestaltet, dass neues Wissen entsteht.“ Und – so können wir fortsetzen – wenn das System zu einem negativen Ergebnis kommt, dann unterbindet das System die Entstehung neuen Wissens, mit anderen Worten: Dann wird nichts gelernt, ob der Lerner will oder nicht, denn er hat darauf keinen willentlichen Einfluss! Die Befunde über Gehirnaktivitäten beim erfolgreichen und erfolglosen Lernen, über deren Voraussetzungen und Rahmenbedingungen[1], haben eine lebhafte Debatte ausgelöst über die Bedeutung der Gehirnforschung für die Pädagogik[2] – und umgekehrt: der pädagogischen Erfahrung für die Interpretation der Befunde der Gehirnforschung. Diese Debatte wird derzeit sicherlich mit überzogenen Hoffnungen an die Gehirnforschung geführt (sie steht ja noch ganz am Anfang), und diese Debatte wird mit Abwehrreaktionen seitens der akdemischen Pädagogik emotionalisiert (etwa: wie etwas gelernt werde, sage doch noch lange nichts darüber, was zu lernen sei), worauf der Gegeneinwand kommt, die Lehrer sollten sich doch gefälligst mal dafür interessieren, ob und unter welchen Bedingungen überhaupt eine Gehirntätigkeit festzustellen sei, ohne deren Vorhandensein auch die beste pädagogische Absicht und Anstrengung lediglich vergebliche Liebesmüh sei. Die aktuelle Gehirnforschung teilt mit, was sie in der Grundlagenforschung über erfolgreiches Lernen herausgefunden hat. Der Magdeburger Gehirnforscher Henning Scheich konzentriert seinen Bericht über erfolgreiches Lernen auf folgende Punkte: Erstens: individuelle Erfolgserlebnisse sichern Motivation und Gedächtnis, und zweitens: klare Lernherausforderungen für bewältigbare Problemstellungen verhindern Vermeidungsverhalten.[3] Erfolgreiches (schulisches) Lernen beruht für Scheich auf der richtigen Mischung von Anregungen und Anforderungen, Motivation, Erfolgserlebnissen und neuen Herausforderungen; kurz gesagt: es beruht auf Zufriedenheit aufgrund von Aufgabenbewältigung (Leistung), also auf einem emotionalen Sachverhalt. Scheich beschließt seine Ausführungen mit einem überraschenden Satz zum Verhältnis von Gehirnforschung und Pädagogik: „Dies ist die Weisheit bestimmter Klassiker der Pädagogik und deshalb ein alter Hut. Wir wissen jetzt aber, warum sie Recht hatten.“ Nicht anders der Bremer Gehirnforscher Roth. Er betont sehr ausdrücklich, dass die aktuelle Gehirnforschung nichts vorträgt, was für den guten Pädagogen einstweilen inhaltlich neu wäre. „Der Fortschritt“, sagt Roth, „besteht vielmehr darin, zeigen zu können, warum das funktioniert, was ein guter Pädagoge tut, und das nicht, was ein schlechter tut. Nur so aber können bessere Konzepte des Lehrens und Lernens entwickelt werden, und die meisten Experten sind sich inzwischen darin einig, dass die gegenwärtigen Konzepte schlecht sind.“ Warum sind sie es? Weil sie, wie oben angedeutet, auf der kognitions- und lernpsychologischen Konstruktion von Lernen als Informationsverarbeitung beruhen und weil sie – wie wir jetzt wissen – von der falschen Vorstellung einer Steuerungs- und Optimierungsmöglichkeit dieser Informationsverarbeitung durch geeignete Instruktion ausgehen und weil die Lernen ermöglichenden und Lernen verhindernden Prozesse im Gehirn damals unbekannt waren. Das auf Erfahrung beruhende reformpädagogische Wissen vom erfolgreichen Lernen ist heute weitgehend in Vergessenheit geraten. Vorrangig geht es dabei um folgende Punkte, die die (deutsche) Reformpädagogik[4] seit über hundert Jahren auszeichnen und die nun überraschende Aktualität gewinnen bei dem Versuch, Gehirnforschung und Pädagogik in ein gegenseitiges Lern- und Anregungsverhältnis zu setzen (wie es der Ulmer Psychiater, Gehirn- und Lernforscher Manfred Spitzer tut. Wenden wir uns zunächst dem Bereich Selbsttätigkeit – Arbeitsschule – Projektarbeit zu. Das Gegenmittel gegen die „schläfrig“ machende Memorierschule des 18. Jahrhunderts war die Schule der Selbsttätigkeit. Selbsttätig sind die Schüler „bei der Sache“: Arbeitseifer überwindet Hindernisse, Misserfolge lenken auf den richtigen Weg, Erfolge erzeugen Motivation. Die Schüler können etwas, 4weil sie etwas getan haben: untersucht, geprüft, geplant, experimentiert, ausgeführt, vorgeführt. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts heißt dieses Konzept Arbeitsunterricht, die Medizin gegen die passive Buchschule. Heute ist entdeckendes Lernen das wichtigste Prinzip der selbstorganisierten Schülertätigkeit im fächerübergreifenden bzw. fächerverbindenden Unterricht in Projekten. Dabei wird das Lehrer-Instruktions-Modell ersetzt durch das Schüler-Selbstlern-Modell. Und das Gehirn „sagt“: Ich tue und kann und bewirke etwas und lerne, dass ich noch mehr kann – wenn man mich lässt. So haben auch die Säuglinge mit den Mobiles, die sie in Bewegung setzen konnten, ihren Zugewinn an Wohlbefinden und Neugier sowie den auffälligen Entwicklungsimpuls gelernt. Die Schule der Selbsttätigkeit ist die Schule des selbstorganisierten Lernens. Und wo bleibt der Lehrer? Er wird jetzt in ganz anderen Funktionen als im herkömmlichen fragend-entwickelnden Frontalunterricht benötigt, vor allem für die Entwicklung von Arbeits- und Lernmaterialien, die Interesse und Neugier wecken, und für die Organisation und Beratung der Arbeitsgruppen. Auf beides werden besonders Gymnasiallehrer heute so gut wie nicht vorbereitet. Aber das selbstorganisierte Lernen erfüllt fast alle zentralen Anforderungen an eine moderne Schulpädagogik, die von der Gehirnforschung gelernt hat. Vor allem löst es das Problem, dass kein langweiliger Lehrer die Schülergehirne nötigt, wegzuhören und sich Interessanterem zuzuwenden. Das Weghören wird als Desinteresse interpretiert und mit schlechten Noten bestraft, die anderweitige Beschäftigung im Unterrichts, der streng genommen gar keiner ist, wird als dessen Störung geahndet. Da hilft dann bekanntlich nur unauffälliges Abschalten – und genau das ist in Gruppen und Projekten nicht möglich: denn was dort nicht gearbeitet wird, wurde eben nicht gearbeitet, und die Verantwortung dafür können die Schüler nicht länger dem langweiligen Lehrer, sondern nur sich selbst zuschreiben. – Hier wurde übrigens die sanfte Variante der Schülerreaktion angeführt. Es ist nämlich gar nicht klar, ob nicht Hyperaktivität, Aufmerksamkeitsstörungen und Aggressivität ganz „normale“ mentale Reaktionen auf systematisch organisierte unterrichtliche Langeweile sind! Die Projektarbeit ermöglicht die Befolgung zweier weiterer reformpädagogischer Prinzipien: das exemplarische und das individualisierte Lernen. Unser Gehirn lernt unablässig, weil es angesichts der stetigen Flut von Informationen und dem Zwang zur Ordnung und Strukturierung auch gar nicht anders kann. Es speichert und organisiert aber nur bedeutungsvolle und deshalb wichtige Informationen. Bei 90 Prozent des Schul-„Stoffes“ handelt es sich aber nicht um solche Informationen, mithin werden sie unverzüglich vergessen. An die Stelle der Vermittlung des relativ bedeutungsarmen Schulbuchwissens tritt beim Exemplarischen Lernen die Erarbeitung eines bedeutungsvollen Sachverhalts, der vor allem durch seine interne inhaltliche Vielfalt ausgezeichnet ist, so dass sich vielfache Zugänge zu ihm didaktisch konstruieren lassen, was aus neurowissenschaftlicher Sicht den großen Vorzug hat, dass auf das so erworbene Wissen über mehrere neuronale Netze zugegriffen werden kann. Und dies erleichtert zugleich die weiterführende Vernetzung dieses Wissens mit späteren neuen Wissensstrukturen. Die selbstorganisierte Projektarbeit trägt einem weiteren Umstand Rechnung: Das Gehirn funktioniert um so besser, je attraktiver die Lernsituation empfunden wird, und die Attraktivität bemisst sich – wie könnte es anders sein – an der Abschätzung des zu erwartenden Erfolgs. Sobald aber die Rahmenbedingungen für Erfolg besonders mit Rücksicht auf die großen individuellen Unterschiede bei den Lernbefähigungen und Lernleistungen von den Schülern selbst gestaltet werden können, stellen sich generell erhöhte Lernbereitschaft und erhöhte Motiviertheit ein. Man braucht nur eine Schule zu besuchen, deren Lernarbeit nach dem Marchtaler Plan gestaltet wird, um zu sehen, wie sich Lernbereitschaft und Motiviertheit durch attraktive Lernumgebungen fördern lassen. Projektarbeit wird auch von einer weitern Einsicht der Gehirnforschung unterstützt: der Tatsache nämlich, dass das Lernen für das Langzeitgedächtnis langsam vor sich geht. Wer also vier oder sechs Stunden durch einen Unterrichtsvormittag zappen muss, dem wird als Schüler gar keine Chance für nachhaltiges Lernen gelassen, sondern nur die Kurzzeitspeicherung bis zum nächsten Test – und fast alles ist wieder weg. Schule heute organisiert in ihrer jetzigen Betriebsform in der Regel sehr zuverlässig ihre eigene strukturelle relative Erfolglosigkeit, wie TIMSS und PISA gezeigt haben. Individualisierung ist die Voraussetzung für Motivation. Lernen-machen beruht auf erfolgreichen Lern-Veranlassungen und auf Erfolgserlebnissen. Durch pure „Stoffvermittlung“ oder für Klassenarbeiten lernen allein wird nichts gelernt, denn was wäre der Nutzen? Mit Erfolgen stellt sich Motivation ein, jene neugiergestützte Selbstwirksamkeitsüberzeugung und Erfolgsgewissheit, die aus Fehlern lernt und nicht durch sie entmutigt wird. Dafür muss aber das gehirn-interne „Belohnungssystem“ intakt bleiben: Spaß am Gelingen und Spaß an der Leistung, gelernt wird – sagt Scheich – unter der Dopamin-Dusche. – Das Gehirn „sagt“: Ich bringe etwas zuwege, und deshalb fühle ich mich wohl. Das möchte ich öfter erleben – sonst klinke ich mich aus und gehe entweder auf stand-by-Schaltung oder auf Tagtraum-Reisen. Interesse und Motiviertheit drücken sich aus im Aktivierungsgrad jener neuro-modularischen Systeme, die durch leichten Erwartungsstress, Belohnungserwartung, gezielte Aufmerksamkeit und Konzentration das Aufnehmen von Informationen steigern und für die Verankerung des Wissens im Langzeitgedächtnis sorgen, d. h. für effektives Lernen. Wie diese Prozesse im einzelnen ablaufen, ist noch nicht bekannt, wohl aber eine wichtige Grundbedingung für höhere Lern- und Gedächtnisleistungen, nämlich eine damit verbundene erhöhte Emotionalität, die sich in Begeisterung oder Gefesseltsein ausdrückt, in Betroffensein oder Betroffenheit. Der enge Zusammenhang von emotionaler Beteiligung und Lernen bzw. Gedächtnis zeigt sich an herausragenden einzelnen und einmaligen Ereignissen, die wir bis in Details behalten, obwohl es keine Wiederholungssituation gegeben hat. Und trotz vieler Wiederholungssituationen vergessen wir bedeutungslose Routine oder uns nicht betreffende Informationen wie die „Tagesschau“ von gestern Abend. Durch die Ermittlung der Bedeutung von Emotionalität und Spaß beim Lernen als wesentlicher Rahmenbedingung für Lernerfolge klärt die Gehirnforschung auch eine heute häufig geführte Diskussion, die hoch ideologisch aufgeladen ist: die Debatte über die sogenannte „Spaßpädagogik“. Damit kritisieren die Befürworter von betonten Leistungsanforderungen in der Schule einen pädagogischen Standpunkt, den sie abschätzig mit „links“ etikettieren, der es den Schülern zu leicht mache, diese sollten vor allem Spaß in der Schule haben und Anstrengungen umgehen können. Häufig wird dies auch „Kuschelpädagogik“ genannt. Hier sorgt die Gehirnforschung für Klarheit. „Kuschelpädagogik“ ist vor allem jene, die nicht nach den individuellen Interessen und Engagements der Schüler fragt und diese auch herausfordert – was ja mühsam genug ist! –, sondern meint, im lehrerzentrierten Unterricht die „Inhalte“ abrufbar „rübergebracht“ zu haben – also der klassische Irrtum der Instruktionspädagogik und Instruktionspsychologie. Denn was passiert? Die Gehirne der Schüler schalten ab, sie sind förmlich weggekuschelt worden. Hingegen ist es der Kern einer modernen erfolgreichen „Spaßpädagogik“, dass sie Lust macht auf fortgesetztes Lernen. Bei dieser Pädagogik steht der Lernende im Mittelpunkt, seine Wertschätzung und seine positive Selbstwahrnehmung. Was er tut und lernt, hat mit ihm zu tun. Deshalb ist etwas wichtig (und nicht, weil es im Lehrplan steht), und deshalb wird es gelernt. – Das Gehirn „sagt“: Endlich werde ich richtig beschäftigt, weil mein Lernen nicht durch sinnlose oder sinnwidrige Informationsüberflutung behindert wird – denn andernfalls muss und werde ich abschalten bzw. meine automatischen Filter schützen mich vor diesem ganzen Unsinn. Gegen diesen Unsinn gibt ein probates Mittel: die Erlebnispädagogik. Sieist eine reformpädagogische Praxis mit ungewöhnlichen Erfolgen, innerhalb und außerhalb der Schule und des Unterrichts, nicht anders als im Tourismus, wo die Kundschaft auch gern dafür bezahlt. Die Gehirnforschung erklärt das Konzept so:Menschen, ihre Schicksale, ihre Emotionen, interessieren uns, weil wir daraus etwas lernen über uns und unsere Zeit. Literatur, Kino und Fernsehen bedienen dieses elementare Bedürfnis optimal. Der eigentliche Gegenstand menschlichen Interesses ist zunächst einmal – der Mensch selbst und seine Lebenswelt. Wir, für uns wichtige Menschen, unsere Lebensumstände sind uns wichtig und lernenswert, erst dann kommen Formeln und Formalitäten. Gelernt wird, wo Emotionen im Spiel sind! Reformpädagogisch inspiriertes Lehren nutzt genau dies: Es lehrt in Szenen und Bildern, durch die Vergegenwärtigung menschlicher geistiger und kultureller Herausforderungen und Leistungen. Mathematik und Naturwissenschaften werden so z. B. aufregende Bereiche alter kultureller Praxis: Sie zeigen nämlich Denksportaufgaben und erlauben Entdeckungsreisen in das Innere, was die Welt im Innersten zusammen hält. Weiter: Lernen ist ein Kommunikationsprozess, mithin am erfolgreichsten in und durch Gruppen, die für sich selbst verantwortlich sind. Lernen in der Gruppe ermöglicht zugleich optimale Individualisierung, weil jeder auf seine Weise und nach seinen Kräften wahrnehmbar zum Gruppenerfolg beitragen kann. So wird – durch Selbstwahrnehmung und Selbstkritik – zugleich auch Respekt und Toleranz gelernt. Lernen bildet! – Das Gehirn „sagt“: Diese strukturierte „Lernumgebung“ hilft mir, meine eigenen Strukturen werden stabiler und zugleich differenzierter. Ich habe das schöne Gefühl der Selbstentwicklung. Für die Masse der Schüler sieht der Schulalltag leider sehr anders aus. Wer kennt nicht die Grundschüler, die stolzgeschwellt, die Schultüte unter dem Arm, endlich mit den Gleichaltrigen in die Welt des Lesens und Schreibens, des Rechnens und Zeichnens eintauchen wollen, eine Welt, die sie endlich mit den Erwachsenen teilen können. Und nach zwei oder drei Jahren? Schulmüdigkeit breitet sich aus. Eine empirische Untersuchung über Einstellungen von 15-Jährigen hat gezeigt, dass sie mit Schule vor allem das Treffen mit Freunden verbinden, auch noch interessanten Unterricht – hin und wieder, aber „Lernen“? Gerade mal 20 Prozent. Sind Schulen auf breiter Front eine Institution der Verhinderung von Spaß am Lernen und dadurch von Lernerfolgen? Die Gehirnforschung würde dies so sehen müssen, denn Leistungsmessung und Leistungsbewertung erfolgen in der Regel in angst- oder stress-besetzten Situationen, in denen das Gehirn kein verzweigtes, sondern nur isoliertes Faktenwissen zur Verfügung stellen kann. Es wird also nicht nur nicht ermittelt, was die Schüler wirklich können, sondern die Art der Ermittlung vermittelt den meisten von ihnen noch dazu das entmutigende Gefühl, dass ihre Anstrengungen entwertet werden. Eine andere Lehrerausbildung für einen anderen, sozusagen „gehirngerechten“ Unterricht müsste hier ansetzen. Die Studierenden kommen mit hohen Erwartungen nicht nur an die fachliche, sondern vor allem an die pädagogische und psychologische Ausbildung, an Einführungen in die Kunst des Unterrichtens, des Anleitens, für den Umgang mit Lernschwierigkeiten, mit anderen Worten: mit hohen Erwartungen an eine berufsbezogene Ausbildung. Und was wird ihnen in der Regel an der Universität geboten? Wissenschaftswissen wird in sie hineingestopft, halb verstanden, unverdaulich, gelernt für Klausuren und damit prompt wieder größtenteils vergessen. Ob sie später einmal Schüler auf geistige Entdeckungsreisen mitnehmen können, bleibt ungewiss. Aber Schüler wollen sich und die Welt verstehen, und was bekommen sie geboten? „Stoff“ laut Lehrplan, demnächst noch auf Flaschen gezogen, die man „Bildungsstandards“ nennt. Die nicht wenigen guten Lehrerinnen und Lehrer haben sich ihre Expertise mühsam und auf sich gestellt aneignen müssen, Unterstützung hatten sie dabei kaum. Einen krasseren Widerspruch kann es kaum geben als denjenigen zwischen Normierung von Leistungen, die unter erfolgswidrigen Umständen zu erbringen sind, und den Einsichten der modernen Gehirnforschung in die Voraussetzungen und Bedingungen erfolgreichen individuellen nachhaltigen Lernens und Leistens. Eine Schulpolitik hat dies zu verantworten, die die Schulen durch unpädagogische Vorgaben und Vorschriften dereguliert hat. Es steht zu hoffen, dass die moderne Gehirnforschung dort mehr Wirksamkeit entfalten kann, wo sie bisher der Pädagogik versagt geblieben ist.

[1] Wolf Singer: Was kann ein Mensch wann lernen? In: Ders.: Der Beobachter im Gehirn. Frankfurt/M. 2002, S. 43-59.

[2] Die Geburt der Intelligenz. Wie Kinder denken lernen. Titelgeschichte des SPIEGEL, Nr. 43, 20.10.2003. – Die Entschlüsselung des Gehirns. SPIEGEL-Spezial 4/2003.

[3] Henning Scheich: Lernen unter der Dopamindusche. In: DIE ZEIT, Nr. 39, 18.9.2003, S. 38.

[4] Ehrenhard Skiera: Reformpädagogik in Geschichte und Gegenwart. München/Wien 2003.

S. 216-219. – Ders.: Medizin für die Pädagogik. In: DIE ZEIT, Nr. 39, 18.9.2003, S. 38.

Frank Schirrmacher: Gehirntraining . Über die Benutzung des Kopfes

Publikation: November 2010 im Internet-Journal <<kultur-punkt.ch>>
Ereignis-, Ausstellungs-, AV- und Buchbesprechung
 
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 144 Seiten, 12,5 x 20,0 cm, mit Illustrationen; ISBN: 978-3-89667-407-4; € 14,95 [D] | € 15,40 [A] | CHF 26,90
Randomhouse-Blessing Verlag München; www.randomhouse.de/blessing/

Inhalt
Unser Kopf kann mehr, als wir denken
Kann man besser denken, wenn man sich bewegt? Macht Musikhören schlauer? Sterben beim Kopfballspiel Gehirnzellen ab? Und wie ist das mit den berühmten leichten Schlägen auf den Hinterkopf? Noch immer ranken sich viele Mythen um Aufbau und Funktionsweise unserer „grauen Zellen”. Und tatsächlich birgt das Gehirn für die Forscher noch viele Geheimnisse. Klar ist, dass entgegen einer weit verbreiteten Ansicht die Entwicklung des Gehirns niemals wirklich abgeschlossen ist, gezieltes Training das Gehirn auch physisch verändert und lebenslanges Lernen so möglich ist. Dieses Buch bietet deshalb beides: den aktuellen Stand unseres Wissens über das Gehirn und praktische Übungen mit überraschenden Wirkungen.
Mit einer Einführung von Frank Schirrmacher und Beiträgen von Nicole Becker, Christian Behl, Niels Birbaumer, Vera F. Birkenbihl, Christian E. Elger, Angela Friederici, Britta Hölzel, Gerd Kempermann, Jürgen Kaube, Joachim Müller-Jung, Robert Plomin, Ernst Pöppel, Wolf Singer, Julia Spinola und Semir Zeki.
Die Beiträge erschienen als Artikelserie zwischen März und September 2008 in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung” und werden hier erstmals zusammen gefasst.

Frank Schirrmacher
Zeitung". 2004 sagte er dem Altersrassismus den Kampf an – für sein Buch "Das Methusalem-Komplott" erhielt er u. a. den "Corine-Sachbuch-Preis" und die Auszeichnung "Journalist des Jahres 2004". Mit "Minimum" landete er 2006 erneut einen publizistischen Coup und setzte das Thema des Jahres. 2007 erhielt er als erster Journalist den "Jacob-Grimm-Preis Deutsche Sprache" und wurde 2009 mit dem "Ludwig-Börne-Preis" ausgezeichnet. Zuletzt erschien bei Blessing "Payback". Frank Schirrmacher lebt in Frankfurt und Potsdam.

Fazit
Frank Schirrmacher's Buch " Gehirntraining ". denkt über die Benutzung des Kopfes nach sieht im Gehirndoping ist ähnlich wie "Muskeldoping eine Ausgeburt des häufig rücksichtslosen Wettbewerbs auf allen gesellschaftliche Ebenen, insbesondere in Ausbildung und Beruf". So fassen Herausgeber Schirrmacher und sein Autorenteam ihr Kredo zum Gehirntraining zusammen, das um lebenslanges Lernen, Schlaganfalltherapie. und mit Trainingsanweisungen in grafischer Form kreist. m+w.p10-11

Gehirnzellen regenerieren sich auch bei Erwachsenen

Neurogenese erstmals im Riechkolben nachgewiesen
http://www.sahlgrenska.gu.semonschein@pressetext.comhttp://www.sciencemag.orghttp://www.ucl.ac.uk

Göteborg (pte/16.02.2007) - Das Vorhandensein von neu entstandenen Zellen in einer Gehirnregion, die für die Verarbeitung von Gerüchen verantwortlich ist, haben Wissenschafter der Sahlgrenska akademin bei Menschen mittleren Alters und bei Senioren nachgewiesen. Die Ergebnisse der in Science veröffentlichten Studie liefern einen weiteren Hinweis darauf, dass die Regeneration von Gehirnzellen auch bei Erwachsenen stattfindet. Frühere Studien haben die so genannte Neurogenese auch bei zahlreichen anderen Arten nachgewiesen. 1998 wurde diese Regeneration erstmals im Hippokampus des Menschen nachgewiesen.

Das Team um Peter Eriksson untersuchte, ob die Neurogenese auch in anderen Regionen des erwachsenen Gehirns stattfindet. Sie konzentrierten sich dabei auf die Gehirne von Krebspatienten, die Injektionen mit Bromodeoxyuridin (BrdU) erhalten hatten. Die chemische Markierung von BrdU wird in die DNA von neuen Zellen aufgenommen, die sich kurz nach der Injektion bildeten. Bei der Untersuchung der durch den Krebs geschädigten Gehirne zeigte sich, dass sich BrdU-positive Zellen im so genannten Riechkolben gebildet hatten. Dieser Bereich des Gehirns ist für die Verarbeitung von Gerüchen zuständig. Da die Patienten zwischen 38 und 70 Jahre alt waren, bewiesen die Ergebnisse, dass die Neurogenese in dieser Gehirnregion auch bei Erwachsenen stattfindet.

Experten gehen laut New Scientist davon aus, dass das Entstehen neuer Neuronen im Riechkolben auch im fortgeschrittenen Alter helfen kann, neue Gerüche zu erkennen und sich an diese zu erinnern. Eriksson geht davon aus, dass der Mensch mehr auf seinen Geruchssinn vertraut als bisher angenommen. Die Kennzeichnung mit BrdU ermöglichte den Wissenschaftern auch in den Ventrikeln ein Reservoir von Stammzellen im Gehirn zu identifizieren, die sich zu Neuronen entwickeln. Bei der Untersuchung von Gehirnproben fanden die Forscher in jeder Gehirnhälfte einen Kanal, der die Ventrikel mit der für den Geruchssinn zuständigen Region verbindet. Dieser Kanal hat einen Durchmesser von rund 1,5 Millimetern und eine Länge von 35 Millimetern. Laut Eriksson war das Team sehr erstaunt, dass diese anatomische Struktur bisher noch nicht entdeckt worden war. Neue Gehirnzellen wandern über diesen Kanal in den Riechkolben. Laut Sebastian Brandner vom University College London sind vergleichbare Strukturen bei Nagetieren bereits bekannt.

Aussender: pressetext.austria
Redakteur: Michaela Monschein
Tel. +43-1-81140-0