Patienten mit Mangelernährung haben ein höheres Risiko zu sterben

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Eine Frage, zwei Antworten: Doppelinterview Mediziner & Ernährungswissenschaftlerin


(08.06.2016) Wer sich ausgewogen ernährt, beeinflusst aktiv Wohlbefinden und Abwehrkräfte. Und beeinflusst im Krankheitsfall auch Dauer und Erfolg von Therapien sowie Schwere und Häufigkeit von Komplikationen – was gerade bei der Behandlung von betagten Patienten entscheidend sein kann. Ein Faktor, der trotzdem im Klinikalltag oft übersehen wird, wie die Deutsche Gesellschaft für Geriatrie (DGG) erkannt hat. Dabei sind bis zu zwei Drittel der geriatrischen Patienten von einer Mangelernährung betroffen. Wie Mediziner ihren Blick schulen und Konsequenzen ziehen können, darüber sprechen im Doppelinterview Ernährungswissenschaftlerin Mareike Maurmann, Meinerzhagen, und Dr. Andreas Leischker, Chefarzt der Klinik für Geriatrie am Alexianer in Krefeld.
Mangelernährung in Deutschland! Wie kann es das im Jahr 2016 geben?
Dr. Andreas Leischker: Eigentlich sollte es 2016 überhaupt keine Mangelernährung mehr geben! Aber auch in den Industrieländern ist Mangelernährung häufig. Grundsätzlich sind alle Altersgruppen betroffen. Bei älteren Menschen steigt die Prävalenz aber deutlich. Die Gründe sind unterschiedlich: Häufig sind körperliche und psychische Erkrankungen die Ursache für einen verminderten Appetit. Weitere Gründe für eine einseitige Lebensmittelauswahl und eine verringerte Nahrungsaufnahme können soziale Aspekte, wie zum Beispiel der Verlust des Partners und die steigende Hilfsbedürftigkeit sein. Wir dürfen aber auch nicht ausblenden, dass auch die Altersarmut dazu führen kann, dass älteren Menschen die finanziellen Mittel für eine gesunde Ernährung fehlen.
Mareike Maurmann: Es sind auch körperliche Veränderungen im Alter wie zum Beispiel der Zahnverlust (eine lockere Prothese), ein veränderter Geruchs- und Geschmackssinn, Immobilität und Bewegungseinschränkungen, die zu einer verringerten Nahrungsaufnahme führen können. Dazu kommen Erkrankungen wie zum Beispiel ein Schlaganfall mit Schluckstörung oder solche, die den Gastrointestinaltrakt betreffen, vielleicht sogar ein künstlicher Darmausgang. All das kann zu Appetitlosigkeit, Einschränkungen bei der Nahrungsaufnahme oder einer schlechten Resorption führen. Bis die Mangelernährung so offensichtlich wird, dass das Umfeld der Betroffenen aufmerksam wird, kann es ziemlich lange dauern. Hier ist eine stärkere Aufklärung bei Angehörigen und Hausärzten gefragt.
Warum ist es so wichtig, eine Mangelernährung zu erkennen?
Leischker: Patienten mit Mangelernährung haben ein deutlich höheres Risiko zu sterben oder schwere Komplikationen zu entwickeln. Die Krankenhausverweildauer von mangelernährten Patienten ist deutlich länger. Durch eine gute Ernährungstherapie können Krankenhäuser also nicht nur Todesfälle und Komplikationen vermeiden, sondern auch – durch kürzere Verweildauern – Geld sparen. Leider hat sich diese Erkenntnis bei den meisten Krankenhausleitungen bisher noch nicht durchgesetzt. Eine ausgewogene Ernährung ist extrem wichtig für das Wohlbefinden unserer Patienten.
Maurmann: Das sehe ich ähnlich. Durch eine unbehandelte Mangelernährung sinkt die Immunkompetenz, zudem verschlechtern sich der Allgemeinzustand und die Prognose. Die psychische Verfassung und die Therapietoleranz nehmen ab. Die Infektionsrate, -dauer und -schwere nehmen zu, auch die Komplikationsrate und die Gefahr von Immobilität und Stürzen steigen. Außerdem kommt es häufiger zu Wundheilungsstörung. Insgesamt nimmt also die Pflege- und Hilfsbedürftigkeit des Patienten zu. Die Mangelernährung sollte also immer mit behandelt werden beziehungsweise muss viel stärker in den Fokus von Ärzten und Therapeuten rücken.
Warum sind Ärzte und Kliniken nicht genügend sensibilisiert für das Thema? Was müsste hier verbessert werden?
Maurmann: Es gibt zum Glück einige Ärzte, die das Thema sehr ernst nehmen. Aber aus meiner Erfahrung ist die Mehrzahl der Mediziner leider nicht für das Thema Mangelernährung sensibilisiert. Es gibt auch nur wenige Kliniken, die Ernährungsfachkräfte in ausreichender Zahl beschäftigen, die diese Patienten intensiv betreuen können, obwohl viele Studien die Wirksamkeit einer solchen Therapie belegen. Für eine Klinik ist die Einstellung einer Ernährungsfachkraft, die die Schnittstelle eines interdisziplinären Teams aus Ärzten, Logopäden und den Mitarbeitern der Diätküche, darstellen könnte, leider auch eine Kostenfrage. Die Diagnose Mangelernährung kann zwar abgerechnet werden, wirkt sich in der Geriatrie aber nur in den wenigsten Fällen schweregradsteigernd aus. Damit kann sich diese Stelle in der Geriatrie nicht durch ihre Arbeit selbst finanzieren. Die Behandlung muss mit den Krankenkassen abgerechnet werden können, das heißt hier muss das Thema Ernährungstherapie auch bei der Berechnung des Case Mix Index eine Rolle spielen. Denn ich bin überzeugt, wenn die Kliniken adäquat Geld für diese Therapie bekommen würden, stünden sie auch mehr im Fokus.
Leischker: Leider glauben auch viele Ärzte, alles über Ernährung zu wissen – nach dem Motto: „Ich kann doch selbst gut essen.“ In der Tat fehlt es diesen fast immer an grundsätzlichen Kenntnissen aus der Ernährungsmedizin. Kein Wunder, im Medizinstudium ist das Thema noch eindeutig unterrepräsentiert. Hier sind die Universitäten gefordert, die Ernährungsmedizin in die Curricula zu verankern. In den Curricula der Facharztweiterbildungen kommt dieser Komplex zwar vor, wird aber leider oft in der Praxis vernachlässigt. Sinnvoll wäre es, wenn jede Klinik je nach Größe eine Mindestzahl an Ärzten mit ernährungsmedizinischer Zusatzqualifikation beschäftigen müsste. Diese könnten dann ihr Wissen auch an die Assistenzärzte weitergeben.
Woran erkennen Sie, dass eine Person an Mangelernährung leidet?
Maurmann: Bei der Mangelernährung muss zunächst zwischen einer Unterernährung und einer Fehlernährung unterschieden werden. Bei der Unterernährung kann der Patient seinen Energiebedarf nicht decken, sodass es zu einer allgemeinen Unterversorgung kommt, die meist durch einen Protein- und Energiemangel dominiert wird. Durch den Energiemangel kommt es recht schnell zu einem ungewollten Gewichtsverlust, der besonders zu Lasten der Muskelmasse geht. Diese Patienten sind insgesamt geschwächt, häufig antriebslos und müde. Von einer Fehlernährung wiederum können nicht nur untergewichtige, sondern auch normalgewichtige und übergewichtige Patienten betroffen sein. Diese wird meist von einer sehr einseitigen Ernährung verursacht. Es gibt auffällige Symptome, die von stumpfen Haaren und brüchigen Fingernägeln über Entzündungen von Mundschleimhaut, Zahnfleisch und Lippen bis
hin zu Hautblutungen und schuppendem Hautauschlag reichen. Verwirrtheit oder eine periphere Neuropathie können ebenfalls Hinweise für eine Fehlernährung sein. In der Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM) für klinische Ernährung in der Geriatrie wurde 2013 schon darauf hingewiesen, dass in Langzeitpflegeeinrichtungen und Krankenhäusern bis zu zwei Drittel der geriatrischen Patienten von einer Mangelernährung betroffen sind, sodass hier großer Handlungsbedarf besteht.
Leischker: Der Verdacht auf eine Mangelernährung ergibt sich für den Erfahrenen häufig bereits aus dem ersten klinischen Eindruck: dünne Körperstatur, eingefallene Wangen... Bei einem Verdacht sollte zunächst ein Screening auf Mangelernährung erfolgen. Sehr gut validiert und schnell durchführbar ist die Kurzform des Mini Nutritional Assessments (MNA-SF).
Die Formulare hierfür sind in allen gängigen Sprachen kostenlos im Internet verfügbar. Das Screening kann von Ernährungsberatern, Pflegepersonal oder Ärzten durchgeführt werden. Weitere gut validierte Verfahren sind das Nutritional Risk Screening („Kondrup-Score“) und die „Langversion“ des MNA (siehe Links weiter unten).
Idealerweise sollte bei allen stationären Patienten und bei allen Pflegeheimbewohnern ein Screening auf Mangelernährung erfolgen. Sofern sich der Verdacht bestätigt, erfolgt ein ausführlicheres Assessment.
Wenn die Mangelernährung erkannt ist, wie geht es weiter?
Leischker: Zunächst gilt es, leicht identifizierbare Ursachen in Angriff zu nehmen – dies reicht von der Anpassung eines neuen Zahnersatzes bis zur Therapie einer Depression. Unabhängig von der Ursache erfolgt immer eine Ernährungsberatung. Dazu gehört die Gabe energiedichter Kost sowie die Anreicherung der Nahrung mit Sahne, Proteinen und anderen hochkalorigen Lebensmitteln. Ist dies nicht ausreichend, erfolgt die Verordnung von Trinknahrung.
Maurmann: Eine richtig typische Therapie gibt es in der Geriatrie eigentlich nicht, da jeder Patient andere Grunderkrankungen und andere Nährstoffdefizite mitbringt, die immer berücksichtigt werden müssen. Wenn die Diagnose einer Mangelernährung gestellt wurde, sollte so früh wie möglich mit der Therapie begonnen werden, um einen weiteren Verlust der Muskelmasse und ein größer werdendes Nährstoffdefizit zu verhindern. Für die Therapie muss zunächst festgestellt werden, welche Form der Mangelernährung vorliegt und wodurch der Mangel entstanden ist. Wenn keine Nebendiagnosen vorliegen, die einer spezielle Kostform bedürfen, der Gastrointestinaltrakt voll funktionsfähig ist und keine Schluckstörung vorliegt, wird bei einer Unterernährung zunächst die Wunschkost mit dem Patienten besprochen und dann die Ernährung so gestaltet, dass die Mahlzeiten den Kalorienbedarf decken können und alle Nährstoffe in ausreichender Menge enthalten sind. Zusätzlich werden Zwischenmahlzeiten angeboten und Trinknahrung bereitgestellt. Bei einem spezifischen Nährstoffmangel werden vermehrt die Lebensmittel angeboten, die diesen Nährstoff enthalten. Auch Nahrungsergänzungsmittel können eingesetzt werden. Der Kostaufbau sollte bei einer Mangelernährung immer stufenweise erfolgen, da besonders bei Patienten, die mehrere Tage kaum etwas zu sich genommen haben, die Gefahr des Refeeding-Syndroms besteht. Das bedeutet: Wenn sie nach langer Zeit der Unterernährung zu schnell normale Nahrungsmengen zu sich nehmen, kann es im Extremfall zu lebensbedrohlichen Komplikationen kommen.
Was können Senioren tun, um Mangelernährung vorzubeugen?
Leischker: Ausreichend und regelmäßig essen! Falls sie merken, dass sie Gewicht verlieren, nicht nur einen Arzt, sondern gleichzeitig auch eine Ernährungsberaterin aufsuchen.
Maurmann: Senioren sollten ein Auge auf sich und ihren Körper haben. Die Mahlzeiten sollten vielfältig und ausgewogen sein, also von jedem etwas. Bei Obst und Gemüse gilt: Bunt ist gesund. Wenn Lebensmittel aufgrund von Kau- oder Schluckbeschwerden nicht mehr gegessen werden können, sollte nach anderen Zubereitungsformen gesucht werden. Das frische Obst kann zum Beispiel zu einem Smoothie verarbeitet werden oder die Kartoffeln zu Kartoffelpüree. Auf die Risikonährstoffe wie Vitamin B12 (zum Beispiel in Fleisch, Fisch, Eiern), Folsäure (zum Beispiel in Hülsenfrüchten, grünem Blattgemüse, Leber, Nüssen), Calcium (zum Beispiel in Milchprodukten, Grünkohl, verschiedenen Kräutern, Mineralwasser) und Vitamin D (zum Beispiel in verschiedenen Fisch- und Pilzsorten) sollte ein besonderes Augenmerk liegen, da diese Nährstoffe im Alter durch verschiedene Erkrankungen häufig schlechter resorbiert oder zu wenig aufgenommen werden.
Sollte die Ernährung mit Supplementen unterstützt werden?
Leischker: Bei einer gesunden, abwechselnden Ernährung sind keine Supplemente erforderlich. Höchstens strenge Veganer benötigen Vitamin B 12 und häufig Eisen. Auch bei einigen Erkrankungen ist die Zugabe von Vitaminen und/oder Mineralstoffen erforderlich. Generell sollten Supplemente nur nach Rücksprache mit einem Arzt oder einer Ernährungsberaterin zur Anwendung kommen. Denn Extra-Vitamine können sogar das Krebsrisiko erhöhen!
Maurmann: Nahrungsergänzungsmittel und Supplemente sind tatsächlich nur selten sinnvoll. Eine Ausnahme bildet hier meiner Meinung nach allerdings das Vitamin D, da es nicht in ausreichender Menge in der Nahrung vorkommt und wir es nur mit Hilfe des Sonnenlichts in der Haut synthetisieren können. Im Winter sollte daher über eine Ergänzung der Nahrung mit Vitamin D nachgedacht werden. Wenn möglich, ist die Aufnahme der Nährstoffe über Lebensmittel immer den Supplementen vorzuziehen, da durch das Zusammenspiel der vielen verschiedenen Inhaltsstoffe die Bioverfügbarkeit der einzelnen Nährstoffe steigt. Der Körper profitiert zusätzlich von der Vielfalt dieser Stoffe wie zum Beispiel den sekundären Pflanzenstoffen in Obst und Gemüse.
Und wenn der Mensch einfach keine Lust aufs Essen hat?
Maurmann: Appetitlosigkeit stellt ein schwer zu greifendes Problem dar. Die Ursachen für Appetitlosigkeit sind extrem vielfältig und reichen von psychischem Stress, Sorgen und Ängsten über Schmerzen, Verdauungsprobleme, Infektionen und so weiter bis hin zu den Neben- und Wechselwirkungen der verschiedensten Medikamente. In einer ausführlichen Beratung sollte zunächst mit dem Patienten nach der Ursache der Appetitlosigkeit gesucht werden. Auch Gespräche mit einem Seelsorger oder einem Mitarbeiter des Sozialdienstes können hilfreich sein, um die Fragen der häuslichen Versorgung zu klären, die für die Patienten oft sehr bedrückend sind. Das Absetzen oder Umstellen von Medikamenten oder das Anpassen der Schmerztherapie sind weitere eventuell hilfreiche Maßnahmen. Neben einer auf den Patienten abgestimmten Kostform, die auf Verdauungsprobleme wie Obstipation, Blähungen oder
Diarrhoen eingeht, sollten auch die Gewohnheiten und Wünsche des Patienten berücksichtigt werden. Einer Mangelernährung kann gegebenenfalls durch die Gabe von Trinknahrung und Zwischenmahlzeiten vorgebeugt werden. Um nicht nur gegen die Ursachen, sondern auch gegen die Appetitlosigkeit selbst etwas zu tun, können zum Beispiel Gewürzpflanzen mit Bitterstoffen (zum Beispiel Anis, Fenchel, Kümmel, Rosmarin) eingesetzt werden, die appetitanregend und verdauungsfördernd wirken. Manchen Patienten hilft auch ein kleiner Schluck Pepsinwein vor dem Essen, der die appetitanregende Wirkung eines Aperitifs besitzt. Die ernährungstherapeutische Betreuung ist hier wichtig, um immer wieder mit dem Patienten gemeinsam die Kostform anzupassen, verschiedene Lebensmittel zu probieren und die Therapie zu evaluieren.
Leischker: Und gerade ältere Menschen sollten in Gesellschaft essen. Studien zufolge wird dann bis zu 20 Prozent mehr Nahrung verzehrt. Das Essen sollte appetitlich angerichtet sein. Ab und zu sollten ältere Menschen auch ein Restaurant besuchen – wegen der anderen Umgebung und der Abwechslung. Aber auch viele Medikamente können Appetitlosigkeit verursachen. Ihre Indikation sollte daher kritisch geprüft werden.
Weiterführende Informationen:

http://www.mna-elderly.com/forms/mini/mna_mini_german.pdf  – Kurzform des Mini Nutritional Assessments (MNA-SF): http://www.mna-elderly.com/forms/MNA_german.pdf  – Langform des Mini Nutritional Assessments (MNA) http://www.dgem.de/materialien.htm  – Nutritional Risk Screening („Kondrup-Score“)
http://www.ernaehrung-maurmann.de  – Praxis für Ernährungsberatung und -therapie, Mareike Maurmann

Deutsche Gesellschaft für Geriatrie (DGG)
Die Deutsche Gesellschaft für Geriatrie (DGG) ist die wissenschaftliche Fachgesellschaft der Ärzte, die sich auf die Medizin der späten Lebensphase spezialisiert haben. Wichtige Schwerpunkte ihrer Arbeit sind neben vielen anderen Bewegungseinschränkungen und Stürze, Demenz, Inkontinenz, Depressionen und Ernährungsfragen im Alter. Häufig befassen Geriater sich auch mit Fragen der Arzneimitteltherapie von alten Menschen und den Wechselwirkungen, die verschiedene Medikamente haben. Bei der Versorgung geht es darum, den alten Menschen ganzheitlich zu betreuen und ihm dabei zu helfen, so lange wie möglich selbstständig und selbstbestimmt zu leben. Die DGG wurde 1985 gegründet und hat heute rund 1700 Mitglieder.

Kontakt der DGG
Nina Meckel
medXmedia Consulting
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