Ulrich Teusch: Falscher Umgang mit Gefahr. Die Krise der Katastrophengesellschaft
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SWR2 AULA - Professor Ulrich Teusch: Falscher Umgang mit Gefahr. Die Krise der Katastrophengesellschaft
Autor: Professor Ulrich Teusch*
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
Sendung: Sonntag, 26. Juli 2009, 8.30 Uhr, SWR 2
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Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen
Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
*Zum Autor:
Prof. Dr. Ulrich Teusch ist freier Publizist und lebt in Kassel. Er arbeitet für verschiedene
Rundfunkanstalten, Tageszeitungen und Zeitschriften zu kulturellen, politischen
und zeithistorischen Themen. Zugleich lehrt er Politikwissenschaft an der Universität
Trier.
Bücher:
– Die Katastrophengesellschaft. Warum wir aus Schaden nicht klug werden. Rotpunktverlag.
– Was ist Globalisierung? Ein Überblick. Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
– Die Staatengesellschaft im Globalisierungsprozess. Wege zu einer antizipatorischen
Politik. VS Verlag.
– Freiheit und Sachzwang. Untersuchungen zum Verhältnis von Technik, Gesellschaft
und Politik. Nomos Verlag.
ÜBERBLICK
Die Welt ist sicher wie nie zuvor und zugleich katastrophenanfällig wie nie zuvor. Dies ist ein für die Moderne symptomatisches Paradoxon. Je technisierter unser Leben wird, desto mehr sind wir Störfällen ausgeliefert, je mehr wir die Natur ausbeuten, desto härter scheint sie mit Naturkatastrophen zurückzuschlagen. Die Katastrophengesellschaft ist fragil, verwundbar und statt auf Gefahren adäquat zu reagieren, oszilliert sie stets zwischen Hysterie und Verharmlosung. Der Soziologe und Buchautor Ulrich Teusch beschreibt, warum wir aus Schaden nicht klug werden.
INHALT
Ansage:
Heute mit dem Thema: „Falscher Umgang mit der Gefahr – Die Krise der Katastrophengesellschaft“.
Wie, habe ich richtig gehört, werden Sie jetzt sagen: Katastrophengesellschaft, leben
wir tatsächlich in einer solchen, obwohl wir doch das Gefühl haben, rundum abgesichert
zu sein, auch die Finanzkrise hat sich doch schon längst weggeschlichen.
Dennoch: Wir leben in einer Katastrophengesellschaft, das sagt der Publizist und Politikwissenschaftler
Professor Ulrich Teusch, und diese Gesellschaft geht mit Katastrophen
katastrophal um, sie denkt nämlich, sie können mit Technik alles lösen und in
den Griff bekommen. Ein Irrglauben!
Wie diese Katastrophengesellschaft genau aussieht, wie sie auf das Unvorhersehbare
reagiert, erklärt Teusch in der SWR 2 AULA:
Ulrich Teusch:
Zum einen wird unsere Welt immer öfter von schweren Katastrophen heimgesucht,
von Naturkatastrophen, technischen Katastrophen, aber auch von ökonomischen,
sozialen oder politischen Katastrophen. Sodann ist unser Leben durch ein enormes
Katastrophen-Potential gekennzeichnet. Und schließlich: Viele von uns sind unfähig
oder unwillig, diese Lage mit nüchternen Augen zu betrachten. Wir neigen zu extremen
Ausschlägen, entweder zur Verdrängung und Beschwichtigung oder zur Dramatisierung
und Hysterie. Die Katastrophengesellschaft laviert zwischen Panikmache
und Verharmlosung. Eine Gesellschaft der Extreme also – und das hat fatale Folgen:
Auf manchen Problemfeldern tut sie zu viel, auf anderen zu wenig, auf allzu vielen
auch gar nichts. Vor allem aber, so meine These, tut sie das Falsche. Denn sie versucht
ihre Probleme mit denselben Mitteln zu lösen, die sie verursacht haben. Sie
glaubt allen Ernstes, mit Hilfe moderner Technik Sicherheit erlangen zu können.
Betrachten wir zunächst das eine Extrem, diejenigen, die sich die Welt schön reden.
Katastrophen, sagen sie, sind nichts Neues unter der Sonne. Es hat sogar Zeiten
gegeben, allen voran das Europa des 14. Jahrhunderts, in denen die Menschen weit
mehr von schweren Katastrophen gebeutelt wurden als heute. Unsere Gegenwart
wiederum sei nicht primär durch ihre katastrophischen Züge gekennzeichnet, sondern,
im Gegenteil, durch den historisch einzigartigen Grad an Sicherheit, den man
dank moderner Technik und Medizin in vielen Weltteilen erreicht habe. Und stimmt
es denn etwa nicht? Die durchschnittliche Lebenserwartung ist in der Tat höher als je
zuvor. Was an Gefährdungen des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit noch
verblieben ist, lässt sich meist den individuellen, oft bedenkenlos und wider besseres
Wissen eingegangenen Risiken zuschreiben: Nikotin, Alkohol, unvorsichtiges Verhalten
im Straßenverkehr fordern weit mehr Opfer als die nur selten auftretenden Katastrophen.
Eine typische „Erste Welt-Perspektive“ sei das, protestieren andere, mit der Lebenswirklichkeit
etwa in den Hunger- und Elendszonen unseres Planeten habe sie wenig
zu tun. Und dann zählen sie die Bedrohungen auf, denen wir ausgesetzt sind. Es
sind derer so viele, dass man sich schon bald fragt, wovor man sich denn nun am
meisten fürchten soll. Ist es die Klimakatastrophe? Oder sind es die Seuchen, die
angeblich allerorten auf dem Vormarsch sind: AIDS, SARS, BSE, Vogelgrippe? Ist
das ungebremste Wachstum der Weltbevölkerung die Crux? Sind es Migrationsströme,
Megacitys, Verelendung? Oder Artensterben, Vernichtung der Regenwälder,
Ausbreitung der Wüsten? Ist am Ende doch die industrielle Großtechnik das Hauptübel,
die von Tschernobyl bis Harrisburg, von Bhopal bis Seveso und bis hinein in
unsere Gegenwart eine Spur der Zerstörung zieht? Oder müssen uns die ganz neuen
Bedrohungen am meisten beunruhigen, etwa das Katastrophenpotential des globalen
Terrorismus?
Natürlich stehen sich Schönredner und Schwarzmaler nicht so idealtypisch gegenüber,
wie ich es hier gerade suggeriere. Die meisten von uns sind nämlich Schönredner
und Schwarzmaler in einer Person – eine ideologisch bedingte Schizophrenie,
wenn man so will. Da plädiert der eine vehement für den Bau neuer Kernkraftwerke,
läuft aber beim ersten Anzeichen von Schweinegrippe mit Mundschutz durch die Gegend.
Da begegnet der andere dem Klimawandel mit stoischer Ruhe, wird aber angesichts
des globalen Terrorismus regelmäßig von Panikattacken heimgesucht. Und
so weiter. Ein mehr oder weniger fest gefügtes Weltbild bestimmt, worüber man sich
aufregt und worüber nicht.
Dabei ist das, was Schönredner und Schwarzmaler im Einzelnen zu sagen haben, ja
keineswegs falsch. Es ist in der Tat so: In einigen Weltteilen hat unser Leben einen
historisch einzigartigen Grad an Sicherheit erreicht. Und es ist ebenso wahr, dass wir
es gegenwärtig mit einem vermutlich noch nie da gewesenen Katastrophenpotential
zu tun haben. Unsere Welt ist so sicher wie nie zuvor – und zugleich so katastrophenträchtig
wie nie zuvor. Warum fällt es so schwer, dieses Paradoxon, dieses Dilemma
anzuerkennen und nach seinen Ursachen zu forschen? Warum fällt es so
schwer, die eben aufgelisteten Bedrohungen wie auch die Sicherheiten nüchtern in
ihrer tatsächlichen Bedeutung zur Kenntnis zu nehmen und in Rechnung zu stellen?
Vielleicht sogar Zusammenhänge zwischen einzelnen Phänomenen zu erkennen?
Warum muss man die einen herunterspielen und die anderen hochspielen? Und warum
muss man sie gegeneinander ausspielen?
Mitunter gleicht die Katastrophengesellschaft einem Wettbüro. Die Spieler treffen
Aussagen über die Zukunft, die diametral entgegengesetzt und obendrein anmaßend
sind. Sie stellen Behauptungen auf, die derart weit in die Zukunft reichen, dass es
sich nicht länger um seriöse Prognosen, Hochrechnungen, Modellierungen oder
Szenarios handelt, sondern um Prophezeiungen, um wissenschaftlich verbrämte
Formen der Wahrsagerei. Es gibt Leute, vermeintliche oder tatsächliche Experten,
die zu wissen vorgeben, worauf unser gegenwärtiges Tun und Lassen am Ende hinauslaufen
wird, auf so etwas wie eine finale Großkatastrophe nämlich, und es gibt
andere, die versichern, dass genau dies nicht geschehen wird. „Es ist bereits zu
spät“, sagen die einen. „Nein, noch können wir es schaffen“, entgegnen die anderen.
So erschrecken und beruhigen sie ihr Publikum schon seit Jahren und Jahrzehnten.
Dennis Meadows zum Beispiel, berühmt geworden durch seine „Club of Rome“-
Studien zu den Grenzen des Wachstums, zeigte sich schon Ende der 1980er Jahre
resigniert. Die Menschheit verhalte sich wie ein Selbstmörder, sagte er damals, und
es habe keinen Sinn mehr, einem Selbstmörder gut zuzureden, wenn er bereits aus
dem Fenster gesprungen ist. Andere verbreiten unterdessen unentwegt Optimismus.
Vor ein paar Wochen konnte man es wieder schwarz auf weiß lesen. Eine große
deutsche Tageszeitung brachte ein Interview mit Ex-Umweltminister Töpfer und Vattenfall-
Chef Josefsson zur Klimaentwicklung. Auf die Eingangsfrage, ob wir denn die
von Wissenschaftlern geforderte Kehrtwende – also: 90 Prozent weniger klimarelevante
Emissionen in den Industriestaaten bis 2050 – erreichen können, antwortete
Josefsson: „Ja, das ist machbar.“ Und Töpfer fügte hinzu: „Das wird auch so kommen.“
Leider lieferte das ganzseitige Interview dann wenig konkrete Anhaltspunkte
für solcherlei Optimismus.
Wie auch immer: Die Behauptung, dass wir es „noch“ schaffen können, ist ebenso
spekulativ wie die, dass es bereits „zu spät“ sei. Denn wer will das wissen? Wir haben
so gewaltige Probleme aufgetürmt, dass sich zur Frage, ob wir sie noch rechtzeitig
werden entschärfen können, allenfalls vage Vermutungen anstellen lassen. Die
Vorstellung, wir könnten heute ein einigermaßen realistisches Bild der Welt im Jahr
2050 oder gar 2100 entwerfen, wäre reine Hybris.
Was immer man unter einer Katastrophe auch genau versteht, sicher ist, dass im
Zuge des katastrophischen Geschehens etwas in großem Stil außer Kontrolle gerät.
Es entzieht sich der Kontrolle durch den Menschen oder es verliert die „Selbst-
Kontrolle“. Eine Katastrophe ist ein Phänomen sui generis, ein fundamentaler Einschnitt,
der zunächst keinerlei Entwicklungsrichtung erkennen lässt. Katastrophen
können ganze Gemeinschaften vernichten oder zerrütten. Für die Betroffenen gerät
die Welt aus den Fugen. Aus ihrer subjektiven Perspektive scheinen die Götterdämmerung,
die Apokalypse, die letzten Tage der Menschheit angebrochen.
Manche Katastrophen kommen plötzlich und unerwartet; andere bauen sich langsam,
fast unmerklich auf – als „schleichende Katastrophen“. Es gibt Katastrophen,
die vermeidbar gewesen wären, und es gibt solche, die unvermeidbar sind, gegen
die man sich lediglich wappnen kann oder hätte wappnen können. Manchmal werden
Katastrophen noch rechtzeitig abgewendet, wobei das Glück oft eine größere Rolle
spielt als der Verstand; man spricht von „Beinahe-Katastrophen“. Wenn Katastrophen
bereits im Gange sind, muss man retten, was zu retten ist; vor allem muss man
sie räumlich und zeitlich überschaubar und abgrenzbar halten, ihr „Übergreifen“ verhindern.
Wenn das nicht gelingt, können sie Kettenreaktionen und Schockwellen
auslösen, die nur schwer oder gar nicht zu bremsen sind.
Eine verbreitete Auffassung besagt: Auch wenn Menschen als Verursacher mitbeteiligt
sind, geschehen Katastrophen immer unbeabsichtigt. Im Vorfeld einer Katastrophe
mögen Fehler passieren, es mag Fahrlässigkeit, billigende Inkaufnahme und
somit Schuldige geben, zumindest Verantwortliche. Aber es gibt keine Täter, die das
Desaster vorsätzlich herbeigeführt haben, es gibt keine Hintermänner und Drahtzieher.
Niemand hat – zum Beispiel – die Katastrophe von Tschernobyl gewollt. Das
klingt einleuchtend. Und doch behaupte ich, dass es auch absichtsvoll herbeigeführte
Katastrophen gibt. Insbesondere glaube ich, dass der Terrorakt des 11. September
2001 als Katastrophe begriffen werden kann, mehr noch: dass der Terrorismus des
21. Jahrhunderts sich die katastrophenträchtigen Eigenheiten unserer Gesellschaft
zunutze macht und damit zugleich deren katastrophische Züge verstärkt. 9/11 ist
zugleich Symptom und Menetekel der Katastrophengesellschaft. Davon später mehr.
Wann gilt uns ein Ereignis als Katastrophe? Wenn die Zahl menschlicher Opfer besonders
hoch ist? Offenkundig nicht. Denn es gibt viele opferreiche Geschehnisse,
die keinen Eingang in die Katastrophengeschichte gefunden haben. Und umgekehrt
bezeichnen wir manches Ereignis als Katastrophe, obwohl es nur eine vergleichsweise
geringe Zahl menschlicher Opfer gefordert hat. Das ist besonders dann der
Fall, wenn es sich um technische Katastrophen handelt; hier scheint die Opferzahl
zuweilen fast nebensächlich zu sein. Wie sonst ließe sich erklären, dass die Explosion
der Raumfähre „Challenger“ im Januar 1986, bei der sieben Astronauten umkamen,
als „Challenger-Katastrophe“ in die Geschichte eingegangen ist, während viele
Flugzeugabstürze oder Schiffsuntergänge, bei denen weit mehr Opfer zu beklagen
waren, längst vergessen oder allenfalls als Unglücke, Unfälle, Havarien oder Ähnliches
im Gedächtnis geblieben sind? Es gab Zugunglücke, bei denen mehr Menschen
starben als 1998 im niedersächsischen Eschede; dennoch gilt die damalige
Entgleisung des hochmodernen ICE als Katastrophe, viele der anderen Unglücke
hingegen nicht.
Technische Katastrophen bemessen sich also nicht allein und nicht in erster Linie an
der Opferzahl. Wenn sie als Katastrophen rubriziert werden und ins kollektive Gedächtnis
eingehen, dann vor allem, weil die jeweilige Technik mit einem enormen
Anspruch verknüpft war, weil sie ein Versprechen, eine Vision verkörperte – um dann
in der Praxis spektakulär zu scheitern. Je größer das Prestige eines technischen Projekts,
desto tiefer der Absturz, desto größer die Fallhöhe. Darum lässt der Untergang
der „Titanic“ die Menschen bis heute nicht los, darum bleiben uns die brennenden
Challengers und Zeppeline in Erinnerung, während viele Autobahn-Schlachtfelder
längst in Vergessenheit geraten sind.
„Katastrophen kennt allein der Mensch, sofern er sie überlebt. Die Natur kennt keine
Katastrophen.“ Das hat der Schriftsteller Max Frisch gesagt. Worauf Frisch mit seiner
Aussage abzielt, scheint klar zu sein. Wenn die Natur sich selbst überlassen bleibt –
ohne den Menschen also –, dann ist, was auch immer in ihr geschieht, keine Katastrophe.
Auch Erdbeben oder Vulkanausbrüche nicht; sie werden es erst, wenn der
Mensch von ihnen betroffen ist – und sie als Katastrophen bezeichnet.
So gilt es uns nicht als Katastrophe, wenn irgendwo in der Arktis eine große Eiswand
ins Meer stürzt. Weil der Vorgang mit großer Wahrscheinlichkeit unter Ausschluss
menschlicher Beobachter stattfindet, erfahren wir nicht einmal etwas davon; die abstürzende
Eiswand ist ein Nicht-Ereignis. Auch wenn zufällig ein Touristenschiff in
der Nähe kreuzt und die Reisenden den Vorgang aus sicherer Entfernung beobachten
können, nehmen sie das Ereignis nicht als Katastrophe, sondern als ein grandioses
Naturschauspiel wahr. Sie filmen und fotografieren es. Erst wenn das Touristenschiff
von den herabstürzenden Eismassen erfasst, zerschlagen und im Polarmeer
versenkt wird, würde aus dem Naturschauspiel eine Naturkatastrophe.
Ich habe gegen Frischs These zwei Vorbehalte: Zum einen glaube ich, dass Menschen
bestimmte Ereignisse auch dann als Katastrophen wahrnehmen können – und
wahrnehmen sollten! –, wenn sie selbst davon nicht betroffen sind. Menschen sind
empathie-fähige Wesen, und diese Empathie muss sich keineswegs bloß auf Artgenossen
beschränken, sondern kann auch anderen Lebewesen gelten.
Zum anderen leistet Frischs Bemerkung dem Eindruck Vorschub, als existiere da
noch eine weithin intakte Natur, die hin und wieder über die Stränge schlage und in
Gestalt von Katastrophen den Menschen bedränge. Tatsächlich ist es aber so: Der
Mensch hat im Laufe seiner Geschichte große Teile seiner natürlichen Lebensgrundlagen
technisch durchdrungen, verändert, vernichtet. Er hat die Natur so „nachhaltig“
umgeprägt, dass man sie nur noch sehr bedingt als „Natur“ ansprechen kann. Soll
heißen: Es gibt keine unberührte Natur mehr, nur noch berührte. Sie ist so weitgehend
vom Menschen funktionalisiert worden, die Eingriffe in sie sind so gravierend,
dass sie längst zum Hybrid geworden ist, der nicht mehr als Gegenbegriff zu
„Mensch“, „Gesellschaft“ oder „Technik“ taugt. Durch seine Eingriffe hat der Mensch
zwar seine unmittelbare, alltägliche Abhängigkeit von der Natur reduziert, doch das
Problem seiner grundsätzlichen Abhängigkeit drastisch verschärft. Er hat die Natur in
die Defensive gedrängt – und mit ihr sich selbst.
Wenn nun aber die Natur nicht mehr bloße Natur ist, sondern einen Hybrid-Charakter
angenommen hat, dann sind selbstverständlich auch die Natur-Katastrophen hybride
Phänomene. Auch bei ihnen hat der Mensch seine Hände im Spiel. Vor diesem Hintergrund
wird die Feststellung, dass die Natur keine Katastrophen kenne, unzutreffend
– oder behält allenfalls im historischen Rückblick eine gewisse Gültigkeit. Auf
Gegenwart und Zukunft bezogen, handelt es sich hingegen immer öfter um die
menschlich durchdrungene, veränderte Natur und folglich um Katastrophen, die vom
Menschen verursacht oder mitverursacht werden.
Man könnte nun aus diesen Beobachtungen den Schluss ziehen, dass Katastrophen
dann besonders zu fürchten seien, wenn der Mensch als Verursacher beteiligt ist.
Doch so einfach ist es nicht. Nehmen wir die Klimakatastrophe als Beispiel: Dass der
Mensch offenkundig maßgeblichen Anteil am aktuellen Klimawandel hat, macht die
Sache an sich nicht bedrohlicher. Sie liefert, im Gegenteil, sogar Ansatzpunkte für
ein Handeln, das darauf abzielt, den Temperaturanstieg zu drosseln. Wäre die Erderwärmung
ein rein natürliches Phänomen, besäßen wir kaum eine Handhabe.
Sodann bekommt die Menschheit die Folgen eines Klimawandels nicht zum ersten
Mal zu spüren. Entscheidend ist aber nicht so sehr, dass sie ihn diesmal selbst verursacht
hat, sondern dass die Bedingungen, unter denen er stattfindet, sich gründlich
verändert haben. Im frühen Mittelalter zum Beispiel, zwischen dem vierten und siebten
Jahrhundert, stieg der Meeresspiegel um etwa zwei Meter, Folge einer längerfristigen
Erwärmung, aber auch tektonischer Veränderungen. In jener Zeit wurden die
nordwesteuropäischen Küstengebiete von schwersten Sturmfluten heimgesucht und
weiträumig überschwemmt. Allerdings war die Nordseeküste nur äußerst dünn besiedelt;
zudem bot das Landesinnere den bedrohten Menschen noch freie Rückzugsräume.
Irgendwelche Analogieschlüsse zwischen damals und heute sind daher völlig
verfehlt. Die Nordseeküste vor 1500 Jahren ist mit der heutigen Küste nicht einmal
entfernt zu vergleichen. Und diese Aussage gilt generell: Auf dem Planeten Erde leben
aktuell mehr Menschen als aufaddiert während der gesamten Zeit vor der Industrialisierung
geboren wurden. Und sie leben nicht zuletzt in dicht bebauten und oft
hoch industrialisierten Küstenregionen. Genau hier liegt denn auch das eigentliche
Katastrophenpotential. Denn: Nicht der Klimawandel ist neu – neu ist die Welt, auf
die er trifft! Nicht der Klimawandel als solcher ist katastrophenträchtig, sondern die
Welt, in der er stattfindet, ist katastrophenanfällig. Wir haben uns zwar gegen alle
möglichen Gefahren und Risiken gewappnet, dennoch ist unser natürlicher und
künstlich geschaffener Lebensraum – und das ist nur scheinbar paradox – weit weniger
belastbar, weit störanfälliger, fragiler, verwundbarer als ehedem. Um zu funktionieren,
ist unsere Welt auf ein hohes Maß an Normalität und Stabilität angewiesen.
Mit unangenehmen Überraschungen kommt sie schlecht zurecht. Als wir unsere Welt
so konstruiert haben, wie sie sich heute darbietet, sind wir offenbar recht unbekümmert
zu Werke gegangen. Um die ökologischen oder sozialen Folgen unsere Handelns
haben wir uns kaum gesorgt. Was den Klimawandel angeht, so haben wir an
eine solche Eventualität schlechterdings nicht gedacht: weder an einen natürlichen
Klimawandel noch an einen anthropogenen, schon gar nicht an einen drastischen. Er
ist einfach nicht vorgesehen. Wer an die Einsichts- und Lernfähigkeit des Menschen
glaubt, mag sagen: Hätten wir die Möglichkeit solch klimatischer Veränderungen
frühzeitig in Rechnung gestellt, würden wir vielleicht eine ganz andere, eine weit weniger
verwundbare Welt konstruiert haben. Aber solche Betrachtungen sind müßig.
Die Klimadebatte ist übrigens ein Musterbeispiel für meine eingangs formulierte These,
dass die Katastrophengesellschaft vor allem auf technische Problemlösungen
setzt. Fast täglich kann man die Ankündigungen in den Zeitungen lesen: Schon bald
werden wir in Sachen CO2-Reduktion nicht mehr kleckern, sondern klotzen! Wir werden
Europa mit Solarstrom aus Nordafrika versorgen, sogenannte Ökoautos bauen,
Glühbirnen durch Energiesparlampen ersetzen und – wer weiß – vielleicht vergraben
wir ja doch irgendwann unser Kohlendioxid unter der Erde. Auch Klaus Töpfer setzt
voller Zuversicht auf technische Innovation. Im schon zitierten Interview zeigt er sich
sicher, dass wir in den kommenden Jahren insbesondere in den USA – ich zitiere –
„ein Feuerwerk technologischer Veränderungen“ erleben werden. Diese würden nicht
nur dem Klimaschutz nützen, sondern selbstverständlich auch – ein schöner Nebeneffekt
– dem wirtschaftlichen Wachstum Impulse geben. Womit wir dann auch schon
bei einem weiteren Credo des innovationsfreudigen Teils der Katastrophengesellschaft
angelangt wären. Es lautet, dass sich Ökonomie und Ökologie ohne weiteres
miteinander vereinbaren lassen. Als hinlänglicher Beweis gilt vielen die Tatsache,
dass mit relativ umweltverträglicher Technik wirtschaftliche Erfolge zu erzielen sind.
Nach dem Motto: Wir werden immer sauberer und zugleich immer reicher. Ist da vielleicht
so etwas wie die Quadratur des Kreises gelungen?
Nicht ganz. In Wirklichkeit ist alles viel profaner. Die moderne Technik – also die
Technik, die sich seit der ersten industriellen Revolution beschleunigt entwickelt hat –
ist ein Mittel zur Effizienzsteigerung. Was als „effizient“ gilt, hängt vom jeweiligen
technischen Entwicklungsstand und den gesellschaftlichen Problemlagen ab. Derzeit
wird aus unmittelbar einsichtigen Gründen großer Wert auf die „Energieeffizienz“ oder
„Ökoeffizienz“ von Technik gelegt. Niemand wird die Erfolge leugnen. Zweifellos
wurden einige Probleme durch technischen Fortschritt entschärft oder gemildert. Und
nichts spricht dagegen, dieses Fortschrittspotenzial noch entschiedener zu nutzen.
Aber es braucht schon einen ziemlich verwegenen Optimismus, um zu glauben, dass
sich auf diese – technische – Weise der Widerspruch zwischen globaler Ökologie auf
der einen und der auf Wachstum programmierten kapitalistischen Weltökonomie auf
der anderen Seite lösen ließe. Dieser Widerspruch ist fundamental, und er wird sich
in den nächsten zwei bis drei Jahrzehnten weiter verschärfen. Er ist vor allem deshalb
so fundamental, weil die moderne Technik nicht lediglich ein „Problemlöser“,
sondern mindestens ebenso sehr ein „Problemerzeuger“ ist.
In der öffentlichen Wahrnehmung steht jedoch nach wie vor nicht diese grundlegende
Ambivalenz der Technik, sondern ihre historische Rolle als Problemlöser im Vordergrund.
Und die präsentiert sich zweifellos als eine beeindruckende Erfolgsgeschichte.
Ohne diese Geschichte, ohne den technischen Fortschritt also, wäre ja
auch die menschliche Evolution schlechterdings nicht vorstellbar. Denn diese
braucht, soll sie gelingen, vor allem Sicherheit, also einen Schutzraum gegen äußere
Störfaktoren und innere Unwägbarkeiten. Und nichts hat die Sicherung unserer Lebensverhältnisse
so befördert wie die Technik. Sie sichert uns vor den Launen der
Natur und sie hilft uns, den Frieden zu sichern, sie sichert unseren Konsum und unsere
Energieversorgung, sie sichert unsere Mobilität und unsere Gesundheit.
Insbesondere die vergangenen anderthalb Jahrhunderte sind eine Zeit machtvollen
technischen Fortschritts gewesen. Aber dieser Fortschritt hat einen Preis verlangt –
und tut das nach wie vor. Die Schattenseiten manifestieren sich gewiss nicht allein in
Gestalt von Katastrophen, doch diese ragen wie die Spitzen der Eisberge aus der
Technisierungsepoche heraus. Die Geschichte der Technik ist eben nicht nur die
Geschichte genialer Erfindungen und Ingenieurleistungen, sondern immer auch die
Geschichte katastrophalen Scheiterns, die Geschichte einstürzender Brücken und
Gebäude oder abstürzender Flugzeuge, entgleisender oder kollidierender Züge, die
Geschichte von Chemiefabriken, die ihre Umwelt vergiften, von pharmazeutischen
Produkten, die krank machen, die Geschichte von zerbrochenen Öltankern, geborstenen
Staudämmen, havarierten Kernkraftwerken oder explodierten Raumkapseln.
Besonders störanfällig und damit katastrophenträchtig sind technische Systeme, die
mit gefährlichen Substanzen hantieren oder komplizierte Transformationsprozesse
bewerkstelligen. Die inneren Abläufe dieser Systeme sind notwendigerweise durch
eine Vielzahl von Interaktionen gekennzeichnet, weisen also eine hohe Komplexität
auf. Das ist so lange unproblematisch, wie der Betriebsablauf funktioniert und nur die
geplanten Interaktionen stattfinden. Die Probleme beginnen, wenn unabhängig voneinander
Störungen auftreten. Bereits zwei unabhängige Störungen genügen, um
überraschende, ungeplante Interaktionen in Gang zu setzen. Unversehens sind die
Betreiber der Anlage mit Verzweigungen, Sprüngen oder Rückkopplungen konfrontiert,
die sie nicht vorhergesehen haben. Sie können zu komplizierten Verwicklungen
führen, zum Ausfall weiterer Komponenten oder des ganzen Systems, zu schweren
Unfällen oder Katastrophen. Selbstverständlich versuchen die Betreiber solch komplexer
Systeme, die Sicherheit zu erhöhen, indem sie möglichst viele Eventualitäten
vorhersehen oder rückblickend die Abläufe rekonstruieren, um ihre Wiederholung
auszuschließen. Das tun sie in der Regel durch technische Problemlösungen, also
durch den Einbau von Sicherungssystemen, Puffern oder Redundanzen – doch damit
erhöhen sie selbstverständlich abermals die Zahl der möglichen Interaktionen
und damit die technische Komplexität des Systems. Was für einzelne technische
Systeme gilt, lässt sich analog für größere technische Zusammenhänge sagen: Denn
auch der mögliche Kollaps großer Infrastrukturen, wie der Strom- oder Kommunikationsnetze,
hätte katastrophale Folgen, wenn er sich länger als ein paar Stunden hinziehen
würde. Nichts anderes gilt schließlich für den sich ständig intensivierenden
Prozess der Technisierung im Allgemeinen. Er zeitigt Folgen, die sich immer deutlicher
erkennbar zu ökologischen und sozialen Bedrohungen globaler Dimension aufschaukeln.
Die großen, global ausgreifenden Umweltschädigungen gehören insoweit
zum technischen Lauf der Dinge, sie sind unbeabsichtigte Folgen absichtlicher Eingriffe
in natürliche und gesellschaftliche Prozesse. Aufs Ganze gesehen sind sie
längst nicht mehr einzelnen Verursachern zuzurechnen, sondern unvermeidbare Begleiterscheinungen
eines anonymen Prozesses.
Im Angesicht dieser und anderer Katastrophen und Katastrophenpotentiale vertrauen
wir nach wie vor und in manchen Bereichen mehr denn je auf einen technischen
Zugriff. Wir setzen unsere Technik immer öfter dazu ein, die von ihr selbst erzeugten
Probleme zu lösen, wohl wissend oder ahnend, dass die vermeintlichen Problemlösungen
ihrerseits neue, abermals technisch zu lösende Probleme hervorbringen
werden. Wohin soll das führen? Wird dieser Prozess irgendwann zu einem Ende
kommen? Das ist derzeit schwer vorstellbar. Denn die Zahl der durch technischen
Zugriff gelösten Probleme steigt zwar; doch die Zahl der im Zuge dieses Lösungsprozesses
neu geschaffenen Probleme steigt schneller – und vermutlich werden die
Probleme auch größer.
Einzelne weit blickende Beobachter haben dieses Dilemma schon früh erkannt und
beschrieben, ohne freilich auf sonderliche Resonanz zu stoßen. Schon 1912 bemerkte
der Soziologe Julius Goldstein - Zitat: „Es hat den Anschein, als ob, wie in der
Wissenschaft, so auch in der Technik, mit jedem Problem, das gelöst wird, neue
Probleme entstehen. Es scheint, als ob der Fortschritt mehr in dem Herausarbeiten
neuer Probleme als in dem Vermindern der Probleme bestände.“ Auf gesellschaftlicher
Ebene sieht Goldstein ein Ergebnis, das den um Rationalität und Problemlösung
bemühten einzeltechnischen Handlungen Hohn spricht: „Je mehr die eine Epoche
das Dasein technisch rationalisiert, um so größer wird die Summe der Irrationalitäten
in der nächsten.“ Ähnlich das Urteil des Ökonomen Otto Veit 1935: „Durch die
Technik sind alle Dinge extremer geworden, und alle Extreme sind verstärkt – die
negativen sowie die positiven. Die Höhepunkte sind herrlicher geworden und die Abgründe
fürchterlicher.“
Wie der technische Fortschritt ständig Probleme löst, die vermeintlichen Lösungen
jedoch immer wieder neue, technisch zu lösende Probleme hervorbringen, so produziert
er immer größere Sicherheit und zugleich immer größere Gefahrenlagen. Den
Gefahren versucht man durch immer neue und aufwändigere sicherheitstechnische
Maßnahmen beizukommen, ohne doch je wirkliche Sicherheit zu erlangen. Mehr
noch: das exzessive Sicherheitsstreben gebiert permanent neue und größere Unsicherheit.
Der gesamte Prozess führt mit Notwendigkeit in eine Vielzahl von Aporien,
unter denen ein immer auswegloseres Sicherheitsdilemma hervorsticht. Dieses Sicherheitsdilemma
hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts beständig verstärkt, was, je
nach Perspektive, sowohl die Beobachtung zulässt, dass unser Leben sicherer geworden
sei, als auch die Bobachtung, dass es unsicherer geworden sei. Doch beide
Beobachtungen geben nur die halbe Wahrheit wieder. Sicherheit und Unsicherheit
sind zwei Seiten derselben Medaille.
Am Beispiel der Klimaentwicklung hatte ich schon dargelegt, dass deren Katastrophenpotential
vor allem daher rührt, dass sie auf eine Welt trifft, die auf klimatische
Veränderungen dieser Dimension nicht vorbereitet ist, auf eine hoch technisierte
Welt also, die nicht allein von innen, sondern auch von außen gefährdet ist, die nicht
nur zerbrechlich ist, sondern auch verwundbar. Genau hier liegt auch das schon angesprochene
Katastrophenpotential des globalen Terrorismus. Der 11. September
2001 hat die Gefährdung unserer zivilisatorischen Errungenschaften in einem kollektiven
Schockerlebnis zu Bewusstsein gebracht. An diesem Tag wurde demonstriert,
wie – im buchstäblichen Sinne – einsturzgefährdet unsere technischen Sicherheitskonstruktionen
sind. Die moderne technische Welt ist für diejenigen, die Desaster
größten Ausmaßes herbeiführen wollen, geradezu eine Einladung. Die technische
Zivilisation bietet jenen, die sich der von ihr geforderten Rationalität widersetzen, Angriffspunkte
im Übermaß.
Gegen eine solche Bedrohung sicherheitstechnisch aufzurüsten, wie in den vergangenen
Jahren geschehen, kann keine wirkliche Sicherheit schaffen. Vielmehr käme
es darauf an, die Welt so zu gestalten, dass sich möglichst viele Menschen in ihr zu
Hause fühlen, sie als ihre Welt begreifen und sich den angesprochenen Rationalitätsstandards
aus innerer Überzeugung fügen. Das freilich ist eine Aufgabe, die mit
Technik allein gewiss nicht zu bewältigen ist und einen viel breiteren, multidimensionalen
Ansatz verlangt, einen Ansatz also, der auch politische, soziale, ökologische
und kulturelle Aspekte berücksichtigt. Diese Einsicht lässt sich mit etwas Phantasie
ohne weiteres auch auf andere Katastrophentypen übertragen. Und das heißt: Wer
Wege aus der Katastrophengesellschaft finden will, braucht kein „Feuerwerk“ technischer
Innovationen, sondern ein neues Verständnis von Sicherheit.
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PA4-Diskurs-/Denkbild-Grundlage für den 25.03.2004
PA4-Diskurs-/Denkbild-Grundlage für den 25.03.2004
<<Die Einzelnen und ihr/der Staat>>
Alain, Carolle, Marga, Walter;
Quellen: PA4 25.06.00; Butterwegge 07.03.04 SWR2; Platon, Politeia 420b ff, 473e, 519ff, 564a, 576c
Kennzeichnend für die Gesprächsführung bei Platon und für die PA4 ist die Enthaltung
Jeglicher Festlegung auf irgendeinen dogmatischen Standpunkt.
Diese Einstellung bildet den Rahmen, in dem all unsere Diskurse sich gestalten.
Apollinische En-stase
Die Ethik der Väter, der alten Dichter und der Religion setzt sich für die Gerechtigkeit ein wegen dessen, was ihr folgt: guter Status in der Gesellschaft, Hochschätzung in der Meinung der anderen, Belohung durch die Götter im Jenseits bzw. in dieser Welt mittels vieler Nachkommen
unbefangene Sittlichkeit, jedoch keine Reflexionen über das, was Sittlichkeit und Gerechtigkeit ihrem Wesen nach eigentlich sind
objektivistisch-utilitaristische Auffassung: die Gerechtigkeit ist kein unmittelbares Gut, sondern nur wegen ihrer Folgen erstrebenswert
vom Subjekte entfernt, konstituiert von anderen als ihm, d.h. von der Gesellschaft bzw. von den Göttern:
Was diese als gerecht setzen, gehört befolgt, denn auf die Belohnung kommt es an
Bewusstsein, gerecht und fromm das Leben verbracht zu haben ist ein wichtiger Garant für ein friedliches und hoffnungsvolles, ein heiteres Alter
Allgemein-verbindlich und objektivitätskonstituierend |
Platonische Eu-stase
Annahme einer Homologie von subjektivem (←) und objektivem (→) Geist, von Individuum und Polis
In der individuellen Seelen („der kleingeschriebene Staat“) wie im Staate („der grossgeschriebene Mensch“° sind die gleichen ontologischen Gesetze konstitutiv
Indem die Seele sich unmittelbar und wahrhaft selbst verwirklicht, schafft sie zugleich einen gerechten und vernünftigen Staat
Die Gerechtigkeit wird immanent, rein aus dem (in sich geordneten) Subjekt erklärt, und zwar aus dem Zusammenspiel der drei Seelenteile
Wie der Staat ist auch die Seele eine Einheit, die zugleich Vielheit ist:
Aufgabe des philosophischen Pädagogen ist es, die Gerechtigkeit als Einheit in dieser Dreiheit bzw. Vielheit sich entwickeln zu lassen:
Sind die drei anderen Kardinaltugenden Besonnenheit, Tapferkeit und Weisheit jeweils besonders einem Seelenteil zugeordnet, kommt der Gerechtigkeit deshalb der Primat zu, weil sie die verschiedenen Seelenteile in das Seelenganze integriert, indem sie auf die Funktionserfüllung eines jeden Seelenteils achtgibt.
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Dionysische Ex-stase
Pseudoliberalität und hemmungsloser Subjektivismus der damaligen ‚progressiven’ Sophisten
Gerecht ist, was dem selbstbewussten Starken unmittelbar und ohne Rücksicht auf andere Freude macht
Im subjektiven Hedonismus liegt der Ursprung dessen, was gerecht ist
der Utilitarismus der alten vorsophistischen und vorsokratischen Polis – für die Gerechtigkeit nur um eines mit objektiven Kategorien faßbaren Guten willen erstrebenswert ist – ist überwunden
Verlagerung der Gerechtigkeit ins Subjekt und deren Emanzipation von einem relativen zu einem absoluten, um seiner selbst willen erstrebenswerten Gut
Fortschritt, der erkauft ist um den Preis eines Verlustes an Substanzialität und an innerem Wert der Tüchtigkeit (Arete)
Brutaler Machtpositivismus, in dem jede politische Meinung gleichermassen akzeptabel erscheint
Dem Subjekt genehm, aber die Allgemeinheit zersetzend |
Fazit:
Platons Staat will den Bürger wahrhaft befreien – von sophistischer Kontingenz des Willens hin zu einem ‚guten Leben’, in dem die Seele – in deren Idealität der Staat gründet – wahrhaft sich selbst findet.
Platons ‚Politeia’ findet ihren Ausgangspunkt in der Abweisung und Widerlegung des Machtpositivismus, der die notwendige Folge eines schrankenlosen Liberalismus ist und der wie dieser weltanschaulich in einem relativistischen Skeptizismus wurzelt.
11weisheit = die Kompetenz/ Reife zwischen Verstand und Gefühl ein instabiles (in der Schwebe gehaltenes) Gleichgewicht zu finden.
pa4-9-11weisheit = die Kompetenz/ Reife zwischen Verstand und Gefühl ein instabiles (in der Schwebe gehaltenes) Gleichgewicht zu finden. w.p.09-11 http://de.wikipedia.org/wiki/Weisheit
transkulturell-zeitlos universal-menschlich reale oder ideal als reifungsbedingt erwerbbar als göttlich verliehen ungewöhnlich tiefe Einsicht in die Kreisläufe des Lebens herausragende ethisch-moralische Grundhaltung und das damit verbundene Handlungsvermögen
Als Weisheit wird eine transkulturell-zeitlose, universal-menschliche, reale oder ideale, entweder als reifungsbedingt erwerbbar oder aber als göttlich verliehen gedachte exzeptionelle Kompetenz bezeichnet, welche sich durch ungewöhnlich tiefe Einsicht in die Kreisläufe des Lebens, besonderes Wissen, eine herausragende ethisch-moralische Grundhaltung und das damit verbundene Handlungsvermögen auszeichnet.
Es gibt zahllose Definitionen und Konzepte von Weisheit, die sich in der Regel in den Spannungsräumen zwischen Wissen und Intuition, Verstand und Gefühl, Reife und Kindlichkeit, Klugheit und Torheit, Diesseitigkeit und Transzendenz bewegen.
Als Gegenstand wird Weisheit thematisiert von Philosophie und Theologie, den einzelnen Religionen und der Ethnologie, von Wissenssoziologie und Persönlichkeitspsychologie, der Märchen- und Mythenforschung sowie in ihren künstlerischen Gestaltungen durch Kunst, Literatur und Musik.
Inhaltsverzeichnis
1 Sprachliches 2 Philosophie und mittelalterliche Theologie 2.1 Antike 2.2 Philosophische Betrachtungen 3 Religionen 3.1 Die Bibel 3.2 Definition des Hl. Augustinus 3.3 Weisheit in Buddhismus und Hinduismus 3.4 Konfuzianismus und Daoismus 4 Weisheit und Weise in Märchen und Mythos 5 Literatur 6 Siehe auch 7 Einzelnachweise 8 Weblinks 9 Videos
Sprachliches Das nhd. Adjektiv weise mit der sprachlichen Bedeutung 'wissend, klug, lebenserfahren' geht auf mhd. wīs, wīse 'verständig, klug, erfahren, gelehrt, kundig' zurück, welches wiederum vom ahd. wīs / wīsi (8. Jh.) bzw. mnd., asächs. wīs stammt. Das germ. Wort *weis(s)a- leitet sich von der erschlossenen ie. Wurzel *ueid- ab, die mit dem Sinnbezirk 'wissen' zusammenhängt. Die Bedeutung ist wohl 'kundig im Hinblick auf eine Sache; klug, erfahren', wie es sich in aind. vedas- 'Erkenntnis, Einsicht' (vgl. Veda) zeigt. Ursprünglich meinte diese Wortform vor ihrem semantischen Wandel vermutlich zuerst 'sehen' bzw. 'gesehen haben', wie es am Unterschied zwischen dem lat. videre 'sehen' und dem gr. oida 'wissen' zu erkennen ist. Von weise abgeleitet ist das Faktitivum jmd. (unter)weisen in der Bedeutung 'zeigen, führen, belehren'. Das von Substantiv Weisheit als 'Zustand des Weiseseins' (mhd., ahd. wīsheit) lässt sich seit dem 9. Jahrhundert nachweisen. Eng verwandt ist das Wort Witz in der alten Bedeutung 'Klugheit, Schläue' („mit Witz und Tücke“).[1] Der altgriechische Begriff für Weisheit lautet σοφία, der lateinische sapientia, der arabische hikma
Philosophie und mittelalterliche Theologie Das Verhältnis von Philosophie und Weisheit wird dort zum Thema, wo erstere aus der letzteren tatsächlich oder vermeintlich entspringt, sich von älteren oder zeitgleichen Weisheitstraditionen explizit abgrenzt oder aber sich andererseits mit der Weisheit selbst – möglicherweise nur in abgeschwächter Form als das Streben nach dieser als grundsätzlich unerreichbarem Ideal – als identisch erklärt. Die Selbstbenamsung als „Freundin der Weisheit“ ist dabei in der Philosophiegeschichte immer wieder programmatisch ausgelegt worden und war häufig Ausgangspunkt für die Bestimmung ihres eigenen Selbstverständnisses.
Während noch Homer, Pindar oder Heraklit sophia in ihrer ursprünglichen Bedeutung als „Tüchtigkeit in Beziehung auf etwas“ verwendeten, ändert sich dies bei Sokrates, der in seinen Auseinandersetzungen mit in bestimmten Hinsichten sogar besonders ausgezeichnet tüchtigen Gesprächspartnern ihr Versagen im Verständnis allgemeiner Fragen aufwies und der vom Delphischen Orakel aufgrund seines Diktums „ich weiß, dass ich nicht weiß“ als der Weiseste bezeichnet wurde; das von ihm hier zugrundegelegte Motiv einer dem menschlichen Vermögen gemäßen Weisheit im Gegensatz zu einer diese übersteigende, als göttlich verstandenen Weisheit sollte im weiteren den philosophischen und teils auch theologischen Diskurs über die Weisheit im Westen bestimmen
Wolfgang Kersting, Hrsg: Klugheit
W+B Agentur-Presseaussendung Januar 2008
Buchbesprechung
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358 Seiten, broschiert, EUR (D) 32,- / sFr 54.-; ISBN 3-934730-89-2, ISBN 978-3-934730-89-2
Velbrück Wissenschaft, D-53919 Weilerswist-Metternich, 2005; www.velbrueck-wissenschaft.de
Weitere Diskurshinweise zum Thema:
http://archiv.kultur-punkt.ch/praesentation/architektur/wbg-darmstadt10-99.htm >Kersting > PA4
http://archiv.kultur-punkt.ch/buchtipps-allgemein/beck2-7-02.htm >Höffe > PA4
http://archiv.kultur-punkt.ch/akademie4/diskurs/gerechtigkeit2-t.htm >Höffe > PA4
http://archiv.kultur-punkt.ch/akademie4/diskurs/tüchtigkeit-t.htm >Arete > PA4
http://archiv.kultur-punkt.ch/buchtipps-allgemein/schoeningh4-01.htm >Sturma > PA4
Inhalt
Rehabilitierung der Klugheit – das ist das Interesse dieses Bandes – mit dem Ziel, die im Normativen wie im Deskriptiven zuhauf anzutreffenden epistemologischen Mängel moderner praktischer Philosophie zu beseitigen, um ein umfassenderes Verständnis von praktischer Vernünftigkeit zu gewinnen und ein angemesseneres Praxiskonzept zu entwickeln. Damit könnte die von moderner Interessenethik und Gesetzesmoral in die weltfremden Randbezirke des Naturalen und Supranaturalen geschickte Vernunft in die Lebensmitte alltäglichen Handelns zurückkehren.
Einleitung und Übersicht
Rehabilitierung der Klugheit
»In einem wesentlichen Sinn kann man nicht gut sein ohne die Klugheit, noch klug ohne die ethische Tugend«, heißt es bei Aristoteles. Die Klugheit versieht die Sittlichkeit mit einem situationsaufmerksamen Realitätssinn; sie befindet über ihre Erfolgsaussichten, wählt die geeigneten Mittel und Wege und verschafft ihr Wirklichkeit. Der Kluge sorgt sich nicht um äußere Werke, der Kluge sorgt sich um sich selbst. Die Erfahrung ist seine Verbündete. Mit ihrer Hilfe will die Klugheit in der veränderlichen Handlungswelt zielsicher agieren und dauerhaft erfolgreich sein. Und umgekehrt prägt die Sittlichkeit das praktische Weltverhältnis der Klugheit. Ohne diese sittliche Imprägnierung wäre Klugheit nur Geschicklichkeit und Verschlagenheit. Und beide, Klugheit und Sittlichkeit, wachsen aneinander, bestärken und vertiefen sich wechselseitig und lassen das Leben des Handelnden gelingen, bescheren ihm Glück.
Die Philosophie des Mittelalters hat Aristoteles Lehre von der sittlichen Klugheit aufgenommen und in einen christlichen Rahmen gestellt. Thomas von Aquin erblickt in der Klugheit eine »genitrix virtutum« und in den Tugenden die normative Ausrichtung der prudentia.
Doch mit Beginn der Neuzeit enden die »Epochen der alten Klugheit«. Die Klugheit wird aus der lebensethischen Mitte gerückt. Sie verliert die ethische Imprägnierung. Sie besitzt nicht mehr den Charakter der Lebensführungskompetenz. Das Leben verwandelt sich in eine Abfolge von Handlungen, die in einer Welt der Kontingenz mit dem Mißerfolgsschicksal bedroht sind. Klugheit nimmt vor diesem Hintergrund die Gestalt einer providentiellen, interessendienlichen Kontingenzbewältigungstechnik an. Zum ersten Mal taucht diese ethisch neutrale, nicht mehr selbstbezüglich die Qualität des eigenen Lebens beaufsichtigende, sondern auf die Lösung von Handlungsproblemen spezialisierte Klugheit in den Schriften Machiavellis auf.
Menschliches Handeln ist immer situativ eingebettet, findet in einem Spielraum statt, der seine Möglichkeiten definiert. Diesen Randbedingungen muß es sich anpassen. Dabei ist zu bedenken, daß diese Voraussetzungen nicht nur durch die gesellschaftlich-politische Makrostruktur und die vorgefundene Handlungssituation gebildet werden, sondern auch durch Natur und Charakter des Handelnden selbst, durch die Beschaffenheit seines Handlungsvermögens und seines Handlungswissens. Das kluge Hinnehmen des Vorgegebenen, das aufmerksame Beobachten der Umstände und ihrer Veränderungen, die sorgfältige Analyse der in der Situation schlummernden Erfolgsmöglichkeiten und Risiken – das alles sind Ingredientien rationaler Handlungsvorbereitung und gute Waffen für den Kampf mit der launischen Fortuna, der Göttin der Kontingenz.
In seinem Gedicht über das Glück (Capitolo della Fortuna) hat Machiavelli diesen Zusammenhang zwischen Erfolg und zeitgemäßem, situationsgerechten Handeln mit Hilfe einer interessanten Variation des traditionellen Fortuna-Symbols zum Ausdruck gebracht. Die Schicksalsgöttin wirbelt in dem Gedicht nicht mehr mit dem einen Rad, sondern, unvorstellbar für das mittelalterliche Denken, mit vielen Rädern. Das endlichkeitsschwere Lebensrad weicht den vielen Handlungsrädern, und derjenige kann sich dauerhaften Handlungserfolg verschaffen, der sich akrobatisch von Rad zu Rad zu schwingen vermag und nie abstürzt.
»Das beste Los erhält von allen…, wer sich ein Rad nimmt nach Fortunas Willen. Denn stimmt die Leidenschaft, die dich zum Handeln treibt, mit ihrem Willen überein, so bist du glücklich, wo nicht, so ist dein Unglück dir gewiß. Doch auch selbst dann kannst du nicht auf sie bauen…Denn während du gestiegen zu des Rades Rücken, das gerade glücklich war und gut, verändert sie mitten im Lauf die Richtung. Doch du kannst nimmer ändern die Natur und die Neigungen…Wenn man dies begriffe und bemerkte, so wäre der stets glücklich, der von Rad zu Rade überspringen könnte«.
Klugheit gebiert hier keine Tugendhaftigkeit mehr; Klugheit zeigt sich in einem sorgfältigen Beobachten der Handlungsumstände und in der Sorge um ein möglichst großes Handlungsrepertoire, um Handlungsmächtigkeit. Der aristotelische Unterschied zwischen phronesis und deinotes ist eingeebnet. Klugheit ist nichts anders als Geschicklichkeit, als Mittelkompetenz.
Der vollendete Kluge ist bei Machiavelli ein charakterloser und vorurteilsfreier Reflexions- und Distanzierungsvirtuose, der zu allen Handlungsoptionen in Äquidistanz steht und bei der Suche nach der nutzenmaximalen Alternative durch keine tugendethischen Festlegungen gehindert wird. Literarische Gestalt gewinnt er im Principe. Der Fürst, so schreibt Machiavelli zum hellen Entsetzen der ganzen tugendethischen Zunft, müsse die »Fähigkeit erlernen, nicht gut zu sein, und diese anwenden oder nicht anwenden, je nach dem Gebot der Notwendigkeit«; er müsse »eine Gesinnung haben, aufgrund derer er bereit ist, sich nach dem Wind des Glücks und dem Wechsel der Umstände zu drehen und...vom Guten so lange nicht abzulassen, wie es möglich ist, aber sich zum Bösen zu wenden, sobald es nötig ist«. Wenn das Neue noch keinen Namen hat, kann es sich nur am Alten zeigen, als Spannung, Widerspruch, Paradoxie: Was Machiavelli hier als Gesinnung der Gesinnungslosigkeit, als Charakter der Charakterlosigkeit beschreibt, bezeichnen wir als optimale Rationalität. Für den Machiavellischen Politiker ist Tugendhaftigkeit schädlich, da sie seine Beweglichkeit einschnürt, sein Handlungsrepertoire verkleinert und damit seine Handlungsmächtigkeit mindert. Tugenden sind Voreingenommenheiten, praktische Vorurteile. Dem Tugendhaften stehen Handlungsweisen nicht mehr zur Verfügung, die seinen Charakter- und Handlungsgewohnheiten widerstreiten; sie sind seiner Disposition entglitten. Es ist eine begriffsgeschichtliche Ironie, daß ausgerechnet Machiavellis Klugheitsversion den folgenden Jahrhunderten als Inbegriff politischer Kunst gilt. Denn die machiavellistische Klugheit ist eine dezidiert entzivilisierte und entpolitisierte phronesis. Sie ist aus der Mitte des allgemeinen gesellschaftlichen Lebens an den naturalen Rand gerückt. Ihre Wirksamkeit ist durch die Dramatik der Grenzsituation geprägt; ihre interne Logik steht im Bann der Selbsterhaltung.
In der politischen Philosophie Hobbes’ wird diese machiavellische Klugheit dann anthropologisches Allgemeingut. Die im Leviathan entwickelten Konzepte, Argumente und Lehrstücke stehen allesamt unter der kategorialer Dominanz dieser nüchternen, neutralen, nutzenmaximierenden Rationalität. Als rational begründet gilt etwas, wenn es dem individuellen Interesse dient. Und die in Begründungskontexten erforderliche Allgemeingültigkeit verschafft dieser Rationalitätstyp den Grundregeln dadurch, daß ihre allgemeine Vorteilhaftigkeit, ihre Vorteilhaftigkeit für jedermann nachgewiesen wird. Das Allgemeinwohl kann nur über den Konvergenzbereich privater Nützlichkeiten identifiziert werden, dessen Zentrum das geteilte Überlebensinteresse bildet.
In der Konzeption des rationalen Selbstinteresses wird der traditionelle phronesis-Begriff bis zur Unkenntlichkeit verändert. Aber auch die moderne Moralphilosophie spielt der alten Klugheit übel mit. In der konsequentialistischen Epistemologie des Ulitarismus ist ohnehin der gleiche Rationalitätstyp am Werk wie in der individualistischen Nützlichkeitsethik und im Kontraktualismus. Und auch unter der Ägide der Kantischen gesetzgebenden reinen praktischen Vernunft bestehen für die phronesis nicht die geringsten Aussichten auf Rehabilitierung. Die autonomiestolze Vernunft des Moralgesetzes inferiorisiert die Klugheit, erblickt in ihr nur die verächtliche Interessenverwalterin eines heteronomen Lebens.
Eine Rehabilitierung der phronesis ist aber nötig. Damit plädiere ich nicht für eine Renaissance der aristotelischen Tugendethik oder gar für eine Wiederbelebung des Neothomismus. Die Gegenwartsphilosophie kann an der Klugheit nur ein praxeologisches Interesse nehmen. Das Praxis- und Vernünftigkeitsverständnis der vorherrschenden Vernunftkonzepte der Moderne, der universalistischen Rationalität und der individualistischen Rationalität, steht unter dem Einfluß theoretizistischer Modelle, auf deren verzerrende, schematisierende Auswirkungen wir auch stoßen, wenn wir den Bereich des Normativen verlassen und zu den vornehmlich im analytischen Milieu erschaffenen handlungsphilosophischen Konstruktionen übergehen. An eine Rehabilitierung der Klugheit mag sich die vernünftige Hoffnung knüpfen, die im Normativen wie im Deskriptiven zuhauf anzutreffenden epistemologischen Mängel moderner praktischer Philosophie zu beseitigen, ein umfassenderes Verständnis von praktischer Vernünftigkeit zu gewinnen und ein angemesseneres Praxiskonzept zu entwickeln. Mit ihr kann die von moderner Interessenethik und Gesetzesmoral in die weltfremden Randbezirke des Naturalen und Supranaturalen geschickte Vernunft in die Lebensmitte alltäglichen Handelns zurückkehren.
Menschen hasten nicht von Handlung zu Handlung, von Situation zu Situation. Sie sind nicht an den »Pflock des Augenblicks« (Nietzsche) gefesselt und kein Spielball fremder Kräfte. Sie haben Selbstbewußtsein und häufig freie Wahl; sie haben eine Vorstellung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und verfügen über eine providentielle, in die Zukunft hineinlangende Vernunft. Sie entscheiden und planen, entwickeln langfristige Strategien, Ideale und Wertperspektiven. In unseren Vorstellungen von einem guten und richtigen Leben beziehen wir uns auf unsere Interessen, Wünsche und Ansichten, bilden wir Formen, Muster, Ordnungen für Interessen, Wünsche und Ansichten aus und entwickeln qualitative Wertperspektiven, um zu vergleichen und zu gewichten. Diese Wertperspektiven gehen weit über eine präferenzlogische Hierarchisierung hinaus; sie begnügen sich nicht mit einer lexikographischen Ordnung. Sie dekontingentisieren in einem starken Sinn, denn sie stiften Sinn und Bedeutung. Sie konstituieren unsere, obzwar kulturell vermittelte, persönliche Grammatik der Wichtigkeit, Vorzugswürdigkeit und Wünschbarkeit. In ihrem Licht beurteilen wir unsere Präferenzen und Vorhaben. Sie definieren die Standards, denen wir uns verpflichtet wissen. Sie enthalten die Kriterien unserer Selbstbewertung und entscheiden über Selbstachtung und Selbstrespekt. Sie konstituieren die praktische Ontologie unserer Selbstsorge. Als evaluatives Gravitationsfeld personaler Identität begründen sie gleichzeitig gelingende Lebensführung und Selbstwert.
Dieses sich zwischen universalistischer Moralität und rationaler Interessenverfolgung aufspannende ethische Zwischenreich wird durch die Vernunftkonzepte der Moralphilosophie und der rational-choice-Theorie nicht erfaßt. Hier waltet eine praktische Vernünftigkeit, die in der modernen praktischen Philosophie sprachlos bleibt. Der ganze Bereich der ethischen Alltäglichkeit, wo das Leben hauptsächlich stattfindet, das wir führen, ist für die modernen Vernunft- und Handlungsbegriffe weitgehend eine terra incognita. Für seine rationalitätstheoretische Vermessung muß daher auf andere Begriffe zurückgegriffen werden, auf weltfähige Begriffe, die von der neuzeittypischen szientistischen Zuspitzung, von der Dramatik der Dekontextualisierung nicht gezeichnet sind.
Fazit
Lassen wir den Herausgeber Wolfgang Kersting von " Klugheit" selbst danach sprechen, da er das Autorenteam dazu hervorragend thematisch umfassend auswählte:
I. geschichtsphilosophisch - Wolfgang Kersting (bei Platon, Aristoteles: Staatsmann und Bürger), Christoph Horn(bei Thomas von Aquin), Christine Chwaszcza (bei Smith: selbsterhaltend, gefühlsmoralisch). Reinhard Brandt (bei Kant), Nocholas White (praktisch-erkennend bei Platon, Aristoteles, Wittgenstein);
II. gegenwartsbezogen - Rainer Marten (zum Guten gerichtet), Dieter Sturma (person-bezogen), Rüdiger Bubner (argumentierend), Karl Mertens (zeitstrukturell-handelnd), Andreas Luckner (moralisch-technisch), Peter Koller (menschlich- handelnd), Ottfried Höffe (projekt-politisch), Sven Schmuhl (bibliographisch: phronedis/prudentia/prudence).
"Der vorliegende Band ist diesem Unternehmen verpflichtet. Er ist an der konzeptuellen Leistungsfähigkeit des Klugheitsbegriffs interessiert, will wissen, ob er für eine genauere Erfassung unseres praktischen Selbstverständnisses hilfreich ist, und erprobt den phronetischen Zugang zu dieser von der universalistischen und der individualistischen Rationalität gleichermaßen ausgesparten Welt der Praxis, zu dieser – in einem völlig unemphatischen Sinne: ethischen – Lebensmitte.
Seine Beiträge gliedern sich in zwei Gruppen. Die erste – mehr historische – Gruppe berichtet von den wichtigsten Stationen in der Geschichte des Klugheitsbegriffs von Platon bis zu Wittgenstein. Die zweite – mehr systematische – Gruppe untersucht die Bedeutung des Klugheitskonzepts in der praktischen Philosophie der Gegenwart, in der Handlungs- und Argumentationstheorie, in der Philosophie der Person, der Moralphilosophie und der politischen Philosophie.
Matthias Eckoldt: Unnötiger Ballast oder unverzichtbares Prinzip . Wozu noch Tugend?
SWR2 AULA – Dr. Matthias Eckoldt: Unnötiger Ballast oder unverzichtbares Prinzip . Wozu noch Tugend?
Autor und Sprecher: Dr. Matthias Eckoldt *
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
Sendung: Sonntag, 30. Mai 2010, 8.30 Uhr, SWR 2
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen
Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
ÜBERBLICK
Tugend - noch zeitgemäß oder veraltet?
Wir sind freiheitsversessene Wesen, unsere moderne individualisierte Gesellschaft basiert auf dem Prinzip der Selbstverwirklichung. Gerade deshalb stellt sich die Frage, ob wir mit dem Begriff "Tugend" heute überhaupt noch weiterkommen. Er zerrt uns doch fort vom Weg ins Offene und führt uns auf einen scheinbar ausgetretenen Pfad. "Tugend" ist mit so viel historischem, theologischem, philosophischem Ballast beschwert, dass wir immer wieder dazu gedrängt werden, diesen Ballast über Bord zu werfen, auf Tugend ganz zu verzichten. Matthias Eckoldt, Journalist, Medientheoretiker und Kommunikationswissenschaftler, zeigt, warum wir einen neuen individualisierten Tugendbegriff benötigen.
Zum Autor:
* Zum Autor:
Dr. phil. Matthias Eckoldt, Jahrgang 1964, lehrt an der Berliner Freien Universität im
Fachbereich Geschichte und Kulturwissenschaft. Er veröffentlichte zahlreiche
Features, Essays und Hörspiele.
Arbeitsgebiete: Systemtheorie der Massenmedien, Machtanalytik moderner
Gesellschaften, Konstruktivistische Paradigmen, Moralphilosophie
Buchauswahl:
- „Wozu Tugend?“ – gemeinsam mit René Weiland (Aquinarte 2010)
- „Letzte Tage – Ein Boxerroman“ (Dittrich Verlag 2010)
– „TopIdioten – Erzählungen aus dem Reich der Verführung“ (Kulturverlag Kadmos 2008)
– „Medien der Macht – Macht der Medien“ (Kulturverlag Kadmos 2007)
–„moment of excellence“ (Roman, Eichborn Verlag 2001)
INHALT
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Ansage:
Mit dem Thema: „Unnötiger Ballast oder unverzichtbares Gepäck – wozu noch
Tugenden“.
Tugend – bei dem Begriff sträuben sich vielen die Haare, er ist belastet mit
philosophischer Tradition, mit politischer Tradition, auch mit Theologie, mit
Denkgebäuden, die heute nicht mehr so recht zum Individualismus zu passen
scheinen. Wir wollen uns selbst verwirklichen, aber dabei nicht unbedingt die
aristotelische Lehre der Tugendhaftigkeit erfüllen, wir wollen ein glückliches Leben
führen, ohne von Weltanschauungen gemaßregelt zu werden.
Wie kann man beides zusammenbringen, wie kann man die Moderne verbinden mit
traditionellen Tugendauffassungen? Das zeigt in der SWR2 AULA Matthias Eckoldt.
Er lehrt an der Freien Universität zu Berlin im Fachbereich Geschichte und
Kulturwissenschaft, und veröffentlichte zahlreiche Bücher und Essays, hauptsächlich
zu medientheoretischen Themen. Heute zeigt er also, wie man als moderner Ich-
Sager tugendhaft sein kann.
Matthias Eckoldt:
Dem Tugendbegriff haftet etwas Unzeitgemäßes an. Von Tugend zu reden, wirkt
antiquiert, wirkt konservativ, wirkt rückschrittlich. Vielleicht ist Tugend sogar der am
meisten missbrauchte Begriff in der Geschichte der Philosophie der Moral. Warum ist
das so? Jede Moral, die sich Geltung verschaffen will, leitet sich von Tugenden her,
welcher auch immer. Ohne Tugenden gibt es keine Moral. Der Missbrauch des
Tugendbegriffs beginnt nun immer dort, wo eine Moral selber ihre Tugenden
definiert, gemäß dem politischen, religiösen, ökonomischen oder ökologischen
Ganzen, dem diese Moral dienen will.
Interessant ist an dieser Stelle zu bemerken, dass es jenes Ganze jedoch überhaupt
nicht geben kann. Das Ganze ist weder denk- noch sagbar, weil sich ja niemand
außerhalb seiner selbst aufhalten kann. Erst von diesem unbegehbaren Ort aus
könnten wir das Ganze sehen. Jener Ort wäre gewissermaßen der objektive
Standpunkt, von dem aus man Beobachtungen ohne Beobachter vornehmen und
dann sogar das Kant’sche Ding an sich sehen könnte. Ein Unding also, eben weil
jede Beobachtung ihren Beobachter benötigt.
Die Geschichte des Tugendbegriffs nun ist bestimmt von seiner Inanspruchnahme im
Namen eines behaupteten Ganzen. Der abgeleitete Begriff von Tugend – ob nun
religiös, politisch, ökonomisch oder ökologisch motiviert – ist nichts anderes als
Ideologie. Prominentes Beispiel hierfür ist der deutsche Machtstaatsgedanke des 19.
Jahrhunderts: Der deutsche Staatsbürger wurde im Geiste von Staat und Nation
„gebildet“, d. h. entindividualisiert – von Volksgemeinschaft und Rasse im 20.
Jahrhundert ganz zu schweigen. Wichtig zu verstehen ist, dass der aus einem
Ganzen abgeleitete Begriff von Tugend die Quelle seines Missbrauchs darstellt: So
borniert der deutsche Machtstaat, so borniert die aus diesem behaupteten Ganzen
abgeleiteten „deutschen Tugenden“.
Der Missbrauch nun besteht gerade darin, dass die Tugenden fremdgesetzten Zielen
gehorchen, also Zielen, die nicht wieder von Tugend bestimmt sind. Immer wieder
wurden die Tugenden für solcherart äußerliche Ziele eingespannt. So ging es darum,
schlagkräftige Ritter oder brave Staatsbürger oder gebärfreudige Frauen
hervorzubringen. Den Tugenden wird also nicht zugetraut, aus sich selbst heraus
sinnvoll zu sein.
In zweieinhalbtausend Jahren Nachdenken über Tugenden haben sich vier Grundoder
auch Kardinaltugenden herausgebildet: Die Tugenden der Klugheit, der
Gerechtigkeit, des Maßes und der Tapferkeit, wie sie seit Platon auf uns gekommen
sind, stehen zueinander in einem Zusammenhang, der seinerseits für ein glückendes
Leben bürgt. So ist nur derjenige tugendhaft, der seine Handlungen bedenken kann,
also klug vorgeht. Aber das kann ebenso der Kriminelle für sich in Anspruch nehmen.
Es muss also zur Klugheit die Gerechtigkeit hinzutreten, die Frage also: Schadet
das, was ich vorhabe, jemandem? Am Ende mir selbst?
Doch auch kluge und gerechte Handlungen können den Handelnden überfordern,
wenn mit ihnen nicht ein Maß einhergeht, das den begrenzten Kräften und
Möglichkeiten der jeweiligen Person Tribut zollt. Der Einzelne muss sich seiner
Grenzen bewusst sein und dementsprechend Maß walten lassen. Wer ein Burn-out-
Syndrom bekommt, ist nicht nicht tugendhaft, weil er so viel gearbeitet hat, sondern
deswegen, weil er kein Gefühl dafür entwickelt hat, was er sich selbst zumuten
konnte.
Die Frage, was man sich selbst zumuten kann, provoziert auch die weitergehende
Frage, was dem Einzelnen auf keinen Fall zuzumuten wäre. Die Antwort sollte klar
ausfallen: Einem Menschen ist es nicht zuzumuten, durch ein bestimmtes Tun oder
Unterlassen sein menschliches Wesen zu verletzen. Das aber wäre der Fall, wenn
von ihm verlangt würde, unmenschlich oder auch nur gegen sein Gewissen zu
handeln. Wir kommen also nicht umhin, in einem grundsätzlichen Sinne standhaft zu
sein. Standhaftigkeit geht hier in eins mit der Bewahrung unserer selbst. Wenn wir
uns selbst zu bewahren suchen, tun wir dies nie nur in einem naturhaft-biologischen,
sondern ebenso sehr in einem metaphysisch-moralischen Sinne. Denn was hilft uns
unsere körperliche Unversehrtheit, wenn uns unsere menschliche Integrität
abhanden kommt? Wir sind, über alle Selbstbewahrung hinaus, zur Bewahrung eines
Gutes verpflichtet. Von diesem her und auf dieses hin begreifen wir unsere
Menschlichkeit als Bedingung der Möglichkeit unserer Integrität. Und um der
Bewahrung genau dieses Gutes willen, das menschliches Zusammenleben letztlich
erst ermöglicht, bedarf es der Bereitschaft zur Tapferkeit.
Auf diese Weise ergibt sich ein dynamisches Bezogensein der Kardinaltugenden
aufeinander. Hieraus sieht man rasch, dass die Tugenden nur, wenn sie nicht isoliert
für sich betrachtet beziehungsweise gebraucht werden, ein sich selbst genügendes
Ganzes ergeben. Sie müssen also aufeinander bezogen werden und bleiben.
Die Instrumentalisierung der Tugenden für Ziele und Zwecke, die nicht selbst im
Zeichen der Tugend stehen, isoliert die Tugenden jedoch voneinander. Sie bewirkt
deren Entfremdung. Tugendhaftigkeit meint notwendigerweise das Zusammenspiel
aller Tugenden, noch dann, wenn Anlass und Situation die Führung einer
bestimmten Tugend nötig machen sollten. Tapferkeit oder Mut ist in anderen
Zusammenhängen vordringlicher als Gerechtigkeit und Klugheit. Aber selbst dann
wird beispielsweise Klugheit nötig sein, damit der Tapfere sich nicht zu Handlungen
hinreißen lässt, die grausam oder auch nur unnötig sind.
Innerhalb der Geschichte ihres Missbrauchs standen vor allem die Tugenden der
Tapferkeit und des Maßes im Brennpunkt der Isolierung. Umso paradoxer scheint es,
dass beiden Tugenden eine gewisse Unterwürfigkeit eigen ist. Sie haben eher
dienenden als gestaltenden Charakter. Mit ihnen tritt die ordnend-erhaltende
Funktion von Tugend in den Vordergrund, die eine Verkürzung des Tugendbegriffs
insgesamt ermöglicht: Tugendhaftigkeit wird zum Inbegriff von Freiheits- und
Selbstverneinung. In dem Moment, da wir die Bezogenheit der vier klassischen
Tugenden aufeinander vernachlässigen, können Tugend-Karikaturen wie
Pünktlichkeit und Sauberkeit entstehen. Grausiges Sinnbild hierfür dürfte die
Anweisung der Attentäter vom 11. September 2001 sein, ihre Schuhe für den
ersehnten Eintritt ins Paradies wohlgeputzt zu halten. Hier nimmt die
Instrumentalisierung des Tugendbegriffs groteske Züge an. Es wird sichtbar, wie
sehr sich der Begriff der Tugend auf diese Weise von jeglicher intellektueller wie
moralischer Urteilskraft trennt.
In unserer säkularisierten Welt gestattet übrigens der Sport dem Missbrauch des
Tugendbegriffs ein triviales Fortleben. Vornehmlich im Umkreis der deutschen
Fußball-Nationalmannschaft wird der Begriff der Tugend in gänzlich unironischer und
nichtmetaphorischer Weise verwendet. So appellieren Trainer wie Funktionäre des
Deutschen Fußball-Bundes gern an die sogenannten deutschen Tugenden wie
Kampf, Ehrgeiz und Disziplin. Auch wenn hier der Missbrauch kaum mehr
gesamtgesellschaftliche Folgen hat, gibt doch der Sport, allem voran der hierzulande
beliebteste Mannschaftssport, eine gleichsam idealtypische Versuchsanordnung vor:
ein Gruppenganzes nämlich, innerhalb dessen sich die Tugend der Tapferkeit – im
Sinne von Kampf und Ausdauer – isoliert präsentiert und darin stellvertretend für
„Tugend“ schlechthin steht. Zudem ist die hier geforderte Tapferkeit auf die Dauer
von neunzig Minuten begrenzt und eindeutig fixiert auf ein unmissverständliches Ziel:
den Sieg.
Um den vielstimmigen Kanon der Tugenden besser zu begreifen, ist eine
Spurensuche in der Geschichte des philosophischen Nachsinnens angesagt. Wie bei
eigentlich allen tragenden Begriffen beginnt das abendländische Denken auch im
Fall der Tugend im Alten Griechenland. Dabei jedoch sollte man den grundsätzlichen
Ansatz im Hinterkopf haben, den die Hellenen in ihrer Ethik verfolgten. Anders als in
der neuzeitlichen Ethik war die griechische nicht moralisch zugespitzt – oder präziser
verengt. Im Zentrum stand also nicht so sehr die eher moderne Frage, zu welchen
Handlungen man verpflichtet ist und woher die Verpflichtung rührt. Für die Alten
Griechen ging es vielmehr um die Frage, wie man denn leben solle! An dieser Stelle
kommt der Begriff der Eudaimonie ins Spiel.
Eudaimonie beschreibt die Ausrichtung auf das Glück. Höchster Wert antiker Ethik
war das Glück im Sinne des glückenden Lebens und der Glückseligkeit. Es ging also
um die Gesamtheit der Lebensführung, die auf das Gute ausgerichtet sein sollte.
Insofern kommt der Tugend im Alten Griechenland zentrale Bedeutung zu, denn sie
sollte den Weg zum Ziel der Gutheit beschreiben. Allerdings hatten die Griechen
auch einen anderen Begriff von Tugend. Die Weite des griechischen Verständnisses
von Tugend schlägt sich im Begriff der areté nieder. Areté umschreibt die Tüchtigkeit
im Sinne der Tauglichkeit, genauer: der ‚Bestheit’. Welche Offenheit die areté atmet,
lässt sich auch darin sehen, dass dieses Wort nicht nur für Menschen reserviert ist,
sondern auch in Bezug auf ein Tier, ja sogar auf Werkzeuge verwendet wird. So hat
ein Pferd die areté der Schnelligkeit und das Messer die der Schärfe. Während die
christliche Tradition den Begriff der Tugend nach und nach moralisierte, hielten die
Griechen die Bedeutung des Wortes offen. Alles, was taugte, hatte areté. Egal ob
Mensch, Tier oder Dinge.
So offen die Griechen die Bedeutung des Wortes hielten, so heftig stritten ihre
Philosophen, ob die areté lehrbar sei und ob sie als Ganzes oder zusammengesetzt
zu denken sei. Exemplarisch wird diese Thematik im Platonischen Dialog Protagoras
erörtert. Hier optiert Protagoras für die Lehr-, Lern- und Teilbarkeit der Tugend. Das
aus gutem Grund, denn Protagoras verstand sich wie alle Sophisten als Lehrer und
nahm Geld für seine Unterweisungen. Sokrates nun vertritt die entgegengesetzte
Position: Tugend sei zwar übbar, aber nicht erlernbar. Sie könne nicht außerhalb
gelebter Tugendhaftigkeit existieren, da sie immer an ein Beispiel gebunden sei. Sie
zeige etwas an und etwas auf. Aber streng genommen ist es gar nicht die Tugend,
die etwas zeigt, sondern der Tugendhafte selbst. Er zeigt nämlich das Gute eines
Tuns auf. Gemeint ist hier etwas Gutes, das für sich allein stehen kann, das also in
sich gut ist und nicht etwas, was für etwas anderes gut ist. Deswegen ist es keine
Tugend, besonders fleißig zu sein und besonders viel Geld zu verdienen. Die
Tugend praktiziert man, weil sie gut ist. Das heißt, der Gerechte ist gerecht, weil
Gerechtsein gut ist!
Das klingt wie eine Tautologie. Damit es aber mehr als eine Tautologie wird, braucht
es das konkrete Beispiel, braucht es genau denjenigen, der mit seinem Beispiel dafür
einsteht, der die Tugend durch sein Handeln verwirklicht. Das heißt, Tugend ist im
Sinne des Sokrates eher als ein Zeichen, und weniger als ein Wissen zu
interpretieren. Deswegen ist die Tugend für Sokrates auch nicht lehrbar.
Nach Aristoteles zeigen die Tugenden die Mitte zwischen den Extremen der Affekte.
Ihm zufolge sind sie zwischen einem Mangel und einem Übermaß angesiedelt. So ist
beispielsweise ein Mangel an Tapferkeit Feigheit, ein Übermaß an Tapferkeit
hingegen Tollkühnheit. Dementsprechend tendiert ein Mangel an Besonnenheit zur
Zügellosigkeit und das Übermaß zur Gefühllosigkeit, während sich ein Mangel an
Sanftmut als Schwächlichkeit zeigt und das Übermaß entsprechend als Jähzorn.
Zwischen den Extremen der Schamlosigkeit und der Schüchternheit findet sich als
nach Aristoteles die Tugend der Feinfühligkeit und zwischen Kleinmut und Eitelkeit
die Großgesinntheit.
Die Stoa schließlich, die von 300 v. Chr. bis ins zweite nachchristliche Jahrhundert
hinein wirksam war, kehrt die Perspektive radikal um. Ihr gelten die Affekte nicht als
zur Natur des Menschen gehörig. Die Stoa sagt den Affekten in ihrer Gesamtheit den
Kampf an. Dementsprechend geht es nicht mehr darum, wie noch bei Aristoteles,
das seelische Gleichgewicht zwischen den Extremen auszutarieren. Im Gegenteil:
Alle emotionalen Regungen, die einerseits auf Lust, andererseits auf Unlust
zurückgeführt werden können, begreifen die Stoiker als widernatürliche Bewegungen
der Seele: von der Begierde über den Neid bis hin zum Mitleid. Das erstrebte
Lebensgefühl besteht für die Stoiker in der Abwesenheit von Affekten überhaupt. Die
Tugenden weisen ihm den Weg zum Ziel der Affektfreiheit. Insofern gelten die
Tugenden für die Stoiker als alleinige Glücksbedingung.
Affekte treten immer dann auf, wenn man sich nicht darüber im Klaren ist, was dem
eigenen Glück zuträglich ist. Die erste und wichtigste Frage ist demnach, was in
unserer Gewalt steht und was nicht. Demnach werden die Menschen nicht von den
Dingen beunruhigt, sondern von ihren Vorstellungen von den Dingen. Die
Vorstellungen über die Dinge aber hat man in seiner Macht. Damit ist dem Stoiker
kein Unglück erlaubt. Selbst wenn er das Liebste und Wertvollste auf der Welt
verliert, weiß er, dass es nicht in seiner Gewalt lag, es zu halten.
Dementsprechend sehen die Stoiker – anders als Sokrates – die Tugend als lehrbar
an, denn sie bewegen sich noch inmitten des Logos. Sie wähnen sich von
Rationalität umgeben. Selbst oder gerade den Menschen sehen sie nicht von
Trieben, uneingestandenen Wünschen und Obsessionen beherrscht, sondern als ein
zur Vernunft hin ausgerichtetes Wesen. Der Tugendkanon Klugheit, Maß,
Gerechtigkeit und Tapferkeit ist den Menschen weder von den Göttern noch von der
Natur gegeben. Jeder kann sich darin üben. Fortschritte werden dabei – vergleichbar
der Freudschen Neurosenlehre – über Einsicht und Sublimation gemacht. Somit hat
jeder seine eigene Tugendhaftigkeit und damit sein Lebensglück in Form errungener
Affektfreiheit selbst in der Hand.
In der stoischen Abgeklärtheit gegenüber Hoffnungen wie Befürchtungen bildet sich
nicht zuletzt die Zukunftslosigkeit der römisch-hellenistischen Kultur selbst ab.
Zeitgleich findet in einer entlegenen römischen Kolonie ein grundstürzender Aufruhr
statt. Wo die erfahrungsgesättigte Stoa eine Lebenskunst formuliert, in deren
Mittelpunkt die Selbstbeschränkung individuellen Lebens steht, findet im Nahen
Osten eine Revolution statt, die nicht nur den individualistischen Realismus der Stoa,
sondern jedwedes Konzept einsichtsgeleiteter Lebenskunst durchstreichen wird. Der
Begriff der Tugend wird von der Idee gelingenden Selbstseins abgeschnitten.
Tugend büßt unter christlicher Deutungshoheit nicht nur ihre lebenspraktische
Bedeutung ein, sondern verschwindet als Begriff überhaupt. Wir finden ihn an keiner
zentralen Stelle im Neuen Testament wieder – genauso wenig wie im Alten. In der
Heiligen Schrift gibt es weniger die Idee des tugendhaften als jene des
gottesfürchtigen Menschen.
Gott hat den Menschen Gebote und Gesetze gegeben, nach denen sie leben
müssen. Das Leben des Einzelnen vollzieht sich nun nicht mehr unter dem Ideal der
Glückseligkeit, sondern unter dem der Gottgefälligkeit. Dennoch steht der Tugend im
christlichen Abendland, unter radikal verändertem Vorzeichen, eine steile Karriere
bevor. Die Kirchenväter kümmerten sich um die christlichen Tugenden. Die Tugend
wird als eine Beschaffenheit des menschlichen Geistes gesehen, durch die Gott im
Menschen ohne dessen Willen wirkt.
Thomas von Aquin definiert Tugenden als „complementum potentiae“ – als die
Vervollständigung des menschlichen Vermögens. In Auseinandersetzung mit den
antiken Tugendlehren – besonders mit der des Aristoteles – entsteht der Begriff der
drei himmlischen Tugenden Glaube, Liebe, Hoffnung, die den Kardinaltugenden
übergeordnet sind.
Der Heilige Thomas insistiert auf der Liebe als dem Medium, in dem sich Menschen
mit ihren Mitmenschen auf eine kreatürliche Weise verbunden fühlen. Im Hoffen, so
macht er deutlich, sind wir auf eine Zukunft ausgerichtet, die das menschliche Leben
selbst gar nicht hergeben kann. Im Glauben schließlich sieht Thomas von Aquin eine
unzulängliche Art von Erkenntnis, die immer dann notwendig wird, wenn Menschen
darum wissen, dass sie bestimmte Dinge gar nicht wissen können. Hier hat der
Glaube die Funktion, den Menschen für das, was man selbst nicht mit eigenen
Augen sehen kann, offen zu halten.
Kurioserweise lässt sich in punkto himmlischer oder göttlicher Tugend ausgerechnet
beim Heiligen Thomas Gott auch ausklammern. Denn wir können nicht anders als
hoffen und appellieren damit an eine nicht bekannte und niemals einlösbare Zukunft.
Wir müssen den Glauben als die andere Seite des Wissens in allen menschlichen
Regungen mitführen. Und wir können nur liebend das Begehren der Vereinigung mit
der Wirklichkeit erfahren. Das sind Grundeinsichten, die ohne Gott gedacht werden
können und in den abendländischen Philosophien von Sartre bis Bloch und von
Kierkegard bis Erich Fromm ausformuliert werden.
Diese Weite des Tugendbegriffs bei Thomas von Aquin wird allerdings von der
Realität der Institution Kirche beschnitten. Rückblickend kann man feststellen, dass
die Instrumentalisierung und Funktionalisierung des Tugendbegriffs durch die
christliche Kirche nicht wegen, sondern trotz ihrer kanonisierten Denker ihren Lauf
nahm. Wahrscheinlich hätte sich Thomas von Aquin ebenso wenig in den religiösen
Praktiken des Mittelalters wiedergefunden wie Karl Marx in den sozialistischen oder
Nietzsche in den faschistischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts.
Das menschliche Dasein in der westlichen Welt hat sich – so ist heute wohl zu
konstatieren – weitgehend von den religiösen Wertvorgaben gelöst. Auch die
Sinnstiftung, die von nationalen Bewegungen ausgingen, inflationiert in Zeiten der
Globalisierung und des Geeinten Europas. Dass die Antworten Geld und Karriere,
die der Kapitalismus auf das so entstandene Sinnvakuum gibt, nicht dauerhaft
tragen, merkt man spätestens in Zeiten der Wirtschafts- und Finanzkrise.
Die sogenannten bürgerlichen Tugenden stehen immer schon im Zeichen des
wirtschaftlichen Erfolgs. Pünktlichkeit, Sauberkeit, Fleiß und Ordnung sind Garanten
für den reibungslosen Betrieb der Fließbänder und Produktionsstätten dieser Welt,
aber nicht für ein glückendes Leben. Und so stellt sich am Anfang des dritten
Jahrtausends die alte antike Frage nach der Lebensführung wieder ungeschminkt
und mit dringlicher Klarheit.
Meinen wir es ernst mit dem Begriff der Tugend, so sind wir angehalten, ihn für sich
zu nehmen und ihn von jedweder systemischen Ableitung freizuhalten. Was wir
brauchen, ist ein erfahrungsgeleiteter, subjektiver Umgang mit der Tugend. Wir
machen, wenn wir tugendhaft sind, Erfahrungen mit uns als sich selbst
verantwortende Personen.
So sehr der Begriff der Tugend seine Selbstverständlichkeit verloren hat, so sehr
ermöglicht uns dies, ihn unseren Erfahrungen gemäß anzueignen. Es kann sein,
dass wir dabei eklektizistisch – also unsystematisch – verfahren und aus der Fülle
des Umgangs mit den Tugenden in zweieinhalbtausend Jahren nach Gusto schöpfen
sollten. Ein solcher Eklektizismus wäre jedoch gedeckt und getragen von der Idee
des dynamischen – und immer neu zu justierenden – Aufeinanderbezogenseins der
Tugenden unter den Bedingungen ihrer individuellen Aneignung. Er würde sich
zunehmend freimachen von kulturell-weltanschaulichen Rücksichten und
Abgrenzungen. Man kann mit gutem Recht so weit gehen, die Tugenden als ein
Potenzial für eine neue Form der Zeitgenossenschaft zu bezeichnen. Die Tugenden
stehen zur ihrer Individualisierung bereit. Wir haben es in der Hand, der Freiheit in
uns selber einen Ort zu geben, wo wir wir selbst sein können. Unsere Freiheit lässt
uns in uns mit etwas außerhalb unserer eine Verbindung eingehen. Eben diese
Verbindung haben wir in unserer Lebenszeit zum Ausdruck zu bringen.
Um etwas zum Ausdruck zu bringen, um selber Ausdruck von etwas zu sein, müssen
wir uns unserer eigenen beschränkten und zugleich brachliegenden Mittel als
Menschen bedienen lernen. Und gerade dazu dienen die Tugenden. Indem wir uns
unserer menschlichen Mittel bedienen lernen, eignen wir uns die Tugenden auf
unsere je individuelle Weise an. Wir realisieren unseren Umgang mit uns selber,
indem wir die Tugenden eigenständig interpretieren. Der Gebrauch der Tugenden ist
damit auch an deren unablässige Neuinterpretation gebunden. Neuinterpretation und
Individualisierung erhellen die überlieferten Tugenden in einer zeitgenössischen
Sprache.
Das lässt sich beispielsweise gut an der Neuinterpretation der Tapferkeit als
Zivilcourage verdeutlichen. Tapferkeit hat sich zunehmend vom Soldatischen
emanzipiert und durchläuft wortwörtlich eine Zivilisierung. Dieser Prozess entbindet
uns in Fragen des Tapferseins vom Zwang zur Opfer- und Kriegslogik.
Tugendhaftigkeit wird mehr und mehr ins Eigentum des Einzelnen entlassen. Indem
wir im eigenen Auftrag tugendhaft sind, entdecken wir Tugendhaftigkeit als
Stabilisatorin unserer Freiheit. Sie hilft uns, wir selbst zu sein. Der Kreuzungspunkt
von Selbst- und Fremdbestimmtheit, den jede Tugend auf ihre Weise markiert, ist der
Ort, den wir als Individuen einnehmen.
Frohgemut die eigenen Dinge verfolgen: Das wäre für eine zeitgenössische
Annäherung an den Begriff der Tugend aus seiner Reflexion zu lernen: sowohl von
Platons Konzept einer gerechten Ordnung wie auch von der stoischen Lehre der
strikten Trennung von Selbst- und Fremdbestimmtheit und ebenso von der
Thomas’schen Idee einer uns je schon eingesenkten Neigung zum Guten.
„Uns Heutigen, die wir nach verschiedenen Aufklärungs- und
Gegenaufklärungsepochen denkbar abgeklärt sind, kann kein kasuistisches
Tugendkorsett zeigen, wie wir in die Balance von weltlicher Verstrickung und innerer
Freiheit kommen“, schreibt der Philosoph René Weiland in dem gerade erschienenen
Buch „Wozu Tugend?“. Der Weg zu einem zeitgemäßen Tugendverständnis kann
tatsächlich nur gelingen, wenn wir von der außengesteuerten Instrumentalisierung
auf eine innengesteuerte Individualisierung der Tugenden umschalten.
Im Zentrum dieser Überlegung steht dabei die Tugend des Maßes, dem die
Individualisierungstendenz bereits eingeschrieben ist. Es ist unmittelbar
einleuchtend, dass jeder sein eigenes Maß nur selbst ergründen kann. So objektiv
der Eichstrich am Glas auch sein mag, so subjektiv ist die Wirkung der Substanz.
Das Maßhalten beweist sich gerade in verführerischen Konstellationen nicht durch
den gänzlichen Verzicht, sondern durch die Hingabe an die Droge unter der
Maßgabe der Selbstgewinnung. Beispielsweise könnte die zu erhaltende mentale
und körperliche Fitness ein individuelles Ziel sein, zu dem das Maßhalten als
Methodik führt.
So hat Individualisierung der Tugend nichts gemein mit dem Weltverzicht der Stoiker,
obwohl sie von ihm die Konzentration auf die innere Bedürfnislage lernen kann.
Vielmehr geht es darum, sich der Welt zum Maße der inneren Freiheit zu stellen.
Hierin unterscheidet sie sich auch von der Aristotelischen Lehre von der
anzustrebenden Mitte zwischen den Extremen. Der Individualisierung der Tugenden
kann es nicht darum gehen, die Mitte zwischen Mangel und Übermaß zu finden,
sondern darum, auch noch die moderate Art und Weise des Aristotelischen
Tugendverständnisses als Normierungsversuch aufzudecken und zu unterlaufen. In
diesem Sinne ist sogar das seinerzeit revolutionäre Diktum des Protagoras, nach
dem der Mensch das Maß aller Dinge sei, durchzustreichen. Denn es geht nicht um
den Menschen. Die rätselhafte Eigenheit Mensch muss vor jeglicher Theoriebildung
in Schutz genommen werden. Man braucht den Leitspruch des Humanismus nur
umzuwenden, um die Gewalt offen zu legen: Wer nicht das Maß aller Dinge ist, kann
nicht den Anspruch geltend machen, ein Mensch zu sein, und muss
dementsprechend nicht als Mensch behandelt werden. Die Exzesse in Geschichte
und Gegenwart zeigen die Wirkmächtigkeit dieser Denkfigur.
Der Weg für uns Heutige könnte vom Zustand zum Prozess führen: Nicht der
Mensch darf das Maß aller Dinge sein, sondern der Einzelne muss das Maß seiner
Dinge finden. Um das eigene Maß zu finden und je neu zu justieren, können die
anderen Kardinaltugenden einspringen. So gemahnt einen die Tapferkeit an die
Kraft, das eigene Maß gegen das Maß der Welt zu verteidigen, den inneren Takt
gegen die äußere Schlagzahl zu behaupten. Die Gerechtigkeit findet sich in einer
individuellen Tugendkonzeption an der Stelle wieder, wo man dem anderen die
prinzipielle Unzugänglichkeit seiner Innenwelt zugesteht. Niemand außer ihm selbst
kann sein eigenes Maß ergründen. Die Klugheit kommt im Moment der Handlung
zum Tragen, wenn nämlich die Abstandnahme von sich selbst zur Erwägung
möglicher Beschränkungen des Anderen durch die eigene Vorgehensweise führt.
Den anderen mitzudenken und zugleich zu wissen, dass sich dessen Innenwelt
einem nie wirklich erschließen wird, ist die Leistung der Klugheit.
So gewinnen wir einen Begriff von Offenheit, die uns in unserer Endlichkeit
empfangsbereit hält für etwas, was sich nicht schon in unserer Welt manifestiert hat.
So sind die himmlischen Tugenden Glaube, Liebe, Hoffnung auch jenseits ihrer
christlichen Besetzung, bewährte Haltungen dieser Geöffnetheit, die sich in Spuren
überall und alltäglich antreffen lassen. In jeder liebevollen Geste ist die Tugend der
Liebe anwesend. Die Hoffnung ereignet sich alltäglich, selbst noch im
Daumendrücken, dass der Mensch auf der anderen Straßenseite seinen Bus
erreichen möge. Genauso ist der Glaube im Vertrauen zu meinem Nachbarn
anwesend, dass wir eine Welt teilen, die in ihrem Kern friedlich und
freundschaftsfähig ist.
In diesem Sinne, liebe Zuhörer, bedanke ich mich für Ihre Aufmerksamkeit und
wünsche Ihnen einen erholsamen Sonntag.
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