Depression – mit Sicherheit therapieren

DGGPP 2007: Wyeth-Symposium „Depression – mit Sicherheit therapieren“
Geringes Interaktionspotenzial: Venlafaxin retard bewährt bei Depression und somatischer Komorbidität
WicherA@wyeth.com;BilicS@wyeth.comiiwersen@gci-healthcare.dewww.wyeth.de
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Münster/Mannheim (1. März 2007). Unter dem Motto „Seelische Gesundheit und Lebensqualität im Alter – Ressourcen, Kompetenzen, Behandlungsstrategien“ diskutierten Experten auf dem diesjährigen DGGPP -Kongress vom 14. bis 17. Februar in Mannheim. Das Symposium „Depression – mit Sicherheit therapieren“ informierte über den Einsatz von Psychopharmaka bei somatischer Komorbidität und möglichen Interaktionen. Eines der wichtigsten Themen für die Therapie älterer Patienten sind dabei die Wechselwirkungen der eingesetzten Medikamente. Aufgrund seines guten Interaktionspotenzials hat sich der selektive Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (sSNRI) Venlafaxin (Trevilor® retard) in der Therapie bewährt. „Mit dem Wissen um die richtige Medikation ist der ältere komorbide Patient gut behandelbar“, hielten die Referenten PD Dr. Walter Hewer, Vinzenz von Paul Hospital, Rottweil und Dr. Gabriel Eckermann, Bezirkskrankenhaus Kaufbeuren, als Ergebnis fest.

Diagnose und Behandlung einer Depression bei somatischen Erkrankungen sind vor dem Hintergrund der steigenden Zahl von älteren Patienten ein wichtiges Thema in der Gerontopsychiatrie. „Wir wissen, dass sich bei etwa einem Drittel der Schlaganfall- und Krebspatienten eine Depression entwickelt“, erläuterte Dr. Hewer während des Symposiums. Ein wesentlicher Faktor für das Auftreten eines depressiven Syndroms ist der Grad der körperlichen Einschränkung. Hewer dazu: „Gerade bei Pflegebedürftigkeit und Immobilität kommt es häufig zu einer Depression, etwa 30 – 40 Prozent der Patienten sind betroffen.“ Hervorzuheben sind die positiven Effekte, wenn es gelingt, das depressive Syndrom zurückzudrängen. „Herzinfarktpatienten mit einer Depression unterliegen einem mindestens zweifach erhöhten kardialen Mortalitätsrisiko, verglichen mit nicht-depressiven Infarktpatienten“, betonte Dr. Hewer.
„Auch bei Diabetikern zeigt sich: Eine unbehandelte Depression geht mit verminderter Compliance, schlechterer Stoffwechselkontrolle und auch gehäuften vaskulären Komplikationen einher.“ Die Wahl des geeigneten Antidepressivums kann gerade bei Diabetikern entscheidend sein. Dr. Hewer: „Hier ist in der Regel eine weitere Gewichtszunahme unerwünscht – serotonerge Antidepressiva wie beispielsweise Venlafaxin sind für diese Patienten besonders gut geeignet.“
Monitoring kann Nebenwirkungen verhindern
Eine psychische Erkrankung bei einem älteren, komorbiden Patienten stellt den behandelnden Arzt vor viele Herausforderungen: Multimorbidität mit daraus folgender Multimedikation und die eingeschränkte Fähigkeit des Organismus, Medikamente zu eliminieren, spielen hier eine Rolle.

Es kann zu starken Nebenwirkungen kommen, wenn grundlegende Aspekte der Pharmakotherapie im Alter, d.h. Beachtung des Körpergewichtes, der eingeschränkten Nieren- und Leberfunktion und der Komedikation nicht berücksichtigt werden. „Neben einer inadäquaten Dosierung führt fehlendes Monitoring von Arzneimitteleffekten im weiteren Verlauf häufiger zu ausgeprägten unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW)“, erklärte Dr. Eckermann. „Vor allem bei kardial vorgeschädigten oder sonst multimorbiden Patienten, aber auch bei antibiotischer Therapie erschwert das Interaktionspotenzial vieler Medikamente die Behandlung von psychischen Erkrankungen.“

Pharmakokinetik: Wissen schützt
Der Alterspatient erhält durchschnittlich vier bis sechs Medikamente. Entscheidend für die Beurteilung von möglichen Wechselwirkungen ist das Wissen darüber, wie und wo das Medikament verstoffwechselt wird. Das Cytochrom P450 Isoenzym 1A2 spielt hierbei eine wichtige Rolle. Interaktionen durch metabolische Hemmung oder Induktion werden besonders dann zur Gefahr, wenn sie die Konzentration der jeweiligen Komedikation verändern und es zu einem gefährlich hohen Anstieg des Wirkstoffes oder zu einer Abnahme mit Folge geringerer therapeutischer Effektivität kommt. Besonders potente Inhibitoren unter den psychiatrischen Medikamenten sind z.B. Paroxetin, Fluvoxamin, Fluoxetin und Duloxetin, die den enzymatischen Abbau verlangsamen. Dies ist relevant, wenn man solche Substanzen in Kombination mit Trizyklika oder auch lipophilen Betablockern einsetzt. Auch das oft in Selbstmedikation genutzte Johanniskraut (Hyperforin) ist ein ausgeprägter Induktor und verstärkt auf mehreren Ebenen die metabolische Aktivität abbauender Enzyme. Dr. Eckermann: „Sehr starke Inhibitoren (z.B. Fluoxetin, Paroxetin, Fluvoxamin) oder ausgeprägte Induktoren sollten bei Polypharmazie und in der gerontologischen Pharmakotherapie nicht eingesetzt werden, da sie die Blutspiegel der Komedikation potenziell stark anheben können, oder der Blutspiegel evtl. so stark abfällt , dass ein Wirkverlust des Medikaments eintritt. Venlafaxin verfügt über geringgradige bzw. gar keine klinisch relevanten Hemmeigenschaften“, betonte Dr. Eckermann. „Für die Gerontopsychiatrie ist dieses Wissen über Hemm- und Induktionseffekte von großem Vorteil.“

Um Arzneimittelinteraktionen in der Praxis erkennen zu können, bietet die Website www.psiac.de, erstellt von der Arbeitsgruppe "Interaktionscomputer für die Psychiatrie" , Uniklinik Mainz, eine umfassende Datenbank an.

Ansprechpartner für die Medien:
Zum Unternehmen:
Anika Wichert
Pressestelle Wyeth Pharma
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Zum Produkt:
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Wyeth Pharma
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GCI Healthcare
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Zum Unternehmen
Wyeth ist weltweit eines der größten forschenden Arzneimittel- und Gesundheitsvorsorgeunternehmen, in dem über 50.000 Mitarbeiter beschäftigt sind (Sitz in Madison/USA). Der deutsche Sitz des Unternehmens ist die Wyeth Pharma GmbH in Münster/Westfalen (rund 650 Mitarbeiter).
Der Schwerpunkt von Wyeth liegt auf der Forschung und Entwicklung von innovativen, verschreibungspflichtigen Präparaten, wofür jährlich rund zwei Milliarden US-Dollar investiert werden. Dabei konzentriert sich das Unternehmen insbesondere auf die Bereiche Rheumatologie, Dermatologie, Impfstoffe, zentrales Nervensystem, Frauengesundheit, Infektiologie, Hämophilie, Transplantationsmedizin und Onkologie. Ziel der Wyeth Pharma GmbH ist es, auch im deutschen Markt in die Gruppe der zehn erfolgreichsten Pharma-Unternehmen vorzustoßen

Psychoanalytische Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Angststörungen und Depressionen

Online-Publikation: März 2013 im Internet-Journal <<kultur-punkt.ch>>
Ereignis-, Ausstellungs-, AV- und Buchbesprechung
<< Baumeister-Duru, Anette/Hofmann, Helmut/Timmermann, Helene/Wulf, Andrea : Psychoanalytische Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Angststörungen und Depressionen . Behandlungsmanual >>
176 S., 14,5 x 20,7 cm, Pb. , ISBN 978-3-95558-009-4; 17,90 €
Brandes & Apsel Verlag, Frankfurt a.M.; www.brandes-apsel-verlag.de

Inhalt
Das Manual ist ein klinischer Leitfaden für die psychoanalytische Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Angststörungen und Depression.
Das Buch wendet sich an in der psychotherapeutischen Versorgung Tätige, ist hervorragend für die Aus- und Weiterbildung geeignet und ein Ergebnis praxisnaher Psychotherapieforschung.
Nach der Darstellung der relevanten psychoanalytischen Theorien werden therapeutisches Denken und Handeln anhand von Fallvignetten beschrieben. Beginnend mit der Diagnostik stellt das Autorenteam typische Phasen des Behandlungsprozesses vor und spezifiziert diese für Angststörungen und Depression.
Außerdem wird mit diesem Manual ein Bogen gespannt zwischen empirischer Psychotherapieforschung
und der Behandlungspraxis in der analytischen Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie.
Das Buch ist somit ein gelungenes Beispiel für die Verbindung und Integration von Theorie, Forschung und Praxis der Kinder- und Jugendlichen-Psychoanalyse.

AutorInnenteam
Anette Baumeister-Duru,
Dipl.-Psych., analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin in eigener Praxis, Dozentin am Michael-Balint- und Peter-Riedesser-Institut in Hamburg.
Helmut Hofmann,
Dipl.-Sozialpäd., analytischer Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut in eigener Praxis, Dozent am Michael-Balint-Institut.
Helene Timmermann,
Dr. phil., Analytische Kinderund Jugendlichen-Psychotherapeutin und Familientherapeutin in eigener Praxis in Hamburg. Dozentin am Michael-Balint-Institut. Praktische Erfahrung im Psychagogischen Kinderheim Rittmarshausen, der Psychiatrischen Klinik der Universität Göttingen und der Fachklinik für Psychosomatik und Psychotherapie Tiefenbrunn.
Andrea Wulf,
Dipl.-Psych., analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin in eigener Praxis, Dozentin am Michael-Balint- und Peter-Riedesser-Institut.

Fazit
In der Reihe "Schriften zur Psychotherapie und Psychoanalyse von Kindern und Jugendlichen" erscheint aktuell zur Thematik "Psychoanalytische Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Angststörungen und Depressionen" ein Behandlungsmanual des AutorInnenteams Anette Baumeister-Duru, Helmut Hofmann, Helene Timmermann und Andrea Wulf.
Es ist ein unentbehrlicher Leitfaden zur Psychotherapie und Psychoanalyse von Kindern und Jugendlichen, wegen seiner gründlichen Ausleuchtung des Hintergrundes mit berücksichtigtem Heranwachsen vom Kindergartenalter bis zur Aduleszenz. Dabei werden Störungsbilder der Angst und der Depression phänomenologisch wie psychotherapeutisch diagnostisch klar geordnet.
Im Teil Behandlung werden die Voraussetzung, Befähigung, Ausbildung zukünftiger TherapeutInnen für ihre Patienten und mit ihren Eltern in Phasen und in ihrer Spezifikation durchgearbeitet und verständlich dargestellt.
Im Schlussteil wird der Umgang mit Krisen, Missbrauch, Misshandlung und Vernachlässigung mitsamt ethischen und rechtlichen Aspekten klar aufgezeigt, schade nur, dass die krankmachenden Folgen der Überbehütung in diesem Teil dieses hervorragenden Lehrwerks ungenannt bleiben. m+w.p13-3

Stress im Beruf löst Depressionen aus - Menschen ab 30 sind weniger belastbar

Stress im Beruf löst Depressionen aus - Menschen ab 30 sind weniger belastbar
eckelsberger@pressetext.comwww.pressetext.com

London (pte/02.08.2007) - Menschen, die im Beruf großem Stress und Druck ausgesetzt sind, leiden doppelt so häufig an Depressionen und Angstzuständen. Zu diesem Ergebnis kommen britische Forscher anhand einer Langzeitstudie aus Neuseeland. Die Untersuchung von 1.000 Personen im Alter von 32 Jahren zeigt, dass Menschen, die sich im Job überfordert fühlen, um 45 Prozent anfälliger für psychologische Probleme sind. "Es gibt motivierenden, aber auch negativen Stress, der auf Dauer zur Belastung wird und zu Überforderung führt", bestätigt Psychologe Alfred Lackner die Studienergebnisse im pressetext-Interview.

Zeitdruck, Überstunden und ein überhöhtes Arbeitspensum seien verantwortlich für Stress im Job. Betroffen sind nicht nur bestimmte Branchen - die Testpersonen der Studie stammten aus den verschiedensten Berufszweigen, vom Schauspieler und Gehirnchirurgen bis hin zum Lehrer. Entscheidend sei jedoch das Alter, kommentiert Lackner: "Man hat beobachtet, dass Menschen bis zum Alter von 30 Jahren sehr widerstandsfähig sind. Danach sind sie nicht mehr so robust und müssen vermehrt in die Regeneration investieren. Wenn das nicht beachtet wird, kann der Stress zur Depression führen."

Die Autoren der Studie haben unterschiedliche Erklärungen für den Zusammenhang von Stress und Depression anzubieten. Stress-Hormone könnten an Ermattung und Schlafstörungen ebenso schuld sein, wie ein Mangel an sozialen Kontakten. Es gäbe grundsätzlich zwei Verhaltensmuster, die zur Überlastung führen, erklärt Lackner: "Auf der einen Seite gibt es Menschen, die zwanghaft helfen wollen und sich dadurch überfordern. Auf der anderen Seite sind das Ich-orientierte Personen, die sich über die Anerkennung der Außenwelt profilieren."

Am effektivsten sei es, Stress bereits im Vorfeld zu vermeiden. "Man sollte sich fragen, was man gerne macht und seinen Beruf dementsprechend wählen. Je besser das zusammenpasst, desto geringer ist das Stressrisiko", empfiehlt der Psychologe. "Viele wollen jedoch einem Außenbild entsprechen und Karriere machen und versuchen sich deshalb in einem Job, der ihnen eigentlich nicht entspricht."
Aussender: pressetext.austria
Redakteur: Georg Eckelsberger
Tel. +43-(0)1-81140-315

Hans-Joachim Lenger: Völlig ausgebrannt . Die erschöpfte Gesellschaft

SWR2 Wissen Aula -Hans-Joachim Lenger: Völlig ausgebrannt . Die erschöpfte Gesellschaft
Autor und Sprecher: Professor Hans-Joachim Lenger *
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
Sendung: Sonntag, 21. November 2010, 8.30 Uhr, SWR 2

* Zum Autor:
Prof. Dr. Hans-Joachim Lenger lehrt Philosophie an der Hochschule für Bildende
Künste in Hamburg. Homepage von Hans-Joachim Lenger: www.hjlenger.de.
Bücher (Auswahl):
- Zeichnen. (zus. mit Katrin Sahner und Ludwig Seyfarth. März 2009. Textem.
- Mnema. Derrida zum Anfassen. Zus. mit Georg Chr. Tholen. Oktober 2007.
Transcript.
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Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

INHALT___________________________________________________________________
Ansage:
Mit dem Thema: „Völlig ausgebrannt – Die erschöpfte Gesellschaft“.
Befinden wir uns auf einem absteigenden Ast? In der Ökonomie bewegen wir uns am
Rande der Depression und vielleicht auch des Zusammenbruchs – Irland scheint es
bald zu erwischen, Irland braucht den Rettungsschirm. Und wie sieht es mit der
Kultur aus? Wo gibt es noch etwas Überraschendes, Neues, wo gibt es die
Innovation?
Wohin man blickt, man stößt auf Stillstand, Depression, burn-out, das meint der
Philosoph Hans-Joachim Lenger. In der SWR2 Aula begibt er sich auf Spurensuche,
analysiert Symptome der erschöpften Gesellschaft und skizziert Auswege.

Unverkennbar mehren sich die Zeichen, dass Kultur und Gesellschaft der Gegenwart
in einen Zustand tiefer Erschöpfung eingetreten sind. Diese Erschöpfung manifestiert
sich nicht so sehr an den großen Entwürfen und Vorhaben, von denen ohnehin
niemand mehr anzunehmen scheint, dass sie sich verwirklichen lassen; nicht an
einer Beseitigung von Hunger und Armut, an einer wirksamen Ächtung des Krieges
oder der Herstellung gerechterer ökonomischer und sozialer Verhältnisse weltweit.
Längst scheinen solche Utopien derart wirklichkeitsfremd geworden zu sein, dass sie
nicht einmal in Festtagsreden mehr beschworen werden. Die Erschöpfung, von der
hier die Rede ist, reicht unweit tiefer; sie könnte die Fundamente der heutigen
Gesellschaft selbst berühren. Sie sucht deren Ökonomie heim, deren Politik und
Kultur. Sie lässt alle Perspektiven einer Zukunft zerfallen, um sie durch eine
Erfahrung tiefer Vergeblichkeit und Aussichtslosigkeit zu ersetzen, die sich beständig
potenziert. Weit davon entfernt aber, nur gesellschaftlichen oder systemischen
Charakter zu haben, offenbart sich diese Erschöpfung bereits im psychischen
Haushalt der Einzelnen, im alltäglichen Befinden der Individuen.
Mit Besorgnis und kaum verhohlener Ratlosigkeit registrieren Ärzte, Psychologen
und Therapeuten die Zunahme einer Erkrankung, die in vielfachen Phänomenen
auftritt und sich zu einem geschlossenen Krankheitsbild kaum fügen will. Was unter
dem Sammelbegriff der „Depression“ bezeichnet wird, sperrt sich den
Systematisierungen und Einordnungen. Sie besteht nicht etwa in einer
vorübergehenden Niedergeschlagenheit oder zeitweiligen Ermüdung. Wie eine
schwarze Wand taucht sie vor den Einzelnen auf, um sie zu erfassen und gleichsam
in sich aufzusaugen; wie ein Abgrund bricht sie im Innern auf, um sie mit
unwiderstehlicher Kraft in sich hinabzuziehen. Ganz so, als fordere sie den
Individuen eine geradezu übermenschliche Kraft ab, auch nur den Anschein von
Fassung oder Gefasstheit aufrechtzuerhalten, zieht die Depression den Depressiven
immer tiefer in sich hinein.
Als vor einiger Zeit ein bekannter Fußballstar seinem Leben ein Ende setzte, weil
ihm dies der einzige Ausweg zu sein schien, sich seiner Depression zu entledigen,
blitzte für einen Augenblick so etwas wie ein öffentliches Erstaunen, vielleicht sogar
ein Erschrecken auf. Zu schroff war der Kontrast, der sich zwischen dem Bild des
erfolgreichen Sportlers und dem Abgrund auftat, der ihn im Griff gehalten hatte. Hier
zerbrach einer, dem es an nichts zu fehlen schien. Was ihm widerfuhr, war kein
Scheitern, waren nicht fehlende gesellschaftliche „Reputation“ oder mangelnde
persönliche „Beliebtheit“. Gängige Begriffe, vordergründige Erklärungsversuche
scheitern insofern beharrlich an der Schwärze, die als Depression aufsteigt. Durch
gesellschaftliche Anerkennung jedenfalls ist sie nicht zu vertreiben. Rätselhaft genug,
scheint sie viel eher zu den Phänomenen zu gehören, in denen sich das
Gesellschaftliche selbst in Frage stellt, in denen sich Brüche im Sozialen auftun, um
es als nichtig auszuweisen.
In solchen Augenblicken scheint die Medizin einspringen zu können, um Erklärungen
zu liefern und Risse zu schließen. Begriffe von Erkrankung und Gesundung, von
Leiden und Genesung sollen dingfest machen, was andernfalls ein bedrohliches
Rätsel bliebe. Doch die medizinischen Diagnosen, die der Depression gestellt
werden, sind so zahlreich wie deren Phänomene. Ärzte, Psychologen und
Therapeuten stützen sich in der Regel auf Medikamente, die auf den Stoffwechsel
des Gehirns einwirken, um diesem Phänomen zu begegnen, das von nun an als
individuelle Erkrankung gefasst wird, auch wenn sie zusehends um sich greift. Deren
Wirkungen sollen gedämpft, deren Verlauf beherrschbar gemacht werden; dabei sind
die Mediziner nicht einmal erfolglos. Doch zugleich sieht alles aus, als würde sich
das Übel nur potenzieren, sobald es bekämpft wird: als begänne die Depression im
gleichen Maß zu wuchern, in dem sie dingfest gemacht werden soll. „Alles wird zur
Depression“, schreibt der französische Medizinsoziologe Alain Ehrenberg in einer
bemerkenswerten Studie über Depression und Gesellschaft, „weil Antidepressiva auf
alles wirken. Man kann alles behandeln, man weiß aber nicht mehr genau, was
heilbar ist. Zur gleichen Zeit, zu der der Konflikt aus dem Blick gerät, verwandelt sich
das Leben in eine chronische Identitätskrankheit.“ (252)
Solche Feststellungen, solche Formulierungen immerhin lassen aufhorchen. Inmitten
eines medizinischen Diskurses taucht hier auf, was sich auf ein medizinisches
Problem keineswegs begrenzen lässt. Die „Identitätskrankheit“ nämlich, von der bei
Ehrenberg die Rede ist, berührt nicht weniger soziologische, ja philosophische
Fragen. Beständig entgleitet die Erschöpfung einem nur ärztlichen Horizont. Sie folgt
einer Krise, einer Erschütterung des „Ich“, einem Zerfall seiner Kohärenz und
Geschlossenheit. Das „Ich“ kann die Last nicht mehr tragen, die ihm die
Verpflichtung aufbürdet, ein mit sich identisches „Ich“ zu sein. Medikamentöse
Eingriffe können da zwar stabilisieren, was sich anders auflösen würde. Doch auf
diese Weise verwandeln sie die Krise der Identität nur in ein chronisches
Krankheitsbild. Weil Antidepressiva auf alles wirken, lassen sie auch alles zu einer
Depression werden, die ihre eigene Implosion beständig aufschiebt.
Wie Ehrenberg behauptet, korrespondiert die Heraufkunft dieser Situation gewissen
gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen, die in den 60er und 70er Jahren
Platz griffen. An die Stelle eines autoritären Kapitalismus der Disziplinierung trat eine
Kultur, in der Maximen der „Selbstverwirklichung“ zur unmittelbaren ökonomischen,
sozialen und kulturellen Produktivkraft wurden. Nicht länger kennt diese Kultur
„Subjekte“ im Wortsinn, „Unterworfene“ also, die den Zwängen der Arbeit, den
Notwendigkeiten der Lebenserhaltung und den Gesetzen ausgesetzt sind, die über
sie verfügen. Wo solche Autoritäten bislang geherrscht hatten, greift nunmehr ein
anderes Diktat Platz: „Verwirkliche dich selbst!“, so lautete es, „entdecke dich
selbst!“, „sei du selbst!“.
Vom „Subjekt“ zum „eigenen Selbst“ also: Dieses Selbst zu verwirklichen, wurde nun
einerseits zum Versprechen einer unendlichen Befreiung. Sie verhieß den
„Subjekten“, nicht länger „Unterworfene“ zu sein. Sie forderte sie stattdessen auf,
eine geheime, rätselhafte und stets verschüttete Instanz zu entdecken, die ihnen
stillschweigend zu Grunde liege: ihr eigenes „Selbst“. Nicht umsonst schossen
seither die Programme zur Selbstfindung ins Kraut: die Esoterik-Angebote erlebten
einen Boom, die Mystizismen der Erweckung und Erleuchtung ebenso wie die
Evangelien gesellschaftlichen Erfolgs, der durch eine Entfesselung des geheimen
„Selbst“ allein zu erzielen sei.
Doch umso mehr musste sich all dies andererseits als ebenso unerfüllbares Diktat
herausstellen. Die Anstrengung nämlich, diesem Diktat des „Selbst“ zu genügen,
kann nur die Leere wiederholen, die im Abstraktum dieses „Selbst“ herrscht und in
der es sich selbst erfährt. Am Ende der Moderne, in ihrem Scheitelpunkt gleichsam,
dürfte sich auf der Ebene des „Subjekts“ etwas ereignen, was nicht nur ökonomisch,
politisch, sozial oder kulturell von einschneidendem Gewicht ist. Die Krise, die sich in
der Depression abzeichnet, wiese ebenso eine „metaphysische“ Dimension auf.
Vor etwa 80 Jahren erschien Sigmund Freuds Schrift über Das Unbehagen in der
Kultur. Dieser Text rekonstruierte den Prozess der Kultur als Geschichte eines
Triebverzichts, einer Sublimierung oder eines Aufschubs, dem die libidinösen
Energien kulturell unterworfen werden. Anstatt unmittelbar befriedigt zu werden –
was möglicherweise einem tierischen Niveau entspräche – bringt der Kulturprozess,
Freud zufolge, konstitutive Ersatzformen hervor, die ein Zweifaches bewirken: Zum
einen tritt der Ersatz an die Stelle des unmittelbaren Triebanspruchs. Er vertritt ihn
und hebt ihn zugleich auf eine andere Stufe seiner Realisierung. Er unterwirft ihn
dem Gebot, im Zeichen der Kultur seiner selbst zu entsagen. Zum andern wohnt
diesem Verzicht ein zeitliches Moment inne. Er vertagt das Unmittelbare, schiebt es
auf. Insofern konstituiert die Entsagung vor allem auch, was man einen kulturellen
Horizont nennen könnte. Er geht aus Techniken des Tabus und des Verbots hervor,
in denen sich ebenso symbolisiert wie verzeitlicht, was Freud „Trieb“ nennt. Hier
zeichnet sich deshalb die Frage nach einem „kulturellen Triebschicksal“ ab. Es sei
keineswegs zu übersehen, schreibt Freud, „in welchem Ausmaß die Kultur auf
Triebverzicht aufgebaut ist, wie sehr sie gerade die Nichtbefriedigung
(Unterdrückung, Verdrängung oder sonst etwas?) von mächtigen Trieben zur
Voraussetzung hat.“ (227)
Sensibel registriert Freud aber zugleich, wie fragil diese Konstruktion bleiben muss.
Das „Unbehagen“ in der Kultur, das in vielfachen Formen aufbricht, betrifft sie
nämlich keineswegs von außen. Es steigt in ihrem Innern auf, indem es die Spur
kenntlich macht, die die Sublimierung in ihr hinterlässt. Denn wozu, so scheint dieses
Unbehagen sagen zu wollen, all die Techniken des Aufschubs und der Entsagung,
wozu die subtilen Artefakte, die Technologien und Künste? Wo immer sie einen
vertieften, weil verzeitlichten Genuss versprechen, könnte sich dessen Preis eines
Verzichts oder Aufschubs als zu hoch erweisen. Die Heraufkunft der Neurosen legt
davon eindrucksvoll Zeugnis ab. Unausgesetzt verschafft sich der Neurotiker
Ersatzbefriedigungen, die vom Misslingen des Verzichts sprechen. Das Unbehagen
in der Kultur ist sozusagen Ausdruck der Weigerung, den Kulturprozess einer
Entsagung statthaben zu lassen, die ihm doch als Kultur umso unveräußerlicher ist.
Nicht von ungefähr ordnete sich Freuds Begriff der Kultur um die Instanz des Vaters
und dessen Autorität. Er kreiste um jenes Gesetz, das die narzisstischen
Allmachtsvorstellungen eines Subjekts unterbricht und damit auf Andere verweist, die
mit ihm sind.
Die Kultur der Gegenwart dagegen scheint diese Ordnung verlassen zu haben. Der
Übergang vom autoritären Kapitalismus zu einem der Selbstverwirklichung unterwirft
die Individuen nicht mehr dem Gesetz des Vaters, einer Logik des Aufschubs und
einer Öffnung zum Anderen. In einer Kultur der Erschöpfung zählt der sofortige
Genuss, die umstandslose Selbstverwirklichung, die Konsumtion ohne Aufschub, der
Wechsel momentaner Befindlichkeiten. So schreibt Ehrenberg über Patienten, deren
Leiden sich nicht mehr in Registern der Schuld, des Gewissens und der Neurose
entziffern lassen; „anders als etwa den Neurotikern“, so sagt er, „gelingt es ihnen
nicht, ihre Konflikte zu erkennen, sie sich zu vergegenwärtigen. Ihnen fehlt die Basis,
ohne die man nur schwer eine Behandlung erfolgreich durchführen kann: die Schuld.
(...) Ihre Repräsentationen sind dürftig, sie sind unfähig, ihre Leiden symbolisch
auszudrücken: Sie sind die Gefangenen ihrer Stimmung. Diese neue Gattung hat
einen Namen: Borderline-Störung. Die Depression beherrscht ihr klinisches Bild.“
(163) Das Diktat des Selbst und seiner Verwirklichung hätte die Individuen insofern in
eine Sphäre vollendeter Einsamkeit versetzt, in der sie nur noch die Leere dieses
Selbst erfahren: als Stimmung, nicht länger als Drama.
Spätestens seit dem 19. Jahrhunderts sieht sich die okzidentale Kultur vom
Phantasma einer Erschöpfung begleitet, die sie in immer neuen Varianten, immer
neuen Todesvorstellungen heimsucht. Einerseits soll zwar nichts verloren gehen, soll
sich auch physikalisch die Energie eines geschlossenen Systems erhalten. Doch wie
der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik hinzusetzte, sei dieser Prozess von einer
Entropie unablösbar, die einer finalen Erschöpfung entgegengehe. Der Austausch
der Unterschiede erschöpft sich schließlich im Stillstand: Entropisch soll jeder
Unterschied letzten Endes ausgeglichen, jede Differenz getilgt, jede Bewegung zum
Erliegen, jedes Leben an ein Ende gekommen. Die Vorstellung, dass auch der Kultur
die schweigsame Macht eines solchen Stillstands, eines solchen Todes eingelassen
ist, prägte noch Freuds Konzeption eines Todestriebs, als dessen „Satelliten“ er die
Lebenstriebe fasste. Nicht anders hatte Marx beklagt, die Akkumulation des Kapitals
türme „tote Arbeit“ zur alles erdrückenden Macht auf, unter der auch die „lebendige
Arbeit“ begraben werde; hatte Schopenhauer die Todverfallenheit allen Lebens
betont, hatte Nietzsche dieses Leben als sonderbare Form des Todes bezeichnet. Im
Innern der Kultur, ihrer Systeme und Apparate, scheint sich diese Macht eines
Stillstands im gleichen Maß zu verstärken, in dem sie akkumulieren, immer größere
Einheiten aufbauen und ihre babylonischen Türme errichten. Umso unwiderstehlicher
werden sie von der lähmenden Macht eines Stillstands ergriffen.
Bereits individualtherapeutisch gehört tiefe Gehemmtheit zu den wiederkehrenden
Symptomen der Depression: eine Lähmung der Kraft, einer Verlangsamung aller
Bewegungsabläufe niederschlägt. Sie spricht von der unendlichen Anstrengung, die
aufgeboten werden muss, um auch nur einen einzigen weiteren Schritt noch zu tun.
Tief scheint diese Erschöpfung insofern in die Ökonomien dieser Kultur eingelassen
zu sein, und einfache Reform- und Verfahrensvorschläge werden kaum ausreichen,
dieser Falle zu entkommen. Die akkumulative Logik selbst potenziert die Mächte der
Erschöpfung in immer neuen Schüben, und mit hektischer Betriebsamkeit wird man
ihnen kaum begegnen können. Denn wovon spricht eine Ökonomie, die unter ihren
eigenen Überakkumulation von Werten und Reichtümern zu implodieren scheint,
doch umso größere Schulden aufhäuft, je angestrengter sie den bloßen Status Quo
zu sichern sucht? Doch weit davon entfernt, nur einer persönlichen Gier von Bankern
oder Managern entsprungen zu sein, entlud sich in diesem Kollaps der beständig
aufgeschobene Augenblick, in dem das Moment einer abgründigen Nichtigkeit
aufblitzte. Tatsächlich ist ein System, das den ökonomischen Wert lediglich als
Anweisung auf Mehr-Wert kennt, nur noch um die eigene Tautologie zentriert, es
selbst zu werden. Und wo sich seine Betriebsamkeit im Kollaps unterbricht, um in
dieser Tautologie abzustürzen, manifestiert sich, wie tief die Erschöpfung ist, von der
es im Innersten beherrscht wird.

Nicht zufällig verfallen Gesellschaft und Kultur in immer exzessivere Formen, in
denen die Hektik unablässiger Neuerungen über diese tiefe Lähmung hinwegtäuscht.
Umso lauter gebärdet sich dann der Betrieb, umso bizarrer werden Zielvorgaben und
Innovationen, umso maßloser geraten Forderungen und Absichtserklärungen,
Versicherungen und Beschwörungen. Täglich sich überstürzende und überbietende
Projekte suggerieren, man habe die Initiative keineswegs verloren. Der „rasende
Stillstand“ wird zur Signatur des Geschehens; doch wird er seinerseits bereits
begleitet von einer rätselhaften Entropie. Was man die „Politikverdrossenheit“ nennt,
die sich heute sogar zum „Vertrauensverlust“ verschärft haben soll, artikuliert nämlich
nicht so sehr das Versagen oder die sogenannte Abgehobenheit einzelner Politiker.
Diese „Vertrauenskrise“ lässt mittlerweile keinen Bereich, keine Struktur, keine
Institution mehr unangetastet. Sie steigt nämlich nicht einfach aus Gedankenlosigkeit
auf. Sie korrespondiert einer Erschöpfung, die das Denken und die Kultur selbst
erfasst hat. Schier unbegrenzt akkumulierten sich die Archive des Wissens, der
Künste, der Bilder und Texte, auf denen beruht, was man die „abendländische
Kultur“ nennt. In ihnen wurden Reichtümer zusammengetragen, die durchzuarbeiten
eine unendliche Kraftanstrengung erfordern würde. Tatsächlich aber sieht alles aus,
als sei die Kultur umso unerbittlicher von einer Logik des Ereignisses, der Sensation,
des „Events“ und des Erfolgs erfasst; mehr noch: als folge sie einem tiefen Wunsch,
auf diesem Weg ihrer Vorgeschichte und damit sich selbst zu entkommen. An die
Stelle der Vielfalt, der sich verzweigenden, subtilen, abgründigen Bewegungen eines
Denkens etwa, das der Gegenwart den Weg bahnte, trat die plumpe, die irreführende
Parole von den „jüdisch-christlichen Grundlagen“. Wer beispielsweise zur Kenntnis
nimmt, welche Schicksale der Gottesbegriff in dieser Tradition erfuhr, wird beschämt
sein vom frechen Gestus, mit dem der „christliche Gott“ öffentlich reklamiert wird, als
sei sein Name das Selbstverständlichste. Und wer die Erschütterungen registriert,
die der Name „des Menschen“ ebenso erfuhr wie der Begriff des „Bildes“, wird nur
resignieren können, wo ihm ein „christliches Menschenbild“ verordnet werden soll.
Die Erschöpfung von Kultur und Gesellschaft beschreibt allerdings keinen Zustand,
aus dem man mit etwas Klamauk und nach einer Phase der Erholung einfach
heraustreten könnte. Eine gewisse Bequemlichkeit vorausgesetzt, lässt sich die
Erfahrung, der diese Kultur ausgesetzt ist, zwar als ein „Verlust an Sinn“ beklagen.
Allenthalben, so hören wir tagein, tagaus, soll es an Vorgaben, an Setzungen und
Fundamenten fehlen. Kirchliche Apparate empfehlen eine Re-Fundamentalisierung,
Politiker eine Rückbesinnung auf vermeintliche Grundlagen des Zusammenlebens,
und die Moralisten sprechen davon, dass den ökonomischen Systemen wieder
zugemutet werden müsse, von verantwortungsvollen Repräsentanten gelenkt zu
werden, die der Masse als Vorbilder dienen können.
Doch lassen sich solche Erschöpfungszustände nicht einfach überwinden, neue
Kräfte nicht einfach sammeln, indem alte Regeln oder Parolen in Erinnerung gerufen
werden. Was sich hier zuträgt, dürfte mit der Logik der Akkumulation, mit jener
Ökonomie der Kräfte selbst zu tun haben, der sich diese Kultur verschrieben hatte.
Phänomene der Erschöpfung sind deren Symptom; doch so gesehen sind sie
ebenso Konstellationen eines Übergangs, einer Transformation oder eines
Umbruchs. Nicht weniger steht dabei auf dem Spiel als das rätselhafte „Selbst“, sein
Wille zur „Selbstverwirklichung“, der diese Kultur beseelte, ihre Apparate,
Institutionen und Verfahrensordnungen ebenso beherrscht wie das Schicksal der
Einzelnen. „Sei du selbst!“, „Entdecke dich selbst!“, „Finde dich selbst!“ – in diesem
Imperativ steckt nicht nur das ultraliberale Versprechen einer individuellen Befreiung,
sondern mehr noch eine unermessliche Drohung. Das „Selbst“, das sich da
projektiert, könnte sich nämlich als unendliche Entleerung herausstellen. Und
tatsächlich war es immer schon aus einem Missverständnis hervorgegangen. Jedes
„Selbstgespräch“ setzt bereits Sprache voraus – und damit andere. Noch dort, wo
sich dieses „Selbst“ als Singularität einer Entleerung erfährt, nimmt es einen Platz
unter anderen Singularitäten ein. Es findet sich an einem Ort, der ihm nicht gehört
hat und nicht gehören wird. Allein schon, „mit sich selbst“ zu sein, setzt nämlich
einen Abstand voraus, der sich dem „Selbst“ mitgeteilt haben muss, ohne aus ihm
hervorgegangen zu sein. Er setzt also Andere voraus, mit denen sich erst „selbst“
sein lässt, oder eine „Öffnung“, die jedem „Subjekt“ ebenso vorausgeht wie jedem
„Selbst“.
Dies allerdings ist kein bloß freundlicher Appell an Mit-Menschlichkeit, an
Barmherzigkeit oder Hilfsbereitschaft. Keineswegs geht es darum, die Kälte des
Betriebs mit dem Flair empfindsamer Seelen zu drapieren. Der unüberbrückbare
Abstand, der jedes „Selbst“ von sich getrennt haben muss, um es „selbst“ sein zu
lassen, berührt vielmehr den neuzeitlichen Begriff des Subjekts und seine Krise im
Innersten, seine Projekte und Erschöpfungen. Im rasenden Projekt einer
„Selbstverwirklichung“ hatte es vergessen, dass jedes „Selbst“, um „sein“ zu können,
früher noch „mit“ anderen ist. Kein Wunder, dass es im Zeichen dieses Vergessens
nur seine eigene Leere erfahren konnte, und zwar im gleichen Maß, in dem es sich
der Logik einer Akkumulation verschrieb, mit denen sich die Tautologien ins
Unermessliche trieben. Tatsächlich spricht diese Akkumulation in wiederkehrenden
Implosionen nämlich nur von ihrer eigenen Nichtigkeit, während sich ihr Diktat, sich
selbst zu verwirklichen, gnadenlos bis in die Befindlichkeit der Einzelnen hinein
verlängert.
Die Zustände tiefer Erschöpfung, die um sich greifen, dürften aus dieser
Konstellation aufsteigen. Sie sind Symptome eines Vergessens nicht weniger als des
Eintritts dessen, was vergessen wurde. Psychopharmaka mögen den Depressiven
da über ihr Leiden hinweghelfen, Programme zur wirtschaftlichen Wiederbelebung
für neuen Aufschub sorgen, runde Tische einem erschöpften Betrieb der Politik
vorübergehend zu neuer Attraktivität verhelfen. Die Transformationen, die sich in
solchen Phänomenen anzeigen, greifen jedoch ungleich tiefer. In immer neuen
Schüben hat sich diese Kultur nämlich nicht nur Projekten einer
„Selbstverwirklichung“ verschrieben, die heute – im Zeitalter eines Ultraliberalismus –
äußerste Zuspitzungen erfährt. Nicht weniger gab es Meditationen und Entwürfe, die
sich dem „Sein mit anderen“ verpflichtet wussten, Figuren des Gemeinsam-Seins,
eines „Commune“. Selbst der „Kommunismus“ gehört dazu, dieser terroristisch
gewordene und folgerichtig zerfallene Gewaltversuch, dem „Gemeinsam-Sein“ eine
endgültige, doktrinäre Gestalt zu geben. Sollte er einst den „Horizont der Geschichte“
definieren, so wurde er so tatsächlich zum Schreckbild einer Welt, die er ebenso
entstellte, wie er deren eigene Geschichtlichkeit seither für sie selbst zum Rätsel
machte.
Die Fragen eines „Gemeinsam-Seins“, das sich nicht mehr in tödlichen Tautologien
des „Selbst-Seins“ erschöpfen würde, sind mit dieser Katastrophe jedoch
keineswegs schon beantwortet. Vielmehr werden diese Fragen umso drängender.
Das Leiden, die katastrophischen Zusammenbrüche und Implosionen, von denen
Kultur und Gesellschaft heimgesucht werden, könnten immerhin auch ein
Kommendes anzeigen. Im Innern der Überakkumulation, die erdrückt, und der Leere
des „Subjekts“, das um seine Selbstverwirklichungen kreist, könnten sich, wie in
einem Vexierbild, auch Elemente einer anderen, einer kommenden Ordnung
abzeichnen. Zwar sind deren Konturen kaum erkennbar. Zumindest aber wäre sie
nicht mehr zentriert um eine Logik von Akkumulation und Selbstverwirklichung; und
keineswegs würde sie sich in den bekannten Oppositionen von Leben und Tod
einrichten.
Und tatsächlich – die Auflösungserscheinungen der Apparate und Instanzen, ihr
Verlust an Glaubwürdigkeit und Vertrauen zeugen ja nicht nur von einer
Erschöpfung. Inmitten dieser Erosionen löst sich zwar etwas auf, begibt sich jedoch
ebenso auf die Suche, wirft Fragen auf und experimentiert. Da zeichnet sich etwas
ab, was seine Sprache und seine Begriffe noch nicht gefunden hat, aber
hervorzubringen sich anschickt. Nicht mehr mitzumachen, den Selbstlauf der Dinge
zu unterbrechen, ihn mit überraschenden Öffnungen zu übersäen – das könnten
erste Formen sein, einer Logik der Erschöpfung zu entgehen. Es wären Formen, in
denen sich der „Sinn“ nicht mehr zwischen den großen, den vermeintlich
festgefügten Einheiten einerseits, der Leere eines vermeintlichen „Selbst“
andererseits herstellen soll. Viel eher ginge er aus einem „Eigensinn“ hervor, der sich
mit anderen zu teilen sucht. Nicht von ungefähr vermerken die Apparate und
Institutionen, was sich wie ein störendes Rauschen in ihren Planungen,
Entscheidungen und Maßnahmen bemerkbar macht. Bestimmte Investitionen
können nicht mehr garantiert, bestimmte Entscheidungen nicht mehr „zukunftssicher“
getroffen werden, sollte zunehmen, was aus zivilgesellschaftlichen
Zusammenhängen, aus Stadtvierteln oder Betrieben aufsteigt: Ebenso subtil wie
unbeherrschbar zeichnen sich hier andere Subjektivitäten, andere Subjektivierungen
ab, die der Tristesse zu entgehen suchen und eine andere Ökonomie der Kräfte
ankündigen könnten.
Denn der Abschied von einem Gesetz des Vaters bedeutet nicht, in eine Epoche der
Gesetzlosigkeit einzutreten. Es bedeutet, anders nach dem Gesetz zu fragen, um
anders zu antworten. In diesem Sinn subtiler Verschiebungen allerdings könnte sich
die Kultur der Erschöpfung als etwas erweisen, das wie eine Wüste immer schon
durchquert wird.
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Joachim Bauer : Burnout oder Selbstverwirklichung . Was Arbeit mit uns machen kann

<< SWR2 Wissen Aula - Professor Dr. med Joachim Bauer :
      Burnout oder Selbstverwirklichung . Was Arbeit mit uns machen kann >>

Autor und Sprecher: Professor Joachim Bauer *
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch,
Sendung: Sonntag, 29. Dezember 2013, 8.30 Uhr, SWR2
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen
Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

Zum Autor:
Joachim Bauer, geb. 1951, studierte Medizin in Freiburg. Es folgte eine „Postdoc“-Zeit von 1980 bis 1982 als wissenschaftlicher Assistent am Biochemischen Institut der Universität Freiburg. Habilitation 1990. Er wechselte in die Abteilung Allgemeine Psychiatrie und folgte einem Ruf auf eine C3-Universitätsprofessur für Psychoneuroimmunologie. Er habilitierte ein zweites Mal, diesmal für das Fach Psychiatrie. Im Jahre 2000 wechselte Joachim Bauer in die Abteilung Psychosomatische Medizin, wo er bis heute als Oberarzt tätig ist und bis 2010 die Ambulanz der Abteilung leitete. Schwerpunkte seiner Arbeit sind klinische Aspekte der Depression, Angsterkrankungen, psychosomatische Erkrankungen, Trauma-Folgekrankheiten (Posttraumatische Belastungsstörung), Burnout-Syndrom. Bauer ist außerdem ausgebildeter Psychotherapeut.
Bücher (Auswahl):
- Arbeit - Warum unser Glück von ihr abhängt und wie sie uns krank macht.. Blessing Verlag, München. 2013.

– Schmerzgrenze – Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt. Blessing Verlag, München. 2011.
– Prinzip Menschlichkeit: Warum wir von Natur aus kooperieren. Heyne Verlag. Aktualisierte Auflage 2008.
– Das kooperative Gen: Evolution als kreativer Prozess. Heyne Verlag. 2008.

ÜBERBLICK
Positiver oder negativer Stress? Eine sinnvolle Arbeit befriedigt uns, macht glücklich. Aber es geht auch anders - Arbeit kann zu Depressionen, Stress und Burnout führen, was viele Ursachen haben kann: Leistungsdruck, schlechte Bezahlung, Mobbing. Am schlimmsten ist es, wenn man von seiner Arbeit nicht leben kann oder wenn man überhaupt keine mehr hat. Professor Joachim Bauer, Psychosomatiker an der Uniklinik in Freiburg, analysiert die Doppelgesichtigkeit der Arbeit und ihre Wirkung auf die Psyche.

INHALT
Ansage:
Mit dem Thema: „Burnout oder Selbstverwirklichung – Was Arbeit mit uns machen kann“.
Eine sinnvolle Arbeit befriedigt, macht glücklich, motiviert, aber es geht auch ganz anders: Ein autoritärer Chef nervt einen, schlechte Arbeitsbedingungen führen an den Rand der Erschöpfung, Multitasking erhöht die Nervosität, Mobbing führt zu Depression. Das sind zwei Seiten einer Medaille, und Professor Joachim Bauer, Psychosomatiker an der Uniklinik in Freiburg, beschreibt nun diese Doppelgesichtigkeit der Arbeit und ihre Wirkung auf die Psyche.
Joachim Bauer:
Die menschliche Arbeit ist, aus der Perspektive der Evolution betrachtet, noch keine sehr alte Erfindung. Zwar mussten Menschen seit jeher etwas für ihre Ernährung und Behausung tun, um ihr Überleben zu sichern. Einer Konvention folgend, bezeichnen wir die Tätigkeit unserer nicht sesshaften Jäger- und Sammlervorfahren jedoch nicht als „Arbeit“. Die Anfänge der Arbeit in dem Sinne, wie wir den Begriff heute verstehen, datieren auf den Beginn der Sesshaft-Werdung des Menschen und den damit verbundenen Eintritt des Menschen in die Zivilisation vor etwa 12.000 Jahren. Nachfolgend soll das Faszinosum der menschlichen Arbeit von verschiedenen Aspekten her beleuchtet werden. Im Zentrum wird die Frage stehen, welche Voraussetzungen –aus medizinischer Sicht- gegeben sein müssen, damit der Mensch an seiner Arbeit Freude haben kann. Umgekehrt soll dargestellt werden, welche arbeitsbedingte Faktoren das Risiko für Burnout und andere Gesundheitsstörungen begünstigen.
Werfen wir zunächst einen Blick zurück auf die Anfänge der menschlichen Arbeit. Die Sesshaft-Werdung des Menschen bedeutete, dass der Mensch begann, Abschied vom unsteten Leben als Jäger und Sammler zu nehmen und sich jetzt daran machte, Getreide anzubauen, Tiere zu domestizieren und feste Behausungen zu bauen. Mit der Sesshaft-Werdung einher ging nicht nur die „Erfindung“ des Eigentums an Grund und Boden, sondern auch die der Arbeit. Wer jetzt aufs Feld ging, wer Tierherden beaufsichtigte oder im Steinbruch Steine aus dem Boden brach und sie zu behauen hatte, der verrichtete zum ersten Mal das, was wir bis heute als „Arbeit“ bezeichnen. Mit der Arbeit sozusagen miterfunden war nun auch der Mensch als Arbeitskraft. Die Verwandlung von einem umher ziehenden Naturwesen, das der Mensch über Jahrhunderttausende gewesen war, in eine Arbeitskraft mit festem Wohnsitz, eröffnete völlig neue Dimensionen des Mensch-Seins.
Ein positiver Aspekt dieser Entwicklung war, dass der Mensch nun begann, seine Potentiale als Erfinder, Entdecker, Techniker und Problemlöser in einer zuvor nicht gekannten Dimension zu entfalten. Die Kehrseite dieser Entwicklung bestand darin, dass die Arbeit ein erhebliches Maß an sozialer Desintegration mit sich brachte. Die Zeiten, in denen man ganztags mit den Seinen im Verband umherziehen oder verweilen konnte, waren beendet. Hinzu kam, dass seine Verwandlung in eine potentielle Arbeitskraft den Menschen zu einer potentiellen Ware machte: Man konnte Menschen, um sie für sich arbeiten zu lassen, jetzt rauben und versklaven –
und genau das war es auch, was nun geschah – übrigens bis in die jüngste Vergangenheit hinein.
Ihr Doppelgesicht als Quelle der Potentialentfaltung einerseits, und andrerseits als Ursache für Entfremdung und Entwürdigung, dieses Doppelgesicht sollte das Kennzeichen der menschlichen Arbeit –bis zum heutigen Tage- bleiben. Im klassischen Griechenland und im alten Rom genoss die Arbeit kein hohes Ansehen, abgesehen von einigen Ausnahmen wie der Landwirtschaft, der ärztlichen Kunst, einem Engagement als Politiker oder als Soldat. Für Geld oder als unbezahlter Sklave etwas zu tun, was einem andere auftrugen, wurde als entwürdigend betrachtet. Auch das Handwerk war nicht geachtet, es galt im klassischen Altertum entweder als zu schmutzig oder als zu ungesund.
Ganz anders in der jüdisch-christlichen Tradition: Sowohl im Alten wie im Neuen Testament gilt jede ehrliche Arbeit als ehrenwert und gut. Die biblische Schöpfungsgeschichte, ein etwa 1.000 Jahre vor Christi Geburt niedergeschriebener Text, definiert die Arbeit einerseits als aussichtsreiches Angebot („Macht Euch die Erde untertan“), andrerseits als auferlegte Verpflichtung („Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen“). Einige Jahrhunderte später verglich Jesus Christus, er war der Sohn eines Handwerkers, Menschen immer wieder einmal mit Arbeitern im Weinberg. Zugleich warnte er aber auch davor, sich in der ängstlichen Sorge um das Geldverdienen zu verlieren, wie seine berühmte, bei Matthäus nachzulesende Bemerkung zeigt: „Seht die Vögel unter dem Himmel, sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in Scheunen und ihr himmlischer Vater nährt sie doch“.
Die Leit-Idee mönchischen Lebens, dessen Beginn auf das frühe Mittelalter datiert, war das Gleichgewicht zwischen Arbeit und Muße, zwischen „Vita activa“ und „Vita contemplativa“. Allerdings blieb dem einfachen Volk für Muße oder Gebete das gesamte Mittelalter hindurch nur wenig oder keine Zeit. Außerhalb der Klostermauern leistete die einfache Bevölkerung, die fast ausschließlich aus leibeigenen Bauern bestand, tagtäglich harte Arbeit. Körperliche Arbeit war im Mittelalter –wie schon im klassischen Altertum- wenig respektiert. Dies sollte sich erst mit Beginn der vor 500 Jahren heraufziehenden Neuzeit fundamental ändern. Der menschlichen Arbeit wurde von nun an ein Wert zugeschrieben, ja mehr noch: sie wurde teilweise sogar zu einem Wert an sich erklärt. Die neuzeitliche Aufwertung der Arbeit, die sich -jedenfalls in fast allen industrialisierten Ländern- bis heute gehalten hat, sollte sich als eine durchaus zweischneidige, problematische Angelegenheit erweisen.
Den Anfang mit der neuzeitlichen Adelung der Arbeit machten die beiden Gründerväter des Protestantismus, Martin Luther und Johannes Calvin. Im Jahre 2017 werden wir das sogenannte „Lutherjahr“ begehen, denn dann wird es genau 500 Jahre her sein, seit Martin Luther seine 95 Thesen an die Schlosskirche von Wittenberg heftete. Was die Einschätzung der Arbeit betrifft, so war der Protestantismus der Geburtshelfer dessen, was wir heute als „Arbeitsmoral“ bezeichnen. Für Luther- und mehr noch für Calvin- war die Bereitschaft zur Arbeit Ausdruck einer gottgefälligen Haltung. Der Mensch, so formulierte Luther in einer Predigt des Jahres 1525, sei „zur Arbeit geboren wie der Vogel zum Fliegen“. Die Anfang des letzten Jahrhunderts geäußerte Vermutung des Soziologen und Nationalökonomen Max Weber ist nicht ganz von der Hand zu weisen, die
protestantische Arbeitsmoral sei ein früher Vorläufer einer Lebenshaltung gewesen, die später dem Kapitalismus den Boden bereitet habe.
Das Lob der Arbeit wurde jedoch nicht nur vom Protestantismus, sondern später auch von Vertretern des deutschen Idealismus, und schließlich auch von den Führungsfiguren der Arbeiterbewegung gesungen. Für Friedrich Schiller war die Arbeit „des Bürgers Zierde“. Auch Immanuel Kant war vom moralischen Wert der Arbeit überzeugt. Karl Marx sah die menschliche Arbeit nicht nur als „ewige Naturnotwendigkeit“, er sah den „Menschen als Resultat seiner eigenen Arbeit“. Das sozialdemokratische „Gothaer Programm“ von 1875 formulierte eine „allgemeine Arbeitspflicht“. Lenin, der Gründer der Sowjetunion, formulierte als, wie er es nannte, „sozialistisches Prinzip“, den berühmt gewordenen Satz: „Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen“ – ein Statement, das sich fast wortgleich, zweitausend Jahre früher, übrigens bereits beim Apostel Paulus findet.
Wir erkennen ein Dilemma: Einerseits verdient die menschliche Arbeit Anerkennung und Wertschätzung, weil sie alleine es ist, die unserer Spezies auf unserem übervölkerten Globus mit seinen begrenzten Ressourcen das Überleben sichert. Andrerseits besteht die Gefahr, mit der Wertschätzung der Arbeit sozusagen über das Ziel hinauszuschießen, die Arbeit zu überhöhen und sie zum Selbstzweck zu erklären. Nicht arbeiten zu dürfen oder keine Würdigung geleisteter Arbeit zu erfahren, kann einen Menschen krank werden lassen. Krank kann es den Menschen aber auch machen, wenn die Arbeit zum Selbstzweck oder zum Suchtmittel geworden ist. Warum das aus medizinischer Sicht so ist, möchte ich nachfolgend ausführen.
Grundlage für die Fähigkeit und die Bereitschaft eines Menschen zu arbeiten sind Vitalität, Lebensfreude und Motivation. Die Voraussetzung für Motivation und Anstrengungsbereitschaft ist, dass das sogenannte Motivationssystem des menschlichen Gehirns aktiv wird und seine Motivationsbotenstoffe freisetzt. Zu einer Aktivierung seines Motivationssystems kommt es, wie Untersuchungen zeigen, vor allem dann, wenn ein Mensch von anderen Beachtung und Wertschätzung erhält. Das Gehirn macht sozusagen aus Psychologie Biologie. Weil die soziale Akzeptanz, die wir von anderen erfahren, die Ausschüttung von Motivationsbotenstoffen nach sich zieht, haben die meisten Menschen ein natürliches Bedürfnis, sich nützlich zu machen.
Psychisch halbwegs gesunde Menschen wollen -nicht etwa weil eine Moral es vorschreibt sondern weil wir biologisch so konstruiert sind- sich gerne nützlich machen. Die Arbeit ist nicht die einzige, aber eine hervorragende Möglichkeit, sich nützlich zu machen. Wenn unsere Motivationssysteme vorübergehend schwächeln, was jedem immer wieder einmal widerfährt, dann haben wir eben einen schlechten Tag und keine rechte Lust, etwas anzupacken. Menschen, deren Motivationssystem aber über längere Zeit inaktiv brach liegt, haben jedoch ein erhöhtes Risiko krank zu werden, insbesondere eine Depression oder psychosomatische Störungen zu erleiden. Nicht zufällig finden sich unter arbeitslosen Menschen, die ja keine Möglichkeit haben, sich durch Arbeit nützlich zu machen, die höchsten Depressionsraten.

Einfach nur irgendeine Arbeit zu haben, bedeutet jedoch keineswegs, eine Garantie für Gesundheit zu besitzen. Eine Gesundheitsdroge ist die Arbeit nur dort, wo am Arbeitsplatz eine Balance zwischen Verausgabung und Anerkennung besteht, wo Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Wertschätzung und Anerkennung erhalten, sei es von ihren Vorgesetzten, sei es von Kollegen oder von ihren Kunden. Eine besondere Rolle spielen die Vorgesetzten. An ihnen liegt es, ob am Arbeitsplatz eine freundliche Atmosphäre herrscht. Wichtig ist vor allem, dass sie hinschauen was ihre Mitarbeiter leisten und ihnen Rückmeldungen geben. Vorgesetzte spielen auch eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, ob Kolleginnen und Kollegen kollegial miteinander umgehen oder nur gegeneinander konkurrieren, sich bei Schwierigkeiten im Stich lassen oder sich gegenseitig denunzieren. In Betrieben mit einem andauernd schlechten Betriebsklima gehen nicht nur die Krankenstände hoch. Auch die Fluktuation ist hier höher.
In den letzten Jahren massiv zugenommen hat die Zahl von Unternehmen, in denen vom der Unternehmensspitze ein ständiger massiver Druck nach unten ausgeübt wird. Dieser Druck äußert sich vor allem in ständigen Umstrukturierungen sowie Entlassungen der festen Belegschaft mit nachfolgender Neueinstellung von sozial weniger gut abgesicherten Arbeitskräften. Auch wenn sie aus unternehmerischer Sicht oft wenig oder keinen Sinn machen, werden viele Unternehmensvorstände vonseiten der Kapitalanleger zu fortwährenden Umstrukturierungen gezwungen, weil Umstrukturierungen Eindruck auf die Börsen machen und dort die Kurse nach oben treiben. Da die Vorstände oder Geschäftsführer in öffentlichen Unternehmen nicht als rückständig gelten wollen, hält die Praxis der ständigen Umstrukturierungen zunehmend auch im öffentlichen Sektor Einzug.
Wenn Menschen arbeiten, ist nicht nur das bereits erwähnte Motivationssystem im Spiel, sondern auch das sogenannte Stresssystem. Es tritt immer dann in Aktion, wenn sich der Mensch Anforderungen gegenüber sieht, die ihm erhöhte körperliche oder geistige Anstrengung abverlangen. Der Gesundheit zuträglich sind, wie Studien zeigen, Arbeitsaufgaben, die sich bewältigen lassen und bei denen den Beschäftigten nicht die Kontrolle über das Geschehen entgleitet. Dies setzt voraus, dass Arbeitende hinreichend ausgebildet sind, dass sich die Arbeitsmenge im Rahmen des Leistbaren hält und dass Erwerbstätige auf die Einteilung und, soweit möglich, auch auf die Art der Erledigung ihrer Arbeit Einfluss nehmen können.
Damit blicken wir nunmehr auf zwei Gleichgewichte, die einen bedeutsamen Einfluss auf Gesundheit oder Krankheit am Arbeitsplatz haben: Das eine Gleichgewicht betrifft die bereits erwähnte Balance zwischen Verausgabung und Anerkennung. Das zweite Gleichgewicht betrifft die Balance zwischen dem was geleistet werden soll und der Möglichkeit, dass die Beschäftigten das Gefühl der Kontrolle über die Arbeitsabläufe behalten. Diese beiden Gleichgewichte entscheiden darüber, ob das körpereigene Stresssystem gesunden oder krankmachenden Stress produziert. Beim gesunden Stress spürt die Arbeitnehmerin und der Arbeitnehmer: Wenn ich mich konzentriere und mein Können voll einbringe, kann ich das, was mir als Aufgabe gestellt ist, auch bewältigen, und die Anstrengungen, denen ich mich unterziehe, werden gesehen und anerkannt. Beim krank machenden Stress haben Erwerbstätige das andauernde Gefühl, dass sie das, was man von ihnen verlangt, eigentlich nicht leisten können, ohne irgendwann erschöpft zusammenzubrechen.
Lassen Sie uns noch auf ein weiteres neurobiologisches System blicken, welches immer dann gefordert ist wenn Menschen Multi-Tasking-Aufgaben zu erledigen haben. Multitasking bedeutet, dass am Arbeitsplatz mehrere Dinge gleichzeitig unter Kontrolle gehalten oder erledigt werden müssen. Multitasking erfordert es, dass unsere Aufmerksamkeit nicht fokussiert und vertieft auf eine Sache gerichtet, sondern breit gestreut und daher oberflächlich ist. Multitasking und flache, breit gestreute Aufmerksamkeit sind Fähigkeiten, die zum Leben in der Wildnis gehörte. Sich fokussiert auf eine Sache zu konzentrieren, ist eine Kompetenz, die erst gefordert ist, seit Menschen Kulturleistungen erbringen. Technische Lösungen oder Entdeckungen haben in der Regel konzentriertes Nachdenken zur Voraussetzung. Wessen Gehirn sich permanent sozusagen im Aufmerksamkeits-Defizit-Modus befindet, der oder die macht vermutlich weder technischen Erfindungen noch entwickelt er oder sie philosophischen Gedanken, schreibt keine Gedichte und komponiert keine Lieder.
Erst vor etwa fünfzehn Jahren erkannte die Hirnforschung ein System, welches nur dann aktiv ist, wenn wir eine breit gestreute, flache Aufmerksamkeit praktizieren. Dieses System trägt den Namen „Default Mode Network“. Durch Untersuchungen eindeutig bewiesen ist, dass sich bei Menschen, die intensives und lange dauerndes Multitasking praktizieren, die Fähigkeit verschlechtert, Probleme zu lösen, die ein hohes Maß an fokussierter Aufmerksamkeit erfordern. Dazu passen Beobachtungen, die zeigen dass jedes Mal dann, wenn Testpersonen bei einer Konzentrationsaufgabe ein Fehler unterlaufen ist, sich kurz zuvor eine erhöhte Aktivität des „Default Mode Network“ nachweisen ließ. Multitasking und konzentriertes Arbeiten sind Aktivitäten, die sich gegenseitig behindern. Multitasking war immer ein Teil des Lebens und wird es bleiben. Doch eine erstrebenswerte Form des Arbeitens ist es nicht. Es sollte am Arbeitsplatz auf das Unvermeidliche begrenzt sein. Das Ziel sollte sein, sich möglichst oft nur einer Aufgabe zu einer Zeit zu widmen.
Immer mehr Menschen erleben es als eine Qual, dass uns das moderne Leben nicht nur am Arbeitsplatz, sondern auch im Privatleben immer mehr in Zustände von breiter, flacher Aufmerksamkeit hineinbringt. Dies hat vor allem mit der Zunahme an Medien- bzw. Kommunikationsangeboten zu tun. Immer mehr Menschen haben das Bedürfnis, der permanenten Zerstreuung etwas entgegenzusetzen, was ihnen die innere Ruhe zurückbringt. Dies ist der Grund für die in allen westlichen Ländern beobachtbare Nachfrage nach der sogenannten Achtsamkeits-Meditation. Die Praxis der Achtsamkeits-Meditation wird in der Fachliteratur als „Mindfulness-Based Stress Reduction“, abgekürzt MBSR bezeichnet. Die Achtsamkeits-Meditation bietet die Möglichkeit, in einer kleinen Übungsgruppe, unter Anleitung einer Achtsamkeits-Lehrerin oder eines -Lehrers, in einen Zustand ruhiger, konzentrierter Aufmerksamkeit zu kommen. In einem von mir selbst, zusammen mit Juniorprofessor Stefan Schmidt geleiteten, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft unterstützten Projekt untersuchen wir derzeit, inwieweit die Achtsamkeits-Meditation Schülern der gymnasialen Oberstufe und ihren Lehrkräften eine Hilfe sein kann, besser mit Stress umzugehen. Dieses spannende Projekt ist Teil eines Anfang 2013 an der Universität Freiburg eingerichteten Sonderforschungsbereiches, der das Thema „Muße“ auf seine Fahnen geschrieben hat.
Der Druck an den Arbeitsplätzen hat in den letzten 20 Jahren signifikant zugenommen. Kennzeichen der modernen Arbeitswelt sind mentale, also psychische Belastungen. Die Gründe dafür sind beschleunigte Arbeitsabläufe, Zeitdruck, Verdichtung der Arbeit, der Umgang mit großen Mengen an Information, ständige Unterbrechungen der Arbeit und -in vielen Berufen- die anspruchsvolle Aufgabe, mit nicht immer einfachen Kunden, Klienten oder Schülern zu kommunizieren und diese möglichst gut zufriedenzustellen. Mehr als ein Drittel aller Erwerbstätigen gibt an, den derzeit ausgeübten Beruf nicht bis zur Rente durchhalten zu können. Ein Drittel der Beschäftigten kann abends nach der Arbeit nicht abschalten. Ein Viertel aller Erwerbstätigen fühlt sich chronisch erschöpft, jeder fünfte fühlt sich von seiner Arbeit total überfordert. Psychische Gesundheitsstörungen stehen mit 42% derzeit an der Spitze der Erkrankungen, derentwegen Menschen vorzeitig aus dem Arbeitsleben in den Vorruhestand ausscheiden.
Vor dem Hintergrund dieser Zahlen wird verständlich, warum das „Burnout-Syndrom“ in den letzten Jahren derart Furore gemacht hat. Der Begriff des „Burnout-Syndroms“ wurde und wird allerdings oft falsch gebraucht. Nicht jede Erschöpfung ist ein „Burnout-Syndrom“. Erschöpft zu sein ist eine völlig normale Reaktion auf starke Belastungen. Die bloße Erschöpfung ist ein Zustand, der sich durch die Möglichkeit zur Erholung wieder beheben lässt. Ein „Burnout-Syndrom“ ist mehr als eine Erschöpfung. Das Burnout-Syndrom ist eine länger dauernde, auf den Arbeitsplatz bezogene und durch einfache Erholungsmaßnahmen nicht zu behebende Störung der Motivation und der Leistungsfähigkeit. Kennzeichen des Burnout-Syndroms sind, zusätzlich zu einer verloren gegangene Fähigkeit zur Regeneration, Ineffektivität am Arbeitsplatz und ein vorher nicht vorhandener, unbezwingbarer innerer Widerwille gegen die Arbeit. Burnout-Betroffene sind typischer Weise Berufstätige, die ihrer Arbeit jahrelang mit Freude und hohem Engagement nachgegangen sind. Mit Einsetzen des Burnout-Syndroms stellen die Betroffenen fest, dass sie, im Vergleich zu früher, schleichend immer mehr Zeit benötigen, um ihre Arbeit zu erledigen. Ein weiteres Merkmal des Burnout-Syndroms ist, dass Berufstätige, die jahrelang hoch engagiert und ihrer Kundschaft zugetan waren, in sich plötzlich eine zynische, widerwillige Haltung feststellen.
Ebenso wie die ganz normale Erschöpfung vom Burnout-Syndrom unterschieden werden sollte, so muss das Burnout-Syndrom seinerseits von einer Depression abgegrenzt werden. Beim Burnout-Syndrom handelt es sich um eine auf den Arbeitsplatz bezogene Störung von Motivation und Leistungsfähigkeit. Demgegenüber ist die Depression eine Erkrankung, die den ganzen Menschen und sämtliche Lebensbereiche betrifft. Typische Kennzeichen der Depression sind ein Verlust der Lebensfreude, der Verlust des Selbstwertgefühls, Störungen des Antriebes und der Konzentration, Schlafstörungen und Gedanken, aus dem Leben zu scheiden. Untersuchungen zeigen allerdings, dass die Mehrheit derer, die von einem Burnout-Syndrom betroffen sind, nicht an einer Depression leiden. Da das Burnout-Syndrom allerdings eine Vorstufe auf dem Wege hin zu einer Depression sein kann, sollte es ernst genommen und nicht bagatellisiert werden.
Die wichtigste vorbeugende Maßnahme gegen das Burnout-Syndrom sind Arbeitsplätze, die erwerbstätigen Menschen zumutbare Arbeit bieten, an denen frei von permanentem hohem Zeitdruck gearbeitet werden kann, an denen ein gutes kollegiales Klima herrscht, an denen Vorgesetzte ihren Mitarbeitern Rückmeldungen
geben und gute Leistungen mit Anerkennung und Wertschätzung quittieren. Psychopharmaka können im Falle einer schweren Depression durchaus einmal angezeigt sein, aber gute Arbeitsbedingungen können sie nicht ersetzen.
Die menschliche Arbeit ist eine gewaltige positive Ressource. Sie kann ein Betätigungsfeld unserer Neugier, unserer Entdeckerfreude und unserer Kreativität sein. Sie kann dem Menschen nicht nur die Wertschätzung und Anerkennung anderer einbringen, sondern auch uns selbst mit Stolz auf das Geleistete erfüllen. Die Arbeit kann, wenn sie sich in einen lebensgeschichtlichen Zusammenhang einfügt, ein Teil der Identität eines Menschen sein. Neben diesen Chancen birgt die Arbeit allerdings auch eine Reihe von ernst zu nehmenden Risiken, vor allem solche welche die Gesundheit betreffen. Nicht nur schlecht bezahlte oder krank machende Arbeit, auch die Arbeitslosigkeit beschädigt die Würde des Menschen. Die mit Abstand wichtigste Ursache für langwährende Arbeitslosigkeit sind fehlende Schulabschlüsse oder eine fehlende berufliche Qualifizierung. Die Statistiken belegen einen geradezu gnadenlosen Zusammenhang zwischen schulischer und beruflicher Bildung einerseits und andrerseits der Chance, später nicht nur einen Arbeitsplatz, sondern vor allem gute Arbeit zu finden.
Abschließend sollte nicht aus dem Blickfeld geraten, dass die Arbeit, bei aller Wertschätzung, nicht der einzige Inhalt unseres Daseins ist, der das Leben lebenswert macht. Nicht nur der Bildschirm, der Alkohol und Nikotin, auch die Arbeit besitzt ein Suchtpotential. Sie kann den Blick auf das Leben einengen und Menschen vergessen lassen, was im Leben, neben der Arbeit, einen mindestens gleichwertigen Rang einnehmen sollte, nämlich die Muße, die Musik, die Literatur, das Erleben der Natur, die Freude an der Bewegung, das Gespräch und das zwecklose Zusammensein mit Menschen, die wir lieben