Wilhelm Schmid: Die ökologische Tugend - Neue Aspekte der Lebenskunst - Beständigkeit
SWR2 Wissen: Aula - Wilhelm Schmid: Die ökologische Tugend - Neue Aspekte der Lebenskunst
Sendung am Sonntag, 22.02.2009, 08.30 bis 9.00 Uhr
Autor: Prof. Wilhelm Schmid *
Redaktion: Ralf Caspary
Sendung: Sonntag, 22. Februar 2009, 8.30 Uhr, SWR 2
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ÜBERBLICK
Ökologie war nie ein Thema für Lebenskunst und Philosophie, obwohl schon im alten Athen ganze Wälder für den Schiffsbau abgeholzt wurden. Dabei kann man eines lernen: Ökologische Sünden wirken verblüffend lange nach, denn diese Gebiete sind heute kahl. Mit moderner Technik, mit Industrie und Energiekonsum sind in der heutigen Welt die Probleme so kulminiert, dass wir endlich auf sie reagieren müssen. Es geht um eine ökologische Lebenskunst, die zu Verhaltensänderungen führt, es geht um ein essentielles Interesse jedes Einzelnen, nicht um Bevormundung. Wilhelm Schmid, Philosoph aus Berlin, skizziert diese neue Form praktischer Philosophie.
* Zum Autor:
Der Philosoph und Autor Wilhelm Schmid, geb. 1953, lebt als freier Philosoph in Berlin. Er studierte
Philosophie und Geschichte in Berlin, Paris und Tübingen und lehrt Philosophie als
außerplanmäßiger Professor an der Universität Erfurt. Viele Jahre lang war er tätig
als Gastdozent in Riga/Lettland und Tiflis/Georgien, sowie als „philosophischer
Seelsorger“ an einem Krankenhaus in der Nähe von Zürich/Schweiz.
Homepage: www.lebenskunstphilosophie.de
Jüngste Buchpublikationen:
Ökologische Lebenskunst. Was jeder Einzelne für das Leben auf dem Planeten tun
kann, Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt a. M. 2008.
Glück – Alles, was Sie darüber wissen müssen und warum es nicht das Wichtigste im
Leben ist, Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2007, 8. Auflage 2009.
Mit sich selbst befreundet sein. Von der Lebenskunst im Umgang mit sich selbst,
Suhrkamp Verlag, Reihe Bibliothek der Lebenskunst, Frankfurt a. M. 2004,
Taschenbuch 2007.
Auswahl seiner Bücher:
Ökologische Lebenskunst. Was jeder Einzelne für das Leben auf dem Planeten tun kann. Suhrkamp, Frankfurt 2008.
Glück. Alles, was Sie darüber wissen müssen, und warum es nicht das Wichtigste im Leben ist. Insel, Frankfurt 2007.
Die Fülle des Lebens. 100 Fragmente des Glücks. Insel, Frankfurt 2006.
Die Kunst der Balance. 100 Facetten der Lebenskunst. Insel, Frankfurt 2005.
Mit sich selbst befreundet sein. Von der Lebenskunst im Umgang mit sich selbst. Suhrkamp, Frankfurt 2004.
Schönes Leben? Einführung in die Lebenskunst. Suhrkamp, Frankfurt 2000.
Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung. Suhrkamp, Frankfurt 1998.
INHALT
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Ansage:
Heute mit dem Thema: „Die ökologische Tugend – Aspekte einer neuen
Lebenskunst“.
Ökologie, Nachhaltigkeit waren nie Themen für Lebenskunst und Philosophie,
obwohl schon im alten Athen ganze Wälder für den Schiffsbau abgeholzt wurden.
Aber den antiken Philosophen ging es eher um die Frage, was ist ein glückliches
Leben, wie kann man es erreichen, sie dachten dabei nicht an die schützenswerte
Natur.
Dabei gibt es eigentlich nur individuelles Lebensglück, sofern man dieses mit der
Umwelt, der Natur verbindet. Das sagt Wilhelm Schmid, Philosoph aus Berlin. Die
Sorge um sich selbst, die Sorge um ein besseres Leben mündet, so Schmid, in die
Sorge um den Planeten Erde. Und das zeigt er jetzt in der SWR2 AULA. So
begegnen sich Lebenskunst und Nachhaltigkeit.
***
Wilhelm Schmid:
Es gibt ein wachsendes Unbehagen von Menschen in moderner Zeit: Diese Zeit
erscheint ihnen zu kurzatmig. Der Moment steht zu sehr im Vordergrund, als könne
es keine anderen Zeiten mehr geben. Viele Menschen ahnen, dass das langfristig
nicht gut gehen kann. In vielerlei Hinsicht müsste das Leben „nachhaltiger“ sein.
Aber lange Zeit erreichte die Rede von der „Nachhaltigkeit“ ihre Adressaten nicht:
Kaum jemand fühlte sich davon angesprochen. Das war kein Wort, das einen
gefühlsmäßig etwas anging, keines, das einem auf Anhieb etwas sagte. Es schien
so, als hätte das mit dem konkreten Leben nichts zu tun. Wozu Nachhaltigkeit? Lebte
es sich nicht besser ohne sie? Dem Wortsinn nach meint Nachhaltigkeit:
Langfristigkeit, Dauerhaftigkeit, Beharrlichkeit, Belastbarkeit, Tragfähigkeit.
Nachhaltigkeit geht über den Moment hinaus. Als „die Kunst, das Morgen zu
denken“, ist sie bezeichnet worden, und das gilt ganz besonders in ökologischer
Hinsicht. Was ist die größte Herausforderung der alt gewordenen Moderne? Darüber
kann es Diskussionen geben, aber die ökologische Herausforderung wird dabei
sicher nicht als die kleinste erscheinen. Wie können Menschen darauf antworten?
Sicherlich auch mit technischen Lösungen, aber die brauchen eine Verankerung in
der inneren Verfassung des Menschen selbst, sonst bleibt es bei einem äußerlichen
Laborieren an Symptomen. Menschen brauchen eine neue Beziehung zur Natur.
Grundsätzlich stehen dafür alle Arten von Beziehung zur Verfügung, aber die
verneinenden wurden historisch bereits durchgespielt: Über Jahrhunderte hinweg
erschien die Natur feindselig, sie musste von Menschen auf Gedeih und Verderb
bekämpft und „untertan“ gemacht werden. In moderner Zeit wurde sie vor allem
funktional als Ressourcenlieferantin wahrgenommen, mithilfe von Wissenschaft und
Technik menschlichen Zwecken dienstbar gemacht und zur Ausbeutung freigegeben.
Und moderne Menschen ließen es sich angelegen sein, die Natur aus ihrem Leben
auszuschließen, wo immer es nur möglich war; bestenfalls war sie noch der
angenehme Fahrtwind, wenn das Autofenster einen Spalt geöffnet wurde. Mensch und
Natur, das waren getrennte Welten, dafür stand in der Neuzeit das philosophische
Denken eines René Descartes mit der Abspaltung eines rational denkenden Subjekts
(res cogitans) von einer objektiven Natur, die sich im Raum erstreckt (res extensa).
Das kommt noch immer in der Rede von einer angeblichen „Umwelt“ zum Vorschein,
die in Wahrheit nicht um den Menschen herum, sondern mitten durch ihn
hindurchgeht, bei jedem Atemzug, jeder Nahrungsaufnahme. Die Natur, die in
moderner Zeit zur Beherrschung und Ausbeutung freigegeben war, wurde letztlich
zum „Naturschutzgebiet“, um ihre übrig gebliebenen Reste einzuhegen und wieder
aufzupäppeln.
Für die Nachhaltigkeit neu zu erproben sind die bejahenden Beziehungen, wie sie
einst in alten Kulturen gepflegt worden sind: Liebe, Freundschaft und Kooperation.
Neben dem Kampf, den Charles Darwin noch im Blick hatte, war immer schon die
Kooperation hilfreich fürs Leben und Überleben, das wissen mittlerweile die
Evolutionsbiologen; und in der Freundschaft oder Liebe zur Natur (Physiophilie)
leben Gefühle auf, die Menschen im Kern berühren und besser motivieren als jedes
nüchterne Kalkül. Wie für andere Arten der Liebe ist es auch für die Liebe zur Natur
unerheblich, ob das geliebte Gegenüber „objektiv“ zu fassen ist; ein Mensch muss
nicht wissen, was die Natur „eigentlich“ ist, um Zuwendung und Zuneigung zu ihr
empfinden zu können. In vielfacher Hinsicht kann die Liebe zu ihr entwickelt und
gelebt werden: Zur Natur insgesamt oder zur belebten Natur, zu bestimmten Wesen,
zu einer Landschaft, zur Sonne, zu frischer Luft, zu Blumen, zu einem Baum, zu
einem Waldstück, zu einem Hain am Wegrand, zu einem Stück Natur im eigenen
Heim, zu Pflanzen, die gehegt und gepflegt werden. Menschen können von der
Beziehung zu einer Pflanze wie von einer großen Liebe sprechen, sich genau an Ort
und Umstände der ersten Begegnung erinnern und sich daran erfreuen, dass aus der
Zufallsbekanntschaft eine „Liebe fürs Leben“ wurde, die bei liebevoller Pflege auch
weniger optimale Bedingungen verzeiht.
Erst recht kann der Liebe zur Natur in einem Garten gefrönt werden: Im Garten geht
auch diese Liebe durch die Sinne und speziell durch den Magen, denn das, was dort
selbst angebaut wird, mundet auch am besten. Menschen brauchen Gärten,
insbesondere moderne Menschen, die ihrer Liebe zur Natur eigens Raum geben
müssen, da die Beziehung zu ihr jegliche Selbstverständlichkeit verloren hat.
Voltaires Candide gab am Beginn der Moderne schon die Richtung vor: „Nun aber
müssen wir unseren Garten bestellen.“ Das wurde verwirklicht in der modernen,
zuweilen antimodernen Schrebergartenkultur des bürgerlichen Kapitalismus und
Datschenkultur des sozialistischen Kollektivismus. Wo der Platz noch knapper
bemessen war, reichte es wenigstens zur Balkon- und Zimmerpflanzenkultur, in der
das individuelle Bedürfnis nach einer Beziehung zur Natur zum Ausdruck kommen
konnte, das von der industriellen Entwicklung so vollkommen missachtet wurde. Ein
Zipfel des Glücks der Nachhaltigkeit war auf solche Weise erfahrbar und bietet immer
noch Trost in einer Zeit, in der die Folgen einer besinnungslosen Modernisierung
spürbarer werden, der Widerwille gegen das ständige Angetriebenwerden wächst
und Erschöpfungszustände sich breitmachen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die
Frage der Nachhaltigkeit neu.
Angeregt wird die Liebe zur Natur vom Sinn, der in ihr erfahrbar ist: Aus dem Einblick
in die vielen hyperfein regulierten und weiträumig organisierten Zusammenhänge, die
in der Natur sichtbar und erkennbar werden, geht ein starker Eindruck von Sinn
hervor, und die vielfältigen Erscheinungsformen, die sie hervorbringt, können
staunen machen. Sich als Mensch verstehen zu können, der diese Zusammenhänge
wahrnimmt und auf sie achtet, stärkt das Empfinden von Sinnhaftigkeit, sie zu
missachten, befördert hingegen ein Gefühl von Sinnlosigkeit. Ein Grund für den
verlorenen Sinn in moderner Zeit ist sicherlich das Nichtverhältnis vieler Menschen
zur Natur, das von der begrenzten Liebe zur Balkon- und Gartennatur nicht
hinreichend korrigiert werden kann. Die Liebe zur Natur zu pflegen, ist daher mehr
als nur eine Marotte, sie eröffnet vielmehr einen neuen Zugang zum Sinn, sowohl
zum Sinn der Sinnlichkeit als auch zum gefühlten und gedachten Sinn. Und auf ganz
weltliche Weise erschließt sie dem Menschen sogar einen transzendenten Sinn, denn
er lernt Ressourcen kennen, die nicht von Menschenhand geschaffen wurden, er nimmt
Einblick in Kreisläufe, in die nicht nur der einzelne Mensch, sondern auch die gesamte
Menschheit eingebettet ist, und er gewinnt auf diese Weise eine Auffassung vom
ewigen Werden und Vergehen, eine Ahnung vom Sinn eines umfassenden Seins. Auf
die Frage nach Sinn, die so viele Menschen in moderner Zeit beunruhigt, kann die
Nachhaltigkeit eine umfassende Antwort geben.
Wo die Zusammenhänge klar vor Augen stehen, wird auch die Verantwortung für sie
besser wahrgenommen: Aus der Liebe zur Natur resultiert daher eine nachhaltige
Lebenshaltung ganz von selbst, denn um das, was Menschen lieben, sorgen sie sich
auch. Wo Liebe ist, da ist auch Sorge, zunächst eine ängstliche, dann jedoch eine
fürsorgliche und vorsorgende Sorge. Das gilt für die Liebe zu sich selbst ebenso wie
zu Anderen, zur Familie, zu Freunden und eben auch zur Natur. Liebe zielt von
selbst auf Nachhaltigkeit: Daher brauchen wir eine neue Liebe zur Natur. In Gefühlen
und Gedanken ist sie die Begründung einer Beziehung, deren Resultat nicht mehr
nur der Waldspaziergang ist, sondern die Aufmerksamkeit auf die eigenen
Verhaltensweisen auf Schritt und Tritt: Belaste ich die natürlichen Zusammenhänge?
In welchem Maß? Ist die Belastung vermeidbar? Woher kommt das Wasser, das aus
meinem Wasserhahn fließt, und wohin fließt es? Woher kommt die Energie, die
meine Wohnung erwärmt und erleuchtet? Kommt sie aus natürlichen Kreisläufen
oder werden diese Kreisläufe jedes Mal unterbrochen, wenn ich auch nur den
Lichtschalter betätige? Ich selbst entscheide darüber, wie ich Energie nutze, und
welche, von welchem Anbieter. So kommt es zu einem neuen Fühlen und Denken in
längeren Zeiträumen. Die moderne Zeit mag kurzatmig erscheinen, aber es liegt an
uns selbst, sie mit längerem Atem nachhaltig zu gestalten.
Die Liebe zur Natur ist dabei nicht abzulösen von der Beziehung des Menschen zu
sich selbst. Eine nachhaltige Lebenshaltung will gelernt sein, und das geschieht mit
der Arbeit an der inneren Nachhaltigkeit in der Beziehung zu sich selbst, zugunsten
einer inneren Integrität. Ich selbst muss die Werte festlegen, an denen ich meine
Haltung und mein Verhalten orientieren will: Kurzfristigkeit oder Dauerhaftigkeit. Ich
selbst kann mich als weites Selbst definieren und mich darin üben, über die
unmittelbare Umgebung meiner „Umwelt“ weit hinauszublicken und die eigene
Existenz im größeren Horizont wahrzunehmen. Das rettet mich vor dem Einschluss
in die enge eigene Welt, und ich nehme meine Rolle in der weiteren Welt stärker
wahr. Ich lebe nun mal in Zusammenhängen, die weit über mich hinausgehen, und
schade mir selbst am meisten, wenn ich nur mich allein im Blick habe. Es ist meine
eigene Existenz, die mit der Beziehung zur Natur in Frage steht.
Der Umgang mit der inneren Natur präpariert den Umgang mit der äußeren. Nur der,
der zu seiner inneren Natur in ein gutes Verhältnis kommt, kann auch zur äußeren
eines gewinnen. Die innere Klärung sorgt dafür, sich auf veränderte Weise nach
außen wenden zu können und an der äußeren Nachhaltigkeit zu arbeiten. Mit der
Anstrengung, eine erweiterte Perspektive zu gewinnen, lässt sich auch die Brücke zu
räumlich weit entfernten Individuen, Lebewesen und Strukturen schlagen: Was
haben die Menschen in der Arktis, die Pinguine in der Antarktis mit meinem
Verhalten hier und jetzt zu tun? Und ebenso in zeitlicher Hinsicht: Was trage ich in
der Gegenwart dazu bei, Möglichkeiten für die Individuen künftiger Generationen zu
eröffnen oder zu verschließen? Und kann ich etwa sicher sein, dass nicht „ich“ selbst
es bin, der in 100 Jahren wiederkehrt, wenngleich vielleicht in etwas anderer
Gestalt? Ist es nicht denkbar, dass „wir“ in tausend Jahren noch leben und dabei
vorfinden, was wir in der Gegenwart selbst vorbereitet haben? Dann wäre die
Ausflucht „Nach mir die Sintflut“ sinnlos. Bewusst zu leben hieße dann, vor diesem
erweiterten Horizont das Leben auf eine Weise zu führen, die sich durch ein Gespür
für nachhaltige Zusammenhänge auszeichnet. Mit seiner Hilfe ließe sich dasjenige
Maß im Umgang mit Ressourcen und Techniken ausfindig machen, das ökologisch
verträglich ist.
Historisch kam die Nachhaltigkeit zuerst mit der ökologischen Fragestellung in den
Blick: Wie ist die Existenz des Menschen wieder in umfassendere Zusammenhänge
der Natur, in eine ökologische Integrität einzugliedern? Zum Problem wurde just der
Erfolg menschlicher Technik, und der Grund dafür waren vor allem die Energien, mit
deren Hilfe alle denkbaren Techniken gebaut und betrieben werden: Sie ziehen
Folgen nach sich, die am deutlichsten im Klimageschehen nachweisbar sind. Die
erforderlichen anderen Technologien, die die energetischen Ressourcen schonen,
stehen im Grunde bereit, werden aber unzureichend eingesetzt. Alle klagen über die
ökologischen Folgen des Autoverkehrs, aber das ökologische Auto ist längst da,
ausgestattet mit der dritten Motorengeneration der Technikgeschichte, der
Brennstoffzelle. In ihr wird Wasser, das zu Wasserstoff aufbereitet worden ist, mit
einer so genannten „kalten“ Verbrennung wieder zu Wasser, rückstandsfrei, sodass
der Kreislauf geschlossen ist. Warum fahren seit vielen Jahren nur einige Prototypen
dieser Autos einsam auf unseren Straßen? Das Problem ist: Zu lange fragten zu
wenige Menschen nach dieser Technik, weil sie mit der, die sie hatten, schon
zufrieden waren. Moderne Menschen sind nicht immer auf der Höhe ihrer Zeit,
beeindruckt zwar von grandiosen Ingenieursleistungen, jedoch ohne zureichenden
Eindruck von den stilleren Entwicklungen und langfristigen Auswirkungen
verschiedener Techniken.
Aber die Frage der Nachhaltigkeit stellt sich auch in anderen Bereichen. Ein zweiter
Bereich ist die soziale Fragestellung. Die Dynamik der modernen Desintegration wirft
die Frage nach einer sozialen Integrität neu auf: Wie sind noch
gemeinschaftsbildende Zusammenhänge zwischen vereinzelten Individuen möglich?
Zum zentralen Begriff dafür wird die Gerechtigkeit: Auch wenn es keine absolute
Gerechtigkeit etwa der Chancen und der Verteilung von Gütern und Lasten geben
kann – eine gefühlte, relative Gerechtigkeit gibt es sehr wohl: Sie ist der einzig
verbliebene Kitt einer Gesellschaft, in der traditionelle Beziehungen zerbrochen sind.
Die Sorge um Gerechtigkeit ist verbunden mit einem Kampf gegen Ausschluss und
Armut, gegen relative Armut in Wohlstandsgesellschaften und absolute Armut in der
Weltgesellschaft. Sie bedarf einer Nachhaltigkeit sozialer Sicherungssysteme, die
von einer mangelnden Nachhaltigkeit der Geburtenrate bedroht werden. Und die
soziale Fragestellung ist eng mit der ökologischen verflochten: Ökologische
Probleme treffen sozial benachteiligte Menschen stärker, sie sind ihnen
ungeschützter ausgesetzt und verfügen über weniger Ausweichmöglichkeiten,
sowohl innerhalb der Wohlstandsgesellschaft als auch im Rahmen der
Weltgesellschaft. Eine ökologisch nachhaltige Politik ist daher immer auch
Sozialpolitik: Wenn Häuser etwa mithilfe von Solarenergie energieautark gemacht
werden, schützt das die Bewohner vor dem Zugriff von Stromkonzernen, deren
strategische Intelligenz sich in Grenzen hält. Die Solarenergie wäre auch eine Basis
für die „nachhaltige Entwicklung“ in vielen Ländern der Dritten Welt, deren heillose
Überschuldung nicht zuletzt von teuren Ölimporten herrührt.
Ein dritter Bereich der Nachhaltigkeit ist die ökonomische Fragestellung und das
Bemühen um eine ökonomische Integrität, die dem Umstand Rechnung trägt, dass
das Finanzkapital nun mal mit Naturkapital arbeitet, denn mit welchen Ressourcen
wäre Ökonomie noch zu betreiben, wenn etwa Energie-Ressourcen knapper
würden? Von ebensolcher Bedeutung sind Menschen, auch Humankapital genannt,
nicht nur bei der Produktion, sondern auch der Konsumtion von Produkten: Möglichst
viele und kaufkräftige Konsumenten ansprechen zu können, liegt im ureigensten
ökonomischen Interesse; daher darf eine Sozialpolitik sich ihre Mittel auch aus der
Wirtschaftskraft von Unternehmen besorgen, die ihrerseits einen größeren Markt für
ihre Produkte gewinnen. Dass eine nachhaltige ökologische und soziale Politik der
Ökonomie nützt, sehen Ökonomen selbst allerdings kaum je so, sicherlich eine
Konsequenz ihrer allzu eng ausgelegten Ausbildung, die die Einbindung einzelner
Betriebswirtschaften in die umfassendere Volkswirtschaft unzureichend
berücksichtigt. Bedarf es für eine Neuorientierung erst eines neuen „Systems“?
Davon träumen manche, aber es würde wieder eine lange Anlaufzeit benötigen und
dann womöglich doch nicht funktionieren. Wünschenswerter erscheint die
fortwährende Modifikation des vorgefundenen Systems zu einer ökologischeren und
sozialeren Marktwirtschaft (Komparativ statt Superlativ), und dies nicht mehr nur
national, sondern auch global.
Wer soll sich um all das kümmern? Im politischen Raum ist die Nachhaltigkeit
eigentlich ein bewahrendes, also konservatives Anliegen. Wahre Konservative haben
auf ihre Weise immer nachhaltig agiert, aber für die Ökologie haben sich zu viele von
ihnen nie interessiert. Einige sind zu Interessenvertretern geworden, die großzügig
über gravierende Probleme hinwegsehen, wie etwa strahlende Abfälle der
Energiegewinnung aus Atomkraft sie über viele Generationen hinweg mit sich
bringen. Da Nachhaltigkeit unter modernen Bedingungen mit sehr viel Erneuerung
verbunden ist und einigen alt gewordenen Strukturen der Moderne zuwiderläuft, ist
sie eher zu einem progressiven Anliegen geworden. Dieser politische Raum bleibt in
seiner Bedeutung erhalten, aber niemand muss auf ihn allein bauen, denn in einer
Parallelwelt zur „großen Politik“ gibt es immer noch die „Kleinstpolitik“ der privaten
Verhältnisse. Das mag als Rückzug in die Nische des Privaten erscheinen, aber hier
ist der Ansatzpunkt, schon mit dem bloßen Vollzug der eigenen Existenz auf die
große Politik Einfluss zu nehmen. Und es ist der Ansatzpunkt, der Menschen nun
mal am nächsten liegt, die die Dinge nicht aus einer Metaperspektive, sondern aus
der Mikroperspektive des eigenen alltäglichen Lebens wahrnehmen. Lebenskunst ist
der Versuch, die Dinge aus dieser Sicht heraus zu entwickeln und so zu einer
umsichtigen Lebensführung zu kommen.
Bezogen auf die ökologische Dimension der Nachhaltigkeit ist die Frage: Was kann
ich selbst dafür tun? Wie sieht ein alltägliches Leben aus, das auf natürliche
Zusammenhänge Rücksicht nimmt? Wo kann ich selbst nachhaltige Techniken
gebrauchen, um deren Fortschritt zu befördern, beginnend bei der
Energiesparlampe? Als sehr nützlich erweist es sich, die eigenen Gewohnheiten zu
durchleuchten, denn viele von ihnen sind ökologisch relevant, etwa bei der
gedankenlosen Wahl und dem gewohnheitsmäßigen Gebrauch und Verbrauch von
Stoffen und Dingen. Mehr als irgendwelche anonymen Mächte stehen überkommene
individuelle und gesellschaftliche Gewohnheiten einer nachhaltigen Lebenshaltung
entgegen. Es lohnt sich, die unscheinbaren Alltagshandlungen auf ihre ökologischen
Konsequenzen hin zu befragen, denn in den Banalitäten des Lebens sind die
eigentlichen Verhängnisse verborgen. Selbst bei kleinen und kleinsten Dingen, die
gewöhnlich als vernachlässigenswert erscheinen, kann es um eine dauerhafte
Bewahrung von Zusammenhängen und somit der eigenen Lebensgrundlagen gehen.
Und da das bloße Wissen um die Notwendigkeit von Veränderungen erfahrungsgemäß
nicht genügt, bedarf es einer vorsätzlichen, langwierigen Einübung veränderter
Gewohnheiten und Verhaltensweisen, bis sie zur „zweiten Natur“ des Selbst werden.
Bezogen auf soziale Verhältnisse ist die Frage der bewussten Lebensführung: Was
kann ich selbst beitragen zu einer Gesellschaft, in der ich gerne leben möchte und
auch auf Dauer leben kann? Hier geht es um die Arbeit an der Nachhaltigkeit in den
eigenen Beziehungen zu Anderen, beginnend bei den engsten Beziehungen, um
sich dann darüber hinaus an größeren Projekten zu beteiligen, an einem Projekt wie
„Arche“ in Berlin zum Beispiel, das von zahllosen Unterstützern lebt und Kindern aus
sozial benachteiligten Familien Hort, Schule, Mittagessen und
Hausaufgabenbetreuung bietet. Nicht alles ist Aufgabe des Staates, der entweder
zum totum oder aber zum nullum wird, wenn er nicht von einer bürgerlichen
Gesellschaft getragen wird. Nachhaltigkeit bedarf einer neuen Bürgerlichkeit,
verwirklicht von Menschen, die sich bewusst als Bürger einer Gesellschaft verstehen.
Zu diesem Bürger-Sein gehört die Wahrnehmung von Aufgaben im so genannten
„Dritten Sektor“ neben Staat und Privatwirtschaft, um soziale Dienste zu leisten und
Selbsthilfe zu organisieren, jeder so, wie er kann. Materiell ist dabei wenig zu
gewinnen, ideell umso mehr: Es ist erstaunlich, aber Sinn von Arbeit und Lebenssinn
lassen sich erfahrungsgemäß vor allem hier erfahren, ausgerechnet bei dieser
Arbeit, die schlecht oder überhaupt nicht entlohnt wird. Vielleicht, weil Freiheit und
Erfüllung hier mehr als andernorts erfahrbar sind.
Und bezogen auf ökonomische Verhältnisse: Welche Möglichkeiten habe ich, auf die
Art des Wirtschaftens Einfluss zu nehmen, damit es nicht nur auf momentanen,
sondern nachhaltigen Gewinn ausgerichtet ist? Berufskreuzungen wären hier von
Interesse, etwa sozial engagierte Ökonomen, ökonomisch versierte Ökologen, denn
immer an den Kreuzungspunkten entstehen die kreativen Lösungen. Ein Beispiel
dafür, wie ökologische, soziale und ökonomische Nachhaltigkeit zu überkreuzen ist,
gibt die Produktion und Konsumtion von Bioprodukten, insbesondere der faire
Handel mit Produkten aus der Dritten Welt. Lebenskunst als bewusste
Lebensführung ist erforderlich sowohl auf der Seite dessen, der für das Angebot
sorgt, als auch auf der Seite dessen, der es durch Nachfrage befördert. Der Hebel
der Machtverhältnisse kann in einer marktwirtschaftlich verfassten Ökonomie nie nur
„von oben“, immer auch „von unten“ angesetzt werden. Jeder entscheidet selbst
darüber, für welche Produkte er Geld ausgibt. Werbung beeinflusst das Verhalten? Das
ist Bestandteil des Machtspiels, und es liegt erneut in der Macht des Einzelnen, ihr zu
folgen oder nicht; das wissen die Werber nur allzu gut. Die Individuen repräsentieren
selbst eine ökonomische Macht, solange sie entscheiden können, welchen Lebensstil
sie bevorzugen und von welchen Produkten sie dabei Gebrauch machen wollen. Erst
dann würden diese Machtverhältnisse ausgehebelt, wenn es eine Alleinherrschaft von
Monopolen gäbe, die nur durch eine umfassende Gegenbewegung zu brechen wäre.
Ökologisch, sozial und ökonomisch können Individuen also am Glück der
Nachhaltigkeit arbeiten. Aber damit ist nicht so sehr das Glück gemeint, das in der alten
Moderne so hysterisch gesucht worden ist, da es eine Maximierung der Lust versprach,
das Wohlfühlglück. Moderne Menschen hielten es für das einzige Glück, und sie
wollten es nachhaltig, also dauerhaft haben, aber es kann nur eine Angelegenheit
des Moments sein, von Dauerhaftigkeit keine Spur. Im Rausch der Modernisierung,
im Wirbel ihrer Dynamik ging es immer nur um den neuen „Kick“, die neueste
Ablenkung, um für einen Moment voller Lust und damit ganz bei sich zu sein. Aber
ein anderes Glück, das Glück der Fülle ist die einzige Möglichkeit, nachhaltig
glücklich sein zu können. Es resultiert aus der größeren Fülle des Lebens, die in
umfassenderen Zusammenhängen erfahrbar ist, in der Wahrnehmung und Reflexion
des enormen Reichtums und der Vielfalt sozialer und ökologischer Zusammenhänge
weit über den jeweiligen Moment hinaus. Das wirkt der Einschmelzung des
Zeithorizontes auf den Punkt der Gegenwart entgegen, an den die Individuen durch das
Versprechen der modernen Ökonomie gewöhnt worden sind, sämtliche Bedürfnisse
schon im Augenblick ihres Auftretens zu befriedigen, sodass es sinnlos erschien, noch
einen Horizont des Künftigen aufrecht zu erhalten. Das nachhaltige Selbst lebt den
größeren Lebensgenuss vor, dessen Voraussetzung die volle Entfaltung der
Sinnerfahrung ist, und wo Sinn ist, da ist auch Glück. Das nachhaltige Selbst zeigt sich
versöhnter mit dem Leben in seiner Polarität, mit all seinen „positiven“ und „negativen“
Seiten, und es pflegt eine geistige Haltung, die das Glücklichsein und Unglücklichsein
noch übergreift. Es bewahrt sich Inseln der Muße im selbst erzeugten Stress und
bedarf nicht ständig der Luxusgüter, über die zu verfügen oft nur den Eindruck in
Menschen eingräbt, dem wahren Lebensgenuss fern zu sein, das Leben nicht wirklich
zu leben, es „nicht zu spüren“. Die nachhaltige Lebenskunst vermag ein schönes und
bejahenswertes Leben zu realisieren, das auch in Anderen den Wunsch erweckt, das
Leben zu ändern und nachhaltig zu gestalten.
Wo das Glück der Fülle ist, stellt sich von selbst die Gelassenheit ein, die, wie das Wort
schon nahelegt, zugunsten eines gelegentlichen Lassens auf das ständige Machen und
Wollen verzichten kann, das für den Aktivismus des modernen Lebens typisch war.
Gelassen verhält das Individuum sich zur inneren Ökologie seiner selbst wie zur
äußeren Ökologie der Welt, indem es den vielen Zusammenhängen in sich und außer
sich Raum gibt und Zeit lässt, ihr gedeihliches Ineinanderwirken selbst zu finden, um
sich geduldig in sie einzufügen. Gelassenheit lässt sich so auch angesichts der vielen
„Krisen“ bewahren, die aus guten Gründen nicht enden wollen: Sie sind grundlegend
für das Leben, dessen Beständigkeit nun mal die Veränderung ist. Eine ultimative
Gelassenheit gilt aus diesen Gründen auch der ökologischen Krise: Alles spricht dafür,
dass die Natur insgesamt letzten Endes damit zurechtkommt, nur der Mensch
womöglich nicht. Wenn zu hören ist, der Mensch müsse „die Erde retten“, soll dies
eine selbstlose Großmütigkeit suggerieren, aber die ist nicht nötig, denn die Erde
wird auch ohne Menschen existieren können. In Wahrheit geht es also darum, sich
selbst zu retten, denn eine Zerstörung ökologischer Zusammenhänge trifft die
menschliche Existenz in ihrem Kern. Jetzt wird sich zeigen, ob der Mensch mit seiner
eigenen, kulturellen Evolution in der Lage ist, weiterhin an der Evolution der Natur
teilzuhaben. Und wenn nicht? Dann eben nicht.
Man muss nicht allzu optimistisch sein: Es werden auch hier wohl eher die
Schmerzen sein, die Orientierung vermitteln und dazu verhelfen, eine längere
Zeitdauer als die bloße Jetztzeit in den Blick zu bekommen. Dann aber wird dies die
Grundstrukturen der Moderne verändern, und darin besteht auch die neue Utopie,
die dem Einzelnen und der Gesellschaft ein Ziel vor Augen stellt, aus dem auf lange
Sicht Sinn zu gewinnen ist: Wir brauchen eine ökologische Revolution, und sie wird
kommen, je mehr die menschliche Einwirkung auf ökologische Zusammenhänge auf
den Menchen selbst zurückwirkt. Eine veränderte, andere Moderne wird aus den
Anstrengungen zu einer ökologischen Umgestaltung der Gesellschaft hervorgehen.
Wenn Moderne die Anstrengung war, alles möglich zu machen, was nur denkbar ist,
wird die andere, nachhaltige Moderne auf der Einsicht beruhen, dass nicht alles, was
möglich ist, auch wirklich werden muss. Viele Menschen werden die bewusste Wahl
treffen, wieder eine Bindung an die Natur einzugehen, ein Maß für den Umgang mit
ihr ausfindig zu machen, auch verzichten zu können und „Nein“ zu sagen, zum
Beispiel zu altmodernen Techniken der Energieerzeugung, deren Konsequenzen
langfristig nicht beherrschbar sind. Erhalten bleibt das moderne Engagement für
Veränderungen und Verbesserungen, alles andere würde das blinde Sichfügen in
beliebige Verhältnisse bedeuten. Die andere Moderne bedarf dafür aber keiner
Fixierung auf ideale Verhältnisse mehr, die nie zu erreichen sind. Und „Moderne“
wird nicht länger nur das exklusive Projekt der abendländischen Kultur sein, sondern
ein gemeinsames Projekt der entstehenden Weltgesellschaft. Die treibende Kraft
dafür können engagierte Individuen mit ihrer neuen Liebe zur Natur sein, die diese
Liebe als Bestandteil ihrer bewussten Lebensführung, ihrer Lebenskunst verstehen.
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