Heinz Bude : Die Ausgeschlossenen . Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft
Online-Publikation: Februar 2011 im Internet-Journal <<kultur-punkt.ch>>
Ereignis-, Ausstellungs-, AV- und Buchbesprechung
<< Heinz Bude : Die Ausgeschlossenen . Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft >>
144 Seiten; ISBN 978-3-423-34599-6; 8,90 [D] 9,20 [A] 13,90 [CH]
Deutscher Taschenbuch Verlag, München; www.dtv.de;
Inhalt
Dieses Buch macht deutlich, warum wir uns vom Traum von einer gerechten Gesellschaft verabschieden müssen. Immer mehr Menschen sind von den Segnungen des Wohlstands ausgeschlossen und haben keine Hoffnung, dass sich daran etwas ändert. Lebensläufe, die man für solide hielt, geraten ins Schlingern, weil Arbeitsplätze, die man sicher glaubte, wegbrechen. Ungelernte Aushilfskräfte kann es genauso treffen wie hoch qualifizierte Wissenschaftler. Jetzt ist es Zeit, darüber zu diskutieren, wie wir künftig leben wollen.
Autor
Heinz Bude, Jahrgang 1954, Dr. phil., studierte Soziologie, Philosophie und Psychologie, war ab 1992 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung tätig, leitete dort ab 1997 den Bereich »Die Gesellschaft der Bundesrepublik« und ist seit 2000 Inhaber des Lehrstuhls für Makrosoziologie an der Universität Kassel. Er lebt in Berlin. Zahlreiche Veröffentlichungen.
Fazit,
Heinz Bude analysiert präzise und wissenschaftlich untermauert, wie es um "Die Ausgeschlossenen" steht und um das aktuelle Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft was besonders heute 20-Jährige umtreibt : Sie sind perfect-performer mit Overhead-Folien statt in praxi erfolgreich zu starten.
Arbeitsplätze verschwinden rigoros, Unqualifizierte schaffen es wie Hochqualifizierte ausgeschlossen zu werden. Es ist eine paradigmatisches Diskursbuch zur aktuellen Situation. m+w.p11-2
Weiterer vertiefender Hinweis dazu:
SWR2 Leben - Wenn die Verunsicherung wächst . Eva Lauterbach im Gespräch mit dem Soziologen Heinz Bude über die neue Spaltung unserer Gesellschaft
http://www.swr.de/swr2/programm/sendungen/leben/-/id=7298362/property=download/nid=660174/180tpna/swr2-leben-20110128.pdf
Autorin: Eva Lauterbach
Redaktion: Rudolf Linßen
Sendung: Freitag, 05.06.09 um 10.05 Uhr in SWR2
Wiederholung: Freitag, 28.01.11 um 10.05 Uhr in SWR2
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen
Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
Literaturhinweis:
Heinz Bude
Die Ausgeschlossenen
Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft
Deutscher Taschenbuch Verlag 2010
Taschenbuch 144 Seiten für 8,90 Euro
ISBN 978-3-42334599-6
ÜBERBLICK
Eva Lauterbach im Gespräch mit dem Soziologen Heinz Bude über die neue Spaltung unserer Gesellschaft
"Es geht ein Riss quer durch die Gesellschaft", sagt der Soziologe Heinz Bude. "Die Frage ist nicht mehr, wer oben und wer unten, sondern wer drinnen und wer draußen ist." Draußen – das sind die Abgehängten und Überflüssigen und vom Arbeitsmarkt aussortierten. Was sie können, braucht keiner, was sie denken, schätzt keiner, und was sie fühlen, kümmert keinen. Treffen kann es inzwischen jeden: den Arzt und den Minijobber, den Banker und den Hartz IV-Aufstocker, die Verlagsleiterin und den Projektmitarbeiter. Welche Gefahren birgt die "Exklusion" und wie ist ihr zu begegnen?
Inhalt
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MANUSKRIPT
Eva Lauterbach:
Was der Soziologe Heinz Bude beobachtet ist alarmierend. Sie sprechen, Heinz
Bode, von der Spaltung der Gesellschaft, von einem immer tiefer werdenden Riss,
der uns auseinander dividiert, in Ungleiche, in drinnen und draußen, in Menschen,
die innerhalb der Gesellschaft einen Platz haben und eine Rolle spielen und in die
Herausgefallenen. Das sind die Menschen ohne Arbeit, mit sehr wenig Chancen, die
zusätzlich dann noch zu ihrem beruflichen Aus, sozusagen als Folge auch immer
weniger soziale Kontakte haben, also immer weniger Kontakte zu anderen
Menschen.
Nun gab es ja, und gibt es schon immer Ungleichheit und unsichtbare Zäune
zwischen gesellschaftlichen Gruppen, also der Industriearbeiter und der
Universitätsprofessor hatten noch nie viel, im Alltag, miteinander zu tun.
Was ist denn das Neue jetzt an Ihrer Beobachtung?
Heinz Bude:
In der Tat, soziale Ungleichheit hat es immer gegeben und wird es immer geben,
insbesondere die Unterschiede zwischen denen, die oben und die, die unten sind.
Man kann sich überhaupt gar keine Gesellschaft vorstellen, wo es nicht Leute gibt,
die mehr Macht haben als andere, wo es nicht Leute gibt, die mehr verdienen als
andere und wo es nicht Leute gibt, die mehr sozialen Einfluss haben als andere.
Aber es macht einen großen Unterschied, ob man in der Hierarchie des Oben und
Unten insgesamt das Gefühl hat, dass alle ihren Platz innerhalb der Gesellschaft
haben, auch diejenigen, die unten sind, oder ob wir es mit gesellschaftlichen
Entwicklungen zu tun haben, wo es sich für immer mehr Leute innerhalb der
Gesellschaft die panische Frage stellt, ob man eigentlich noch dazu gehört oder
durch gesellschaftliche Entwicklungen nicht droht herauszufallen. Und herauszufallen
heißt im Grunde seinen Ort innerhalb der Gesellschaft verliert.
Wir haben diese Entwicklung beispielsweise in Ostdeutschland. Da gibt es weite
Bereiche, besonders in Mecklenburg, in den ländlichen Gebieten Ostdeutschlands,
wo die Leute ein durchaus auskömmliches Einkommen haben, in der Regel über
Transfereinkommen, aber für sich selber ganz deutlich das Gefühl haben, abfragbar
das Gefühl haben, dass sie zu den Überflüssigen einer gesellschaftlichen
Entwicklung gehören. Und manche sogar geben es überhaupt auf eine Rolle in
unserer gemeinsamen Welt zu spielen.
Eva Lauterbach:
Wenn Sie sagen, also das Neue ist das Gefühl, das Menschen haben, dass es auf
sie nicht ankommt. Können Sie das noch ein bisschen genauer sagen? Worauf
speist sich dieses Gefühl? Wie sieht das aus? Wie kommt es dazu?
Heinz Bude:
Na ja, es ist ein bisschen eine komplizierte Sache. Es sind nämlich da
unterschiedliche Gruppen zu berücksichtigen. Es gibt eine Reihe von
Langzeitarbeitslosen, deren Pech ist, dass sie an einem bestimmten Profil der
Überqualifikation leiden.
Es gibt eine bestimmte Sorte des Mathematikers, der aufgefallen ist dadurch, dass er
einen gewissen querulantischen Geist immer an den Tag legt, bei der Kontaktnahme
beispielsweise mit dem örtlichen Jobcenter. Der gilt, wenn er nicht sehr höllisch
aufpasst, als nicht mehr vermittelbar. Der ist jemand, wo man sagt: Was will man
eigentlich mit dem? Das ist eigentlich eine auffällige Existenz geworden.
Wir haben viele solcher Schicksale, die durch die Transformation des
Wohlfahrtstaates, der gesagt hat: "Du hast nicht mehr auf die Arbeit zu warten, dass
die Arbeit zu dir kommt, sondern du hast zur Arbeit zu gehen", dass denen nicht
mehr zugetraut wird, dass sie eigentlich zu denen gehören, die überhaupt noch zur
Arbeit gehen können, auch wenn sie über ein sehr günstiges Bildungsprofil verfügen.
Also, worauf ich hinaus will ist, dass ein bisschen vornehm geredet, der soziale
Raum immer zwei Seiten, zwei Dimensionen hat. Es gibt die Dimension von oben
und unten und es gibt die Dimension von hinten und vorne. Und Sie können
durchaus in einer mittleren Position sein, und den Kontakt zu dem verlieren, was
angesagt ist, und Sie sind plötzlich bei denjenigen, die hinten stehen und hinten
rausfallen und im Grunde als Zurückbleibende eines sozialen Wandels übrig bleiben.
Denn das ist das eigentlich Dramatische, mit dem wir zu tun haben, dass Leute, die
für sich selber dachten, ihnen könnte doch nie irgendwas im Leben passieren, von
ihrer Herkunft, von ihrer Geschichte auch her, plötzlich sich in der Situation befinden,
dass wenn sie zu einem Geburtstag eingeladen werden, dass sie eigentlich die Idee
haben, dass die Geschichten, die ich zu erzählen habe, eigentlich Geschichten sind,
die nicht zu denen passen, die die anderen unter sich erzählen. Und man anfängt im
Grunde aus einer Art sozialen Scham heraus sich selber an den Rand zu stellen und
wirklich den Anschluss an die eigene Bezugsgruppe verliert und im Grunde in das
hineingerät, was man in einem sehr klassischen Begriff die soziale Einsamkeit
nennen könnte.
Eva Lauterbach:
Nun gab es, wenn wir mal zurückgucken, was früher anders war, vor 50 Jahren den
Begriff der nivellierenden Mittelstandsgesellschaft. Also damals sollte die Mitte oder
wuchs die Mitte von den Rändern her, soziale Klassen sind eingeebnet worden,
sollten eingeebnet werden und Ungleichheit gemildert. Das hieß also, dass die
Menschen, die oben waren, das Besitz- oder das Bildungsbürgertum Macht abgeben
sollte und die, die unten waren aufsteigen sollten und menschenähnliche materielle
Lebensbedingungen und gleiche politische Rechte haben sollten.
Was war damals anders?
Heinz Bude:
Ja, das ist ja das, was für die allermeisten Leute in der Nachkriegszeit die
Lebenswirklichkeit war, dass ihre Einkommen eine dramatische Zunahme hatte, die
Vervierfachung, die Verfünffachung von Einkommen innerhalb einer Generation, die
Zunahme von Bildungschancen durch die Bildungsexpansion, die erheblich war in
Deutschland. Und das Gefühl, in der Tat, dass unsere Gesellschaft sich immer mehr
um eine immer breiter werdende Mitte sich zentriert.
Das hieß nun überhaupt nicht - und das wäre ein falsches soziologisches Bild - dass
es nicht trotzdem noch Ungleichheiten innerhalb der Gesellschaft gegeben hätte.
Natürlich hat es sehr stabile Ungleichheiten in der Gesellschaft gegeben, die waren
aber den Leuten nicht mehr so wichtig.
Und es war insofern anders als die Allermeisten, die sich in einer kollektiven
Aufstiegsbewegung befanden, im Grunde im Takt der Geschichte, insgesamt sich
vorangearbeitet haben, dass das Vorankommen das große Thema für alle war und
nicht ein Thema war, wo man sagte das ist eine Chance, ein Privileg für bestimmte
Gruppen. Alle kommen mit, alle bekommen vom Kuchen etwas ab. Und wer nicht
Arbeit bekam, hatte zumindest eine Verliererkultur zur Verfügung, in dem er sein
Schicksal zum Ausdruck bringen konnte. Denken Sie mal an die große Tradition der
Sozialdemokratie, die immer auch eine auffangende Verliererkultur bereitstellen
konnte, mit der Botschaft: Wenn wir denn an die Macht kommen, werden wir
Verlierer zu Gewinnern machen.
Die Ikonen des Modells Deutschland waren eigentlich alle soziale Aufsteiger, bis hin
zu Gerhard Schröder. Etwas, was man sich in keiner europäischen, anderen
europäischen Gesellschaft vorstellen konnte, dass jemand, dessen Vater früh
gestorben ist und von Beruf war, Aufsteller auf einer Kirmes, dass der Sohn eines
Aufstellers in der Kirmes Bundeskanzler werden konnte, ist undenkbar in Frankreich,
undenkbar in Großbritannien. Bei uns ist es Wirklichkeit gewesen. Wir hatten auch,
mit Helmut Kohl, einen Bundeskanzler, der Sohn eines kleinen Beamten war.
Eva Lauterbach:
Jetzt haben wir von der vor 50 Jahren und später immer breiter werdenden
Mittelschicht gesprochen. Heute schrumpft diese Mitte. Was hat sich alles verändert?
Heinz Bude:
Das Problem ist nicht die Frage einer schrumpfenden Mitte. Das Problem vielmehr in
unserer Gesellschaft ist das einer irritierten Mitte, mit der wir zu tun haben,
insbesondere das Gefühl, dass weite Teile der gesellschaftlichen Mitte nicht mehr die
Sicherheit haben, dass sie den erreichten Sozialstatus der Familie in der
Generationenfolge werden sichern können. Das heißt, die Eltern haben das Gefühl,
die Kinder werden es nicht mehr so gut haben wie wir. Und die Kinder werden nicht
die Möglichkeiten haben ein Haus zu bauen, die wir noch hatten. Sie werden nicht
mehr die Möglichkeit haben einen Bildungsabschluss zu erwerben, der ihnen eine
berufliche Existenz sichert, die vergleichbar zu der der Mutter oder des Vaters ist.
Deshalb ist die Mitte bei uns in Irritation geraten. Das ist übrigens auch wiederum die
andere Seite der Pisa-Aufregung. Dass gerade die Mittelklassen unserer
Gesellschaft den Eindruck haben, dass ihre Kinder nicht mehr vom öffentlichen
Schulsystem profitieren. Dass man nämlich das Gefühl hat, nein, wenn man die
Kinder ins öffentliche Schulsystem schickt, erleiden sie eher, wie soll ich sagen, eine
sozialmoralische Ansteckung und sie können nicht die Bildungsvoraussetzungen
erwerben, die es mir ermöglichen weiter zu kommen. Und deshalb haben wir gerade
aus der Mitte unserer Gesellschaft eine desaströse Migration aus dem öffentlichen
Bildungssystem heraus zu studieren. Zu meiner großen Überraschung teilweise
Facharbeiter auf die Idee kommen ihre Kinder auf eine Privatschule zu schicken.
Eva Lauterbach:
Okay, jetzt bleiben wir aber noch mal bei dieser verunsicherten oder irritierten Mitte.
Vielleicht müsste man auch mal sagen, dass Arbeit an sich sich verändert hat.
Heinz Bude:
Sie haben absolut Recht, die industriellen Jobs in unserer Gesellschaft haben ein
immer anspruchsvolleres Profil. Der technische Fortschritt - wenn Sie beispielsweise
in den Vorzeigeindustrien in Deutschland beschäftigt sind, im Maschinenbau
beispielsweise oder auch in der Automobilindustrie, dann haben Sie mit sehr
komplizierten Arbeitsplätzen zu tun, die sehr viel Wissenselemente implizieren.
Selbst wenn Sie heute auf dem Bau beschäftigt sind, bei Hoch/Tief, dann werden Sie
nicht mehr nur einfach als Malocher da arbeiten können, sondern Sie müssen ein
Gefühl für die informationelle Durchorganisierung von Arbeitsabläufen haben.
Die Entwicklung ist also die, dass wir ein verstärktes Anforderungsprofil bei den
industriellen Arbeitsplätzen haben und gleichzeitig insofern eine Spaltung auf den
Arbeitsmärkten, insofern sich gleichzeitig ein Dienstleitungsproletariat entwickelt. Das
heißt, das Proletarische existiert nicht mehr in den industriellen Arbeitsplätzen, in der
Automobilindustrie, sondern bei den Backshops. Und dass wir da ein Auseinanderdividieren
haben, dass in den Backshops immer weniger verdient wird, bei
gleichzeitig körperlicher Anstrengung und Abhängigkeit von personalen
Herrschaftsverhältnissen, und die industriellen Arbeitsplätze eigentlich immer mehr
Voraussetzungen verlangen. Am Ende, wenn Sie beispielsweise in einem
Vorzeigebetrieb der Industrietechnik in Baden-Württemberg, da sagt Ihnen der
Einsteller: "Am liebsten nehmen wir Leute mit Abitur."
Und wir haben einen Effekt im deutschen Bildungssystem, der verheerend ist. Das ist
nämlich das immer dramatischere Schauen auf Zertifikate. Der Einsteller oder die
Einstellerin guckt sofort welchen Bildungsabschluss hat jemand und mit welchen
Zensuren bewirbt sich jemand. Und man vergisst eine der großen Stärken des
deutschen Wirtschaftswunders, waren die massenhaften Anlernkarrieren, die wir in
Deutschland hatten, in der Industrie für die Männer, bei den Bürojobs für die Frauen.
Eva Lauterbach:
Und das heißt, es wird also immer auf das, was vorangegangen ist, auf
vorangegangene Leistung geachtet und nicht darauf, ob ein Mensch
entwicklungsfähig ist, Ideen hat, also auf das, was vielleicht noch möglich ist?
Heinz Bude:
Also es gibt zwei Dinge, diese "Learning on the Job" wird immer mehr abhängig
gemacht von den Voraussetzungen, die jemand mitbringt, und man im Grunde nicht
fehlerfreundlich an Gruppen herangeht, die vielleicht auf den ersten Blick nicht so toll
aussehen, die möglicherweise sich aber über eine Zeit - und das zeigen alle
entsprechenden Studien - durchaus sich Kompetenzen erwerben können, in einem
Ausmaß wie man das vorher nicht sich hat vorstellen können.
Es gibt einen Rettungsanker für all diese Fragen, das ist die Demografie, die
Facharbeitermärkte sind leer gefegt, selbst große Firmen wie BMW, die
Weltmarktführer in Baden-Württemberg, sind nun drauf gekommen: wir müssen
vielleicht ein paar Jugendliche ohne so tolle Ausbildungsabschlüsse nehmen, weil wir
sonst überhaupt gar keine mehr finden.
Eva Lauterbach:
Sie haben immer wieder mal Kritik an Pisa geübt, was eigentlich nicht so üblich ist,
und zwar auch an den Testkategorien, also Sie sagen, die stellen auch die falschen
Fragen.
Heinz Bude:
Sagen wir es mal so, Pisa hat einen sehr perversen Effekt, nämlich dass diejenigen,
denen es sowieso schon nicht so gut geht, dass durch Pisa auch noch
nachgewiesen wird, dass sie eigentlich keine Chancen haben.
Also Pisa kann zeigen, dass diejenigen, die arm an Qualifikationen sind, an
Nachweisen, an Scheinen, auch noch arm an Kompetenzen sind.
Aber die Frage ist doch die - wenn ich’s etwas lustig sagen will - muss man eigentlich
wissen wie die Bundesversammlung zusammengesetzt wird, um einen guten Job in
einer Autoreparaturwerkstatt zu machen? Auch bei Pisa werden bestimmte
Kompetenzen abgefragt, die nach den Vorstellungen des Pisa-Konsortiums
notwendig sind, um in einer so genannten Wissensgesellschaft zu überleben.
Und es ist für mich als Soziologe relativ unklar, ob wir in allen Teilen unserer
Gesellschaft eine Wissensgesellschaft sind. Wir sind sicherlich eine High-Tech-
Gesellschaft in vielerlei Hinsicht, und wir sind aber auch gleichzeitig eine High-
Touch-Gesellschaft, das heißt, es gibt eine Menge von Arbeitsplätzen, die entstehen
in unserer Gesellschaft, die etwas mit Berührung zu tun haben, denken Sie etwa in
der Krankenpflege, denken Sie etwa in der Betreuung von Hochbetagten. Das sind
alles expandierende Bereiche in unserer Gesellschaft, wo man nicht sagen kann das
lässt sich alles in das Schema einer Wissensgesellschaft pressen. Und ich glaube
Pisa ist eigentlich völlig auf dem High-Tech-Ticket und vergisst eigentlich das High-
Touch-Ticket.
Eva Lauterbach:
Noch mal, Sie sagen der Absturz kann quasi überall passieren und Karriere ist heute
mehr eine Frage des einfallsreichen Selbstmanagements und wer ein guter
Marketingagent seiner selbst ist, kommt ganz gut voran, mehr als man auf die
Herkunft setzen kann. Also es kann durchaus sein, dass der Sohn des
Arztehepaares irgendwann seine Praxis schließen muss, oder dass der
Verlegersohn, dessen Eltern einen traditionsreichen Verlag hatten, diesen Verlag
entweder einer großen Gruppe verkaufen muss oder untergehen muss. Das ist das
Eine. Andererseits sagen Sie aber, dass sich Chancen und Risiken durchaus
entmischen, das heißt, dass die Wohlhabenden, die Qualifizierten, die in den
besseren Wohnvierteln wohnen, die entsprechende Beziehungen und
Auslandserfahrungen haben, dass die sozusagen - und da zitiere ich Sie -
lebenslang unanfechtbar sind. Während andererseits die Abgehängten von der
Gesellschaft, die Ausgeschlossenen, auf einer Abwärtsspirale sind und da auch
kaum wieder rauskommen. Wie passt denn das zusammen?
Heinz Bude:
Ich glaube, das ist in der Tat ein wichtiger Punkt. Wir haben ein Auseinanderdriften
im sozialen Milieu in unserer Gesellschaft zu konstertieren. Das hängt sehr mit den
Heirats- und Beziehungsmärkten zusammen. Früher heiratete der Chefarzt gerne die
Krankenschwester, heute heiratet der Chefarzt die Kollegin. Und die beiden haben
gleiche Bildungsvoraussetzungen und versuchen ihr Milieu auch abzuschirmen von
anderen, und versuchen ihre Kinder nun wiederum auch in ein Milieu zu bringen, was
auch wieder gleichartig ist. Und in der Tat, wir haben mittlerweile Bildungspfade
aufgebaut, wo die Kinder aus solchen Milieus, Arzt und Ärztin, gleiche
Voraussetzung, auch gar nicht mehr irgendwann auf Kinder treffen, die nicht ähnliche
soziokulturelle Voraussetzungen haben.
Und man könnte in der Tat fast - wie manche meiner Kollegen sagen - das Szenario
einer Brasilianisierung unserer Verhältnisse haben, wo wir geschlossene Milieus, die
sich auch in bestimmten Wohngebieten finden, haben, die zu anderen Milieus, die an
anderen Gebieten der Stadt sich befinden, überhaupt völlig den Kontakt verlieren.
Und zwar nicht aus irgendeiner Bösartigkeit, sondern weil sie überhaupt gar nicht
mehr die Idee haben, dass sie mit Leuten etwas zu tun haben könnten, die andere
Voraussetzungen, was die Bildung, was den Lebensstil, was die Konsumwünsche
betrifft, haben könnten.
Eva Lauterbach:
Wenn wir jetzt noch mal von den so genannten ausgeschlossenen oder von den
gefährdeten Milieus sprechen, da gibt es doch ganz bestimmte besonders
gefährdete Milieus.
Heinz Bude:
Also es gibt eine große Gruppe, die in Deutschland glaube ich auf Dauer zu den
Ausgeschlossenen gehören wird, das sind die Migrationsverlierer, die Gruppe der
Migrationsverlierer.
Die allermeisten Arbeitsmigranten in der Bundesrepublik sind Migrationsgewinner,
können auf eine zwei, drei Generationengeschichte des Vorankommens
zurückblicken. Die Migrationsgewinner wollen auch mit den Migrationsverlierern, aus
ihrem eigenen Milieu, nichts mehr zu tun haben.
Also Sie können das etwa daran studieren, dass wenn Sie sich etwa nach Berlin-
Kreuzberg begeben, gibt es die 22-Jährigen, die beide in dergleichen Straße, in der
Nonnenstraße geboren sind. Der eine hat einen Job bei der Telekom gefunden und
dem geht es jetzt besser. Und der andere ist irgendwo hängen geblieben. Derjenige,
dem es ein bisschen besser geht, der hat als erstes die Idee wegzuziehen, aus
Kreuzberg: "Ich will mein Kind in eine gute Schule schicken und nicht in eine Schule
in Kreuzberg."
Das heißt, die Beziehung zwischen denjenigen, die aus dergleichen Straße kommen,
die gleichen ethnischen Herkunftszusammenhang haben, wird im Grunde
dramatischer indem die miteinander nichts mehr zu tun haben wollen.
Die Migrationsverlierer, das ist eine Gruppe die, glaube ich, auf Dauer ein Problem
für den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft schafft. Eine andere Gruppe,
von der wir mit relativer Sicherheit sagen können, dass sie in die Altersarmut gehen
werden, ist eine Gruppe, die zum Teil über relativ günstige Voraussetzungen verfügt,
aber insbesondere von Mitte der 80er über die 90er Jahre heraus nur prekäre
Beschäftigungsverhältnisse hatten und im Grunde ihre Anwartschaften, was die
Altersversorgung betrifft, nur sehr reduziert aufbauen konnten. Das ist neu, hatten wir
in der Bundesrepublik und auch in der DDR bisher noch nicht.
Die große Entwicklung der Nachkriegszeit war das Zurückdrängen von massiven
Formen von Altersarmut. Wir werden das wieder haben, wir werden das in,
wahrscheinlich schon in 10 Jahren haben, eine Gruppe von Altersarmen, die relativ
günstige Bildungsvoraussetzung hat und trotzdem in Altersarmut sich befindet.
Und eine dritte Gruppe, die auch zu den Ausgeschlossenen gehören, aufgrund von
ganz einzigartigen Lebenserfahrungen, die noch viel zu wenig in Betracht geraten
sind, sind die Männer.
Bei all unseren Forschungen hat sich herausgefunden, dass Männer auf
Statusdegradierungen, in dem Beruf mit sehr viel größerer Verzweiflung reagieren
als Frauen. Und es gibt immer noch den Willy Loman-Typ, also "Tod eines
Handlungsreisenden", derjenige, der eine Statusdegradierung im Beruf erfährt und
im Grunde den Boden unter den Füßen verliert, was auch die familiären
Zusammenhänge betrifft und letztlich auch was institutionelle Voraussetzung betrifft.
Es gibt auch da wiederum Besserung. Es leuchtet wieder die Demografie am
Horizont. Immer mehr Betriebe sind heute, mit Recht, der Auffassung, man braucht
die älteren Arbeitnehmer, weil es die entsprechende nachwachsenden Generationen
nicht mehr so gibt. Und Zweitens, weil immer deutlicher wird, dass das, was an
Kompetenzen bei älteren Arbeitnehmern vorhanden ist, nicht so einfach durch
Jüngere zu substituieren.
Ein großer deutscher Automobilhersteller hat vor etwa 20 Jahren ein neues Werk
eingerichtet in dem ein neues Modell hergestellt werden sollte und man sagte da:
"Da müssen wir alles nur junge und dynamische Kräfte einstellen." Und dann hat
man irgendwann nach einiger Zeit herausgefunden, die werden ja alle gleichzeitig alt.
Und wie findet eigentlich die Übergabe von Kompetenzen innerhalb der
Arbeitsverzüge statt, wenn die alle gleichzeitig alt werden? Das heißt, der ältere
Arbeitnehmer ist nicht nur jemand, der zum alten Eisen gehört. Es ist eher so, dass
man bis ins Alter Chancen hat, aber gleichzeitig die Bedrohung natürlich für den
Einzelnen besteht, dass man lebenslang lernen muss.
Also die Idee des lebenslangen Lernens ist ja nicht nur eine Verheißung, es ist ja
auch eine Bedrohung, denn das heißt, Sie können nicht sagen mit 46: "Ach, ich weiß
wie hier die Kugel geschoben wird. Und ich kann’s mal ein bisschen ruhiger angehen
lassen." Mit dieser Idee, dass man sich immer weiterbilden soll, ist ja auch die
Bedrohung verbunden, dass man sagt: "Sagen Sie mal, Sie haben eigentlich nichts
mehr gemacht, um sich weiterzubilden. Wir müssen Sie durch jemand anderes
ersetzen."
Und das ist das, was Sie auch angesprochen haben, die Entkoppelung von Chancen
und Risiken. Wenn Sie eine Apotheke hatten, vor 20 Jahren, waren Sie eine
gemacht Frau oder ein gemachter Mann, heute kann man das nicht mehr sagen. Das
ist ein außerordentlicher dynamischer Markt. Und wenn Sie nicht aufpassen, gehören
Sie zu den Verlierern in diesem Geschäft und Sie werden aussortiert und stehen da
mit 300.000, 400.000 Euro Schulden und hatten eigentlich eine Apotheke und
konnten sich nicht vorstellen, dass Sie plötzlich zu den bemitleidenswerten
Mitgliedern unserer Gesellschaft gehören.
Eva Lauterbach:
Aber das ist ja kein Problem was sich mit Weiterbildung oder Fortbildung lösen lässt.
Heinz Bude:
Richtig. Genau, das ist kein Problem, das sich mit Weiterbildung lösen lässt, sondern
dann ist die Botschaft immer: "Ja, du musst etwas anderes an dir entdecken. Du bist
zwar immer Apotheker gewesen, aber du sollst dich jetzt umstellen, du sollst dein
Leben neu erfinden." Und wehe demjenigen, der sein Leben nicht so einfach neu
erfinden kann. Der gehört wirklich zu denjenigen, die man eigentlich als überzählig in
unserer Gesellschaft ansieht.
Eva Lauterbach:
Niemand ist prinzipiell sicher. Sie sind sozusagen ein Multitasker, also Sie haben
eine Professur in Kassel, Sie arbeiten im Hamburger Institut für Sozialforschung, Sie
schreiben Bücher, Sie schreiben Bestseller. Das heißt, Sie haben nie Angst vor
Absturz gehabt, oder ist das alles der Angst vor dem Absturz zu verdanken?
Heinz Bude:
Nee, ich habe nie Angst vor Absturz gehabt, weil ich aus der glücklichen gehorteten
Nachkriegszeit stamme. Als ich mein Soziologiestudium abgeschlossen hatte, mir
wurde gesagt: "Du musst sowieso Taxifahrer werden. Du hast eh keine Chance, mit
Soziologie. Wer interessiert sich schon für Soziologie?"
Da habe ich dann die Konsequenz draus gezogen, dass ich gar keinen Führerschein
mache, damit ich gar nicht erst in die Verlegenheit komme Taxifahrer zu werden.
Ich bin sozusagen einer derjenigen, der immer noch von dieser Grundüberzeugung
lebt, dass es im Grunde bergauf geht, aber gleichzeitig auch noch von dem Gefühl
von der Herkunft, von der geschichtlichen Lage geprägt ist, dass immer alles
schiefgehen kann.
Eva Lauterbach:
Was geben Sie denn von diesem Hintergrund Ihren Kindern mit?
Heinz Bude:
Relativ viel. Ich sag’s gerne, auch wenn ich Vorlesungen mache: "Lassen Sie sich
nichts erzählen über das, was die Lebenschancen betrifft. Trauen Sie sich zu dem,
was Sie können. Das ist das aller Wichtigste."
Im Übrigen ist die Kohorte, die Anfang 20-Jährigen, mit denen man heute zu tun hat,
die haben sehr viel bessere Voraussetzungen als noch die Generation von vor 20
Jahren. Die Berufsaussichten sind sehr, sehr günstig für die Anfang 20-Jährigen im
Augenblick, rein demografisch gesehen. Die Arbeit im mittleren Management, in den
Facharbeitermärkten, in dem Bereich der Wissenschaft, im Grunde warten alle auf
diese Generation. Das Interessante nur ist, die glauben das nicht, dass auf sie
gewartet wird. Die sind eher hektisch darauf bedacht da noch ein Praktikum zu
machen, dort noch sich eine Qualifikation zu erwerben, da noch einen Schein
vorweisen zu können. Sie sind im Grunde alle Perfekt-Performer, aber sie kümmern
sich nicht ruhig um ihre Kompetenzen. Und das kann dann wieder nach hinten
losgehen.
Das heißt, wir haben eigentlich an den Hochschulen, auf den Schulen mit einer
Generation von Anfang 20-Jährigen zu tun, die objektiv gesehen relativ gute
Chancen haben, aber subjektiv von einer großen Nervosität besetzt sind, unterstützt
von ihren Eltern, dass sie das Gefühl haben: wenn ich den falschen Partner mir
genommen habe, in einer falschen Stadt studiert habe und nicht die richtige Sprache
gelernt habe, dann kann plötzlich alles aus sein.
Eva Lauterbach:
Aber der Begriff von der Generation Praktikum, das heißt also von jungen Leuten, die
nicht über diese ein, zwei Jahre rauskommen und dann zurück zu ihren Eltern ziehen
müssen, das ist doch nicht erfunden.
Heinz Bude:
Was die Berufschancen betrifft ist es erfunden. Das ist eher das Gefühl, von diesen
Studierenden. Was die objektiven Chancen betrifft, stimmt es überhaupt nicht. Es hat
wahrscheinlich keine Generation in mittlerer Sicht gegeben, außer der
Nachkriegsgeneration natürlich, die es in mittlerer Sicht so günstig hat, wie die im
Augenblick, hier die Generation der 20-Jährigen.