I Zukunft ( Leggewie); II Aufklärung (Neiman); III Identitàtssuche (Grosser); V Polyphonie (Taureck); VI Islam (Amipur);

Europa I-VI: http://www.swr.de/swr2/wissen/-/id=661224/1muyzmy/index.html


I Zukunft ( Leggewie);
http://archiv.kultur-punkt.ch/akademie4/kooperation-swr2/swr2-caspary-leggewie-migration11-4.htm
II Aufklärung (Neiman);
http://archiv.kultur-punkt.ch/akademie4/pa4-12-8risikeniii-wirkkraft.2.aufklaerung%20(neiman%20,%20zillmann%20).htm
III Identitàtssuche (Grosser);
http://archiv.kultur-punkt.ch/akademie4/diskurs/europa-3iidentitaetssuche-grosser.htm
IV Anderssein (Strasser); 
http://archiv.kultur-punkt.ch/akademie4/diskurs/europa-4anderssein-strasser.htm
V Polyphonie (Taureck);
http://archiv.kultur-punkt.ch/akademie4/pa4-12-8risikeniii-wirkkraft.5.polyphonie%20(taureck).htm
VI Islam (Amipur); 
http://archiv.kultur-punkt.ch/akademie4/diskurs/europa-6islam-amipur.htm

SWR2 AULA im Gespräch – Ralf Caspary im Gespräch mit Professor Claus Leggewie: Wanderer zwischen den Welten . Die neue Form der Migration

http://www.swr.de/swr2/wissen/-/id=661224/1muyzmy/index.html
 Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
Sendung: Sonntag, 27. März 2011, 8.30 Uhr, SWR 2
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen
Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

ÜBERBLICK
Globalisierte Gesellschaften basieren auf permanenten Migrationsströmen, was erhebliche Konsequenzen für Gesellschaften haben kann, die darauf nicht richtig vorbereitet sind, die in mentaler, sozialer und kultureller Hinsicht noch immer auf nationalstaatlichen Konzepten basieren, die die Migranten lediglich als Fremdkörper definieren. Dabei gilt in globalen Zeiten: Der Mensch kann überall wohnen und seine Zelte aufschlagen, es sei denn, dass er in Gesellschaften, bei denen er anklopft, nicht willkommen ist. Claus Leggewie, Soziologe und Leiter des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen, zeigt, warum gerade Deutschland in Bezug auf die moderne Form der Migration noch viele Defizite aufweist.

Autor
Claus Leggewie ist Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung
Globale Umweltveränderungen, Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen
und Professor für Politikwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Er hat
das Zentrum für Medien und Interaktivität der Justus-Liebig-Universität Gießen
mitbegründet und lehrte an der New York University und der Université Paris-
Nanterre.
Bücher (Auswahl):
- (zus. mit Harald Welzer) Das Ende der Welt wie wir sie kannten: Klima, Zukunft und
die Chancen der Demokratie. Fischer Taschenbuch. Februar 2011.
- Der Kampf um die europäische Erinnerung: Ein Schlachtfeld wird besichtigt. Beck-
Verlag. Februar 2011.

INHALT
___________________________________________________________________
Ansage:
Mit dem Thema: „Wanderer zwischen den Welten – Die neue Form der Migration“.
Auf der einen Seite gibt es Menschen, die aus ihrer Heimat flüchten, und dafür gibt
es viele Gründe: Politische – siehe etwa Libyen oder Tunesien – es gibt ökologische
Gründe – siehe die Klimaflüchtlinge, andere flüchten vor der Armut, der
Arbeitslosigkeit. Also: Es gibt permanente Migrationsbewegungen. Auf der anderen
Seite gibt es gerade in Deutschland die Furcht vor den Fremden, den Einwanderern,
die sich nicht an die Leitkultur halten wollen. Über diese beiden Aspekte wollen wir
reden, und zwar mit dem Soziologen Professor Claus Leggewie, der Leiter des
Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen ist.
Frage:
Guten Morgen, Herr Leggewie. Bitte helfen Sie mir zunächst bei der Definition: Was
sind wir nun – Zuwanderungsland oder Einwanderungsland?
Leggewie:
Das hat man mal unterschieden, als Deutschland kein Einwanderungsland im
klassischen Sinn sein wollte, also ein Land, wo sich Menschen in größeren Gruppen
definitiv hinbegeben, um dort ihren neuen Lebensmittelpunkt zu haben. Wir hatten ja
die Vorstellung einer Gastarbeiter-Rotation: Man kommt, arbeitet ein paar Jahre hier,
geht wieder zurück. Das kann man als Zuwanderung deklarieren, weil es sich dabei
ja sehr viel stärker um einen Prozess handelt, wo etwas dazu kommt und wieder
etwas abfließt. De facto sind wir ein Einwanderungsland, weil schon die erste
Generation der sogenannten Gastarbeiter ihre Familien nachgeholt haben, sich hier
angesiedelt und ihren Lebensmittelpunkt aufgebaut haben, hier ihre Kinder haben
aufwachsen lassen, so dass wir also de facto eines der größten
Einwanderungsländer Europas sind.
Frage:
Die Migrationsdebatte ist belastet von Ängsten und Feindbildern, siehe zum Beispiel
die Sarrazin-Debatte. Wir fokussieren zumeist – so ist mein Eindruck – auf den
bedrohlichen Fremden, der zu uns kommt, in einer Parallelgesellschaft lebt, der sich
nicht integriert, der seine Kultur nicht abschüttelt, der vielleicht auch latent
gewaltbereit ist. Ist das in irgendeiner Weise berechtigt oder ist das Ausfluss einer
xenophoben Gesellschaft, die Angst hat vor Fremden?
Leggewie:
Man muss erst mal unterscheiden zwischen Ängsten, die diffus sind und sich auf ein
sehr unklares Objekt beziehen, und Befürchtungen, die man hat, die sehr konkret
sein können. Man kann die Frage nicht einfach beantworten. Es gibt hier das
Einerseits – Andererseits. Auf der einen Seite gibt es in unserer Gesellschaft und
auch dort, wo es kaum Einwanderer gibt, Xenophobie, also Fremdenfeindlichkeit,
Ausländerfeindlichkeit, nicht gegen alle Ausländer, sondern gegen bestimmte
Gruppen. Und da ist es vollständig egal, wie sich diese Menschen verhalten, wie sie
sich integrieren oder nicht – es gibt einen xenophoben Grundbestand in jeder
Gesellschaft, der liegt bei 10 bis 15 Prozent, wenn wir bestimmten Umfragen glauben
dürfen. Im Großen und Ganzen ist das etwas, was relativ unabhängig ist von der
Quantität und Qualität von Einwanderung. Sie können zum Beispiel feststellen, dass
in Deutschland ausländerfeindliche Befürchtungen in Sachen Migration oder
Ausländerfeindlichkeit besonders dort verbreitet sind, wo es kaum Einwanderer gibt.
Es gibt sie auch dort, wo sich Ausländer und Einwanderer in einer bestimmten Weise
konzentrieren. Man muss hier immer sehr genau unterscheiden. Es gibt in unserer
Gesellschaft auch Parallelgesellschaften. Die werden nicht nur von Einwanderern
bevölkert, sondern die werden zum Beispiel von Bankern bevölkert, von bestimmten
Eliten, die werden von Leuten bevölkert, die sich in sogenannten „gated
communities“, in abgeschlossenen Wohnbezirken, absperren, aus Angst vor
Einbruch usw. Parallelgesellschaften gibt es in jeder Gesellschaft massenhaft. Die
haben die positive Funktion: Man ist unter sich, man ist unter seinesgleichen. Das ist
das Club-Verhalten, was wir alle haben. Wir möchten ja nicht mit jedem in unserer
Gesellschaft umgehen, sondern mit Leuten unserer Wahl. Und genau dieses
Verhalten praktizieren dann auch Einwanderer oder Zuwanderer, die sich erst mal an
ihre ethnische, religiöse, dörfliche oder wie auch immer bekannte Gemeinschaft
halten. Die Frage ist, wie offen ist eine Einwanderer-Gemeinschaft, wie offen ist eine
Gesellschaft, um hier einen größeren Austausch durch tägliche Begegnung, durch
Freundschaften, durch Beziehungen aller Art aufzubauen. Insofern gibt es eine Figur
des bedrohlichen Fremden, der hinter allem steht. Das ist etwas, was sehr viele
Menschen spontan empfinden; wenn man sich in eine Gesellschaft begibt, wo man
niemanden kennt, dann fremdelt man, es gibt eine Neugier gegenüber denjenigen,
die gekommen sind, weil sie vielleicht etwas erzählen können, was die, mit denen
man sonst immer zusammen ist, einem nicht erzählen konnten. In
Einwanderungsgesellschaften gibt es spezifische Mischungsverhältnisse: Es gibt
Zonen, in denen interkulturelle Kontakte gelingen. Es gibt Zonen, in denen so etwas
wie vollständige Indifferenz besteht, also man nimmt sich einfach nicht wahr, man
lebt aneinander vorbei, was übrigens für eine urbane Gesellschaft ganz typisch und
auch nützlich ist. Und es gibt Zonen, in denen man sich tatsächlich fremd oder auch
feindlich gegenüber steht. Man muss das sehr genau untersuchen, über welche
Zone wir gerade reden.
Frage:
Sollte man die Immigrationsdebatte entlasten von solchen Ängsten?
Leggewie:
Ja, unbedingt. Angst ist immer ein schlechter Ratgeber. Nehmen wir mal an, Herr
Sarrazin hätte in vielen Punkten recht, da wäre es ganz falsch, jetzt mit Panik, Angst
und dieser schlechten Laune zu reagieren. Ich meine, man muss sich das vorstellen,
dass der Bestseller des Jahres 2010 heißt: „Deutschland schafft sich ab“. Das ist
doch die inkarnierte schlechte Laune. Ein Land, das gleichzeitig sagt, wir brauchen
aber massiv Zuwanderung von gut ausgebildeten Leuten, macht einen solchen Titel
zum Bestseller. Das steht ja dann auch im „Economist“, diejenigen Leute lesen das,
die hier arbeiten sollen, und die sehen, der Bestseller in Deutschland heißt
„Deutschland schafft sich ab". Mit anderen Worten: Angst, Panik, Befürchtungen in
diesem massiven Sinn, die ja auch sehr schlecht begründet sind bei Sarrazin, sind
auf jeden Fall ein schlechter Ratgeber. Nehmen wir einmal an, er hätte in vielen
Punkten recht, seine Beobachtungen würden zutreffen, wobei er kaum
Beobachtungen gemacht hatte, sondern mehr Zahlen interpretiert, dann wäre Angst
jetzt genau das falsche, sondern man müsste sich jetzt sehr rational überlegen, was
tun wir denn da. Und übrigens, in den Büchern, die wir Soziologen vor 20 oder gar 30
Jahren schon geschrieben haben, in denen wir für eine rationale Einwanderung
plädiert haben, stehen die Probleme, die Herr Sarrazin und anderer Kritiker jetzt
auflisten, alle drin, und zwar entweder als bereits erkannte Probleme einer
Einwanderungsgesellschaft, die sich aber nicht als eine solche versteht, oder aber
als Probleme, die kommen werden, wenn man keine aktive Integrationspolitik
betreibt.
Frage:
Das Neue ist bei Sarrazin ist der krude, genetisch fundierte Rassismus. Eine Frage
noch zu Sarrazin, dann möchte ich das gleich wieder beiseite schieben: Er hat ja
immerhin eins geschafft: Er hat das Buch sozusagen erden können mit gerade
diesen diffusen Ängsten, die in der Bevölkerung herrschen, denn sonst ist das doch
nicht zu erklären, dass das gerade ein Bestseller geworden ist. Die Leute haben
praktisch mit der Angst abgestimmt?
Leggewie:
Ja, und das tun wir ganz häufig. Wir wissen, in unserem Lande - um ein analoges
Beispiel zu nehmen, mit denen sie gerade auch in den elektronischen Medien sehr
gut punkten können - es ist klar, dass bestimmte Gewaltphänomene permanent
abnehmen. Aber in einer Kultur der Angst, die wir produzieren, die genährt wird
durch dramatische Berichte in den Medien, wird der Eindruck erweckt, Gewalttaten,
Missbrauchstatbestände würden permanent zunehmen. Das Gegenteil ist der Fall.
Und genau auf dieser falschen Wahrnehmung, basiert der Erfolg des Buchs von
Sarrazin.
Frage:
Sie haben eben die Figur des bedrohlich Fremden ins Feld geführt. Dieser
bedrohliche Fremde ist interessanterweise bei uns hauptsächlich der Muslim,
warum?
Leggewie:
Ja, das hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass in der Tat die deutsche
Gesellschaft, viele europäische Gesellschaften so etwas empfinden wie einen
Phantomschmerz. Wir definieren uns hier als eine christliche Gesellschaft oder
neuerdings als eine christlich-jüdische Gesellschaft, und zwar immer in Abgrenzung
zu anderen, zum Beispiel zu den Muslimen. Dabei ist schon eines Bemerkenswert:
die spontane Identität eines Menschen, der jetzt gerade –sagen wir- durch die
Fußgängerzone von Freiburg oder Essen geht, ist nicht die christliche. Je weiter sie
nach Osten und Norden kommen, desto weniger würde jemand sagen: ich bin bei
den vielen Identitäten, die ich so habe, als erstes Christ. Sondern man würde doch
alle möglichen anderen Identitätsmerkmale zuerst auflisten. In dem Moment, wo eine
fremde Religion, die auch sehr präsent ist, zum Beispiel durch das Kopftuch, zum
Beispiel durch Minarette, in dem Moment erinnert man sich plötzlich an seine
ursprüngliche historische kulturelle Identität und pocht plötzlich auf so etwas wie eine
christliche Identität, die keineswegs dadurch gedeckt wird, das die Menschen zum
Beispiel an Gottesdiensten teilnehmen, zum Beispiel ihre Kinder taufen lassen, zum
Beispiel ihre Kinder zum Konfirmationsunterricht bringen usw. Aber diese religiöse
Identität fungiert als ein Gegenentwurf gegenüber einer fremden Kultur, die wir als
sehr vital und deshalb als bedrohlich wahrnehmen. Genau das gilt gerade für unsere
christlichen Religionsgemeinschaften nicht mehr, wir nehmen sie gerade nicht als
vital wahr, deswegen nenne ich das einen Phantomschmerz.
Frage:
Kann man also sagen, dass die religiöse Identität immer ein Konstrukt ist, und zwar
ein relativ willkürliches?
Leggewie:
Ja, Soziologen reden permanent von der Konstruktion von Wirklichkeit. Wirklichkeit
stellt sich uns nicht so platt dar wie der Tisch, der vor uns steht und den wir anfassen
können. Wir sind permanent, gerade im interkulturellen Austausch, damit beschäftigt,
den anderen, unsere Umwelt zu konstruieren, uns ein bestimmtes Bild von ihr zu
machen. Und das ist sehr variabel, sehr subjektiv, es hängt von den Kontexten ab, in
denen wir uns befinden. Nun haben solche Konstrukte natürlich immer ein gewisses
reales Fundament. Es gibt den anderen, der einem gegenüber sitzt, er spricht eine
andere Sprache. Insofern ist es nicht ganz willkürlich, was wir da
zusammenkonstruieren. Aber in der Tat haben wir es eigentlich in Deutschland nicht
so sehr mit real begründeter Ausländerfeindlichkeit zu tun, sondern wir haben es mit
einer spezifischen Sorte von Fremdenfeindlichkeit zu tun, die sich jetzt sehr speziell
auf Muslime richtet. Das hat zweifelsohne auch damit zu tun, dass wir in einer Welt
leben, in der muslimische und christliche Kulturen in einem Konflikt stehen.
Frage:
Viele plädieren, gerade auch wegen der Ängste, über die wir geredet haben, zum
Beispiel für eine geregelte Migration. Wir haben es ja schon angesprochen: Wir
wollen die gut ausgebildeten, intelligenten, akademischen Menschen aus dem
Ausland haben, die dann vielleicht auch helfen, die demographischen Probleme in
den Griff zu bekommen. Ist das ein guter Ansatz?
Leggewie:
Das ist ein sehr rationaler Ansatz und genau das, worauf Einwanderung beruht. Es
gibt in Deutschland ein demographisches Problem, das betrifft den
Facharbeitermangel oder Mangel an hoch qualifizierten Menschen. Die haben wir
entweder selbst nicht ausgebildet oder wir haben zu wenig davon. In anderen
Ländern gibt es auf den Arbeitsmärkten, auf den Bildungsmärkten ein bestimmtes
Überangebot, und diese Menschen machen sich dann auf den Weg. Entweder weil
sie sich etwas vom Aufenthalt in unserem Land versprechen (pull factor), das kann
zum einen ein guter Job sein, das können zum anderen sozialstaatliche Leistungen
sein. Oder aber es gibt Faktoren in dem Auswanderungsland (push factor), die die
Menschen abstoßen: Armut, Krieg, es gibt auch Klimaflüchtlinge. Wenn man
versucht, solche globalen Wanderungsprozesse rational in den Griff zu bekommen,
dann wird man sich in der Tat Einwanderer genau aussuchen und fragen, wen man
im eigenen Land haben möchte. Man wird auf Qualifikation, Ausbildung,
Spracherwerb und dergleichen achten. Das ist völlig legitim und auch rational. Nur es
funktioniert nicht so, wie sich das das Sarrazin- und Brüderle-Bürgertum vorstellen:
Wir werben mal schnell welche an, die kommen dann hierher, leben hier und
arbeiten für unser Bruttosozialprodukt. So einfach ist das nicht. Die kanadische
Wirklichkeit, und ich nenne hier ein in vieler Hinsicht vorbildliches
Einwanderungsland, zeigt genau, dass man nicht sozusagen handverlesen Leute
aus dem Land X in das Land Y bringen kann. Auch in Kanada gibt es eine hohe Zahl
von nicht qualifizierten, von weniger integrierten, weniger integrationsbereiten
Menschen, zum Beispiel Chinesen oder Türken. Und bei diesen Gruppen, und das
ist eigentlich die Wirklichkeit einer Einwanderungsgesellschaft, müssen wir dann
gucken, dass wir über entsprechende Bildungsmaßnahmen deren Bildungsstandards
heben. Das haben wir nicht anders gemacht mit den Zuwanderern in der ersten
Generation in Deutschland. Das waren nämlich Flüchtlinge, Menschen, die aus dem
Osten kamen, Heimatvertriebene haben wir die genannt. Sie wurden aufgenommen,
dann in einen Bildungs-, Wohnungs-, Arbeitsmarkt integriert. Dasselbe haben wir
gemacht mit der ersten Gastarbeiter-Generation. Sarrazin und Co. tun so, als sei
unsere Integrationspolitik auf ganzer Breite gescheitert. Das ist ja gar nicht der Fall.
Die meisten Einwanderer in Deutschland haben sich wunderbar integriert.
Frage:
Bleiben wir kurz bei den gut ausgebildeten Migranten, die wir uns hier wünschen. Ist
für die eigentlich Deutschland attraktiv, gerade auch vor dem Hintergrund Ihrer
Erfahrungen, weil Sie ja auch oft zum Beispiel in den USA sind?
Leggewie:
Wir haben eine schwache Willkommens-Kultur. Wir haben zum Beispiel Angst vor
Parallelgesellschaften, vor ethnischen Nischen, in denen neue Einwanderer sich erst
mal ansiedeln, weil sie mit ihren Leuten, mit denen sie dieselbe Sprache und Kultur
teilen und teilweise auch Religion, zusammen sein wollen. Das ist ein wichtiger
Schritt für die Integration. Es ist nicht das pure Moslem-Sein, was Integration
scheitern lässt. Sie müssen sich doch einfach mal die hohe Zahl von iranischen
Ärzten oder anderen hoch qualifizierten Menschen in Deutschland ansehen, die seit
den fünfziger Jahren hierher gekommen sind, darunter sind auch Muslime und die
haben sich bestens integriert. Also man muss immer sehr genau die sozialen
Kontexte und Faktoren anschauen. In Deutschland gibt es, und ich habe ja schon auf
den Titel "Deutschland schafft sich ab" hingewiesen, diese schlechte Laune, diesen
Überschuss an Angst. Das schreckt ab. Wir sind mittlerweile kein
Einwanderungsland mehr, wir sind ein Auswanderungsland, weil niemand hierher
möchte und weil die qualifizierten Türkinnen und Türken, die wir haben, sich
mittlerweile auch überlegen, in die Türkei zu gehen, wo sie noch nie geliebt haben,
wo sie noch nie gearbeitet haben. Wir sind ein Land, das systematisch alles daran
setzt, entgegen unseren Erkenntnissen, Einwanderer abzuschrecken.
Frage:
Wie können wir die Einwanderer anziehen?
Leggewie:
Indem wir einfach mal aufhören, permanent nur von den Nachteilen von
Einwanderung zu reden. Wir sollten die Erfolgsgeschichten deutlich machen. Wir
reden ja, Helmut Kohl hat damit angefangen, von der "Einwanderung in unsere
Sozialsysteme". Es gibt in der Tat Einwanderer, die nichts anderes tun, als
Leistungen des Wohlfahrtsstaates in Anspruch zu nehmen. Aber ich kenne Dutzende
von Taxifahrern, die hochqualifizierte Abschlüsse Patente aus dem Sudan oder aus
einem asiatischen Land mitgebracht haben, die hier einfach nicht anerkannt werden.
Diese Leute fahren jetzt Taxi und hören dann zum Beispiel SWR 2 oder
Deutschlandradio Kultur. Da frage ich mich immer, was ist denn hier los. Das ist nur
eine kleine anekdotische Evidenz für das, was ich sagen möchte. Wir haben von den
kulturellen Strukturen her keine Willkommens-Kultur.
Frage:
Dabei ist doch eins klar, und ich frage das, weil Sie sich auch mit Globalisierung
auseinandersetzen: Die Globalisierung funktioniert ja nur aufgrund von ständigen
Migrantenströmen, richtig?
Leggewie:
Ja natürlich. Es gibt unglaublich viele Leute, die heute meinetwegen für die Firma
Siemens in China und übermorgen für die Firma RWE in Brasilien tätig sind. In den
globalen, transnationalen Arbeitsmärkten ist das normal, gerade für Hochqualifizierte.
Ich habe drei Jahre in den Vereinigten Staaten gearbeitet und bin deswegen noch
lange kein Auswanderer. Aber ich hätte natürlich auch dort bleiben können. Genau
so läuft das auf allen Ebenen der sozialen Hierarchie. Es gibt Armutswanderungen,
es gibt die Wanderungen von Hochqualifizierten, es gibt mittlerweile Millionen von
deutschen Pensionisten und Rentnern, die einen großen Teil des Jahres oder auch
das ganze Jahr zum Beispiel in Thailand, auf Mallorca oder in einem südlichen
Sonnengebiet verbringen, die sich dort eingekauft haben. Also Globalisierung heißt
transnationale Wanderung, aber nicht unbedingt permanente Ansiedelung, sondern
ein ständiges Hin und Her. Das ist etwas anderes als die Einwanderung Ende des
19., Anfang des 20. Jahrhunderts. Man ist heutzutage nicht von A gekommen und
hat nun seinen Lebensmittelpunkt in B, sondern man verbringt sein Leben sowohl in
A als auch in B, je nachdem, wie die verschiedenen Kontexte und Ressourcen nun
gerade sind. Wir haben die Schwierigkeit, uns sozusagen zurückzubeamen in eine
Zeit, in der es den Nationalstaat, also den Staat, der Grenzen errichten konnte, noch
nicht gab. Dieser Nationalstaat existiert erst seit dem 19. Jahrhundert. Vorher gab es
natürlich jede Menge von Migrationsströmen, ganz massive Völkerwanderungen.
Und auch heute ist es so. In den ärmsten Ländern der Welt gibt es die stärksten
Migrations- und Flüchtlingsströme. Insofern ist Globalisierung gleich Migration und
Migration gleich Globalisierung. Und der Nationalstaat mit seinen fixen Grenzen,
seinen Aufenthaltsrechten und Arbeitsgenehmigungen hat die Fiktion entstehen
lassen, als könne man Bevölkerungen in einem Territorium kasernieren, wie in einem
Container. Die finanzielle und wirtschaftliche Globalisierung ist ja nichts, was über
uns gekommen ist, sondern sie wurde von großen und mittelständischen
Unternehmen, auch von den Staaten selbst aktiv betrieben. Und nun stellt man voller
Erstaunen fest, „wir riefen Arbeitskräfte und es kamen Menschen“. Das ist ein
schöner Spruch von Max Frisch, der ist immer noch wahr.
Es versteht doch jeder, dass heute die Menschen zum Beispiel aus Bangladesch aus
klimatischen Gründen, die Menschen aus Pakistan aus klimatischen wie politischen
Gründen auswandern möchten. Aus dem Irak sind in den letzten Jahren
Hunderttausende aufgrund von Verfolgungstatbeständen, weil sie den Bürgerkrieg,
den Krieg nicht ausgehalten haben, ausgewandert. Wir haben es jetzt mit einer
neuen Situation zu tun, wir können die Erde nicht mehr einfach als einen Planeten
definieren, in dem jeder Nationalstaat gewissermaßen die Verfügung über sein
Territorium hat. Wenn es denn stimmt, dass über die Folgen eines Klimawandels
massenhafte Migrationsprozesse ausgelöst werden, dann können wir in Deutschland
nicht einfach sagen, naja, uns geht’s ja gut und wir machen die Grenzen dicht. Das
ist eine Herausforderung, die Innen- wie Außenpolitiker bei uns überhaupt noch nicht
richtig begriffen haben.
Frage:
Besteht das ganze Problem im Grunde darin, dass wir kulturell und mentalitätsmäßig
noch im Nationalstaatlichen verhaftet sind. So scheint es mir, wenn wir über
Zuwanderung und Migration reden?
Wanderer zwischen den Welten – Die neue Form der Migration
Gespräch mit Professor Claus Leggewie
So ist es. Ich glaube, Helmut Schmidt hat mal davon gesprochen, dass
Hunderttausende Anatolier auf ihren gepackten Koffern sitzen, wenn wir die Türkei in
die EU aufnähmen. Das ist sozusagen wieder das Angstbild. Und auf der anderen
Seite gibt es das Wunschbild, dass wir uns handverlesen Migranten rauspicken. Das
sind alles völlig unrealistische Bilder von Migration, die gerade deswegen
verwundern, weil sie von Leuten kommen, die ansonsten vollständig auf die
unsichtbare Hand des Marktes, das heißt auf die Selbstorganisation, die
Selbstregulation von Gesellschaften setzen. Natürlich spielt der Nationalstaat noch
eine Rolle. Natürlich kann eine Einwanderungspolitik am besten europäisch reguliert
werden. Es ist keine Frage, dass man nicht einfach die Tore öffnet und alle
Menschen hereinlässt, die hineinwollen. Es ist auf der anderen Seite aber auch eine
Illusion zu glauben, man könnte nur den aufnehmen, den man möchte, und den
anderen nicht. Da gibt es ein riesiges Missverständnis, als wäre Integration die
Bringschuld der Fremden. Integration ist die Aufgabe moderner Gesellschaften, mit
Einwanderern klar zu kommen. Demgegenüber ist Identität etwas, was man
aushandeln muss, was man als Einwanderer nicht als etwas Gegebenes,
Unveränderliches definiert, sondern das ist etwas, was sich immer erst in der
Anerkennung durch den anderen zu bewähren hat. Insofern ist jede Einwanderung
verbunden mit Kulturwandel, mit Aufgabe bestimmter Gewohnheiten, mit Aufgabe
bestimmter kultureller Vorstellungen.
Frage:
Ist damit auch eine Aufgabe althergebrachter Identitätsmuster verbunden? Wenn ja,
wie könnte Identität heute zusammengesetzt sein?
Leggewie:
Herr Caspary, Sie sind vermutlich irgendwo geboren, das heißt, Sie sind Lokalpatriot
in Bezug auf diesen Geburtsort. Ich bin zum Beispiel Kölner. Sie fühlen sich
wahrscheinlich, wenn Sie durch Europa reisen, als Europäer. Sie fühlen sich – nach
1989 darf man das mehr als früher – als Deutscher, Sie fühlen sich hin und wieder
als Weltbürger. Sie sind vielleicht Angehöriger einer Sekte, Mitglied eines Vereins,
Sie sind vielleicht Taubenzüchter – Sie sind alles Mögliche. Und was man lernen
muss in modernen Gesellschaften ist, dass wir viele multiple Identitäten haben. Und
sobald wir beginnen – das ist die große Herausforderung –, bei uns oder bei anderen
ein einziges Identitätsmerkmal zu privilegieren, dann bekommen wir Probleme.
Frage:
Aber besteht die Gefahr Ihrer These nicht darin, dass wir in einen Relativismus
hineinkommen und alles für gleichberechtigt halten? Wenn man sich Identität
beliebig zusammenbasteln kann, wohin führt das?
Leggewie:
De facto ist das so. Biografische Muster sind immer ein bisschen zusammengesetzt
aus diesem und jenem. Ich stelle mir Menschen, die nur eine Identität haben, als
unendlich langweilig vor. Wenn jemand nur Briefmarkensammler ist, dann ist der
hochkompetent im Briefmarkensammeln, aber er ist sonst relativ uninteressant für
mich, und er ist auch sich selbst vermutlich zu wenig. Das war jetzt ein absurdes
Beispiel, was ich genommen habe, aber wir basteln alle an unseren Identitäten. Das
heißt nicht, dass es nicht bestimmte Identitätskerne gibt. Und das heißt auch nicht,
dass wir nicht fremdeln dürfen. Toleranz wird in unserer Gesellschaft missverstanden
als: ich nehme alles hin, was mir begegnet. Toleranz ist, etwas zu akzeptieren, mit
dem ich gerade nicht zurechtkomme. Das heißt, ich muss zum Beispiel einen
Moslem, den ich aus religiösen Gründen oder aus einer bestimmten säkularen
atheistischen Position heraus nicht akzeptiere, trotzdem dulden. Er genießt volle
Religionsfreiheit, obwohl ich das, was in dieser Religion vielleicht enthalten ist, nicht
teile. Wo wir im Grunde genommen heute stehen, ist nicht ein Einfronten-Kampf für
oder gegen Eiwanderung, sondern es ist ein Zweifronten-Kampf: auf der einen Seite
für die vollständige Gewährleistung von Religions- und Meinungsfreiheit in
multikulturellen und multireligiösen Gesellschaften; und auf der anderen Seite
natürlich dass wir darauf achten, dass wir offen aussprechen, wenn etwa eine
bestimmte muslimische Kultur Elemente enthält, die wir nicht tolerieren wollen, etwa
wenn Frauen unterdrückt werden.
Frage:
Sie können jetzt für eine Minute eine neue Identität annehmen, Sie bestimmen als
Innenminister in Deutschland die Zuwanderungspolitik. Wie würde die unter Herrn
Leggewie aussehen?
Leggewie:
Ich würde mich sehr stark an dem kanadischen Punktesystem orientieren, das offen
genug ist für die familiäre Zuwanderung, was auch ein Reservoir übrig hält von
Leuten, die sich überhaupt er in der Einwanderungsgesellschaft selbst zu
Qualifikation entwickeln können. Also eine realistische Politik. Ich würde die
Willkommenskultur vor allem auf der lokalen Ebene erhöhen, ich würde sehr viel
mehr Beispiele propagieren für die Erfolgsgeschichten von Migration, und ich würde
gegenüber denen, die man mit gutem Recht als Integrationsverweigerer bezeichnen
könnte, ziemlich deutlich machen, dass das etwas ist, was in unserem Land nicht
erwünscht ist.
Caspary:
Ich danke Ihnen für das Gespräch.
*****

III Identitàtssuche (Grosser)

http://www.swr.de/swr2/wissen/-/id=661224/1muyzmy/index.htm

Themendiskurs : Die Zukunft Europas (1/6)
INHALTSFOLGE
1 Zukunft ( Leggewie)
2 Aufklärung (Neiman
3 Identitàtssuche (Grosser)
4 Anderssein (Strasser)
5 Polyphonie (Taureck)
6 Islam (Amipur)

3
SWR2 AULA - Alfred Grosser: Sinnstiftung erwünscht – die Suche nach Identität . Die Zukunft Europas (3/6)
(Zusammenfassung eines frei gesprochenen Vortrags)
Autor: Professor Alfred Grosser *
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
Sendung: Sonntag, 9. April 2012, 8.30 Uhr, SWR 2
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen
Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

* Zum Autor:
Alfred Grosser ist 1925 in Frankfurt am Main geboren. Seine Familie emigrierte 1933 nach Frankreich, wo ihm 1937 die französische Staatsbürgerschaft verliehen wurde. Er studierte Politikwissenschaft und Germanistik und hatte einen Lehrstuhl am Pariser Institut d´études politiques. Ab 1965 war Alfred Grosser Mitarbeiter zahlreicher Fernsehanstalten und Zeitung. Er gilt als herausragender Intellektueller Frankreichs und setzt sich seit der Nachkriegszeit für die deutsch-französischen Beziehungen ein. Seine Thesen, insbesondere zum Thema „Israelpolitik“, sorgen immer wieder für Kontroversen.
Bücher (Auswahl):
- Die Freude und der Tod: Eine Lebensbilanz. Rowohlt. 211.
- Von Auschwitz nach Jerusalem: Über Deutschland und Israel. Rowohlt. 2. Auflage, 2009.
*****
ÜBERBLICK
Was ist Europa eigentlich genau? Eine Kultur- und Wertgemeinschaft, eine Eurozone, die sich hauptsächlich über ökonomische Aspekte definiert, oder lediglich eine schöne Fiktion, die mit ebenso schönen Worten regelmäßig beworben wird? Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat dem Euroskeptizismus neuen Auftrieb verliehen, es scheint, dass die Krise offenbar werden lässt, wie fragil Europa ist. Professor Alfred Grosser, Publizist und Politikwissenschaftler, zeigt, warum Europa trotz seiner Krisen zukunftsfähig ist.

ÜBERBLICK
Wie sieht ein zukünftiges Europa aus? Auf welchen Werten, auf welchen politischen Strukturen basiert es? Wie sieht die zukünftige kulturelle Identität aus, welche Rolle spielt das Christentum, welche der Islam? Wie kann sich ein zukünftiges Europa innerhalb der Weltgemeinschaft positionieren? In einer sechsteiligen Aula-Reihe werden verschiedene Facetten der Zukunft Europas skizziert.
Europa scheint die Luft ausgegangen zu sein, gerade jetzt in der Krise, wo es brenzlig geworden ist. Je mehr die Politiker die angebliche Einheit und Solidarität Europas beschwören, je mehr sie die Parole "Gemeinsam meistern wir die Krise" in ihren Reden bemühen, desto deutlicher wird: Europa ist immer noch eine Vision, eine Fiktion, so eine Art Wärmflasche für alle intellektuellen Gutmenschen, die von der Auflösung des Nationalstaats und von Multikulti träumten.
Die Bürger der betreffenden Staaten haben sich jedenfalls schon entschieden: Sie sind mehrheitlich europaskeptisch eingestellt und misstrauen den Bürokraten in Brüssel ebenso wie den aus ihrer Sicht schwerfälligen ineffizienten politischen Institutionen. Dabei hat die Finanz- und Wirtschaftskrise zumindest eine Erfahrung im kollektiven Bewusstsein fest verankert: Es gibt in der Tat keine nationalen Alleingänge mehr, weil alles mit allem irgendwie auf sehr komplexe Weise zusammenhängt: schwächelt hier eine Volkswirtschaft, wird gleich die gesamte Gemeinschaft in Mitleidenschaft gezogen.
Deshalb sind gerade jetzt die Fragen aktuell: Was ist eigentlich dieses Europa, wie sieht seine Zukunft aus, auf welche sinnstiftenden kulturellen Elemente kann es sich berufen? Wie kann es mehr werden als eine Euro-Union, die mit Rettungsschirmen, Notpaketen versucht zu überleben und fortwährend Appelle an solche egoistischen Staaten adressiert, die sich in die Gemeinschaft hineingeschmuggelt haben und am liebsten mit Udo Lindenberg sagen: "Ich mach mein Ding"?
Antworten gibt die sechsteilige AULA-Reihe, in der Wissenschaftler aus den verschiedensten Bereichen zeigen, dass die europäischen Intellektuellen keineswegs ideenlos sind und in einer gedanklichen Schockstarre verharren, weil sie auf den Untergang des Traumschiffs Europa warten: Die amerikanische Philosophin Susan Neiman etwa zeigt, warum Europa ein neues Zeitalter der Aufklärung braucht, eine Rückbesinnung auf moralische Werte; ergänzend dazu fragt der Publizist und Politikwissenschaftler Alfred Grosser ebenfalls nach verbindlichen Normen, die einer blassen Staatengemeinschaft scharfe Konturen geben könnte. Und Claus Leggewie, Leiter des Kulturwissenschaftlichen Zentrums in Essen, reflektiert über die Stellung und Bedeutung eines zukünftigen Europas in der Welt.

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INHALT
Ansage:
Mit dem Thema: „Sinnstiftung erwünscht – die Suche nach Identität“.
Im dritten Teil der Europa-Reihe geht es nochmals um die Frage, auf welche universellen Werte sich ein zukünftiges Europa berufen könnte, doch auf das Christentum, auf den Islam? Oder in erster Linie – wie gestern Susan Neiman sagte – auf die philosophische Tradition der Aufklärung?
Der deutsch-französische Politikwissenschaftler Professor Alfred Grosser beantwortet die Frage vor dem Hintergrund persönlicher Erlebnisse, für ihn sind wichtig: Die Überwindung des Nationalsozialismus und Nationalismus, die Herausbildung freier demokratischer Strukturen.
Alfred Grosser:
Das Thema lautet: Europa und seine zukünftige Identität. Dabei muss ich sagen, ich bin Politologe. Das ist jemand, der im Rückblick die Vergangenheit analysiert. Also werde ich nicht zu viel von der Zukunft sprechen; allerdings habe ich doch eine Hoffnung und die deckt sich mit dem Satz von Joachim Gauck, der 1997 bei der Evangelischen Akademien in Thüringen richtig gesagt hat: „Hier wird nüchtern davor gewarnt, das Ausbleiben der politischen Paradiese für einen Beweis der Abwesenheit wirklicher Demokratie zu halten. Wir wissen nach der Diktatur, dass das weniger Schlechte in der Politik ein hoher Wert ist.“ Das ist auch meine Hoffnung.
Joachim Gauck hat in seinen Antrittsreden immer wieder zwei Wörter gebraucht, die ich aufnehmen möchte im Sinne der Frage nach der zukünftigen Identität. Das sind die Worte „Freiheit“ und „Verantwortung“. Was Verantwortung als Grundlage einer europäischen Identität bedeutet, ist zuerst im Juli 1944, vor Kriegsende, in Genf bewiesen worden. Da kamen die Vertreter aus allen europäischen Widerstandsbewegungen, aus Jugoslawien, Frankreich, Belgien und aus Deutschland zusammen und forderten, dass nach dem Krieg Deutschland ein Teil eines vereinten Europa sein sollte, damit die Deutschen eine Zukunft hätten. Das nennt man Sinn für Verantwortung.
Im August 1944 war ich mit falschen Papieren in Marseille und hörte in der BBC, dass wahrscheinlich – und das hat sich nachher bestätigt – ein Teil meiner Familie von Theresienstadt nach Auschwitz transportiert worden war, um dort sterben zu müssen. Am nächsten Tag war ich mir über zwei Dinge im Klaren: Erstens, es gibt keine Kollektivschuld, so zahlreich auch die Verbrecher und Verbrechen sein mögen. Zweitens: Es gibt eine Verantwortung für die Zukunft Deutschlands im Namen aller Opfer und aller Nachfahren der Opfer. 1947 kam ich zum ersten Mal wieder nach Deutschland, nach Frankfurt am Main, das mein Vater, ein jüdischer Arzt, 1933 verlassen hatte. In Frankfurt traf ich auf den damaligen Bürgermeister Walter Kolb. Kolb war in Buchenwald inhaftiert gewesen. Das war für mich wieder ein Beweis dafür, dass es keine Kollektivschuld, wohl aber eine gemeinsame Verantwortung gibt: von ihm, Walter Kolb, und von mir,aus Frankreich, gab es die Verantwortung, der deutschen Jugend eine demokratische und freiheitliche Zukunft zu sichern.
Später lernte ich einen Satz von Hans Scholl kennen. Er schrieb einem Freund, kurz bevor er verhaftet, verurteilt und getötet worden ist: „Ich kann nicht abseits stehen, abseits ist kein Glück.“ Das ist für mich ein hoher Wert: nicht abseits stehen, Verantwortung tragen.
Ich komme zur Freiheit. Seit wann gibt es in Deutschland wieder Freiheit? Heute noch sieht man nicht ein, was 1949 genau passiert ist. Es sind zwei Staaten entstanden: die Bundesrepublik und die DDR. Beide waren legitim, wenn man von der Situation von 1945 ausgeht. Die Alliierten haben die Souveränität an sich gerissen. Wichtig war, dass die Bundesrepublik aufgebaut war auf dem Prinzip der Freiheit – und die DDR nicht.
Daran erinnerte 1988 unser Präsident François Mitterand. Er empfing Erich Honecker im Elysée-Palast, und in seiner Tischrede würdigte er den Widerstand, den Honecker gegen das Nazi-Regime geleistet hatte. Er sagte, damals stritten wir alle für die Freiheit an, aber seit Ende des Krieges haben wir nur im Westen die freiheitliche Demokratie beibehalten. Und man könne sich nicht vorstellen, dass es ein Europa gebe ohne die Freiheit. Das war eine Antwort von François Mitterand auf alle bundesdeutschen Versuche, vor allen Dingen von Seiten der evangelischen Kirche und der SPD, die Türen gen Osten zu öffnen und den Wert der Freiheit nicht so stark mehr zu berücksichtigen.
1990 kam die deutsch-deutsche Einheit. Willy Brandt erklärte im Dezember 1990 in seiner vielleicht schönsten Rede -er war damals Alterspräsident des ersten vereinten Deutschen Bundestags-, dass Männer wie Jean Monnet dadurch, dass sie Europa geschaffen hätten, Vorreiter der deutschen Einheit gewesen seien. Denn diese Einheit sei vollzogen worden im Namen der Freiheit. Warum haben François Mitterand, Helmut Kohl und Jacques Delors aus Brüssel mitgewirkt, die Freiheit in einem vereinten Deutschland herzustellen? Weil die Einheit Deutschlands in den Augen von Jacques Delors zugleich die erste Erweiterung des freien Europas bis an die polnische Grenze war. In diesem Sinne wurde der neue Teil Deutschlands eingegliedert in die schon bestehende Europäische Union.
Oft wird gesagt - und ich kann das zwar verstehen, finde es aber trotzdem falsch-, durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag sei Deutschland absolut souverän. In diesem Vertrag steht ja, das vereinte Deutschland hat volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten. Aber dieser Text galt nur für ein Deutschland, das von den Alliierten beherrscht worden war. Als diese Herrschaft vorüber war, war die Souveränität Deutschlands wieder hergestellt. Zugleich ging es um eine Souveränität, die nicht größer war als die von Frankreich, Belgien oder Italien. Alle diese Länder hatten eine begrenzte Souveränität im Namen der Freiheit.
Der Einheitsvertrag, der bereits vor dem Zwei-plus-Vier-Vertrag unterschrieben wurde, sagt ganz klar in Artikel 10: Das Gesamteuroparecht gilt für das erweiterte Deutschland. Er verpflichtete alle neuen Länder, alle europäischen Bestimmungen zu befolgen. Im Jahr 2004 ist dann geschehen, was bereits viele Jahre zuvor, nämlich 1963, vom französischen Politiker Robert Schumann prophezeit wurde. Er sagte: „Wir kämpfen ja nicht nur für unser Europa der Freiheit. Am Tag, an dem die heute unterdrückten Länder frei sei werden, sollen sie zu uns kommen. Denn sie haben das
Recht darauf, ihre Aufnahme zu erreichen.“ Im Jahr 2004 sind Polen und die Tschechische Republik frei geworden, genau deshalb durften sie Mitglied der Europäischen Union werden.
Natürlich bleiben Fragen, wie zum Beispiel diese: Warum gehört Malta zu Europa? Warum gehört Zypern zu Europa? Und heute kann man sich natürlich auch fragen, warum die Proteste gegen Ungarn nicht heftiger sind, gegen das Budapest von heute, das wirklich eine ganze Reihe von Grundfreiheiten verneint. Dieses Ungarn sollte nicht aus der EU ausgeschlossen werden, aber es sollte ganz energisch gerügt werden. Es basiert eben nicht voll und ganz auf Freiheit.
Welche Identität hat nun eigentlich dieses Europa? In allen Verträgen der letzten 20 Jahre steht sinngemäß „Jeder Bürger, der einem Staat Europas angehört, ist ein europäischer Bürger“. Das wird im Allgemeinen von den Bürgern nicht anerkannt. Die meisten Leute fühlen sich nämlich gar nicht als europäische Bürger. Warum? Wie empfindet eigentlich jeder Einzelne seine Identität? Das ist eine schwierige Frage. Ich glaube, der Begriff „Heimat“ gilt vielen Menschen mehr als der Begriff „Nation“. Nehmen wir das Beispiel Belgien. Gibt es überhaupt noch ein Belgien? Dem Land droht permanent die Teilung. Oder Schottland: Schottland ist dabei, unabhängig zu werden. Katalonien ist noch ein Teil Spaniens, aber es wird immer unabhängiger. Und das ehemalige Jugoslawien ist gespalten in so viele Staaten, dass man sie kaum zählen kann: Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Serbien, Montenegro, Kosovo, Mazedonien usw. Wo fühlt man sich da zuhause? Was empfindet man als sein Zuhause?
Hier muss eine Randbemerkung gemacht werden über Deutschland: Denn Deutschland ist das einzige Land in Europa, das nicht aufgebaut worden ist auf dem Begriff der „Nation“, sondern auf einer bestimmten politischen Ethik: Die politische Ethik der Ablehnung des Nationalsozialismus und des Stalinismus.
Nun gibt es aber innerhalb der verschiedenen Nationen Europas ununterbrochen Schwierigkeiten, eine bestimmte kulturelle, politische Identität zu erlangen. Zum Beispiel in Frankreich lebende Armenier. Das sind Franzosen mit armenischem Ursprung bzw. mit armenischem Hintergrund, wie man in Deutschland sagen würde. Sie identifizieren sich aber sehr mit ihrer armenischen Geschichte. Da ich viel über das Schicksal der Armenier geschrieben habe, wurde ich einmal vom Pariser Bürgermeister zu einer Gedenkveranstaltung eingeladen, es ging um das Gedenken an das Massaker an den Armeniern. Und der Oberbürgermeister sagte völlig zu Recht: „Wir trauern heute um den armenischen Teil des Pariser Volkes. An einem anderen Ort, an einem anderen Tag gedenken wir anderer Opfer, zum Beispiel der jüdischen Opfer.“ Es ging und geht darum, auch solche Gruppen wie die Armenier in die französische Gesellschaft zu integrieren und das Leid, das ihnen zugefügt worden ist, zu berücksichtigen.
Wie ist es denn in Deutschland? Es gibt ein Problem mit den jüdischen Teilen der Nation. Ignatz Bubis wurde von Roman Herzog zu seinem 70. Geburtstag beglückwünscht als Deutscher jüdischen Glaubens. So hat Ignatz Bubis auch seine Lebenserinnerungen betitelt: „Ein Deutscher jüdischen Glaubens“. Als Deutscher
jüdischen Glaubens hatte sich auch mein Vater definiert, bevor er überall ausgestoßen wurde. Aber ist das wirklich die Wahrheit auch für die Gegenwart?
Die Antworten sind unterschiedlich. Der Zentralverband der Juden in Deutschland heißt „Juden in Deutschland“, so als seien sie nicht jüdische Deutsche. Als ich mein Buch „Von Auschwitz nach Jerusalem: Über Deutschland und Israel“ fertig hatte, wollte der Verlag, dass ich schreibe, ich sei als deutscher Jude geboren. Ich habe das geändert und geschrieben: Ich bin als jüdischer Deutscher geboren. Ein guter Teil der jüdischen Organisationen definiert sich ganz anders, eher als israelfreundlich, so dass man dann aus gewisser Perspektive jede Kritik an Israel als Antisemitismus deuten kann.
Ich komme nochmals auf Gauck zurück: Er hat eine sehr schöne Laudatio gesprochen und zitierte dabei auf Englisch einen Spruch des 19. Jahrhunderts: „Right or wrong – my country. If it is right let us keep it right, if it is wrong, let us make it right.“ Das heißt, wenn mein Land unrecht hat, lasst es uns auf den rechten Weg bringen. Und der Altbundeskanzler Helmut Schmidt sagte in seinem Gespräch mit dem Historiker Fritz Stern, er könne nicht verstehen, dass es ständig heißt „Right or wrong – my Israel“. Das finde ich wichtig, denn nur so kann man nachvollziehen, was mich zum Beispiel an Deutschland so stört: Man will nicht das einsehen, was am 2. Februar 2005 Bundespräsident Köhler vor der Knesset gesagt hat: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Diese Lehre aus den nationalsozialistischen Verbrechen haben die Väter unseres Grundgesetzes im ersten Artikel unserer Verfassung festgeschrieben. Die Würde des Menschen zu schützen und zu achten ist ein Auftrag an alle Deutsche. Dazu gehört, zu jeder Zeit und an jedem Ort für die Menschenwürde einzutreten. Daran will sich die deutsche Politik messen lassen.“ Ich dachte, er sprach von den Palästinensern. Aber keineswegs. Und doch sollte es für die Palästinenser gelten, denen es ja immer schlechter geht, sie haben zum Beispiel immer weniger Wasser, weil die Quellen von den israelischen Siedlern besetzt, eigentlich beschlagnahmt werden.
Bei all diesen Problemen, die ich eben angeschnitten habe, geht es immer wieder um die Frage: Wie sieht der kulturelle Kern aus, auf den sich alle Kulturen beziehen könnten? Ich habe keine eindeutige Antwort darauf.
Nun habe ich eigentlich in erster Linie von den Nationen gesprochen, von den Gruppen wie Flamen, Schotten, Katalonier, Juden etc. In Wirklichkeit ist ja jedes Land auch geteilt in oben und unten, Arm und Reich. Vor vielen Jahren, Anfang 1933, schrieb Klaus Mann ein kleines Gedicht: Liechtenstein Woanders: Zähneklappern und Geschlotter - Doch auf der Alm da gibt' s kei Sünd, Weil hier doch ALLE Hinterzieher sind. - Und dort, der Blühendste, das ist mein Rotter. Man soll nichts Böses über's Ländle sagen! Wenn es auch nicht sehr groß ist, sondern klein. Es hat doch einen großen, guten Magen. Da geht was rein.
Wo mag das sein? In meinem Liechten – meinem Liechtenstein. In Unschuld sprießen, wachsen, blühen Dort Unternehmen ohne Zahl. Und der Profit ist kolossal. Das geht ganz ohne Schweiß und Mühen.
Das ist heute in Deutschland nicht anders, es gibt viele Reiche und es gibt Armut und Millionen Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben. Der neue Vorstandschef von Volkswagen bekommt 16,6 Millionen Euro Gehalt im Jahr. Und dann haben viele Deutsche über 1 Million Mal ein Buch gekauft, das Armut diffamiert, in dem die furchtbarsten Sachen drinstehen. Ich meine das Buch von Thilo Sarrazin, in dem er Dinge schreibt, die eigentlich Sozialrassismus sind.
Die Teilung zwischen oben und unten ist katastrophal, es ist eine Gefahr für ein zukünftiges Europa. In diesem Zusammenhang muss ich sagen, die größte Tugend in Europa ist die, das Leiden der anderen zu sehen und zu verstehen. Ich wurde einmal vom französischen Botschafter in der Türkei nach Ankara eingeladen. Er bat mich dann darum, in meiner Rede zwei Wörter nicht zu gebrauchen: Kurden und Armenier. Ich habe geantwortet: „Sie müssen verstehen, Europa ist eine Gemeinschaft, in der jeder von seinen Verbrechen sprechen soll und jeder von den Verbrechen der anderen sprechen darf“.
Das ist für mich essentiell. Im französischen Nantes wurde vor kurzem eine ständige Ausstellung eröffnet, in der gezeigt wird, dass das Wohl der Stadt nur auf dem Sklavenhandel vor 200 bis 300 Jahren basiert. Dieses offene Selbstbekenntnis auch zu einer negativen Vergangenheit sollte es überall in Europa geben. Das würde die Identität Europas stärken. Das würde vielleicht endlich auch dazu führen, dass man das europäische Parlament in Brüssel und Straßburg ernst nimmt. Es ist wichtig, das, was Europa ist, anzuerkennen und die Identität Europas zu fördern, indem man gemeinsame Gesetze akzeptiert. Bei uns in Frankreich hat nur ein Premierminister, Michel Rocard, 1988 alle Verwaltungen aufgefordert, die verschiedenen Weisungen aus Brüssel in der französischen Gesetzgebung umzusetzen. Das geschieht heute überhaupt nicht mehr.
Gibt es heute eine universelle Identität? Die Antwort ist nicht einfach. Ich habe mal in Singapur an der Universität und an einem deutschen Gymnasium unterrichtet. Bei meiner letzten Vorlesung war der Dekan der Universität dabei – eigentlich überwachte er mich. Als ich mit meiner Vorlesung fertig war, meinte er, ich hätte glühend für europäische Werte gesprochen, aber es gäbe glücklicherweise auch asiatische Werte. Ich habe ihn unterbrochen, sehr unhöflich, und gesagt: „Die Freiheit der Studenten zu sprechen und ihre Meinung zu äußern, ist ein weltweiter Wert, nicht nur ein europäischer.“ Die Studenten waren nett genug zu klatschen, obwohl das für sie politisch heikel war.
Ich glaube, wir müssen versuchen, in der Welt selbstbewusst für unsere Werte einzutreten – unter einer Bedingung: Wir müssen diese Werte und Ideale auch selber einhalten und verfolgen. Amerika tut das zum Beispiel nicht, wegen der Todesstrafe. Doch auch in Europa gibt es eine Reihe von Fehlentwicklungen, die uns
diskreditieren. Zum Beispiel werden französische Gefängnisse ununterbrochen gerügt und vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt, doch es geschieht eigentlich nichts. Und einer der Gründe, weswegen ich Israel kritisiere, ist der, dass Israel auch zu unserer Wertewelt gehört und gleichzeitig diese Werte ständig verletzt.
Die Frage ist natürlich, wo kommen diese europäischen Werte her. Ich glaube, die Antwort lautet: Es gibt Gemeinsamkeiten, und die haben sich herausgebildet durch die christliche Tradition, durch die römische und griechische Tradition und durch die Tradition der Aufklärung. Das Schlimme ist, dass christliche Parteien und Kirchen auch in Deutschland so tun, als seien die christlichen Werte immer schon die Werte Europas gewesen. Dann wäre Massenmord ein christlicher und europäischer Wert. Papst Benedikt XVI. bringt es nicht über sich, über die Unbarmherzigkeit der Kirche in der Vergangenheit offen zu sprechen. Ein Beispiel aus Frankreich: Es gab eine Art neuer Sekte in Frankreich, im 13. Jahrhundert gab es einen Kreuzzug gegen sie, dabei wurde die Stadt Béziers ausradiert, ihre 20.000 Einwohner getötet. Der Legat des Papstes schrieb damals an den Papst: „Die Rache Gottes hat Wunder vollbracht. Wir haben sie alle getötet.“ Das ist eben auch ein Teil der Identität des christlichen Europas. Man muss diese negativen Dinge sehen und aussprechen, das ist keine Katastrophe. Man muss natürlich auch sehen, dass die katholische Kirche sich verändert und im Zweiten Vatikanischen Konzil 1965 gesagt hat, dass jeder frei denken darf und keinem ein Zwang auferlegt werden sollte.
Warum sage ich das? Weil ich als Atheist gut lebe, und zwar in großer Nähe zur katholischen Kirche in Frankreich, die sich zum Guten verändert hat, und weil die laïcité (Laizismus) für mich ein großer Begriff ist, völlig im Sinne eines schönen Textes von Johannes Paul II., den ich ganz zitieren möchte, weil er die Tradition der Aufklärung und die christliche Tradition zusammenführt. Er schreibt in seinem letzten Büchlein „Erinnerung und Identität“: „Die Aufklärung hat nicht nur die Grausamkeiten der französischen Revolution hervorgerufen; sie hatte auch positive Ergebnisse gehabt, wie die Ideen der Freiheit, der Gleichheit und der Brüderlichkeit, die auch im Evangelium verwurzelt sind. Die Feststellung, dass dieser Prozess aufklärerischen Ursprungs oft zur Wiederentdeckung der in den Evangelien enthaltenen Wahrheiten geführt hat, ist eine Quelle des Nachdenkens. “ Das heißt, dass gegen die Institution Kirche ein Teil der christlichen Werte gewissermaßen neu entdeckt wurde, der dann auch in den Sozialenzykliken thematisiert wurde. Die Tatsachen, dass ich seit 1955 ständiger Mitarbeiter einer katholischen Tageszeitung bin, dass meine atheistisch betonten Bücher rezensiert werden von einem Erzbischof, zeigen für mich, dass sich die katholische Kirche modernisiert hat, dass sie ein Element liefern könnte für eine europäische Identität. Bei dieser Identität geht es für mich um die Überwindung des Nationalismus, die Überwindung der nationalen Selbstbezogenheit, um die soziale Gerechtigkeit und die Rücksicht auf die Leiden der anderen. Leider ist der Weg dahin schwierig.
Zum Schluss möchte ich doch eine Prognose wagen: Entweder gehen wir unter durch eine neue Teilung Europas – oder vielleicht gelangen wir zu dieser gemeinsamen Identität, was doch, glaube ich, sehr schön wäre.
*****

IV Anderssein (Strasser)

Themendiskurs : Die Zukunft Europas (4/6)

http://www.swr.de/swr2/wissen/-/id=661224/1muyzmy/index.html

INHALTSFOLGE
1 Zukunft ( Leggewie)
2 Aufklärung (Neiman
3 Identitàtssuche (Grosser)
4 Anderssein (Strasser)
5 Polyphonie (Taureck)
6 Islam (Amipur)


SWR2 Wissen: Aula - Johano Strasser: Das andere Europa - Wiederentdeckung eines bekannten Kontinents Die Zukunft Europas (4/6)
Autor und Sprecher: Johano Strasser *
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
Sendung: Neujahr, 1. Januar 2011, 8.30 Uhr, SWR 2
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen
Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

AUTOR
Johano Strasser, geb. 1939 in Leeuwarden (Niederlande). Promotion in Philosophie 1967. 1977 Habilitation in Politikwissenschaft an der FU Berlin. Von 1980 – 1988 Redakteur und Mitherausgeber der politisch-literarischen Zeitschrift „L’80“. Seit 1983 freier Schriftsteller. Ab 1995 Generalsekretär zunächst des westdeutschen, dann des gesamtdeutschen P.E.N. Seit 2002 Präsident des P.E.N.-Zentrums Deutschland. Veröffentlichungen: Zahlreiche Sachbücher, Romane, Hörspiele, Theaterstücke, Gedichte.
Bücher (Auswahl):
– Die schönste Zeit des Lebens. Verlag Langen/Müller. Juni 2011.
– Kolumbus kam nur bis Hannibal. Vierzehn subversive Geschichten. Verlag Diederichs. Juli 2010.
– Labile Hanglage. Gedichte. Verlag Brandes & Apsel. März 2010.
– Bossa Nova. Ein Roman aus der Provinz. Pendo-Verlag. Februar 2008.
– Als wir noch Götter waren im Mai. Pendo-Verlag. Februar 2007.

ÜBERBLICK
Was ist Europa? Wer heute diese Frage stellt, provoziert leicht hitzige Antworten, die alle darauf hinauslaufen, Europa zu begrenzen, zu sagen, was es nicht ist, was nicht dazu gehört: die Türkei zum Beispiel oder Russland oder die Ukraine. Wenn wir wissen wollen, wer wir sind, ist Abgrenzung immer noch unser erster Reflex. Aber das Andere, das Fremde, gegen das wir uns abgrenzen, ist zumeist längst Teil unseres Selbst und Teil eines Europa, das es wiederzuentdecken gilt, und zwar mithilfe der Literatur. Johano Strasser, Schriftsteller, Publizist und Politologe, plädiert für ein anderes, weltoffenes und tolerantes Europa.

INHALT

Ansage:
Mit dem Thema: „Die Zukunft Europas, Teil 4, „Das andere Europa – Wiederentdeckung eines bekannten Kontinents“.
Was ist das eigentlich, dieses Europa? Eine Währungsunion, die droht, zur Transferunion zu mutieren, bei der die verschuldeten Länder gesundsaniert werden? Eine Wirtschaftsunion oder gar eine Wertegemeinschaft, die stark vom Christentum geprägt ist? Positiv ist die Frage nur schwer zu beantworten, leichter fällt es zu sagen, was Europa alles nicht ist, was nicht dazu gehört. Abgrenzung gegenüber dem Fremden, Unbekannten ist schließlich ein beliebter Reflex, gerade auch wenn es um Europa geht.
Und was ist, wenn wir ganz neue Maßstäbe der Definition einführen? Johano Strasser, Schriftsteller, Publizist und Politologe, versucht das im Folgenden: Er will eine ein anderes Europa entdecken, das mit Geld, Ökonomie und Christentum eher weniger zu tun hat, dafür viel mit literarischer Kultur.
Der für heute angekündigte Vortrag über die politischen Strukturen eines zukünftigen
Europa entfällt leider aus Krankheitsgründen, wir bitten das zu entschuldigen.
Johano Strasser:
Mitten in den gewaltigen Umwälzungen, die ausgehend von der Revolution in Frankreich am Ende des 18. Jahrhunderts ganz Europa ergreifen, schreibt Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis, seinen Essay Die Christenheit oder Europa. Hier entwickelt der Dichter seinen Traum von der Versöhnung des Alten mit dem Neuen unter dem Dach einer erneuerten christlichen Kirche, „die alle nach dem Überirdischen durstige Seelen in ihren Schoß aufnimmt und gern Vermittlerin der alten und neuen Welt wird“. (Novalis 1956, S. 107)
Es handelt sich bei diesem Text nicht, wie oft unterstellt worden ist, um eine rückwärtsgewandte Verklärung des Mittelalters. Was Novalis sich vorstellt, ist vielmehr eine Synthese aus Altem und Neuem: „hier die Andacht zum Altertum, die Anhänglichkeit an die geschichtliche Verfassung, die Liebe zu den Denkmalen der Altväter und der glorreichen Staatsfamilie, und Freude des Gehorsams; dort das entzückende Gefühl der Freiheit, die unbedingte Erwartung mächtiger Wirkungskreise, die Lust am Neuen und Jungen, die zwanglose Berührung mit allen Staatsgenossen, der Stolz auf menschliche Allgemeingültigkeit, die Freude am persönlichen Recht und am Eigentum des Ganzen und das kraftvolle Bürgergefühl.“ (Novalis 1956, S. 106)
Gewiss, die Emphase, mit der Novalis „eine große Versöhnungszeit“ verkündet – „sie wird, sie muss kommen“ –, können wir nach all den barbarischen Schlächtereien, die Europa seitdem erlebt hat, nach all den Demütigungen und Verwüstungen, die Europäer in aller Welt angerichtet haben, nicht mehr teilen. Dass die anderen Weltteile auf „Europas Versöhnung und Auferstehung“ warten, „um sich
SWR2 Aula vom 15.04.2012
Die Zukunft Europas (4)
Das andere Europa – Wiederentdeckung eines bekannten Kontinents
Von Johano Strasser
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anzuschließen und Mitbürger des Himmelreichs zu werden“, wer wagte es heute noch, einen solchen Gedanken zu denken, geschweige denn ihn aufzuschreiben? Und doch ist eines an diesem Text für uns Heutige nach wie vor interessant: dass er nämlich Europa in erster Linie als geistige, als kulturelle Einheit begreift, dass er auf die Kraft der Synthese setzt und allen imperialistischen Eroberungs- und Beherrschungsgelüsten eine Absage erteilt.
Aber kann das Europa, das Novalis beschwört, in einem präzisen Sinn als ein „christliches“ Europa verstanden werden? Niemand wird bezweifeln können, dass Europa über fast zwei Jahrtausende von christlichen Ideen, von christlicher Symbolik und Glaubenspraxis geprägt wurde. Aber das Christentum selbst stammt genau genommen nicht aus Europa, speist sich aus vielen religiösen Quellen, die nicht genuin europäisch sind, und hat sich – auch gerade hier in Europa – in sehr unterschiedlichen Formen entwickelt. Die Kennzeichnung Europas als „christlich“ ist also keineswegs so klar und eindeutig, wie seine Befürworter meinen. Heute führt sie erst recht ins Leere, denn viele Millionen Europäer gehören anderen, nicht-christlichen Religionsgemeinschaften an, noch mehr haben mit Religion überhaupt nichts im Sinn oder sind vielleicht in einem sehr weiten Sinn religiös-musikalisch, aber halten wenig oder überhaupt nichts von kirchlicher Bindung.
Europa, der zerklüftete westliche Rand des alten eurasischen Kontinents, war schon immer mehr Idee als harte, kompakte Realität. Nach Osten hin sperrangelweit offen, nach Süden mit Leichtigkeit das Mittelmeer überspringend, war Europa von alters her vielen fremden Einflüssen ausgesetzt. Europa konnte sich gar nicht abgrenzen, ihm blieb nichts anderes übrig, als das Fremde in sich aufzunehmen und aus vielen verschiedenen Quellen seine eigene Kultur zu formen. Was am Ende dabei herauskam, die europäische Hochkultur „von Shakespeare bis Benz, Mozart bis Curie, Strindberg bis Einstein, von Dürer bis zu den Beatles“, schreibt Matthias Greffrath, ist heute „globaler Menschheitsbesitz“, nichts spezifisch Europäisches also, worauf man sich, wenn es um unsere Identität geht, berufen könnte. Längst ist auch das Christentum, auf das sich Novalis noch beziehen konnte, nicht mehr die große Klammer, von der her sich Europa als Einheit verstehen ließe.
Was also ist Europa? Wer heute diese Frage stellt, provoziert leicht hitzige Antworten, die alle darauf hinauslaufen, Europa zu begrenzen, zu sagen, was es nicht ist, was nicht dazu gehört: die Türkei zum Beispiel oder Russland oder die Ukraine, Serbien, Albanien. Wenn wir wissen wollen, wer wir sind, ist Abgrenzung immer noch unser erster Reflex. Aber das Andere, das Fremde, gegen das wir uns abgrenzen, ist zumeist längst Teil unseres Selbst. Wer Europa als das christliche Abendland meint neu begründen zu können und deshalb die mehrheitlich islamische Türkei aussperren möchte, der sollte sich an den Reichtum der europäisch-islamischen Kultur in Spanien erinnern oder sich nur einmal in den Berliner Stadtteilen Kreuzberg oder Neukölln oder in der Banlieu von Paris oder in Finsbury Park im Norden Londons umsehen. Wenn er zur lesenden Minderheit gehört, könnte er sich auch darauf besinnen, in welchem Maße die groß europäische Literatur sich aus heidnisch-antiken und aus östlichen Quellen speist. Was wäre unser europäisches Theater ohne Aischylos, Sophokles oder Euripides? Was unsere Philosophie ohne Platon, ohne Aristoteles und Cicero? Für Dantes Göttliche
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Die Zukunft Europas (4)
Das andere Europa – Wiederentdeckung eines bekannten Kontinents
Von Johano Strasser
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Komödie, einen der Grundtexte des angeblich so ausschließlich christlichen Abendlandes, gibt es ebenso arabisch-muslimische Quellen wie für viele der schönsten Gedichte und Lieder der okzitanischen und katalanischen Troubadourliteratur. Bocaccios Decamerone und Chaucers Canterbury Tales, die die Erzähltradition Europas über Jahrhunderte geprägt haben, knüpfen – nicht nur in der Erzählstruktur, sondern zum Teil auch im Inhalt – an indische, persische, arabische Werke an.
Und wer die Teilung des Römischen Reiches für einen Fingerzeig Gottes nehmend gar die byzantinisch geprägte Orthodoxie zum Nichteuropa erklärt, der müsste konsequenterweise nicht nur die Wiege Europas und das Ursprungsland der europäischen Demokratie, Griechenland, ins Außen verbannen, sondern auch einen Großteil dessen, was Venedig oder Ravenna zu so faszinierenden europäischen Städten macht: das Werk byzantinischer Architekten und Künstler, zum Teil im Zuge des Vierten Kreuzzugs aus dem eroberten Konstantinopel zusammengeraubt wie die Pferde am Markusdom in Venedig. Und erst recht Russland, das mit seiner Literatur – Puschkin, Gogol, Dostojewski, Turgenjew, Tschechow, Tolstoi, Babel –, seiner Malerei – Kandinsky, Chagall – und seiner Musik – Rachmaninoff, Rimski-Korsakoff, Tschaikowski – den europäischen Bildungskanon so sehr bereichert hat.
Vielleicht wäre es da dann doch besser, europäische Reinheitsgebote nur auf Bier und Wein und andere Nahrungsmittel anzuwenden und sich ansonsten damit abzufinden, dass es den einfachen Weg zur europäischen Identität über die Ausgrenzung und Abstoßung des Anderen nicht gibt.
Wenn man es genau nimmt, haben wir Europäer seit der Zeit der großen und in vielen ihr folgenden kleinen Völkerwanderungen allesamt einen Migrationshintergrund. Ich beispielsweise bin in den Niederlanden geboren, meine Mutter ist Niederländerin, mein Vater in den USA geboren und der Sohn einer Französin und eines Österreichers. Unordentliche Verhältnisse, wie sie sich vermutlich bei den meisten von uns finden lassen, wenn wir nur weit genug zurückgehen.
Was aber ist Europa dann, wenn seine Grenzen so schwer bestimmbar sind? Was auch den meisten Europäern bisher nicht in den Kopf will, ist, dass Europa keine Gegebenheit ist, sondern eine Aufgabe, dass wir Europäer selbst aufbauend auf den vielfältigen Traditionen und Institutionen der europäischen Völker, nach Maßgabe unserer historischen Erfahrungen entwickeln müssen, was Europa sein soll. Wir müssen entscheiden, welche der vielen Gestalten und Selbstdeutungen, die Europa in seiner langen Geschichte angenommen hat und die in der europäischen Literatur aufbewahrt sind, für die Zukunft prägend sein soll, an welche Traditionen wir anschließen und auf welche kulturellen Ressourcen wir zurückgreifen wollen, um die Zukunft Europas zu bauen.
Das Problem ist freilich, dass diese Traditionen lange nicht mehr allen Europäern vertraut sind, sei es, weil sie ihnen in der Schule und der Hochschule nicht mehr vermittelt wurden, sei es, weil sie sich bewusst von ihnen abgewandt haben. „Viele Europäer“, schreibt Manfred Fuhrmann in seinem Buch Der europäische
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Die Zukunft Europas (4)
Das andere Europa – Wiederentdeckung eines bekannten Kontinents
Von Johano Strasser
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Bildungskanon, „sind seit einiger Zeit – teils aufgrund ihrer Erfahrungen mit der eigenen jüngsten Geschichte, teils aus Bewunderung für die Vereinigten Staaten von Amerika – auf der Flucht vor sich selbst.“ (Fuhrmann 2004, S. 232) Aber so etwas wie europäische Identität, die entscheidende Voraussetzung dafür, dass aus der EU je eine wirklich konsistent handlungsfähige Einheit werden kann, ist ohne vermittelnde und integrierende Instanzen, ohne eine bewusst die vielfältigen kulturellen Einflüsse integrierende Bildung nicht zu haben. „Europäer ist man nicht von Geburt, man wird es durch Bildung“, hat Robert Schumann einmal gesagt. Darum ist die Beschäftigung mit der europäischen Tradition, mit den die europäische Geschichte prägenden kulturellen Beständen von höchster Wichtigkeit. Bildung in diesem umfassenden Sinn allein schafft kulturelle Identität, und diese ist das entscheidende Bindemittel, das dem Zerfall und der Ohnmacht Europas entgegenwirken kann.
Das eine ist es, die politisch-institutionelle Seite Europas, seine auf der Rechtstradition des Humanismus, der Erklärung der Menschenrechte und des Code Napoléon fußende Rechtsgestalt zu entwickeln, „damit aus der Union des Geldes eine Union der Politik, aus dem Europa der Märkte ein Europa der Menschen und aus dem Europa der Verträge ein Europa der Verfassung wird“, wie Frank Niess es in seinem Buch über die europäische Idee formuliert. (Niess 2001, S. 238) Hierin könnte zugleich ein wichtiger Beitrag zur Ordnung der Welt unter Prinzipien des Rechts bestehen. Das andere ist es, die Erinnerung wach zu halten an die Schattenseiten der europäischen Geschichte, an die Barbarei, die auch zu unserem Erbe gehört. Und die ist nirgends anschaulicher aufbewahrt als in der Literatur der Völker und Regionen. Aus der Literatur können wir lernen, dass wir Europäer keinen Grund zum Hochmut haben, dass es uns nicht ansteht, die Welt mit erhobenem Zeigefinger zu belehren. Unser Beitrag zur Debatte um die Neuordnung der Welt kann nur ein nachdenklicher sein, der sich aus selbstkritisch verarbeiteter Erfahrung speist, aber vielleicht gerade deshalb umso aufmerksamer zur Kenntnis genommen wird.
Wenn man der Meinung ist, dass Europa als eine notwendig pluralistische Ordnung letztlich nicht ohne zivilreligiös verankerte Wertgrundlagen auskommt, dann ist hierfür, wie Rolf Schieder betont „eine europäische religiöse Kommunikationsstruktur“, die nicht nur Christen, sondern auch Muslime und Juden einbezieht, eine wichtige Voraussetzung. (Schieder 2001, S. 210) Man kann aber mit guten Gründen auch noch weitergehen, wie der kanadische Philosoph Charles Taylor kürzlich auf einer Tagung in Mailand, und auch atheistische, ich füge hinzu: auch epikureisch-skeptische oder agnostische Werthaltungen einbeziehen. In jedem Fall heißt dies dann, dass in einer europäischen Verfassung ein expliziter Bezug auf das Christentum als Wertebasis eben nicht angemessen ist.
Zu den Stärken Europas gehört die Vielfalt seiner Sprachen und Kulturen. Aber Stärken können sich, wenn man sie nicht zu nutzen weiß, in Schwächen und Hindernisse verwandeln. Es scheint, dass die meisten Europäer noch immer nicht begriffen haben, dass bei aller Notwendigkeit des gemeinsamen politischen Handelns die europäische Einheit vernünftigerweise nur als Einheit in der Vielfalt gedacht werden kann. Allerdings – auch das sollte nicht übersehen werden – ist
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Von Johano Strasser
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Vielfalt nur fruchtbar, wenn sie dialogische Vielfalt ist. Das aber heißt, der Reichtum der europäischen Kultur, das große Potenzial der kulturellen Vielfalt kann nur dann seine volle Kraft entfalten, wenn die Völker und Kulturen Europas sich wechselseitig genauer wahrnehmen, als das zur Zeit der Fall ist.
Wenn die Völker Europas sich gegenseitig in ihren tiefsten Antrieben verstehen wollen, ist es von herausragender Bedeutung, dass ihnen die Literatur der jeweils anderen Europäer zugänglich ist. Denn in der erzählenden Prosa, im Roman, im Märchen und im Essay, aber auch im Drama und in der Lyrik sind die prägenden Erfahrungen, die nachwirkenden Traumata, die tiefen Gefühle, die Hoffnungen und Ängste der Völker Europas aufbewahrt. Wenn wir Europäer einander verstehen, wenn wir immer noch bestehende Vorurteile überwinden und zu gemeinsamem Handeln im eigenen Interesse und im Interesse einer friedlichen Weltordnung finden wollen, dann müssen wir wissen, mit welchen Erzählungen, Legenden, Mythen die Völker Europas sich selbst und ihren europäischen Nachbarn ein Gesicht geben.
Aus diesem Grund ist die Förderung der Übersetzung belletristischer Literatur in Europa ein Projekt von höchster Priorität nicht nur für die europäische Kulturpolitik, sondern für die europäische Politik insgesamt. Aber gerade hier liegt, wie jeder weiß, einiges im Argen. Offene Grenzen und offene Märkte allein reichen hier nicht aus. Es bedarf politischer Initiativen in der Bildungspolitik, in der Kulturpolitik der Länder und auf europäischer Ebene. Gibt es so etwas wie einen europäischen Literaturkanon überhaupt? Kann man bei allen halbwegs gebildeten Europäern heute voraussetzen, dass sie Dantes Göttliche Komödie, Goethes Faust, Cervantes’ Don Quixote, Shakespeares Dramen, Tolstois Krieg und Frieden, Rabelais’ Gargantua, Pessoas Buch der Unruhe, Thomas Manns Buddenbrocks, Die Dubliner von Joyce und Die Blechtrommel von Grass kennen? Vielleicht. Die Namen der Autoren und die Titel der Bücher jedenfalls dürften wohl den meisten bekannt sein. Aber wie ist es mit der Literatur Polens, Ungarns, Finnlands, Portugals, Sloweniens, Rumäniens? Und wie steht es in dieser Hinsicht mit den jüngeren Europäern? Kennen sie die großen Schriftsteller der letzten Jahrhunderte, lesen sie die Literatur der Gegenwart, oder reduziert sich für sie der Kanon, wenn sie denn überhaupt lesen, auf Mankell, Larsson und Grisham? Wenn es hoch kommt, auch noch auf Umberto Eco und Patrick Süskind?
Es gibt einen Konkurrenzbegriff zu dem Europas: der Westen. In der Tat gibt es zwischen den Ländern Mittel- und Westeuropas und den USA und Kanada enge historische, kulturelle Beziehungen. Was den Westen eint, ist die positive Haltung zur modernen wissenschaftlich angeleiteten Lebensweise, ist das Erbe von Humanismus und Aufklärung, sind Aktivismus, Individualismus und Rationalismus, die hohe Bewertung von Menschenrechten und Demokratie. Auch weniger imponierende Erscheinungen haben die Europäer mit den Verwandten jenseits des Atlantiks gemein. Kaum etwas am US-amerikanischen Lebensstil, an der US-amerikanischen Trivialkultur, worüber gebildete Europäer so oft die Nase rümpfen, das nicht Fleisch von unserem Fleische, nicht auf europäische Quellen zurückzuführen wäre! Selbst jene unappetitliche Mischung aus Sendungsbewusstsein und plattestem Egoismus, aus Naivität und Brutalität, mit der die USA so oft in Mittel- und Südamerika und am
SWR2 Aula vom 15.04.2012
Die Zukunft Europas (4)
Das andere Europa – Wiederentdeckung eines bekannten Kontinents
Von Johano Strasser
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Persischen Golf auftreten, ist uns Europäern aus der eigenen imperialistischen Vergangenheit nur allzu vertraut.
Auch jenseits des Atlantiks hat sich das Europäertum zur Kenntlichkeit entwickelt. Das Andere, das uns nun von dort entgegenkommt, als unser Eigenes zu erkennen, ohne es darum gleich als verpflichtendes Modell, als unvermeidbares Schicksal hinzunehmen oder als Gipfel unserer Möglichkeiten emphatisch zu feiern, darauf käme es an.
Denn hier in Europa stellen sich dem europäischen Geist heute andere Aufgaben als jenseits des Atlantiks. Europa ist einerseits Teil des Westens, andererseits seit eh und je Brücke zwischen dem Osten und dem Westen. Auch in Zukunft wird Europa – im eigenen Interesse und im Interesse einer friedlichen Entwicklung der Welt – diese Brückenfunktion erfüllen müssen. Die Europäer können diese Funktion nur erfüllen, wenn sie – wie in der Vergangenheit – den geistigen Austausch untereinander und mit den Völkern anderer Regionen pflegen. Was die Literatur angeht, so stellen wir heute fest, dass es eine große, manche meinen eine zu große Zahl von Büchern US-amerikanischer Autoren bei uns in Deutschland in Übersetzungen vorliegt; für Asien und Afrika gilt dies leider nicht. Aber auch die vielsprachige europäische Literatur ist in vielen Ländern Europas kaum bekannt. Wie sollen die Europäer eine Vorstellung von ihrer eigenen Besonderheit entwickeln, wenn sie sich gegenseitig so wenig wahrnehmen, wenn sie die Literatur ihrer Nachbarn nicht lesen?
Seit mehr als zwei Jahrtausenden drängen sich die Völker in Europa auf engem Raum. Den Problemlösungstypus des Go West!, des Aufbruchs und Neuanfangs im vermeintlich leeren Raum, gibt es hier schon seit der Völkerwanderung nicht mehr. Wer hier gordische Knoten durchschlägt, statt sie zu lösen, befreit nicht, sondern zerstört. Mühsam haben wir Europäer über die Jahrhunderte hinweg lernen müssen, mit der Komplexität zu leben, die Interessen der jeweils anderen Seite mitzubedenken. Wir hier in Europa wissen, was Strukturprobleme sind und dass man sie nicht löst, indem man das Alte einfach abräumt und auf einer vermeintlichen tabula rasa einen Neubau beginnt. Europa ist der historische Kontinent par excellence. Wo immer wir tätig werden, haben wir es mit Hinterlassenschaften zu tun, mit einem Erbe, das noch nicht abgegolten ist.
Östlich von uns ist man immer noch damit beschäftigt, die geschichtlichen Fesseln des Despotismus und des Kollektivismus abzuwerfen und sich zur Moderne durchzuarbeiten. Westlich von uns, in den USA, erscheint die Erfolgsgeschichte von Freiheit und Wohlstand so ungebrochen, dass das Bewusstsein für die Dialektik des Fortschritts noch kaum entwickelt ist. Nur Europa, das alte Europa, ist sich der unaufhebbaren Ambivalenz des Fortschritts bewusst, des Prekären, allzeit Ungesicherten von Freiheit und Zivilität. Ist es unrealistisch zu hoffen, dass Europa mit diesem Pfund wuchert?
Robert Schumann soll einmal gesagt haben, dass er mit der Kultur beginnen würde, wenn er Europa noch einmal aufzubauen hätte. Vielleicht sollten wir heute, mitten in der Krise einer europäischen Union, die bisher allzu frohgemut auf die Bindekräfte der Ökonomie gesetzt hat, diesen Hinweis ernster nehmen als in der Vergangenheit.
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Freilich sollten wir dabei eines bedenken: Was uns Europäer verbindet, sind weniger die so oft missbrauchten „christlichen“ oder „westlichen Werte“, sondern unsere häufig so schmerzhaften Erfahrungen. Wenn Europa den anderen Weltteilen etwas voraushat, dann die Tatsache, dass die Europäer alle großen Irrtümer und Verbrechen bereits begangen und die Strafe dafür am eigenen Leib erfahren haben.
Zu meinem Traum von Europa gehört ein Bild, eine Szene, in der sich Vergangenheit und Gegenwart mischen, wie jene, die sich am Ende des Romans Geschichte der Belagerung von Lissabon von José Saramago findet, eine düstere Szene von Zerstörung und Mord, die ein Ende markiert, ein schreckliches Ende, und die doch, in ein melancholisches Licht getaucht, das Versprechen einer menschlicheren Zukunft enthält:
„Lissabon war genommen, Lissabon war verloren. Nachdem die Burg sich ergeben hatte, flaute das Blutvergießen ab. Jedoch, als sich die Sonne zum Meer hin senkte, den klaren Horizont erreichte, war die Stimme des Muezzins der Hauptmoschee zu hören, der ein letztes Mal von dort oben her rief, wohin er sich geflüchtet hatte. Allahu akbar. Ein Schauer überlief die Mauren bei dieser Anrufung Allahs, aber der Ruf hatte sein vorzeitiges Ende, ein Christensoldat, eifernder im Glauben oder in der Meinung, ihm fehle zur Beendigung des Krieges noch ein Toter, hastete das Minarett hinauf, und mit einem einzigen Schwertschlag enthauptete er den Alten, in dessen Augen mit dem verlöschenden Leben ein Licht aufblitzte.
Es ist drei Uhr morgens. Raimundo Silva legt den Kugelschreiber beiseite, erhebt sich langsam, die Handflächen gegen die Tischplatte gestützt, als hätten all die Jahre, die er noch zu leben hat, lastend sich plötzlich auf ihn gesenkt. Er tritt ins Schlafzimmer, das von einem Schein kaum erhellte, entkleidet sich leise, vorsichtig, möglichst geräuschlos, wünscht im Grunde aber, Maria Sara möge aufwachen, nur so, einfach, damit er ihr sagen kann, dass die Geschichte abgeschlossen ist, und sie, die ja doch nicht schlief, fragt ihn, fertig, und er antwortet, ja, fertig. Möchtest du mir sagen, wie es endet. Mit dem Tod des Muezzins. Und Mogueime, und Ouroana, was ist aus ihnen geworden. Ich denke mir, Ouroana kehrt nach Galicien zurück, und Mogueime mit ihr, und bevor sie aufbrechen, finden sie in Lissabon einen dort verborgenen Hund, der sie auf der Reise begleiten wird.“
Raimundo Silva und Maria Sara, die nicht ohne Grund einen katholischen und einen jüdischen Vornamen trägt, Mogueime und Ouroana, der eifernde christliche Krieger und der alte Muezzin, dies ist das Personal, mit dem mein Europa errichtet werden muss. Auf den Trümmern so vieler zerstörter Städte, auf Bergen von Leichen, aber mit der Kraft, der Zuversicht und Beständigkeit, zu der nur Liebende fähig sind, die durch die Hölle gegangen sind.
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V Polyphonie (Taureck)

PA4-12-8risikenIII-wirkkraft.5.Polyphonie (Taureck)

http://www.swr.de/swr2/wissen/-/id=661224/1muyzmy/index.html

 5 Polyphonie (Taureck)
Bernhard H. F. Taureck, Philosoph, ist emeritierter Professor der Technischen Universität Braunschweig.
Themen Auszug
- Die Nationen Europas sind zu eigenwohlorientiert, um im Fall der Not eine europäische Gesamtheit zu fördern. Militärisch wird Europa von einem Bündnis gebunden, dessen Feind längst nicht mehr existiert, dafür jedoch beständig erfunden wird, ohne zugleich Europa einen zu können.
- Die vereinigten Staatsschiffe Europas laufen parallel, aber sie navigieren nicht. Ein Krisenstrudel bewegt sie, Richtung Schiffbruch.
-Aus vielen eines.? Die Europäer wählen „In Vielheit geeint.“ Vielheit besteht, Einheit nicht. Bereits die 23 Amtssprachen verhindern dies. Man redet von Einheit und praktiziert Vielheit. Jedes Mitglied behält bislang seine Hoheit für Steuern, Militär und Außenpolitik,
der Weg der Emergenz einer strahlenden Ganzheit aus trüben Teilen, er mag nicht ausgeschlossen sein, doch er erscheint auf keiner Landkarte und keinem Navigator. Er mag sich plötzlich zeigen, doch er kann nicht geplant werden.
-Wenn nicht aus allem Eines aus Wenigem Eines entsteht. Man benötigt gar nicht alle sieben Elemente, um ein Europa zu kreieren, man wählt wenige aus und versucht es mit ihnen. Man verzichtet etwa auf Kultur, Sprachen, Religionen und konzentriert sich auf Wirtschaft und Kapitalismus. Diesen Weg beschritt man 1992 in Maastricht und beschloss eine Währungsunion.
Ein polyphones Europa ist das Gegenteil einer beschworenen kollektiven Identität. Ein polyphones Europa wird angesichts vieler Bedrohungen nötig. Und schließlich könnte ein polyphones Europa jenen Zusatz von Utopie enthalten, ohne den Zukunft verödet.
Kollektive Identitäten wie Staaten, Nationen, Vaterländer, Gesellschaftsordnungen sind stets mit dem Anspruch aufgetreten, jeder könne oder solle sich mit ihnen identifizieren. Jede Schule erwartet bereits von ihren Schülerinnen und Schülern: Identifiziere dich mit deiner Institution! Jede Firma verlangt von ihren Mitarbeitern
Man sagt „sich identifizieren mit“, meint jedoch „sich zugehörig wissen zu.“ Zugehörigkeit wird verwechselt mit Identifikation. In diesem Sinn kann man sich Europa zugehörig wissen und zugehörig sein wollen, ohne die absurde Bürde zu tragen, mit Europa identisch sein zu wollen und es nicht können. Zugehörigkeit hat den Vorteil, dass jeder die Freiheit hat, sie zu wählen. Er ist dabei nicht auf eine einzige Zugehörigkeit beschränkt, während die kollektive Identität ausschließlich ist. Genau darin liegt eine der Chancen für ein polyphones Europa. Jeder kann sich verschiedene Zugehörigkeiten wählen. Es liegt an ihm, welcher Kultur, welcher Wirtschaftsordnung, welchem Politikmodell, welcher Gesellschaftsart er angehören möchte. Die Zugehörigkeiten sind veränderbar und entwicklungsfähig. Kollektiven Identitäten bleibt dagegen nichts anders übrig als identisch mit sich selbst zu sein.
-Europa ist vielfältig bedroht. 1 die Ökonomie. Die Aufblähung der Finanzmärkte bedroht die Wirtschaft. In den USA wurde eine Schleuse des Unheils geöffnet. Banken zur Förderung von Investitionen werden nicht mehr von Spekulationsbanken getrennt. Auch das finanzielle Ausbluten von Staaten wie Griechenland oder Portugal könnte zu unabsehbaren internationalen Verwerfungen führen. 2 Ökonomisierung der Wissenschaften, mit ihrer zunehmenden Abhängigkeit von Verwertungsinteressen der Privatwirtschaft und des Militärs. Garantiert ein vielstimmiges, polyphones Europa einen Schutz vor diesen und anderen Bedrohungen?
Statt einer Garantie geht es darum, wie man den Bedrohungen weniger ausgesetzt ist. Ein Europa der kollektiven Identität mag von seinen Befürwortern als Bollwerk gegen verschiedenste Bedrohungen verstanden und propagiert werden. Ein polyphones Europa wirkt demgegenüber schwach und anfällig. Doch viele Schwächen können gemeinsam eine Stärke ergeben. Dem genialen Europäer Leonardo da Vinci verdanken wir die Beobachtung, dass die Steine eines Rundbogens allesamt zu Boden fallen wollen. Doch da sie alle diese Neigung haben, hindern sie sich gegenseitig daran zu stürzen und ergeben die Stabilität eines Rundbogens.
Viele Schwächen können zu einer Stärke führen. Ein vielstimmiges Europa hätte viele Seiten und könnte verschiedene Bedrohungen eher parieren als ein kollektiv identisches Europa.
Polyphonisches Europa der politischen Fantasie und jenes Zusatzes von Utopie, ohne welche wir alle in eine öde Zukunft reisen müssten. Ein kollektiv identisches Europa ist ein Sein, ein vielstimmiges Europa dagegen ein Werden.
Modell: das Romantisches Europa aus der österreichischen, der russischen und der preußischen Monarchie, die so genannte Heilige Allianz. Realitätsverklärung war ihr Prinzip, Es war ein auf Bibel und das Mittelalter zurückblickendes, zukunftsscheues Staatshandeln.
Polyphones Europa ist kein symphonisches und kein harmonisches Europa. Symphonisches und Harmonisches wäre die Fortsetzung der europäischen Polyphonie mit utopischen Mitteln. Ein polyphones Europa, das ein demokratisches Europa sein will, benötigt in weitaus häufigerem Maß als bisher Abstimmungen der Bevölkerung zu allen Entscheidungen
Ein vielstimmiges Europa könnte das bisherige Holzwegeuropa insofern ersetzen, als es der Allianz aus Betonköpfen, Büro- und Technokratie entkommt. Jenseits von Beton, Bürokratie und Technokratie liegt ein noch zu entdeckendes Europa. Es besteht nicht allein aus Raum und Räumen. Es besteht aus etwas Werdendem und Fließendem. Es besteht aus Zeit.

VI Islam (Amipur)

Themendiskurs : Die Zukunft Europas (1/6)

http://www.swr.de/swr2/wissen/-/id=661224/1muyzmy/index.html INHALTSFOLGE
1 Zukunft ( Leggewie)
2 Aufklärung (Neiman
3 Identitàtssuche (Grosser)
4 Anderssein (Strasser)
5 Polyphonie (Taureck)
6 Islam (Amipur)

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SWR2 Wissen Aula -Professor Katajun Amirpur: Muslime erwünscht - Europa und der Islam . Die Zukunft Europas (6/6)

Autorin: Professorin Katajun Amirpur *
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
Sendung: Sonntag, 29. April 2012, 8.30 Uhr, SWR 2
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen
Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
* Zur Autorin:
Katajun Amirpur, Professorin „Islamische Studien/Islamische Theologie“ und Stellvertretende Direktorin der Akademie der Weltreligionen an der Universität Hamburg, studierte Islamwissenschaften und Politikwissenschaft in Bonn, schiitische Theologie in Teheran. Sie lehrte Islamwissenschaften in Berlin, Bonn und München; von 2010 bis 2011 war sie Assistenzprofessorin für Moderne Islamische Welt mit Schwerpunkt Iran an der Universität Zürich.
Forschungsschwerpunkte: Islam und Gender; Islam und Dialog.

ÜBERBLICK
Islam gehört zum zukünftigen EuropaDas Thema ist ein Dauerbrenner aller Politik- und leider auch Stammtischdebatten: Gehört der Islam ganz automatisch zu Deutschland, zu Europa, wie das der ehemalige Bundespräsident klar machte, oder ist er der Antipode einer christlich geprägten Europäischen Union? Wenn ja, wie lässt er sich integrieren, ohne dass er seine kulturellen Besonderheiten verliert? Warum der Islam in einem zukünftigen Europa unerlässlich ist, sagt die Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur.

***
INHALT
Ansage:
Mit dem Thema: „Muslime erwünscht – Europa und der Islam“.
Im sechsten und letzten Teil unserer Europa-Reihe geht es heute um die Frage, gibt es einen Euro-Islam, so wie er von verschiedener Seite immer wieder proklamiert wird, also einen Islam, der inhaltlich so weit verwässert ist, dass er in allen EU-Staaten mühelos integrierbar ist und sich hundertprozentig mit der abendländischen Kultur verträgt?
Antworten gibt Professor Katajun Amirpur, Islamwissenschaftlerin an der Universität Hamburg.
Katajun Amirpur:
Die Religion der Muslime wird im öffentlichen Diskurs ständig als Problem dargestellt: So fordert Innenminister Friedrich die Muslime auf, in ihren Moscheen gezielt nach Terroristen Ausschau zu halten. Als ob Moscheen der bevorzugte Aufenthaltsort von Terroristen sind. Selbst die Etablierung einer islamischen Theologie an deutschen Universitäten – obschon sehr wünschenswert aus wissenschaftlicher und theologischer Sicht – ist letztlich dem Motiv geschuldet, den Islam zu domestizieren. Stets stand der islamische Religionsunterricht im Vordergrund, wenn es in den vergangenen zehn Jahren um die gesellschaftliche und politische Integration von Musliminnen und Muslimen in Deutschland ging. Seine Befürworter in Politik und Gesellschaft sehen in ihm ein gewichtiges Instrument zur erfolgreichen zivilgesellschaftlichen Verankerung des Islams. Der Unterricht soll eine Lesart des Islams vermitteln, die sich kollisionsfrei in eine werteplurale Gesellschaft einfügen lässt. Und er soll ein Gegengewicht bilden zum althergebrachten Koranunterricht mancher Gemeinden, der im Verdacht steht, antidemokratische und integrationsfeindliche Haltungen zu befördern.
Über die Motive der Politik für ihre Unterstützung der Idee, die aus dem Wissenschaftsrat kam, braucht man sich keine Illusionen machen. Der deutsche Staat zahlt für dieses Projekt, weil er den Muslimen unterstellt, nicht demokratiefähig zu sein. Deshalb müssen einige aufgeschlossene Streiter für westliche Werte her, die einen Islam basteln, der nicht mit der Aufklärung und den Frauenrechten im Widerspruch steht – was der „normale Islam“ ja tut. So die Logik.
Ich selbst bin eine dieser Professoren für islamische Theologie. Und natürlich nutzen wir die Gelegenheit, den Islam an deutschen Universitäten zu institutionalisieren. Es ist für uns eine Möglichkeit, in Deutschland endlich gleichberechtigt zu sein. Nach vier Jahrzehnten muslimischer Zuwanderung muss man Musliminnen und Muslimen endlich die gleichen Rechte einräumen wie den christlichen Kirchen. Doch wende ich mich entschieden dagegen, dass der von uns gelehrte Islam als Euro-Islam bezeichnet wird. Dies suggeriert, dass er sich grundlegend von dem normalen Islam unterscheiden würde. Dabei ist es eine Binsenwahrheit, die jedem Muslim klar ist, dass sich der Islam der verschiedenen Länder und Traditionen und Kulturen unterscheidet.
Deshalb wird es natürlich einen deutschen Islam geben – und gibt es ihn schon. Auch ohne, dass wir Theologen uns ihn ausdenken. Muslime in Deutschland leben ihren Islam unter anderen Rahmenbedingungen als Muslime in Österreich und Muslime in Frankreich. Das liegt schon allein daran, dass in Deutschland lebende Muslime aus anderen Ländern stammen, als in Frankreich lebende Muslime oder in Großbritannien lebende Muslime. Viele von ihnen jedenfalls. Die meisten der in Großbritannien lebenden Muslime sind Pakistaner, die meisten der in Deutschland lebenden Muslime Türken. Schon ihr mitgebrachter Islam unterscheidet sich immens. Und durch die Länder, in die diese Muslime kommen und die sie prägen, verändert sich ihr gelebter Islam noch mal wieder.
Die zweite Annahme, die der Idee zugrunde liegt, es solle hier ein Euro-Islam entstehen, ist, dass der andere Islam, also der Nicht-Euro-Islam, nicht mit den Werten der Aufklärung kompatibel ist. Denn das ist ja der Grund, warum Innenminister Friedrich meint, der Islam gehöre nicht zu Deutschland. Die christlich-jüdische Tradition unterscheidet sich also offenbar seiner Ansicht nach fundamental von der islamischen. Doch was wüssten wir heute von der griechischen Philosophie, von der abendländischen Tradition also, von Aristoteles„ Staatslehre beispielsweise, die den Menschen als zoon politikon definiert, als ein in der Gemeinschaft lebendes Wesen, wenn die Vermittlung der Araber nicht gewesen wäre? Und abgesehen von dem Verdienst, den die Araber sich als Vermittler erworben haben: Die griechische Kultur hat den Islam inspiriert und der Islam hat ihre Ideen weiterentwickelt. Avicenna, der mit seiner Aristoteles-Rezeption die Grundlagen für eine neue Aristoteles-Diskussion schuf, und Averroes, der durch seinen Aristoteles-Kommentar großen Einfluss auf die christliche Scholastik ausübte, sind dafür nur die bekanntesten Beispiele. Von christlich-jüdisch-abendländischen Werten zu sprechen und dabei den Islam vollkommen auszuklammern, ist also schlicht Unsinn. Der Islam ist und war schon immer Teil des Abendlandes.
Zudem ist falsch, einen Gegensatz zwischen islamischer und jüdisch-christlicher Tradition zu suggerieren: In den wesentlichen Punkten herrscht zwischen diesen Traditionen Übereinkunft. Das gilt für die Würde des Menschen, die Freiheit des Menschen, den Schutz des Lebens etc. Die meisten Fragen, von denen Islam-Kritiker meinen, dass keine Übereinkunft zwischen der jüdisch-christlichen und der islamischen besteht, würde ich als solche bezeichnen, in denen sich eine Fehlinterpretation des Islams sich durchgesetzt hat. Sie entspricht jedoch nicht dem eigentlichen Islam. Hiermit meine ich natürlich speziell die Frauenrechte. Denn der Islam an sich ist nicht frauenfeindlich; es hat sich bloß in vielen Teilen der Welt eine Interpretation eingebürgert, die es ist – eine Interpretation von Männern für Männer. Doch um dies zu verändern, braucht man keinen Euro-Islam als einen dem Arabo-Islam oder Irano-Islam entgegen gesetzten zu entwickeln, sondern man muss einfach nach dem Geiste der koranischen Botschaft handeln.
Das einzig Gute am Euro-Islam ist der Bezug zu Europa, den der Begriff herstellt. Denn gerade Muslime müssen in den letzten Jahren wieder vermehrt feststellen, dass man Deutscher nicht werden kann. Das hat vielen gerade die Sarrazin-Debatte gezeigt. Bleibt die Hoffnung, dass man Europäer werden kann – und deshalb ist
wiederum das Minarett-Verbot in der Schweiz ein Schritt, der uns aufhorchen lassen sollte. Wir erinnern uns: Im November 2009 wurde in der Schweiz über ein Minarettverbot abgestimmt. Und die Bevölkerung entschied sich dafür, Minarette künftig in der Schweiz zu verbieten. Mir geht es hier gar nicht so sehr um das Minarettverbot als darum, wofür das Minarettverbot steht. Und um das, was aus dem Verbot folgen könnte:
Denn das Minarettverbot verletzt nicht nur das Recht auf freie Religionsausübung; es diskriminiert nicht nur eine bestimmte Glaubensgemeinschaft. Schwerwiegender ist, dass es Grundrechte zur Disposition stellt. Es stellt Grundrechte, noch dazu Grundrechte einer Minderheit, zur Disposition – die damit keine Grundrechte mehr sind. Das ist ein Vorgang, der ganz Europa betrifft und weit mehr als nur Minarette. Denn mit den gleichen Argumenten, mit denen man für das Minarettverbot geworben hat, kann man theoretisch alle anderen Formen islamischer Präsenz im öffentlichen Raum verbieten: Die Burka wie auch das Kopftuch, das öffentliche Gebet, Moscheen.
Hinzu kommt: Nicht nur Muslime sind hier in Gefahr. Denn dass Grundrechte aberkannt werden, sollte auch diejenigen empören und auf den Plan rufen, die sich dem europäischen Projekt verpflichtet fühlen. Das Projekt Europa, das eben nicht nur die Idee von der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft umfasst, ist eines, dem ein bestimmter Wertekanon zugrunde liegt. Das Projekt Europa umfasst also einen Wertekanon, zu dem man sich unabhängig von seiner Kultur, Rasse, Nationalität, Religion bekennen kann – oder eben nicht. Das ist der Grund, warum vielen Zugezogenen – auch, politisch korrekt, Menschen mit Migrationshintergrund genannt – so viel liegt an dem Projekt Europa: Denn Europäer kann man werden, wenn schon Deutscher nicht.
Dass man Deutscher nicht werden kann, sagen neuerdings wieder viele Besitzer der deutschen Staatsangehörigkeit, die einen Migrationshintergrund haben. Wenn sie dann ihre Geschichte erzählen, so ist es eine von einem Menschen, der sich vollkommen integriert hat, Deutsch spricht wie eine Nachtigall; der etwas geworden ist in diesem Land, und der etwas tun möchte für dieses Land, und der sich nun in einer Mischung aus Stolz und Beleidigtsein zurückzieht. Warum? Weil der deutsche Kommunalpolitiker türkischer Herkunft gefragt wird, warum seine „Landsleute denn diesen Erdogan bloß gewählt haben“.
Konfrontiert mit dieser Haltung meinen viele, sie müssten sich auf eine andere, auf ihre angeblich eigene kulturelle Identität besinnen. Nach dem Motto: wenn ihr uns nicht haben wollt, dann eben nicht. So halten sie fest an einem Islam, der sich in den meisten Ländern der islamischen Welt schon längst den Gegebenheiten der Moderne angepasst hat. Diese Rückbesinnung auf den Islam lässt sie noch lange nicht zu islamischen Fundamentalisten werden. Aber
Es kann natürlich andererseits nicht darum gehen, Debatten um die muslimische Präsenz in Europa, um die Sichtbarmachung und Sichtbarwerdung ihrer Präsenz, so zu stigmatisieren, dass sie in der Öffentlichkeit nicht mehr geführt werden. Damit erreicht man nur, dass die Probleme, die nicht thematisiert geschweige denn gelöst werden, von anderen aufgenommen werden – von rechtspopulistischen Parteien
eben. Natürlich müssen die Probleme, die zwangsläufig entstehen, wenn ein Kontinent so viel Einwanderung erlebt, wie Europa in den letzten Jahrzehnten, thematisiert werden. Sie müssen jedoch als das thematisiert werden, was sie sind: nämlich ganz normale Prozesse, in denen es um die Austarierung von Interessen geht, um Gewöhnungsprozesse und um Konflikte, die zwangsläufig sind, aber eben nicht unlösbar. Natürlich macht es Probleme, Minderheiten zu integrieren, die aus anderen kulturellen, religiösen, nationalen Kontexten kommen. Das war schon mit den Iren in den USA nicht einfach; und mit den Polen im Rheinland seinerzeit auch nicht. Es haben sich jahrzehntelange Versäumnisse angehäuft; auf beiden Seiten. Weil die realen oder auch nur die vorgestellten Konflikte nicht thematisiert, weil keine Anforderungen an die Einwanderer formuliert, keine Integrationsbereitschaft bei der Mehrheitsgesellschaft geweckt wurden, treffen uns die Probleme heute mit um so größerer Wucht. Aber warum sollte es nicht gelingen, sie zu lösen? Das hat mit den Iren und den Polen ja auch geklappt.
Wichtig wäre es aber dazu, denjenigen, die integriert werden sollen, nicht Dinge um die Ohren zu hauen, die bei ihnen eine solche Abwehrhaltung entstehen lassen, dass sie nur trotzig und bockig reagieren können. Man kann sich doch vorstellen, was für eine Reaktion es auslöst, wenn Horst Seehofer sagt, Türken und Araber seien nicht integrierbar, oder wenn die deutsche Bundeskanzlerin erklärt, Multi-Kulti sei gescheitert, oder wenn der Autor eines Buches, das sich anderthalb Millionen mal verkauft, das muslimische Gen entdeckt, aufgrund dessen Araber und Türken dümmer seien als andere. Führt man so eine Debatte über Integration? Eine solche Debatte hat zwei Folgen: Zum einen wandern immer mehr aus: 39.000 waren es im Jahr 2010, die Deutschland in Richtung Türkei verlassen haben; gegenüber 29.000 Türken, die eingewandert sind. Und natürlich gehen die, die bestens ausgebildet sind. Volksökonomisch gesehen ist das mehr als dumm: Erst bildet man die Leute hervorragend aus, dann bringt man sie dazu zu gehen. Verschleuderung von Humankapital nennt man das.
Die zweite Folge ist, dass man die Muslime in Deutschland und sogar in Europa durch die Art des heutigen Diskurses erst zu dem Kollektiv macht, das sie vorher gar nicht waren. In den letzten Jahren merke ich auch an mir selber, wie man durch die Erfahrung, als Angehöriger eines Kollektivs abgelehnt zu werden, sich überhaupt erst diesem Kollektiv zugehörig fühlt. So wiederholt sich zurzeit unter den Muslimen in Europa, was der Struktur nach eine Erfahrung aller Minderheiten ist. Im Ergebnis ist dies die Muslimisierung der Muslime. Und ich sehe das nicht als eine positive Entwicklung an.
Der Islamwissenschaftler Aziz al-Azmeh hat vor einigen Jahren den Begriff der Islamisierung des Islams geprägt. Gemeint war, dass der Westen sich seinen Islam konstruiere. Man konstruiere eine angeblich total fremdartige, aber in sich seit jeher ganz einheitliche Mentalität der islamischen Welt. Al-Azmeh zeigte zudem Parallelen auf zwischen dem westlich-kulturalistischen und dem islamistisch-fundamentalistischen Diskurs, denn in beider Zentrum stehe die Vorstellung eines abstrakten ahistorischen, essentialistischen Islams. Er sieht hier “fast eine Art Komplizenschaft zwischen westlichen Kommentatoren und islamistischen Ideologen”, da auf beiden Seiten die Urbegründung jedes Phänomens in der islamischen Welt in den religiösen Quellentexten angesiedelt werde. Seit die frühe
Orientalistik den Islam als autonome anthropologische Größe behandelte, welcher der Muslim willenlos ergeben sei, und die Religion der Muslime zur Ursache ihrer Unterlegenheit und strukturellen Reformunfähigkeit erklärte, wurde die muslimische Urgeschichte zum Deutungsmuster auch der Gegenwart. In verblüffender Analogie zu islamistischen Auffassungen nahm man einen islamischen Urzustand an und betrachtete die Geschichte und die Kultur vorrangig unter der Frage, inwiefern sie der frühislamischen Norm entspreche beziehungsweise zu einem Abweichen von ihr geführt habe. Nicht religiös determinierte Phänomene, Diskurse und Strömungen wurden so fast automatisch als heterodox gedeutet. Dieser essentialistische Blick ist zwar innerhalb der Orientalistik seit Edward Saids Buch Orientalism längst in Frage gestellt, beherrscht aber noch weite Teile der öffentlichen Darstellung des Islams wie al-Azmeh gezeigt hat.
Und in ganz ähnlicher Weise wie Al-Azmeh von der Islamisierung des Islams spricht, spreche ich von der Muslimisierung der Muslime. Denn die in Europa geführte Diskussion über die Muslime, die suggeriert, Muslim zu sein und an eine freiheitlich-demokratische Grundordnung zu glauben, sei quasi inkompatibel, geht nicht nur an der Lebensrealität der meisten in Europa lebenden Muslime vorbei. Sie konstruiert zudem auch einen Gegensatz und denkt sich „die Muslime“ als eine in sich einheitliche Gruppe und führt so zur Muslimisierung. Und das ist eigentlich nicht das, was Europa bewirken sollte.
Die Art und Weise, wie die Diskussion über die Muslime hier geführt wird, führt dazu, sich selbst überhaupt als Muslim wahrzunehmen. Man wird zum Teil einer Gruppe gemacht, die so heterogen ist, dass man sich selbst ihr nie zuordnen würde, denn zwischen einem türkischen sunnitischen Muslim, von denen es in meiner Geburtsstadt Köln Zehntausende gibt und einem schiitischen iranischen Muslim, von denen es in Köln Tausende gibt, die aber aus einer völlig anderen gesellschaftlichen Schicht stammen, weil sie aus vollkommen anderen Gründen nach Deutschland gekommen sind als ihre „muslimischen Brüder“ aus der Türkei, liegen Welten. Trotzdem macht die hiesige Diskussion ein Kollektiv aus ihnen. Und ich muss gestehen, gerade weil die Diskussion so läuft wie sie läuft und damit in mir ein großes Widerspruchspotential freisetzt, fühle ich mich diesem Kollektiv bald zugehöriger als ich es jemals für möglich gehalten hätte.
Statt permanent über die Integrationsfähigkeit der Muslime zu schwadronieren, sollte man Rechtsgehorsam von ihnen fordern – und sie alsdann in Ruhe lassen. Rechtsgehorsam als erste und einzige Bürgerpflicht. Ob sie die neuerdings viel beschworenen christlich-jüdischen Werte und Traditionen verinnerlicht haben, kann man eh nicht überprüfen, auch bei den Natur-Deutschen nicht. Es wäre also in der Tat hilfreich, dass Grundgesetz nicht auch noch christlich-jüdisch zu taufen, wie der Rechtsphilosoph Ernst-Wolfgang Böckenförde bemerkt hat. Denn damit schwächt man gerade den Rechtsgehorsam.
Zudem ist das Kalkül zu durchschaubar. Christlich-jüdisch wird hier als Kampfbegriff verwendet, der vor allem einem dient: der Exklusion der Muslime. Viele jüdische Intellektuelle haben sich deshalb in den letzten Wochen gegen diese Formulierung gewandt, unter ihnen Almuth Sh. Bruckstein Coruh, Micha Brumlik und Rafael Seligmann. Der schreibt: „1.700 Jahre kam allen Heines, Liebermanns, Einsteins,
Tucholskys zum Trotz so gut wie niemand auf die Idee, die jüdische Tradition Deutschlands hervorzuheben“. Von der Moslem-Angst gepeinigt, erinnere sich der „hilflose Michel“ nun seiner jüdischen Überlieferung und führe sie gegen den Islam ins Feld.
Hinzu kommt: Ist es denn tatsächlich so, dass die Muslime anstatt sich hier zu integrieren an ihrer muslimischen Identität festhalten wollen, die mit der europäischen angeblich so unvereinbar ist? Wissenschaftliche Untersuchungen bestreiten dies und belegen: Die meisten Muslime sind im säkularen Rechtsstaat durchaus schon seit einiger Zeit angekommen. Das meint zumindest Heiner Bielefeldt, Inhaber des Lehrstuhls für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik in Erlangen und ehemaliger Direktor des Deutschen Instituts für Menschenrechte. Muslime im säkularen Rechtsstaat heißt eine seiner besten Publikationen. Dort heißt es: „Eine aktive Abwehrhaltung gegenüber dem säkularen Staat ist in Deutschland jedoch offenbar Sache einer radikalen Minderheit unter den Muslimen. Die Mehrheit hingegen scheint sich mit den bestehenden Verhältnissen mehr oder weniger arrangiert zu haben.“
Was bedeutet Muslimen dann das Kopftuch, das spätestens an dieser Stelle immer als Beweis für die mangelnde Integrationsbereitschaft von Muslimen angeführt wird? Der Soziologe Heinz Bude hält das Kopftuch gerade für ein Zeichen von Integration. Er sagt: „Die soziologische Identitätstheorie lehrt, dass die wachsende Verbreitung von Kopftüchern, die man bei muslimischen Frauen, auch bei gut ausgebildeten, beobachten kann, ein Zeichen von zunehmender Integration und nicht von zunehmender Desintegration ist. Weil nämlich diese Frauen den Anspruch erheben, trotz Differenzmarkierung teilhabeberechtigt zu sein und gewissermaßen auszutesten, wie man sich anders macht, um gleich werden zu können.“
Das alles soll die Probleme nicht beschönigen und die Angst vor dem Islam nicht als Unsinn verunglimpfen. Natürlich muss man die Ängste der Bevölkerung vor dem Islam, die offensichtlich da sind, ernst nehmen. Andererseits vernebelt aber die Beschwörung von Politik und den deutschen Feuilletons, sie ernst zu nehmen, dass diese Ängste oft sehr gezielt geschürt werden. Oder wie ist sonst erklärbar, warum die Angst vor dem Islam gerade dort besonders ausgeprägt ist, wo die wenigsten Muslime leben, also in den ländlichen, aber auch in manchen wohlhabenden, großbürgerlichen Gegenden. Wer die Sorgen vor Überfremdung ernst nimmt, sollte nicht den Rechtspopulisten vorauseilenden Gehorsam üben und das Fremde per Gesetz unsichtbar machen, indem er Minarette verbietet oder Burkas. Ängste sollte man abzubauen versuchen, indem man Perspektiven bietet zur Problemlösung, im Konkreten: mit Sprachförderung schon in den Kindergärten, Frauenhäusern, Investitionen in die Bildung, Maßnahmen gegen Gettoisierungstendenzen in den Städten.
Hilfreich ist dagegen nicht, eine Studie zu hypen und zu verdrehen, deren Inhalt nicht das wiedergibt, was daraus gemacht wird. Warum, so frage ich mich, gibt Friedrich die Studie, noch bevor die Studie veröffentlicht ist, an die Bild-Zeitung? Die Studienautoren sagen, sie waren von der Veröffentlichung überrumpelt, denn abgesprochen hatte der Auftraggeber das mit den Autoren nicht. So lasen die überraschten Forscher den verkürzten Inhalt ihrer dreijährigen Anstrengung in dem
Boulevardblatt. Kaum ein Wort zur Methode, keine Differenzierung. Nur pauschale Vorwürfe, darunter: „Besonders radikal sind junge Muslime ohne deutschen Pass.“ Sekundiert wurden diese Auszüge aus der Studie von den Worten des Innenministers: „Wir akzeptieren nicht den Import autoritärer, antidemokratischer und religiös fanatischer Ansichten.“ Warum macht ein Innenminister so etwas, dem es um Integration, nicht um Polarisierung und Pauschalisierung gehen sollte. Denn ganz im Gegenteil zu dem, was Friedrich draus machte, war die gute Nachricht vielmehr: Trotz der latent feindseligen Stimmung im Land will sich jeder zweite nicht-deutsche Muslim integrieren. Nur die Hälfte fühlt sich stärker ihrem Herkunftsland oder dem ihrer Eltern zugehörig. Und die zweite gute Nachricht: Haben Muslime erst einen deutschen Pass, liegt die stärkere Zuneigung zum Abstammungsland nur noch bei 20 Prozent, 80 Prozent der Muslime mit deutscher Staatsbürgerschaft befürworten und leben Integration.
Auch andere Studien belegen dies. Aber beachtet werden sie nicht, wenn sie sich nicht in einem skandalträchtigen Satz zusammenfassen lassen. Dabei geben sie uns viel mehr Aufschluss über die Situation von muslimischen Migranten in Deutschland. Beispielsweise die Studie „Viele Welten leben“ der beiden Migrationsforscherinnen Yasemin Karakasoglu und Ursula Boos-Nünning. Diese Studie betrachtet speziell Frauen in der Migration. Gerade bei diesem Thema wimmelt es hierzulande nur so von Stereotypen. Die soziologische Forschung zur Frauenmigration entdeckte Mädchen und junge Frauen mit Migrationshintergrund als Thema von empirischer Forschung in den 70er, 80er Jahren. Die Diskussion um die spezifischen Belange der damals „ausländisch“ genannten Mädchen begann mit der Veröffentlichung einer Diplomarbeit über das Freizeitverhalten junger Türkinnen im Jahre 1977 und einer im darauf folgenden Jahr erschienenen populärwissenschaftlichen Darstellung, deren Titel auf die Richtung der Diskussion der nächsten Jahre verweist: „Die verkauften Bräute: Türkische Frauen zwischen Kreuzberg und Anatolien“. In einem Aufsatz von Cornelia Mansfeld aus dem Jahre 1979 wird die Situation der Mädchen ausländischer Herkunft zum ersten Mal als „zwischen den Kulturen“ charakterisiert. Wenig später heißt es in der Beschreibung eines Fachkongresses zum Thema „Ausländische Mädchen – Opfer des Kulturkonfliktes“.
Im Fokus des Interesses der Forschung standen die Konflikte, die Mädchen erlebten. So bestimmte das Bild des Mädchens, das im Konflikt lebt zwischen althergebrachten, heimatlichen und neuen Normen des Landes, in das migriert wurde, vorerst die Diskussion. Dieses Stereotyp wurde durch eine Vielzahl von Arbeiten verbreitet.
Dem wollten Yasemin Karakasoglu und Ursula Boos-Nünning etwas entgegen setzen. Yasemin Karakasoglu ist Professorin für Migrationsforschung an der Universität Bremen, Ursula Boos-Nünning an der Universität Essen-Duisburg. Karakasoglu promovierte mit einer empirischen Arbeit über muslimische Religiosität und Erziehungsvorstellungen bei angehenden Lehrerinnen. Und ihr wichtigstes Ergebnis war, dass die Motive zum Tragen eines Kopftuchs höchst individuell sind und vom Bekenntnis zur eigenen ethnischen Gruppe über eine Deutung des Islam als aufklärerischer Religion bis hin zu einem umfassenden islamischen Erziehungsverständnis reichen können.
Karakasoglu und Boos-Nünning stehen also innerhalb der Migrationsforschung dafür, dass sie genauer hinschauen: Boos-Nünning hat einmal gesagt: "Ich habe immer geahnt, dass die Lebensentwürfe von Migrantinnen differenzierter sind als gemeinhin angenommen". Um das zu beweisen, haben die Forscherinnen, die sich "überzeugte Empirikerinnen" nennen, im Laufe von vier Jahren 950 Mädchen griechischer, italienischer, jugoslawischer und türkischer Herkunft zwischen 15 und 21 Jahren befragt. Damit ist diese Studie die größte, umfassendste und breiteste, die es je gab.
Die beiden Forscherinnen setzen sich auch mit dem Genre „Forschung über Migranten“ auseinander und schreiben: Zwar betreffen die Vorstellungen von Partnerschaft, Heiratsoptionen und Geschlechterrollen diejenigen Bereiche des Lebens, die sich am stärksten im Privaten abspielen. Trotzdem ist das öffentliche Interesse an Veränderungsprozessen, die sich hier bei Migranten abspielen, besonders groß. Denn sie, so stellen die Verfasserinnen fest, gelten als Indikatoren für den Grad der Integration von Zuwanderern und damit für ihre Bereitschaft, sich an Modellen der Aufnahmegesellschaft zu orientieren – die in der Regel übrigens immer völlig unhinterfragt als besser bewertet werden. Junge Frauen und Mädchen stünden dabei immer im Mittelpunkt des Interesses, denn sie gelten als Repräsentantinnen der Umbrüche in Migrationsfamilien. Sie werden in der Migrationsforschung zwei Kategorien zugeordnet: Entweder gelten sie als kollektivistisch und somit an der Elterngeneration orientiert – oder als individualistisch und somit an den Werten der Mehrheitsgesellschaft orientiert. Dieses Modell führt zu dem Ergebnis, dass junge Frauen mit Migrationshintergrund generell als traditionalistischer als ihre deutschen Altersgleichen beschrieben werden. Dies wird dann oft gleichgesetzt mit einer engen Orientierung an der Herkunftskultur und am Herkunftsland. Die so beschriebenen Mädchen sind also folglich nicht integriert, meint diese Annahme.
Die Ergebnisse der Forschung von Boos-Nünning und Karakasoglu zeichnen dagegen ein anderes Bild: Ihre Ergebnisse belegen die große Bandbreite der Einstellungen von jungen Frauen mit Migrationshintergrund. Sie zeigen, dass sich viele Vorurteile und Stereotypisierungen nicht aufrechterhalten lassen. Zum Beispiel legen junge Migrantinnen genauso viel Wert auf eine gute Schulbildung wie ihre deutschen Altersgenossinnen. Und nur jedes zehnte türkischstämmige Mädchen zwischen 15 und 21 würde sich von seinen Eltern in die Partnerwahl reinpfuschen lassen. Trotzdem spielt die Familie eine große Rolle. Das entspricht dem Klischee. Wenig dem Klischee entsprechend ist aber der Befund, dass die meisten Mädchen sich von ihren Eltern verstanden und angenommen fühlen. Mehr als 80 Prozent sagen, dass ihre Eltern Hoffnungen in sie setzen und sich um sie sorgen, mehr als zwei Drittel, dass die Eltern stolz auf sie sind. Die Erziehung in der Familie wird in allen Herkunftsgruppen als eher verständnisvoll denn streng und als eher nicht besorgt und nicht destruktiv beschrieben. Als am wenigsten besorgt werden erstaunlicherweise die türkischen Eltern wahrgenommen. Der am häufigsten wahrgenommene Erziehungsstil ist der „strenge aber liebevolle“, gefolgt von dem „lockeren“ Stil – besonders häufig genannt von der türkischen Herkunftsgruppe. Nur ein geringer Teil empfindet sich als zu streng erzogen.
Breiten Raum nimmt in der Untersuchung das ein, was man die ethnische Lagerung nennt, also die Selbsteinschätzung, wo man hingehört. Hier kommt die Studie zu dem Ergebnis: „Auch wenn sich ein großer Teil in erster Linie als Angehörige der
Herkunftsgruppe sieht, fühlen sich die weitaus meisten Mädchen und jungen Frauen in Deutschland wohl und nicht fremd“.
Informativ ist auch der Abschnitt über Religiosität, insbesondere der Teil zur „Stellung der Frau in der Religion“. Die Autorinnen verdeutlichen, dass die im Alltagsdiskurs vertretene Auffassung der Zementierung eines „inferioren Status“ insbesondere von muslimischen Migrantinnen sowohl in den „Herkunftsgesellschaften aber auch in den Migrantencommunities“ nicht zutreffe. In der Studie heißt es: „Die Befragten fühlen sich religionsgruppen- und herkunftsgruppenübergreifend in ihrer Religion überwiegend akzeptiert und nur eine äußerst kleine Minderheit fühlt sich unterdrückt“.
Doch leider sind die Veröffentlichungen, die muslimische Frauen mit Rückständigkeit gleichsetzen, viel zahlreicher; und vor allem in der Wirkung nachhaltiger als jene, die zur Differenzierung aufrufen. Die anderen bestätigen das Bild, das durch die Alltagsdeutungen, die Medien und die Trivialliteratur produziert wurde und das mittlerweile eine enorme Beharrungskraft entwickelt hat. Einer der Gründe für die Annahme dieses Bildes, für die Beharrlichkeit, die diese Stereotypen entwickelt haben, ist ein in den westlichen Industrieländern unhinterfragtes Grundverständnis; es ist die Konstruktion des Gegensatzes zwischen orientalistischem und okzidentalischem, zwischen traditionellem und post-modernem Denken, zwischen christlich-jüdischer und islamischer Kultur. Diese Stereotypen sind verfestigt. Und solange sie nicht aufgelöst werden, kann Integration nicht gelingen.
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