SWR2 Wissen: Aula -Wolfgang Streeck: Starke Märkte, schwacher Staat (2/2) Warum der Kapitalismus die Demokratie bedroht

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Kapitalismus bedroht Demokratie -II
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SWR2 Wissen: Aula -Wolfgang Streeck: Starke Märkte, schwacher Staat (2/2) Warum der Kapitalismus die Demokratie bedroht
Sendung: Sonntag, 22. Januar 2017, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Caspary Produktion: SWR 2017
http://www.swr.de/swr2/programm/
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AUTOR
Prof. em. Dr. Dr. h.c. Wolfgang Streeck ist Soziologe und Direktor emeritus am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung Köln. Er beschäftigt sich in seiner Forschung mit Wechselwirkungen zwischen Wirtschaft und Politik, vorrangig mit Auswirkungen und Problemen des Kapitalismus. Seit 2012 fungiert er als Research Council des European University Institute (EUI) und ist Mitglied im International Advisory Board am Sheffield Political Economy Research Institute der University of Sheffield. Im Jahr 2016 wurde er zum Corresponding Fellow (auswärtigen Mitglied) der British Academy gewählt.
https://wolfgangstreeck.com
Bücher (Auswahl):
- How Will Capitalism End?: Essays on a Failing System. Verso Books, Brooklyn 2016
- Gekaufte Zeit: Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus. Suhrkamp, Berlin 2013

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ÜBERBLICK
Die Finanz-, Fiskal- und Wirtschaftskrise ist ein Resultat eines langen Umbaus des Sozialstaates in eine neoliberale Demokratie, die immer mehr Macht und Verantwortung an die Märkte abgegeben hat, an das starke Kapital. Aus der neuen Spannung zwischen Kapitalismus und Demokratie, zwischen den Kapitalinteressen und den Interessen der Bürger, Politiker und Staaten entstehen neue Konflikte und Krisen, die das demokratische System bedrohen. Professor Wolfgang Streeck, Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln, beschreibt in zwei Teilen Ursachen dieser Entwicklung und zeigt Auswege.
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INHALT
MANUSKRIPT
Ansage:
Mit dem Thema:
Starke Märkte, schwacher Staat – Warum der Kapitalismus de Demokratie bedroht – Teil 2.
Die Finanz-, Fiskal- und Wirtschaftskrise ist ein Resultat eines langen Umbaus des Sozialstaates in eine neoliberale Demokratie, die immer mehr Macht und Verantwortung an die Märkte abgegeben hat, an das starke Kapital. Aus der neuen Spannung zwischen Kapitalismus und Demokratie, zwischen den Kapitalinteressen und den Interessen der Bürger, Politiker und Staaten entstehen neue Konflikte und Krisen, die das demokratische System bedrohen. Professor Wolfgang Streeck, emeritierter Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln, beschreibt in zwei Teilen Ursachen dieser Entwicklung und zeigt Auswege.
Wolfgang Streeck:
Darüber, wann es mit dem Kapitalismus begann, lässt sich streiten und wird weiter gestritten; aber irgendwann im 18. Jahrhundert war es dann so weit, dass der Zweck des Wirtschaftens nicht mehr die Deckung eines gegebenen Bedarfs der Staaten und ihrer Untertanen war, sondern die endlose Vermehrung von privatem, in „bürgerlicher“ Hand gehaltenem Kapital, kreditgetrieben, unter technischer Anwendung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und koordiniert über selbstregulierende Märkte und die in ihnen zustande kommenden relativen Preise.
Zweifel an der Stabilität – oder wie man heute sagen würde, der Nachhaltigkeit – dieser modernen, auf Selbststabilisierung angewiesenen Ordnung gab es von Anfang an, und diese selber lieferte in Gestalt wiederkehrender wirtschaftlicher und politischer Krisen gute Gründe dafür, auch über ihr Ende nachzudenken. Tatsächlich blieb dieses vor allem deshalb immer wieder aus, weil die kapitalistische Lebens- und Wirtschaftsweise sich ständig, von Krise zu Krise, veränderte – oder besser: verändert wurde, am wirksamsten von ihren Gegnern: der Arbeiterbewegung, den staatlichen Bürokratien, den religiösen Gemeinschaften und, nach der gesellschaftlichen Demokratisierung, der Politik, gewählten Parlamenten und Regierungen. Infolge dieser Dynamik, erweitert durch die technisch-wissenschaftlichen Entwicklung und von der Modernisierung ausgelöste internationale Konflikte, gliedert sich die Geschichte des westlichen Kapitalismus in Perioden, deren Abgrenzung und Benennung umstritten sind, die aber dennoch alle eine ähnliche historische Sequenz abbilden: vom liberalen Kapitalismus der Gründerjahre zur Kriegswirtschaft des Ersten Weltkriegs und dem halb organisierten, halb liberalisierten Kapitalismus der Zwischenkriegszeit hin zu dem staatlich verwalteten, demokratischen Kapitalismus – der mixed economy – der drei Nachkriegsjahrzehnte und der seit den 1970er Jahren in Gang befindlichen neoliberalen Revolution.
Auch heute, wie so oft in der Vergangenheit, sprechen wir von einer Krise des Kapitalismus, und vielleicht sogar von einem Ende nach Art der Enden, die wir aus der Geschichte kennen: Ende in alter Form, gefolgt von neuem Anfang in neuer
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Form. Bewährt wie diese Denkfigur ist, möchte ich dennoch anregen, zumindest versuchsweise über sie hinauszugehen und zu fragen, ob wir uns heute nicht eben jener finalen Krise des Kapitalismus als sozialer Ordnung nähern, die so viele klassische Wirtschafts- und Gesellschaftstheoretiker haben kommen sehen. Um diese Möglichkeit erwägen zu können, müssen wir uns von der geläufigen Vorstellung lösen, dass eine Gesellschaft nur dann zu Ende gehen kann, wenn eine Nachfolgegesellschaft bereitsteht, ihr Erbe anzutreten – so wie die Bolschewisten sich den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus oder Kommunismus dachten. Wenn wir uns stattdessen auf den Gedanken einlassen, dass eine Gesellschaft auch aus sich selbst heraus zusammenbrechen kann und soziale Ordnung nicht garantiert ist, sondern erkämpft werden muss, können wir uns das Ende des Kapitalismus auch als Übergang aus Ordnung in Unordnung vorstellen; wie genau so etwas heute aussehen könnte, dazu später mehr. Und zweitens müssten wir gerade aus der Geschichte des modernen Kapitalismus die Lehre zu ziehen bereit sein, dass ein soziales System, das seine Stabilität seiner dynamischen Anpassung verdankt und diese wiederum seinen Gegnern, daran zugrunde gehen kann, dass es seine Gegner ausgeschaltet hat, also daran, dass es von seinem eigenen Sieg sozusagen zu einer Überdosis von sich selber gezwungen wird. Eben diesen Gedanken möchte ich im Folgenden zu entwickeln versuchen.
Säkulare Stagnation
Worin genau besteht nun die gegenwärtige, möglicherweise letzte Krise des Kapitalismus? Zwischen dem Ende der Stabilitätsperiode der Nachkriegszeit in den 1970er Jahren und der bis heute andauernden globalen Finanzkrise von 2008 durchliefen die Kernländer des entwickelten Kapitalismus nahezu im Gleichschritt eine dreistufige Krisensequenz, die mit der Inflation der 1970er Jahre begann und sich in der steigenden Staatsverschuldung der 1980er und der zunehmenden privaten Verschuldung der 1990er und 2000er Jahre fortsetzte. Inflation, Staats- und Privatverschuldung ermöglichten es den Staaten und ihren demokratisch gewählten Regierungen, verschärfte Verteilungskonflikte infolge höherer Rohstoffpreise, sinkender Wachstumsraten und zunehmender Möglichkeiten der Produktionsverlagerung und Steuerflucht latent zu halten, indem sie die verfügbare Verteilungsmasse durch Vorgriff auf erst noch zu produzierende, zukünftige Ressourcen ergänzten. Allerdings dauerte es jedes Mal nur ein gutes Jahrzehnt, bis die jeweilige Lösung selber zum Problem wurde und durch eine neue Lösung, oder besser: Zwischenlösung, ersetzt werden musste, bis 2008 die nunmehr globalen Finanzmärkte zusammenbrachen und die Frage der Nachhaltigkeit des nunmehr finanzialisierten Kapitalismus radikaler denn je auf die Tagesordnung geriet. Gleichzeitig verlagerte sich die politische Arena des gesellschaftlichen Verteilungskonflikts laufend weiter „nach oben“, weg von der Alltags- und Lebenswelt normaler Menschen in immer unzugänglichere und undurchschaubarere Elitezirkel: von den kollektiven Arbeitsbeziehungen mit ihren Streiks und Aussperrungen über Wahlkämpfe zur Verteidigung oder „Reform“ des Wohlfahrtsstaats hin zu privaten Kredit- und Kapitalmärkten und, nach 2008, zu internationalen Ministerräten und in die sorgfältig verschlossenen Sitzungssäle nationaler und internationaler Zentralbanken.
Parallel dazu stabilisierten sich drei mittlerweile jahrzehntealte globale politisch-ökonomische Trends, die man salopp als die drei apokalyptischen Reiter des Gegenwarts-Kapitalismus bezeichnen kann: sinkendes Wachstum, zunehmende Ungleichheit und steigende Verschuldung von Staaten, Haushalten und
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Unternehmen. Bemerkenswert ist, wie gut sie funktionieren. Eigentlich, nach Keynes, sollten Schulden Wachstum fördern, ebenso wie Wachstum nach neoliberalem Rezepten durch Ungleichheit gefördert werden soll. Stattdessen begrenzt Ungleichheit die effektive Nachfrage, und ein hoher Schuldenstand beeinträchtigt die Risikobereitschaft von Kreditgebern wie -nehmern. Die Folge ist Stagnation, auch wegen des Ausbleibens produktivitätssteigernder technologischer und sozialer Innovationen. Spätestens seit 2008 hängt eine von Deflationsängsten geplagte kapitalistische Weltwirtschaft am seidenen Faden einer abenteuerlichen Geld- und Zinspolitik, mit negativen Zinssätzen und frenetischer Geldschöpfung in unabsehbarem Ausmaß durch die Zentralbanken, die zu den letzten und einzigen Instanzen wirtschaftspolitischer Handelns geworden sind, ohne dass sich damit eine realistische Aussicht auf eine Erneuerung des Wachstumsimpulses verbinden würde. Alles, was wächst, sind die Aktienkurse und Haus- und Grundstückspreise, also die künftigen Blasen, die Profite des Finanzsektors aus immer fauler werdenden Krediten, und die Zahl der unterbezahlten und prekären Jobs im privaten Dienstleistungssektor, die an die Stelle von durch den Strukturwandel wegfallenden, längst nicht mehr normalen Normalarbeitsverhältnisse treten.
Wie tief die Krise ist, zeigt sich an der Ratlosigkeit derer, die sich eigentlich berufen fühlen müssten, sie zu beenden. Nach dem Scheitern des staatsverwalteten Kapitalismus der Nachkriegszeit, hatte ein entstaatlichter, privatisierter, marktregierter Kapitalismus seine Chance, bis er 2008 ebenfalls gescheitert war. Eingeholt von seiner Geschichtlichkeit, stand und steht der westliche Kapitalismus vor dem Rätsel einer präzedenzlosen, sogenannten „säkularen Stagnation“, wie sie in den auf Ewigselbiges fixierten Theorien der Standardökonomie schlechthin nicht vorgesehen ist. Auch die hastig präsentierten neuen Champions, die BRICS, konnten das Bild nicht dauerhaft aufhellen: nur kurze Zeit später waren Brasilien, Russland und Südafrika in den Sog eines dramatischen Preiseinbruchs an den Rohstoffmärkten geraten und sind dabei, in einem Sumpf von Massenelend, Korruption und Staatszerfall zu versinken. China blieb übrig, hochverschuldet zwar, ebenfalls mit sinkenden Wachstumsraten, dennoch aber anscheinend hochstabil, allerdings vielleicht gerade weil es sich letzte Schritte zu einer endgültigen Mitgliedschaft in der kapitalistischen Gesellschaftsfamilie noch vorbehalten hat.
Multimorbidität
Will man die gegenwärtige Krise des Kapitalismus genauer verstehen, so bietet sich an, auf Karl Polanyis Denkfigur der drei „fiktiven Waren“ Natur, Arbeit, Geld zurückzugreifen – fiktiv, weil sie im Kapitalismus zwar als Waren behandelt, anders als wirkliche Waren aber durch vollständige Einbeziehung in die Logik von Markt und Profit beschädigt werden, was gesellschafts-, ja menschheitsgefährdende Krisen zur Folge hat. Der zugrundeliegende Gedanke ist der einer negativen Dialektik der kapitalistischen Entwicklung: einerseits muss der Kapitalismus seinem Wesen gemäß auf ständige Expansion ausgehen und erreicht seine Vollendung, wenn alle nutzbaren Ressourcen zu Zwecken der Akkumulation von Kapital käuflich gemacht sind; andererseits aber ist er mit seiner Vollendung dann auch am Ende, weil wichtige Grundlagen jeden Wirtschaftens – die natürliche Umgebung, die menschliche Arbeitskraft und das Geldsystem – durch uneingeschränkte Kommerzialisierung zerstört werden. Auch hier also geht es darum, dass das Überleben des Kapitalismus von seiner Eindämmung durch gesellschaftliche Gegenkräfte abhängt, die ihn mithilfe regulativer Institutionen in Schach und die
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Unterordnung des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens unter die Gesetze der Kapitalakkumulation in Grenzen halten.
Vieles spricht nun dafür, dass eben diese regulativen Institutionen heute entscheidend geschwächt sind und dem Kapitalismus dadurch Expansionsmöglichkeiten offenstehen, die weit über das hinausgehen, was für die ihn tragende Gesellschaft und damit letztlich auch für ihn selber gut sein kann. Hauptursache scheint zu sein, dass die internationale Integration der kapitalistischen Wirtschaft – ihre „Globalisierung“ –, in den letzten Jahrzehnten viel schneller vorangekommen ist als die Integration der kapitalistischen Gesellschaften und ihrer kollektiven Handlungs- und Regierungsfähigkeit. Das, was dabei als „global governance“ an die Stelle staatlicher und gewerkschaftlicher Regulierung getreten ist, kann den Entwicklungs- und Organisationsvorsprung internationaler Märkte und Unternehmen nicht aufholen. Dies wiederum hat komplexe Rückwirkungen auf die alten, nunmehr in globale Märkte eingebetteten Nationalstaaten, die sich unter dem Druck eines globalen Standortwettbewerbs veranlasst sehen, sich mehr denn je „marktkonform“ zu verhalten und dabei zu Agenten der Durchkapitalisierung des Umgangs ihrer Gesellschaften mit den drei krisenträchtigen Ressourcen Natur, Arbeit und Geld zu werden. Eben dieser Übergang zu einer „Marktkräfte“ freisetzenden Politik im Zuge einer Selbsttransformation des Wohlfahrts- in einen Wettbewerbsstaat macht die neoliberale Revolution des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts aus.
Wie mit Polanyi zu erwarten, hat die Eröffnung neuer Möglichkeiten der Kommerzialisierung der fiktiven Waren im Zuge der Internationalisierung des Hochkapitalismus – seine kraftvoll erneuerte Expansion in unterregulierten internationalen und deregulierten nationalen Märkten – eine Vielzahl von Krisen ausgelöst, in Gestalt schädlicher Nebenfolgen von Überkommerzialisierung ebenso wie von Widerständen gegen diese und Konflikten über eine Re-Regulierung im Grenzgebiet zwischen nationaler und internationaler politischer Ökonomie. Beispiele für Erscheinungen, die sich in dieses Muster einordnen lassen, sind so zahlreich, dass nur ganz wenige hier Erwähnung finden können. Was die Natur angeht, so kann man auf neue, tief eindringenden Formen der Energiegewinnung, wie Fracking, verweisen, auf neue Bergbautechniken, wie das Absprengen von Berggipfeln, oder den Verkauf von riesigen Ländereien und Wäldern in der früher sogenannten Dritten Welt an multinationale Unternehmen, die in ihren Ländereien quasi-staatliche Souveränität ausüben. Mindestens ebenso viele Facetten hat die Kommerzialisierung der Arbeit infolge des Rückgangs der Gewerkschaften und der Entstehung globaler Produktionsketten – von der rapiden Ausbreitung prekärer Beschäftigung hin zu einem zunehmenden Druck kompetitiver Arbeitsmärkte auf Familien und Familienstrukturen, unter anderem mit der Folge einer breiten Transformation nicht-marktlicher in marktliche Sozialbeziehungen, auch mithilfe eines Imports billiger Pflegekräfte und Haushaltsversorger durch Immigration. Drittens und schließlich hat die Kommerzialisierung des Geldes zu einem schwunghaften weltweiten Handel mit Schulden, Verbriefungen von Schulden und Ausfallrisiken geführt, deren Ausmaß den Wert der Realwirtschaft um ein Mehrfaches übersteigt und diese jederzeit zum Stillstand bringen kann.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Entregulierung der drei fiktiven Waren im Übergang vom nationalstaatlich verwalteten zum globalisierten neoliberalen Kapitalismus eine breite Vielfalt von Krisen an allen drei Fronten
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kapitalistischer Expansion hervorgerufen hat. Keine einzige von ihnen mag für sich genommen in der Lage sein, dem nunmehr globalen Kapitalismus lebensgefährlich zu werden – anders als bei Marx die langfristig sinkende Profitrate, bei Keynes die Sättigung der Märkte, bei Schumpeter die seiner Meinung nach unvermeidliche Bürokratisierung der Wirtschaft oder auch bei heutigen Umweltaktivisten die globale Erwärmung. Alle Krisen zusammen aber könnten tödlich sein – Krisen, von denen jede einzelne vielleicht behandelbar wäre, alle auf einmal aber nicht, zumal wenn sie sich auf undurchschaubare, weil hochkomplexe Weise gegenseitig verstärken.
Die Krise des modernen Staatensystems
Das historische Steckenbleiben des, nun vielleicht endgültig, „späten“ Kapitalismus, manifestiert sich nicht zuletzt in einer tiefen Krise seines Staatensystems. Anders als manchmal behauptet, benötigt der Kapitalismus für seine für ihn lebensnotwendige Expansion eine stabile staatliche Ordnung. Dies gilt sowohl nach außen, an seiner Peripherie, als auch nach innen, innerhalb der schon von ihm erfassten Gesellschaften; an beiden Fronten bedarf es staatlicher Unterstützung und Absicherung dessen , was Rosa Luxemburg als „Landnahme“ beschrieben hat: des Vordringens kapitalistischer Wirtschafts- und Lebensweisen in vorkapitalistische Vergesellschaftungsformen. Beispielsweise konnte der Kapitalismus sich immer nur im Gefolge einer internationalen Hegemonialmacht ausbreiten, die Widerstände gegen kapitalistische Modernisierung militärisch, finanziell und kulturell ausschaltete und Zweifel an der Stabilität der kapitalistischen Wirtschaft und der Zuverlässigkeit ihrer Währung als banker und buyer of last resort ausräumte; nach Genua und Florenz waren es vor allem die Niederlande, das britische Empire und die Vereinigten Staaten, die nacheinander dem sich ausbreitenden europäischen Kapitalismus als Wirtsnationen dienten.
Was genau dabei von ihnen verlangt wurde, änderte sich von Epoche zu Epoche. Im staatlich verwalteten Kapitalismus der Nachkriegszeit bemühte sich seine neue internationale Garantiemacht, die Vereinigten Staaten, nach dem Ende des Kolonialismus, um den Aufbau eines globalen Kordons stabiler, auf kapitalistisch-industrielle „Entwicklung“ orientierter Nationalstaaten, bereit, dem Zentrum zuverlässig und zu tragbaren Preisen die von ihm benötigten Rohstoffe zu liefern, und zugleich in der Lage, ihrer Bevölkerung glaubhafte Perspektiven auf ein baldiges Aufschließen an das westliche Konsumniveau zu eröffnen. Gleichzeitig, in den Kernländern des entwickelten Kapitalismus, sollten demokratische Wahlen, Sozialpolitik, Arbeitsmarktpolitik, gewerkschaftliche Tarifautonomie und Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer sowie ein wachsender Markt für Konsumentenkredite, die für die laufenden Ausweitung des sozialen Territoriums für marktförmige Kapitalakkumulation unentbehrliche Massenloyalität erzeugen. Dabei ging es weder nach außen noch nach innen ohne Repression ab, im Gegenteil. Dennoch war für geraume Zeit die Aussicht auf ein flächendeckendes, die kapitalistische Peripherie absicherndes System von „Entwicklungsländern“ sowie auf einen stabil institutionalisierten sozialdemokratischen Klassenkompromiss im Zentrum des kapitalistischen Weltsystems nicht von vornherein unrealistisch.
Heute freilich kann davon nicht mehr die Rede sein. Außen wie innen stößt der kapitalistische Expansionsprozess auf Widerstände, an denen das moderne Staatensystem zu scheitern droht. Das Erlahmen der kapitalistischen Wachstumsdynamik hat in den Ländern der Peripherie, die es in den 1980er Jahren versäumt haben oder nicht in der Lage waren, den asiatisch-autoritären Modernisierungspfad zu beschreiten, die Hoffnungen ihrer Mittelschichten auf
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Anschluss an das nordamerikanisch-europäische Wohlstandsniveau zerstört. Damit gerieten ihre Staaten in Misskredit, zumal deren Eliten sich gleichzeitig in selbstbereichernde Oligarchien verwandelten und endgültig aus ihren steckengebliebenen Ländern in das hochdynamische globale übersiedelten. Allfällige Revolten gegen die parasitär gewordenen, stagnierenden Regime der kapitalistischen Peripherie produzierten eine wachsende Zahl von gescheiterten Staaten, in denen, von Westafrika bis Pakistan, oder in Mittelamerika, bewaffnete Gangsterbanden, die den amerikanischen Markt mit Drogen beliefern, oder fundamentalistische Oppositionsbewegungen rapide an Macht gewannen, die die westliche Lebensweise, von der sie wissen, dass sie ihnen für immer unzugänglich bleiben wird, grundsätzlich ablehnen. Eine Folge sind Wanderungsbewegungen von der kapitalistischen Peripherie in das Zentrum, die die dortige Politik vor bislang ungekannte Integrationsprobleme stellen. Dies gilt vor allem, wo die an der Peripherie Marginalisierten auf frühere Einwanderer aus denselben Ländern treffen, die ihre Marginalisierung im Zentrum selber erfahren haben. Im immer häufigeren Extremfall tritt dann ein diffuser „Krieg gegen den Terror“, global wie national, an die Stelle dessen, was einmal als entwicklungspartnerschaftliche Staatenordnung konzipiert war.
Was insbesondere die Staaten des entwickelten Kapitalismus angeht, so sind Immigration und Terrorismus für eine wachsende Zahl ihrer Bürger nur Aspekte eines allgemeinen Kontroll- und Souveränitäts- und damit Demokratieverlusts, der auf die Globalisierung, also die bedingungslose Öffnung der kapitalistischen politischen Ökonomien für den Weltmarkt und den von ihr angeblich erzwungenen nationalen Strukturwandel zurückgeht. Als besonders destruktiv für die Stabilität der nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen kapitalistischen Demokratien erwies sich das allmähliche Absinken wachsender Teile der eingesessenen Bevölkerung auf den Status wirtschaftlich wie kulturell überflüssiger „Globalisierungsverlierer“. Ohne Vertretung durch die bestehenden, internationalistisch umorientierten Parteien waren sie lange in Apathie verfallen und blieb ihre wachsende Entfremdung – ihr Gefühl, „ausgegliedert“ und „abgehängt“ zu sein – politisch unbemerkt, bis auf einmal kritische Schwellenwerte im Ausmaß und Intensität der inneren Marginalisierung überschritten waren. Damit begann die Ära des von den etablierten Parteien so genannten „Populismus“, verbunden mit einer tiefen Spaltung der politischen Systeme der globalisierten kapitalistischen Nationalstaaten infolge eines rapiden Aufstiegs neuer Parteien, die von ihren älteren Konkurrenten umgehend als Parias aus dem demokratischen politischen Diskurs ausgeschlossen wurden. Damit habe sie die Möglichkeit, Themen zu monopolisieren und auf ihre Weise zu interpretieren, die von den immer enger zusammenrückenden Parteien des alten Regimes tabuisiert werden, was den neuen Paria-Partein wachsen hilft und es ihnen in einer wachsenden Anzahl von Ländern ermöglicht, diese nach herkömmlichen Maßstäben unregierbar zu machen – siehe Italien, Frankreich, Großbritannien, Österreich, die Vereinigten Staaten unter Trump und, vielleicht, Deutschland 2017 nach Merkel.
Ich halte die Krise des kapitalistischen Staatensystems für so fundamental, dass nicht damit zu rechnen ist, dass sie in absehbarer Zeit überwunden werden kann. Die heutige „Staatengemeinschaft“ kann weder international für Stabilität sorgen, noch national den zunehmenden Widerstand gegen Internationalisierung und kapitalistische Modernisierung überwinden. Weltpolitisch zeichnet sich nach dem Scheitern der US-amerikanischen Hegemonialmacht eine globale Rivalität zwischen den Vereinigten Staaten und China ab, die der historischen Erfahrung zufolge eher kriegerisch als durch eine friedliche Teilung der Aufgaben und Privilegien der
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kapitalistischen Vormacht beigelegt werden dürfte. Auch nach innen gibt es Parallelen zu den 1930er Jahren, als die Staaten ihre Bürger nicht vor dem kapitalistischen Krisenzyklus schützen konnten. Heute treffen politisch blockierte Regierungen, die sich als unfähig erwiesen haben, ihre Gesellschaften unter dem Primat der internationalen Wettbewerbsfähigkeit zu rationalisieren – siehe das bevorstehende Scheitern des „europäischen Projekts“ auf eine tiefgreifende Strukturveränderungen erzwingende technologische Revolution, ohne in der Lage zu sein, das Wirtschaftswachstum neu zu beleben, die zunehmende Ungleichheit und die Oligarchisierung aufzuhalten und die Risiken einer hohen allgemeinen Schuldenlast zu entschärfen. Auch die Trumps und Le Pens, soviel ist sicher, werden an dieser langen Liste von Herkulesaufgaben scheitern und den Kapitalismus, so wie wir ihn kennen, nicht retten können.
Interregnum
Wie also wird der Kapitalismus, multimorbide wie er heute ist, enden? Wie die Dinge liegen, werden wir dies erst nach einer langen Zwischenphase wissen können, einem Interregnum, wie Anfang der 1930er Jahre von dem italienischen kommunistischen Sozialphilosophen Antonio Gramsci in seinen Gefängnistagebüchern definiert als eine Epoche, in der „das Alte stirbt und das Neue noch nicht geboren werden kann“, eine Zeitspanne unbestimmter Dauer, in der, so Gramsci, mit „einer großen Vielfalt pathologischer Symptome“ zu rechnen ist. Pathologisch deshalb, weil eine Gesellschaft im Interregnum, deren alte Ordnung zusammengebrochen ist, strukturlos und damit unregierbar geworden ist; anstelle von Strukturen besteht sie aus Ketten unberechenbarer Ereignisse, die sich selbst genug und unfähig sind, zu Gründungsakten einer neuen Ordnung zu werden. Ein Interregnum, in anderen Worten, ist eine Zeit höchster Ungewissheit und Unsicherheit des Konsums statt der Produktion oder Weiterentwicklung sozialer Ordnung, extremer Freiheitsgrade politischen Handelns, die aber infolge gleichzeitig mangelnder kollektiver Handlungsfähigkeit nicht zur Gestaltung genutzt werden können, sondern allenfalls zu eitler Selbstbespiegelung.
Politik im Interregnum entspricht dem, was Marx im 18. Brumaire des Louis Napoleon als Bonapartismus bezeichnet hat: ohne strukturelle Stützen und Bindungen, ohne von einer zu einem „Sack Kartoffeln“ degenerierten Gesellschaft vorgegebene Leitlinien, ist sie den Launen egozentrischer Machthaber ausgeliefert, die von nichts anderem getrieben sind als ihrem persönlichen Narzissmus. Losgerissen aus gesellschaftlichen Ordnungszusammenhängen wird Politik so zum Theater, zur postmodernen Show. Für die unberechenbar gewordenen Probleme der Gesellschaft hat sie keine Theorien oder gar Rezepte, schon weil es keine Akteure gibt, die sie anwenden könnten, keine Adresse, an die ein neuer John Maynard Keynes seine Vorschläge zur Krisenbehebung schicken könnte. Mit dem Einbrechen des institutionellen Rahmens politischen Handelns beginnen Interessen zu fluktuieren und werden privatisiert; was an sozialer Ordnung gebraucht wird, muss laufend „vor Ort“, auf der Mikroebene sozialen Handelns, improvisiert werden, aber darauf, dass dies gelingt, ist kein Verlass. Proportional zu zunehmender Unregierbarkeit steigt der Bedarf an Systemvertrauen, definiert als Vertrauen in das Vertrauen aller anderen, dem einzig gebliebenen gesellschaftlichen Kitt; zugleich aber nimmt damit die Gefahr zu, siehe die ständig größer und komplexer werdenden Verschuldungspyramiden, dass selbst geringfügige Vertrauenseinbrüche, die auch von außen provoziert werden können, sich rasend ausbreiten, bis plötzlich alle verstehen, dass es die
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neuen Kleider des Kaisers, an die sie haben glauben sollen, gar nicht gibt, und das gesamte soziale Gebäude zu kippen beginnt.
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