SWR2 Wissen . Kurt Gödel und die Grenzen der Erkenntnis . Von Aeneas Rooch

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Erkenntnis . Grenzen : Kurt Gödel, von Aeneas Rooch
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SWR2 Wissen . Kurt Gödel und die Grenzen der Erkenntnis . Von Aeneas Rooch
Sendung vom: Dienstag, 5. März 2024, 8.30 Uhr
Erst-Sendung vom: Montag, 10. Dezember 2018, 8.30 Uhr
Redaktion: Charlotte Grieser
Regie: Felicitas Ott
Produktion: SWR 2018
Es gibt in der Mathematik Aussagen, von denen sich beweisen lässt, dass sich nicht beweisen lassen. Das besagt der Unvollständigkeitssatz von Kurt Gödel.
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

MANUSKRIPT
Atmo:
Vogelzwitschern, Spieluhr
Erzähler:
Die Kleinstadt Princeton im Nordosten der USA in den 1950er Jahren. Abend für Abend gehen hier zwei Männer spazieren, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Der eine leger im Pullover, mit langen, struppigen, weißen Haaren – der andere akkurat in Hemd, Anzug und Mantel, das Haar glatt nach hinten gekämmt. Der eine ist ein Medien-Star, eine Marke, weltberühmt – der andere schüchtern und unbekannt. Abend für Abend spazieren die beiden ungleichen Männer durch Princeton und unterhalten sich. Es sind zwei Extreme, die etwas gemeinsam haben. Der eine hat die Physik revolutioniert. Sein Name: Albert Einstein. Der andere hat eine neue Ära in der Mathematik begründet. Sein Name: Kurt Gödel.
Musik
Erzähler:
Gödel gilt als der bedeutendste Logiker des 20. Jahrhunderts, manchen sogar als der bedeutendste Logiker seit Aristoteles. Er hat die Grenzen der Erkenntnis ausgelotet, unser Verständnis von Wahrheit im Fundament erschüttert, er hat die Grundlagen für die moderne Informatik geschaffen und die Mathematik in ihre größte Krise gestürzt.
Ansage:
Geniale Mathematiker – Kurt Gödel und die Grenzen der Erkenntnis. Eine Sendung von Aeneas Rooch.
Erzähler:
Im 19. Jahrhundert fanden Mathematiker erstaunliche und faszinierende Dinge heraus:
Musik
Erzähler:
Sie entdeckten Oberflächen ohne Rückseite; sie konstruierten Kurven, die zwar glatt waren, aber gleichzeitig so holprig, dass man sie nicht zeichnen konnte; sie stießen auf spezielle Funktionen mit außergewöhnlichen Eigenschaften, enthüllten bizarre Besonderheiten der Kreiszahl „Pi“, sie fanden heraus, dass es verschiedene Größenordnungen von Unendlichkeit gibt, sie rechneten nicht nur mit Zahlen, sondern mit abstrakten Objekten… Die Mathematik machte faszinierende Fortschritte: in der Funktionentheorie, der Zahlentheorie, der Mengenlehre, der Analysis, der Algebra, in der Geometrie… Sie blühte in voller Pracht und offenbarte eine faszinierende Wunderwelt an spannenden, aufregenden Fragen. Und die Mathematiker waren optimistisch, dass sie sie alle beantworten würden – früher oder später.
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Der bedeutende Mathematiker David Hilbert war Anfang des 20. Jahrhunderts der unerschütterlichen Überzeugung, dass jedes Problem in der Mathematik lösbar ist.
O-Ton David Hilbert (Radioansprache):
Wir müssen wissen, wir werden wissen.
Sprecherin:
Hilbert glaubte fest daran, dass jede mathematische Aussage entweder „wahr" oder „falsch“ ist und dass Mathematiker die wahren Aussagen beweisen und die falschen widerlegen können – ohne Probleme und ohne Widersprüche.
Erzähler:
Doch Hilberts Traum von einer widerspruchsfreien Mathematik wurde zerstört. Von einem jungen, unbekannten Logiker aus Österreich.
Kurt Friedrich Gödel wurde am 28. April 1906 geboren, als zweites Kind wohlhabender Eltern in Österreich-Ungarn. Schon früh fiel er durch seine Neugier auf – das brachte ihm den Spitznamen „Der Herr Warum“ ein. Gödel war ein exzellenter Schüler und zog nach dem Gymnasium zum Studieren nach Wien. Er hörte Vorlesungen in Physik, Mathematik und Philosophie. Und Gödel besuchte den „Wiener Kreis“, eine Diskussionsgruppe, in der Intellektuelle aus Philosophie, Mathematik und Physik über die Grundlagen des Wissens, des Denkens und der Erkenntnis philosophierten.
Sprecherin:
Die meisten Mitglieder im Wiener Kreis waren der Ansicht, Philosophie solle auf Beobachtungen basieren – wie eine Naturwissenschaft. Alle Aussagen, die sich nicht konkret beobachten und nachprüfen ließen, taten sie als sinnlos ab. Gödel war anderer Ansicht. Er glaubte, Philosophie sei mehr als bloß das Interpretieren von Beobachtungen. Er wollte Philosophie zur gemeinsamen Grundlage aller Wissenschaften machen und mit ihr die fundamentalen Fragen des Lebens klären: Wie sollen wir leben? Was ist der Sinn des Daseins? Was ist der Geist? Was sind die Grundlagen des Erkennens?
O-Ton Eva-Maria Engelen:
Also er hat sich vollkommen gegen den Zeitgeist gestellt, was auch mutig war. Also er war ein ganz und gar mutiger Denker.
Erzähler:
Sagt die Philosophie-Professorin Eva-Maria Engelen. Sie gibt Gödels philosophische Notizen heraus.
O-Ton Eva-Maria Engelen:
Es gibt ein sehr schönes Zitat von seinem Freund Herbert Feigl, der sagt: ‚Seine enormen Fähigkeiten wurden bald erkannt. Er war ein uneitler, fleißiger Arbeiter, aber offensichtlich zugleich ein Genie ersten Ranges.‘
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Erzähler:
Gödel war fasziniert von den Gedanken und Ideen, die im Wiener Kreis diskutiert wurden, und er begann, sich für Logik und die Grundlagen der Mathematik zu interessieren. Er war Mitte 20, frisch promoviert – ein junger, unbekannter Logiker und Philosoph, als er etwas herausfand, das die Mathematik tief in ihrem Innersten erschütterte.
Musikakzent
Sprecherin:
Die gesamte Mathematik, jede einzelne Aussage, beruht auf Beweisen.
O-Ton Dirk Frettlöh:
Ein Beweis ist eben wirklich eine lückenlose Darstellung, dass diese Aussage richtig ist.
Sprecherin:
Sagt der Mathematiker Dr. Dirk Frettlöh von der Universität Bielefeld.
O-Ton Dirk Frettlöh:
Also der Satz des Pythagoras ist zweieinhalbtausend Jahre alt. Aber der wird halt eben nicht mehr widerlegt werden. In der Mathematik ist das, was man einmal bewiesen hat, wahr. Und das ist eben im Unterschied zu anderen Disziplinen. In der Physik oder in der Biologie oder ich will gar nicht von Soziologie reden, nähert man sich an, man hat Modelle, man hat Theorien, die das bekannte Wissen am besten erklären. Die können morgen schon falsch sein.
Sprecherin:
In der Mathematik werden alle Aussagen aus bereits bewiesenen Aussagen hergeleitet. Logisch und lückenlos. Was bewiesen wurde, bleibt deshalb für immer wahr. Dirk Frettlöh gibt ein Beispiel:
O-Ton Dirk Frettlöh:
Eine Aussage, die nicht jeder sofort glaubt, ist, dass 1 = 0,999999 und so weiter. Also null Komma und dann unendlich viele neun nach dem Komma. 0,9 Periode kann man auch sagen. Ich behaupte, dass wahr ist, dass das gleich 1 ist. So, das kann ich jetzt viel behaupten, jetzt muss ich das beweisen. Und wenn ich mir das mal so hinschreibe, dann schreibe ich auf der einen Seite eine 1 gleich 0,999 und so weiter. Da sehe ich noch nichts. Aber wenn ich jetzt mal auf beiden Seiten durch 3 teile, dann sehe ich auf der linken Seite ein Drittel und auf der rechten Seite sehe ich gleich 0,33333... und so weiter. Und das sind jetzt viele Menschen bereit zu akzeptieren. Dann habe ich für viele Menschen die Sache schon bewiesen. Und wenn mir jetzt immer noch nicht jemand glaubt, dass ein Drittel gleich 0,3333 ist, dann muss ich halt noch weiter überzeugen. Das geht aber auch.
Musik
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Sprecherin:
Mathematiker können einen Beweis jederzeit nachvollziehen. Sie können jede einzelne Aussage in einem Beweis überprüfen – ob sie korrekt aus bestehenden Aussagen hergeleitet wurde. Sie können auch die Beweise dieser bestehenden Aussagen überprüfen. Sie können im Gebäude der Mathematik, dem Gebäude aus logischen Schlussfolgerungen, Etage für Etage hinabsteigen und jede Aussage und jede Schlussfolgerung überprüfen. Bis ins Fundament, bis zu den sogenannten „Axiomen“. Die Axiome sind die grundlegenden Kern-Aussagen, auf denen alles aufbaut. Es sind einleuchtende und einfache Aussagen, die ohne Beweis als wahr angenommen werden und aus denen dann jede weitere Aussage logisch gefolgert wird.
Erzähler:
Anfang des 20. Jahrhunderts waren Mathematiker davon überzeugt, dass man auf diese Weise jede wahre Aussage lückenlos und zweifelsfrei beweisen kann: durch logische Schlussfolgerungen, die nur auf einer Handvoll Grundannahmen beruhen. Der bedeutende Mathematiker David Hilbert träumte sogar von einem Beweis, dass es geht.
O-Ton David Hilbert (Radioansprache):
Wir müssen wissen, wir werden wissen.
Erzähler:
Doch diesem Traum machte Kurt Gödel 1931 ein Ende.
O-Ton Dirk Frettlöh:
Gödel hat gesagt: Nein das geht nicht. Gödel hat sogar bewiesen: Nein, das geht nicht.
Erzähler:
Mit Mitte 20 veröffentlichte Gödel eine aufsehenerregende Arbeit, die die Mathematik für immer verändern sollte.
O-Ton Dirk Frettlöh:
Er hat im Wesentlichen rausgefunden, ganz platt gesagt, dass man nicht alles beweisen kann.
Erzähler:
Gödel hat logisch unwiderlegbar gezeigt:
Musikakzent
Sprecherin:
Wenn man sich sinnvolle Grundannahmen wählt, wird es immer Aussagen geben, die man aus diesen Grundannahmen durch logische Schlussfolgerungen nicht herleiten kann. Anders gesagt: Es wird immer Aussagen geben, die man nicht beweisen kann.
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Erzähler:
Was Gödel herausgefunden hatte, war das Aus für Hilberts Traum von einer vollständigen, widerspruchsfreien Mathematik. Gödel hatte die Fundamente der Mathematik ins Wanken gebracht.
Mathematiker waren bisher der festen Überzeugung gewesen, dass jedes Problem prinzipiell lösbar sei. Vielleicht würde es Jahre, Jahrzehnte oder Jahrhunderte dauern, aber früher oder später, so glaubten sie, würden sie jede Frage eindeutig klären können, jede Aussage entweder beweisen oder widerlegen. Mit einem Schlag waren ihre Hoffnungen enttäuscht und damit ihr Selbstverständnis in Frage gestellt.
Gödel hatte unmissverständlich gezeigt: Unsere Erkenntnis hat Grenzen. Selbst die mächtige Mathematik mit ihrer logischen Strenge kann nicht alle Fragen beantworten.
Sprecherin:
Haben die Mathematiker die grundlegenden Kernaussagen, die Axiome, aus denen sie alles Weitere folgern, vielleicht schlecht gewählt? Gibt es womöglich andere Kernaussagen, die als Fundament für ein Beweis-Gebäude geeigneter sind, weil man aus ihnen mehr herleiten kann?
Mit diesen Fragen beschäftigen sich Logiker. Doch der Mathematik hilft das nicht, denn aus der misslichen Lage, dass nicht alles beweisbar ist, führt kein Ausweg, erläutert der Bielefelder Mathematiker Dr. Dirk Frettlöh:
O-Ton Dirk Frettlöh:
Vielleicht stoßen wir auf eine Aussage, die wir nicht beweisen können. Na gut, niemand kann uns daran hindern – wir machen die Regeln! –, wir könnten diese nicht beweisbare Aussage als Axiom einfach dazu nehmen. Und in diesem neuen Rahmen wäre diese Aussage natürlich wahr. Oder wir könnten zum Beispiel zu den alten Axiomen, mit denen wir unsere Aussagen nicht beweisen können, können wir weitere Axiome hinzugeben, so dass das jetzt geht.
Sprecherin:
Das Problem, etwas nicht beweisen zu können, scheint umgangen.
O-Ton Dirk Frettlöh:
Aber dann sagt uns Gödel wieder, dass wir innerhalb dieses größeren Axiomen-Systems nicht alles beweisen können. Da stoßen wir wieder auf eine nicht beweisbare Aussage und so weiter. Das würde immer weiter gehen.
Sprecherin:
Kurt Gödel hat herausgefunden: Logische Systeme haben Grenzen. Sein sogenannter „Unvollständigkeitssatz“ bedeutet für die Mathematik: Es wird immer Fragen geben, die offen bleiben, weil sie mit logischen Schlussfolgerungen nicht erreicht werden können. Es ist eine unabänderliche Eigenschaft der Mathematik – ganz gleich, wie wir sie aufbauen: Es wird immer weiße Flecken auf der mathematischen Landkarte geben. Die Mathematik bleibt für immer unvollständig.
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Musikakzent
O-Ton Eva-Maria Engelen:
Gödel hatte ein Leben, und dieses Leben war dazu für ihn gedacht, sich um Denken, um den Verstand zu kümmern und um sonst nicht viel.
Erzähler:
Eva-Maria Engelen ist Professorin für Philosophie an der Universität Konstanz. Sie erforscht Gödels Werk und kennt sein Leben.
O-Ton Eva-Maria Engelen:
Ein Hobby, wenn es nicht dazu gedient hätte zur Zerstreuung, was man wiederum tun muss, um sich seiner Arbeit widmen zu können, wäre für ihn sinnlos gewesen.
Erzähler:
Gödel lebte für die Wissenschaft. Freunde hatte er kaum.
O-Ton Eva-Maria Engelen:
Gödel hatte Gesprächspartner, weil er sich für eine Sache interessiert hat und für das Denken interessiert hat, und nicht, weil er sich für Menschen und soziale Kontakte interessiert hat. Das mögen die meisten Menschen verschroben finden, aber aus Gödels Perspektive war das erstmal nicht verschroben.
Musik „Oh mein Papa“
Erzähler:
Wenn Kurt Gödel vom Denken erschöpft war, suchte er Zerstreuung: zum Beispiel in Musik und Film. Er hörte gern Schlager und Operetten.
Musik „Heigh ho“
O-Ton Eva-Maria Engelen:
Er hat auch sehr gerne Walt-Disney-Filme angeguckt. Bemerkenswert dabei ist, dass er mit dem Mathematiker Alan Turing einen Lieblingsfilm hatte, nämlich ‚Schneewittchen und die sieben Zwerge‘. Und der hat wohl auch mal versucht, Einstein dafür zu begeistern, also für ‚Schneewittchen und die sieben Zwerge‘, der hat sich davon aber nicht begeistern lassen.
Erzähler:
Der Mann, der gern Operetten hörte und Walt-Disney-Filme schaute, hatte 1931 die Mathematik in eine Krise gestürzt: Er hatte gezeigt, dass man nicht alles beweisen kann und die Mathematik deshalb auf ewig unvollständig bleiben wird. Wurde er dafür gehasst? War er der Buhmann der Mathematik? Benedikt Löwe, Professor für Mathematische Logik an der Universität Hamburg, widerspricht.
O-Ton Benedikt Löwe:
Der Gödelsche Unvollständigkeitssatz sagt nur, dass ganz im Prinzip ein Beweissystem solche Lücken aufweist. Ob diese Lücken dann nachher interessante
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mathematische Phänomene beschreiben, ist wieder eine ganz andere Frage. Und wenn wir uns die Geschichte der Unvollständigkeit in den Jahren danach ansehen, können wir auch feststellen, dass in den meisten Kerngebieten der Mathematik diese Unvollständigkeit nicht aufgetreten ist. Die meisten Fragen der Zahlentheorie, der Analysis, der Geometrie sind weiterhin entweder beweisbar oder widerlegbar.
Erzähler:
Doch es gibt sie, die unbeweisbaren Aussagen, die Fragen, die man nicht beantworten kann. In der Mengenlehre zum Beispiel.
Musikakzent
Sprecherin:
Der bedeutende Mathematiker Georg Cantor hatte Ende des 19. Jahrhunderts etwas Erstaunliches herausgefunden: Er hatte entdeckt, dass es verschiedene Größenordnungen von Unendlichkeit gibt. Es gibt zum Beispiel die Menge der natürlichen Zahlen: 0, 1, 2, 3, 4 und so weiter – unendlich viele Zahlen. Und es gibt die Menge der reellen Zahlen: alle Brüche, alle Wurzeln, Zahlen wie die Eulersche Zahl e und die Kreiszahl Pi – auch unendlich viele Zahlen.
O-Ton Benedikt Löwe:
Georg Cantor hatte im 19. Jahrhundert gezeigt, dass diese beiden Mengen ein Beispiel dafür sind, dass es unendliche Mengen unterschiedlicher Größe gibt. Das war damals eine große Überraschung: Es gibt weniger natürliche Zahlen als reele Zahlen. Und das hat natürlich ganz direkt dazu geführt, dass man sich gefragt hat, ob es auch Mengen gibt, deren Anzahl von Elementen zwischen diesen beiden Mengen liegt, also Mengen, die mehr Elemente haben, als es natürliche Zahlen gibt, aber weniger Elemente, als reelle Zahlen gibt.
Sprecherin:
Eine Frage, mit der sich auch Kurt Gödel eine Weile befasste – und die auch noch auf eine andere Art mit Gödel zu tun hat:
O-Ton Benedikt Löwe:
Dieses Problem hat sich als eines der Probleme herausgestellt, die nicht vom Standard-System der Mathematik entschieden werden können.
Erzähler:
Kurt Gödel hat der Mathematik ihre Grenzen aufgezeigt – mit seinem „Unvollständigkeitssatz“: Es gibt Probleme, die wir niemals werden lösen können. Aber er hat die Mathematik auch enorm gestärkt. Mit einer weiteren, bahnbrechenden Arbeit.
Sprecherin:
Gödel zeigte: Das Beweisen, auf dem die gesamte Mathematik aufbaut – das Schritt-für-Schritt-Herleiten neuer Aussagen aus bereits bekannten –, kann vollständig durch formale Rechenoperationen beschrieben werden. Mathematiker brauchen bei der Suche nach Beweisen zwar Ideen, Intuition, Erfahrung und Kreativität. Letzten Endes
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aber ist eine logische Schlussfolgerung kein undurchschaubares, diffuses Produkt unseres Geistes. Logisches Argumentieren und formales Rechnen sind das gleiche. Das liefert der „Gödel’sche Vollständigkeitssatz“.
Erzähler:
Eine fundamentale Erkenntnis für die Mathematik. Mit weitreichenden Konsequenzen, sagt der Logiker Professor Benedikt Löwe:
O-Ton Benedikt Löwe:
Der Vollständigkeitssatz besagt unter anderem, dass die Methode des Beweisens die gesamte Mathematik, die gesamte mathematische Praxis abdeckt, und die Methode des formalen Beweisens ist im Prinzip von Computern durchführbar. Computer können sich zwar nicht hinsetzen und versuchen, schöne Beweise zu finden oder elegante Beweise, aber Computer können dadurch, dass die formalen Beweise Schritt für Schritt nachprüfbar sind, einfach Beweise generieren, und dieses automatische Generieren von Beweisen erlaubt es einem, ganz anders an die Mathematik heranzugehen.
Gerade in den letzten Jahren gab es einige Beispiele von Arbeiten, bei denen die Beweise so lang geworden sind, dass sie von Experten nur noch sehr schwer im Einzelfall nachprüfbar waren. Und da hat es an einigen Stellen Versuche gegeben mit so genannten Beweis-Assistenten. Das sind Computerprogramme, die dem menschlichen Mathematiker dabei helfen, die Beweise für solche Theoreme zu finden.
Erzähler:
Computer können zwar nicht denken, aber sie können rechnen. Und da formales Rechnen und logisches Argumentieren – wie Gödel erkannt hat – das gleiche sind, reicht das aus, um lückenlos zu argumentieren, das heißt, um zu beweisen und zu widerlegen.
Kurt Gödel hat der Mathematik in den 1930er-Jahren ungeahnte Möglichkeiten eröffnet. Computer können rechnen, immer besser, immer schneller, und Gödel hat mit seinem „Vollständigkeitssatz“ gezeigt: „Rechnen“ ist gleichwertig zu „Beweisen“. Das heißt: Computer können beweisen. Sie können mit Logik offene Fragen klären. Aber nicht alle.
Sprecherin:
Zum einen hat Gödel mit seinem „Unvollständigkeitssatz“ gezeigt: Es gibt Fragen, die wir generell nicht durch das Beweisen klären können, das heißt insbesondere auch nicht per Computer. Zum anderen zeigte wenige Jahre später der britische Logiker, Kryptoanalytiker und Informatiker Alan Turing: Es gibt Dinge, die ein Computer prinzipiell nicht berechnen kann.
Musik
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Erzähler:
Die extreme intellektuelle Arbeit strengte Kurt Gödel enorm an, sagt die Philosophie-Professorin Eva-Maria Engelen:
O-Ton Eva-Maria Engelen:
Er macht sich auch immer wieder Notizen dahingehend, dass er sich Ruhepausen einbauen muss, dass er spazieren gehen soll, dass er Formen der Zerstreuung suchen soll, und das vor allen Dingen, weil er nach seinen großen mathematischen Beweisen doch in so tiefe Erschöpfung gefallen ist, dass er auch von sich aus ins Sanatorium gegangen ist, weil er so erschöpft war. Er hat dazu geneigt, so intensiv und angestrengt zu arbeiten, dass es ihn erschöpft hat.
Erzähler:
Gödel lebte für seine Arbeit. Und doch:
O-Ton Eva-Maria Engelen:
Gödel war kein geselliger Mensch, hat sich aber, auch wenn das jetzt gar nicht ins Bild zu passen scheint, immer für Frauen interessiert, von der Bedienung im Wirtshaus nebenan bis zu der Philosophin Rose Rand, von der man auf einem Bibliotheksausleihzettel auf der Rückseite auch lesen kann, dass er sie einmal geküsst hat. Auch dafür hat er Aufzeichnungen hinterlassen.
Erzähler:
Schließlich heiratete Gödel.
O-Ton Eva-Maria Engelen:
Was für die damalige Zeit wirklich skandalös war: Sie war Nachtclub-Tänzerin in dem Nachtclub ‚Der Nachtfalter‘, und das war schon mehr als anrüchig, das muss man schon sagen.
Erzähler:
Was hat die Tänzerin Adele Nimbursky an dem zurückhaltenden Logiker Kurt Gödel gefunden, der nur für seine Arbeit, seine Forschung, seine Gedanken lebte?
O-Ton Eva-Maria Engelen:
Ja, das ist eine gute Frage, weil er hat ihr gewisse Sicherheiten geboten, finanzieller Art, aber er war ja doch sehr eigen, sie war sehr isoliert in Princeton, sie hatte überhaupt keine Ansprechpartner dort, sie hat sich auch sehr schwer mit dem Englischen getan und hat es nie richtig gut gelernt. Das einzige, was man sich zusammenreimen kann, aber es bleibt ihm im Reich der Spekulation, ist, dass er ein sanfter Mann war und es wohl in dieser Generation nicht so viele davon gegeben hat.
Erzähler:
Gödel galt durch seine bahnbrechenden Arbeiten als der führende Logiker seiner Zeit.
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Atmo:
Rede von Bundeskanzler Schuschnigg an das Heer
Erzähler:
Doch als Österreich 1938 an Nazi-Deutschland angeschlossen und das Universitätssystem umorganisiert wurde, verlor er seine Position an der Universität. Er musste sich als Dozent neu bewerben. Als er plötzlich auch noch in die Armee eingezogen werden sollte, setzte er alles daran, Wien noch 1940 zu verlassen.
O-Ton Eva-Maria Engelen:
Er ist dann mit Adele erst nach Berlin, von Wien aus nach Berlin, dann nach Moskau, hat dort die Transsibirische Eisenbahn genommen und ist durch Sibirien und ist dann übergesetzt von Sibirien aus nach Japan und von Japan mit dem Schiff in die USA. Das hat alles er organisiert. Das hat er dann, wenn er musste, so etwas hat er geschafft.
Atmo:
Spieluhr „Oh mein Papa“
Erzähler:
Von da an lebten die Gödels in der Universitätsstadt Princeton im Nordosten der USA. Gödel arbeitete am „Institute for Advanced Study“. Er arbeitete allein und tauschte sich kaum mit anderen aus – mit einer Ausnahme: Er ging regelmäßigen mit Albert Einstein spazieren.
Erzähler:
Einstein soll gesagt haben:
Zitator Einstein:
Ich komme bloß noch zum Institut, um das Privileg zu haben, mit Gödel zu Fuß nach Hause gehen zu dürfen.
Erzähler:
Als Einstein stirbt, ist es für Gödel der Anfang vom Ende, sagt Eva-Maria Engelen:
O-Ton Eva-Maria Engelen:
Er hatte sehr viele soziale Kontakte in Wien. Als er dann in Princeton war, wird das graduell immer weniger. Er trifft dann auch immer weniger Leute persönlich in den sechziger und siebziger Jahren bis zu dem Zeitpunkt, wo er sich eigentlich am liebsten nur noch telefonisch mit anderen Menschen unterhält.
Erzähler:
Schließlich wird es für Gödel unmöglich, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen oder zu forschen.
O-Ton Eva-Maria Engelen:
Da muss man, glaube ich, vorsichtig sein, weil die Krankenakten uns nicht erhalten sind. Und ich habe zwei Leute gefragt, die hatten noch in den späten 60er-Jahren mit
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ihm zu tun, und hatten gesagt, sie haben ihnen nie irgendwie verwirrt oder unklar oder unpräzise erlebt. Nie.
Erzähler:
Dennoch zeigt Gödel Anzeichen von Verfolgungswahn.
O-Ton Eva-Maria Engelen:
Er hatte zum Beispiel Angst, dass der Kühlschrank die Luft vergiftet oder auch die Heizung die Luft vergiftet. Das sind so Anzeichen, die man als paranoide Störung wohl interpretieren könnte. Was auch noch gerne angeführt wird, ist sein Essverhalten, weil er sich ja zu Tode gehungert hat. Allerdings hat er nie gerne gegessen. Also das kommt schon in seinen frühen Notizheften vor, dass man nicht zuviel essen soll und dass das ungesund ist. Er war auch immer sehr dünn.
Erzähler:
Adele kümmert sich fürsorglich um Kurt und sorgt dafür, dass er zumindest ein wenig isst. Doch als sie einen Schlaganfall erleidet und ins Krankenhaus kommt, ist Gödel allein. Der bedeutendste Logiker des 20. Jahrhunderts isst nichts mehr und stirbt 1978 entkräftet und abgemagert an Unterernährung.
O-Ton Eva-Maria Engelen:
Er war dann zu dem Zeitpunkt schon vollkommen isoliert in Princeton, und seine ganzen Freunde, seine ganzen Gesprächspartner waren weggestorben. Also das kann man ja nicht ausschließen, dass er einfach keine Gesprächspartner mehr hatte. Seine Frau war zumindest temporär abwesend. Dass er keine Lust mehr hatte schlicht und ergreifend.
Musik
Erzähler:
Kurt Gödel gilt als der bedeutendste Logiker des 20. Jahrhunderts. Er hat gezeigt, wo die Grenzen der Erkenntnis liegen, er hat die Logik und die Mathematik für immer verändert.
O-Ton Dirk Frettlöh:
Er hat wirklich nur sechs, sieben große Arbeiten verfasst, was total ungewöhnlich ist. Einige bedeutende Leute wie Hilbert haben Hunderte von Arbeiten verfasst und Gödel hat sich mit sieben unsterblich gemacht.
Abspann:
SWR2 Wissen (über Musikbett)
Sprecher:
Kurt Gödel und die Grenzen der Erkenntnis. Von Aeneas Rooch. Gesprochen von Marc Oliver Schulze und Marit Beyer. Regie: Felicitas Ott. Redaktion: Charlotte Grieser. Eine Produktion von 2018.

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