SWR2 Wissen : In Krisenzeiten sind Utopien wichtiger denn je .Von Stefan Selke

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Utopien in Krisenzeiten . S. Seller
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SWR2 Wissen : In Krisenzeiten sind Utopien wichtiger denn je .Von Stefan Selke
Sendung vom: Ostersonntag, 9. April 2023, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Caspary, SWR 2023
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
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Überblick
In Krisenzeiten sind Utopien wichtiger denn je | Wie Hoffnung entstehen kann . Stefan Selke
Utopien zu entwickeln gegen Resignation und das Gefühl von Hilflosigkeit angesichts von Krieg, steigenden Preisen und Inflation sind wichtig für eine Gesellschaft. Wie könnte unser „Wunschland“ aussehen?

Die Gesellschaft braucht Mittel gegen die Resignation und das Gefühl allgegenwärtiger Hilflosigkeit. Wir sollten endlich lernen, in utopisches Kapital zu investieren, also Zukunftsinvestitionen jenseits des Ökonomischen und Technischen in den Mittelpunkt unserer kollektiven Zukunftserzählungen zu rücken. Erst auf dieser Basis kann der Masterplan für eine kommende Zivilisation entstehen, für ein Wunschland, das diesen Namen auch verdient. Bei diesem Projekt hilft vor allem ein Blick in die Geschichte, auf Utopien, die zum Teil realisiert wurden, zum Teil aber auch scheiterten.

Autor
Professor Stefan Selke, Soziologe an der Hochschule Furtwangen, beschreibt die ewige Suche nach dem Wunschland.
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MANUSKRIPT
Anmoderation:
Mit dem Thema: „In Krisenzeiten sind Utopien wichtiger denn je“. Am Mikrofon: Ralf Caspary.
Die Gesellschaft braucht Mittel gegen die Resignation und das Gefühl allgegenwärtiger Hilflosigkeit. Wir sollten endlich lernen, in utopisches Kapital zu investieren, also Zukunftsinvestitionen jenseits des Ökonomischen und Technischen in den Mittelpunkt unserer kollektiven Zukunftserzählungen zu rücken.
Erst auf dieser Basis kann der Masterplan für eine kommende Zivilisation entstehen, für ein Wunschland, das diesen Namen auch verdient. Bei diesem Projekt hilft vor allem ein Blick in die Geschichte, auf Utopien, die zum Teil realisiert wurden, zum Teil aber auch scheiterten. Professor Stefan Selke, Soziologe an der Hochschule Furtwangen, beschreibt die ewige Suche nach dem Wunschland.
Stefan Selke:
Manchmal wird Forschung durch ein einziges Zitat ausgelöst.
„Da leben die Leute in ihren Vierzimmerwohnungen“, dichtete Kurt Tucholsky 1928, „aber ‚eigentlich‘ sind sie ganz etwas anderes (...) eigentlich sind wir überhaupt ganz anders, als man glauben könnte (...) Aber es ist ein gefährlicher (...) Traum, die Realität zu ignorieren, und im Wunschland zu leben. (...) So fliehen sie – und bleiben auf derselben Stelle.“
Inspiriert durch die Vorstellung eines ‚Wunschlandes‘ begann ich real-utopische Zivilisationslabore zu erforschen – also Projekte, bei denen Pioniere und Reformer versuchen, eine bessere Welt zu schaffen. Ich wollte herausfinden, welche Erfahrungen praktische Utopisten machten und machen. Finden sie tatsächlich das Neue oder treten sie bloß auf der Stelle, wie Tucholsky es befürchtete?
Mein Ziel war es, die Traditionslinie dieser Experimente mit der aktuellen Debatte über gesellschaftliche Transformation zu verbinden. Denn wieder einmal sind zahlreiche Menschen zivilisationsmüde und auf der Suche nach positiven Wunschbildern für eine bessere Zukunft.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie Hoffnung in Zeiten allgegenwärtiger Krisen entstehen kann. Denn alles scheint gegen die Hoffnung auf eine bessere Welt zu sprechen und vieles für die völlige Entmutigung. Auf den ersten Blick wirkt die Sehnsucht nach einer besseren Welt wie ein aussichtsloses Unterfangen. Aller Unwahrscheinlichkeit zum Trotz zeigte der ukrainische Soziologe Holowacha dennoch in einer empirischen Studie, dass neben Leid und Kriegsangst für 70 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer aktuell „Hoffnung“ das vorherrschende Gefühl ist.
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Wie kann das sein? Und was könnten wir daraus lernen? Wie könnte ein Zukunftsdesign aussehen, das uns hilft, Hoffnung auf eine gerechtere Welt zu wecken?
Vielleicht so: Jede Krise hat auch ein ‚Danach‘. Für diese Zeit benötigen wir zutiefst progressive Zukunftserzählungen, die die gemeinsame Gestaltbarkeit der Welt betonen. Immer, wenn es um Fragen der praktischen Gesellschaftsgestaltung geht, kommt es auf glaubwürdige, sinn- und identifikationsstiftende Zukunftsnarrative an. Gerade real-utopische Zivilisationsexperimente zeigen, wie sich Zukunft auch hoffnungsvoll erzählen lässt. Die beiden zentralen Narrative sind hierbei Anpassung und Aufbruch.
Bei Anpassungs-Narrativen stehen politische oder ökonomische Zwänge im Mittelpunkt. Unter Unsicherheit werden Schritt für Schritt inkrementelle Verbesserungen eingeführt. Leider fehlt den üblichen Anpassungs-Narrativen der Kompass für sinnhafte Ziele. Trotzdem werden sie leichtsinnigerweise sogar als großartiges Leitmotiv gefeiert.
Das ist gefährlich: Denn bei Anpassungs-Narrativen ist die Vorstellung eines idealen und zugleich stabilen Gleichgewichts handlungsleitend. Was fehlt, ist die Fantasie für eine andere, eine gerechtere Welt.
Zudem sind alle Anpassungs-Narrative im Kern einem elitären Gerechtigkeitsverständnis verhaftet: Während sich die Mehrheit mühsam durch Verzicht an die neuen Lebensverhältnisse anpassen und als resilient erweisen soll – z.B. im Kontext des Klimawandels – verweigern gerade die Eliten dauerhaft die dringend notwendige Aufgabe ihrer gut behüteten Privilegien.
Wenn Angst vor Destabilisierung und Sehnsucht nach dem vermeintlich Normalen die Haupttreiber von Veränderungen sind, wenn also Anpassungsdruck als wichtiger erachtet wird, als Reformen, dann kann eine bessere, eine hoffnungsvollere Welt gerade nicht entstehen.
In der Summe sind Anpassungserzählungen Symbole des verwalteten Stillstands. Wer sie gutheißt und verbreitet, signalisiert lediglich die Bereitschaft, sich mit dem scheinbar Alternativlosen zu arrangieren und immer weiter Standardwelten zu reproduzieren. Anpassung ist stets fantasielos und somit das falsche Leitmotiv. Was dann?
Zum Glück gibt es noch Aufbruchs-Narrative. Können wir es nicht besser? Mit dieser Frage hielten Utopisten quer durch alle Epochen den Wunsch nach dem Neuanfang lebendig. Aufbruchs-Narrative zelebrieren eine kollektive Reise ins Unbekannte, der Weg ist das Ziel. Aus utopischen Träumen wurden dann, hin und wieder, konkrete Projekte und greifbare Lebensmodelle.
Exakt diese praktischen Utopien wollte ich erforschen – am besten vor Ort. Für Menschheitslabore fanden sich zahlreiche Fallbeispiele:
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• Die Kolonie „Monte Verità“ etwa, von Lebensreformern um 1900 gegründet, gilt als erstes „kosmopolitische Reformlabor“ der westlichen Welt.
• Der Großindustrielle Henry Ford erkor in den 1930er-Jahren seine Planstadt „Fordlândia“ im Amazonasgebiet gar zum „Meta-Labor der Zivilisation“.
• Die spirituelle Utopie „Auroville“, entstand in den 1960er-Jahren in Indien als subtropische „Weltuniversität“ und universelles Menschheitsexperiment.
• Und Walt Disneys Idealstadt „Celebration“ sollte in den 1990er-Jahren ein modernes „Living Lab“ werden, um das heraufziehende Digitalzeitalter zu erproben.
Anhand ausgewählter Beispiele möchte ich nun die typische Entwicklung praktischer Utopien nachzeichnen. Denn trotz äußerlicher Unterschiede laufen Experimente des Neuanfangs unter dem Strich recht ähnlich ab: Alles beginnt mit der Sehnsucht nach dem Neuanfang, es folgt die Planungsphase der utopischen Ersatzwelt. An einem ausgewählten Ort erleben Pioniere daraufhin die Magie des Anfangs, nur um dann nach einiger Zeit inmitten von Alltag, Krisen und Zweifeln das Scheitern des eigenen Experiments miterleben zu müssen. Und erneut auf einen Neuanfang zu hoffen.
Sehnsucht nach Neuanfang
Das Beispiel der Reformkolonie „Monte Verità“ zeigt, was Imagination bewirken kann. Idealvorstellungen einer heilen Welt waren ein typisches Phänomen des ausklingenden 19. Jahrhunderts. Zwei Zivilisationsmüde – Henri Oedenkoven und Ida Hofmann – arbeiteten ab 1899 an der Utopie einer Lebensreform. Gemeinsam wollten sie sich aus dem verhassten bürgerlichen Leben mit seinen Zwängen – von Mieder bis Ehe – befreien. Das existenzielle Anliegen der Reformer war weit gefasst. An Ideen mangelte es ihnen nicht: Neue Kleider und Konventionen, neue Ernährungsweisen und sogar eine neue Sprache. Was sie wollten, war nicht weniger als eine neue Welt.
Aber jede Utopie braucht auch einen konkreten Ort. Schließlich wurden sie am Ufer des Lago Maggiore fündig. Oberhalb der Stadt Ascona gründeten die Sinnsucher „Monte Verità“, den Berg der Wahrheit, Symbol für die Möglichkeit des radikalen Neuanfangs. Doch die Zeit der wilden Experimente endete verführt, jäh stoppte der Erste Weltkrieg das Reformprojekt. In Brasilien versuchten die Utopisten erneut ihr Glück und gründeten ihr zweites Reformprojekt „Monte Sul“. Im Tessin hingegen verfiel der Berg der Wahrheit immer mehr. Heute befindet sich dort immernin noch ein Kongress- und Kulturzentrum. In den Pausen spazieren die Teilnehmenden durch den Garten. Und anstatt verträumt zum See hinunterzublicken starren sie, wie überall, auf die Displays ihrer Smartphones, wohl auf der Suche nach letzten Wahrheiten.
Planung einer Utopie
Orte für utopische Lebensformen entstehen allerdings nicht allein aus Einbildungskraft. Jedes Wunschland muss konkret projektiert werden. Dabei gingen so gut wie alle Utopisten davon aus, dass sich Äußeres und Inneres gegenseitig bedingen: Umwelt, Architektur, Habitat außen – soziales Verhalten, Rituale und Gemeinschaftskultur innen. Denn anders als in literarischen Fiktionen geht es in gelebten Utopien stets um die identifikationsstiftende Verbindung zur Umwelt.
Das Beispiel der Modellstadt „Saltaire“ – 1851 vom Baumwollfabrikanten Titus Salt in Yorkshire, England, als Reaktion auf die Schattenseiten der Frühindustrialisierung
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gegründet –, zeigt, wie sich ‚Hardware‘ und ‚Software‘ einer Utopie gegenseitig beeinflussen.
Während sich Karl Marx mit seinem „Kapitalistischen Manifest“ um das Intellektuelle kümmerte, war der Großindustrielle Salt Mitte des 19. Jahrhunderts der Mann der Stunde für das Materielle. Er entschloss sich, für seine Arbeiter gleich eine ganze Stadt, mit Schule, Bibliothek, Waschküche, Kirche und Altersheim errichten zu lassen. „Saltaire“ sollte zur sozialen Utopie werden und zahlreiche Reformgedanken in belebte Architektur übersetzen. Allerdings lebte selbst in dieser gut gemeinten „Company-Town“ der Paternalismus des viktorianischen Zeitalters fort. Sogar in ihrer Freizeit wurden die Bewohner sozial kontrolliert und diszipliniert. Privates und öffentliches Verhalten unterlag einer Reihe strenger Regeln. So war z.B. die Nutzung von Wäscheleinen oder Abfalleimern exakt vorgeschrieben. Wer von den Regeln abwich, wurde hart bestraft. Hier zeigt sich ein wiederkehrendes Problem: Greifen Mächtige – so gut wie immer Männer – durch eigensinnige Regelwerke in das Leben von Mitmenschen ein, kippt die Utopie schnell in eine Dystopie.
Magie des Anfangs
Zumindest aber der Anfang eines utopischen Experiments wird meist als hoffnungsvoll erlebt. Sehr schön lässt sich die Magie des Anfangs am Beispiel des kosmopolitischen Reformlabors „Auroville“ verdeutlichen, einer gemeinsamen Utopie der Französin Mirra Alfassa und des Inders Sri Aurobindo. Nach jahrzehntelanger konzeptioneller Vorarbeit sollte mitten auf einem abgelegenen Hochplateau in Südindien eine neue zivilisatorische Laboranordnung entstehen, eine universelle Stadt der Harmonie.
Voller Hoffnung wurde eine Straße gebaut, Broschüren wurden konzipiert, Spendengelder eingesammelt, Einladungskarten mit einer eigens entworfenen Briefmarke in alle Welt versandt. „Auroville: Die Stadt der Zukunft. 28.02.1968“ stand darauf. Die Zukunft wurde langsam greifbar.
Zur Einweihung kamen schließlich mehr als 5.000 Menschen aus aller Welt, neugierig darauf, wie das Experiment einer neuen kollektiven Lebensweise beginnt. Die UNESCO unterstützte das Projekt, die indische Premierministerin Indira Gandhi sandte Grußworte. Auf diese Weise geriet die Einweihung zu einem symbolischen Fest der Völkerverständigung. Die inzwischen 90jährige Mirra Alfassa sprach über den Durst nach Fortschritt und verlas die utopische Charta von „Auroville“ in mehreren Sprachen. Als Flaschenpost an die Menschheit wurde eine Urne aus Marmor mit Erde aus 124 Ländern sowie 20 indischen Bundesstaaten gefüllt und versiegelt. Nachdem die Gäste längst wieder abgereist waren, wehte der Wind weiter über das trostlose Plateau. Doch das utopische Experiment war tatsächlich in Gang gesetzt worden.
Experimente in Zivilisationslaboren
Leider lässt sich die Magie des Anfangs nicht konservieren. Utopien bringen in der Praxis harte Arbeit zwischen Traum und Realität mit sich. Das Beispiel „Fordlândia“, die von Henry Ford mitten im Amazonasbecken gegründete Kautschukplantage mit angeschlossener Idealstadt, zeigt deutlich, welche Rolle Alltag inmitten einer Utopie spielen kann. „Fordlândia“ sollte zum Meta-Labor der Menschheit werden, erlebte allerdings dramatische Wendungen.
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Gerade weil das Experiment mehr als idealistisch angelegt war, ließ Kritik nicht lange auf sich warten. Der bekannte Journalist Walter Lippmann erkannte in Fords Utopie „primitiven Amerikanismus“, denn eigene Banken, Schulen und Polizei höhlten die Souveränität des brasilianischen Staates aus – gerade so, als regierte Ford einen Staat im Staat.
Und als sich auch noch die Idee von der autonomen Produktion von Latex in Luft auslöste, platzte der Traum vom Zivilisationslabor endgültig. Die brasilianischen Arbeiter beklagten sich über die von Ford diktierte Ernährung, die ihren Gewohnheiten widersprach. Es kam zur finalen Katastrophe: Empört warfen sie mit Töpfen und Tellern, zerstörten den Speisesaal und schließlich die gesamte Stadt in einem furiosen Wutanfall.
„Fordlândia“ ging zugrunde, weil massive Konstruktionsfehler beim Zivilisationstest gemacht wurden. Fords Utopie konnte nicht funktionieren, weil die Idee der industriellen Arbeitsteilung im komplexen Ökosystem Amazoniens an eine unsichtbare Grenze stieß.
Nach und nach trug die Natur die dünnen Schichten der oberflächlichen US-amerikanischer Superzivilisation wieder ab. Was bis heute blieb, ist eine gnadenlose Abholzungsstrategie im Amazonasbecken, die damals ihren Anfang nahm.
Schattenseiten und Konflikte
Scheitern kennt viele Varianten, eine davon lässt sich am Beispiel von Walt Disneys Modellstadt „Celebration“ beobachten.
Trotz zahlreicher Versprechungen war der Lack auch dort recht schnell ab: Immer deutlicher entpuppte sich die auf dem Reißbrett geplante Kunststadt als Reservat des organisierten Glücks. Eigentlich sollte in der Idealstadt das Gemeinschaftsgefühl gestärkt werden. Öffentliche Geselligkeit war Teil des Plans, Zwangskontakte wurden als Form der Vergemeinschaftung betrachtet. Ordnung schaffte auch das „Pattern Book“, das berühmt-berüchtigte Regelbuch des Disney-Konzerns. Es enthielt einen komplexen Kanon von Regeln, die tief in die private Lebensführung eingriffen: Regeln für angemessenes Verhalten in der Öffentlichkeit oder Vorschriften, die festlegten, wie Häuser und Grundstücke auszusehen hatten. Disney schrieb sogar vor, welches maximale Gewicht eine Hauskatze haben durfte.
Das Beispiel „Celebration“ zeigt, wie schnell sich utopische Ideale ungeplant in Schreckensgespenster verwandeln und Visionen zu Gefängnissen werden können. Wo Regeln allmächtig sind, entstehen Apparaturen der Kontrolle, Mechanismen der Ausbeutung und Werkzeuge der Entfremdung.
Das Ende der Modellstadt war enttäuschend. Zwar lässt sich die ‚Hardware‘ einer Stadt – Häuser, Plätze, Straßen – auf dem Reißbrett perfektionieren. Die ‚Software‘ – also gelebte Gemeinschaft – lässt sich allerdings mitnichten programmieren. Der einflussreiche Architekturkritiker Lewis Mumford charakterisierte die Haltung hinter Disneys Idealvorstellung mit gnadenloser Härte: „Hier wurde eine neue Form von Gemeinschaft produziert“, schrieb er. „Eine Ansammlung uniformer,
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unidentifizierbarer Häuser, in uniformem Abstand, in uniformen Straßen, bewohnt von Menschen der gleichen Schicht (...) alles aus einer Gussform.“
„Celebration“ zerfiel wie ein Kartenhaus. Was blieb, war eine vom Disney-Konzern verwaltete Stadt. Intransparentes Unternehmensmanagement ersetzte demokratische Mitbestimmung. Für diese Form der privaten Regierung prägte der Politikwissenschaftler Evan McKanzie 1994 den Begriff „Privatopia“. Kritisch hob er deren destruktiven Charakter hervor: Privatopias sind kaltherzig und undemokratisch. Zugleich aber auch eine der beliebtesten Wohnformen im Mutterland der Demokratie – den USA.
Lehren aus gescheiterten Utopien
Nicht jedes von Utopisten ersonnene Projekt ist ein verallgemeinerungswürdiges Modell für besseres Zusammenleben. Dennoch lässt sich aus den Experimenten lernen. Um praktische Utopien für die Zeit nach der Krise zu entwickeln, sollten Fehler nicht andauernd wiederholt werden. Bedauerlicherweise setzt sich gegenwärtig eine Erzählform über die Zukunft durch, die genau diesen Zusammenhang missachtet. Zukunft wird inzwischen viel zu oft in der Form eines Quest-Narrativs erzählt, also einer Erzählform, bei der ein neues goldenes Zeitalter auf der Basis von Technologie versprochen wird. Dazu zwei Beispiele:
- Das japanische Unternehmen Shimizu verfolgt gegenwärtig die Idee einer sich selbst versorgenden Unterwasserstadt. Die „Ocean Spiral City“ soll nun auch noch die Tiefsee kapitalisieren und zugleich neue Lebensräume erschließen. Noch gibt es nicht viel mehr als designverliebte Konzeptstudien. Offen ist hierbei auch die Frage, ob derlei Habitate lediglich Rückzugsräume für Eliten sind und damit eher Anti-Gemeinschaften darstellen oder vielleicht doch Prototypen neuer Lebensformen für eine tragfähige Zivilisation.
- Auch das „Venus-Project“ in den USA steht in der Tradition techno-utopischer Machbarkeitsfantasien. Sein Gründer, der autodidaktische Sozial-Architekt Jacque Fresco verspricht nicht weniger als einen umfassenden Aktionsplan zur sozialen Sanierung der Welt auf Basis von High-Tech. Zukunft wird hierbei ausschließlich als Ingenieursaufgabe verstanden, Gesellschaft als Maschine betrachtet, Menschen werden auf konditionierbare Wesen reduziert. In seinem Manifest Looking Forward versprach Fresco bereits 1969 eine vollkommen kybernetische Gesellschaft, in der ein autonom arbeitender Superrechner vom Wetter über die Wirtschaft bis hin zur Regierungsform so gut wie jeden Aspekt des Daseins optimiert.
Genau diese Erzählform der Zukunft lebt gegenwärtig in den spekulativen Versprechungen der Digitalen Evangelisten fort, deren verheißungsvolle Heilsbotschaften die nahezu unendlichen Potenziale Künstlicher Intelligenz betonen. Sowohl bei älteren als auch bei zeitgenössischen Techno-Utopien ist allerdings ein Muster erkennbar: Sie kranken daran, komplexe gesellschaftliche Herausforderungen auf rein technische und quantifizierbare (Überlebens-)Fragen zu reduzieren. Bereits 1964 kritisierte Herbert Marcuse in Der eindimensionale Mensch, dass undurchschaubare technische-wirtschaftliche Systeme Menschen zu Handlangern machen könnten. Tatsächlich verhindert paradoxerweise die Flucht ins Technische gerade diejenigen kulturellen Innovationen, die unser aller Leben spürbar verbessern könnten.
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Auf diese Weise erzeugen Techno-Utopien erneut Entfremdung, wenngleich diese hübscher verpackt wird, als zu Zeiten der Frühindustrialisierung bei Titus Salt. Was auch immer uns als Zukunft verkauft wird – von Politikern, Wissenschaftlern oder esoterisch angehauchten Trendforschern –, ist meist wenig mehr als die oberflächliche Variation bereits bekannter Trivialitäten. Zukunft wird zur substanzlosen Show, Gesellschaft zum Spektakel.
Poesie der Hoffnung
Gibt es dennoch Hoffnung für eine Zeit nach der Krise? Ja, aber nur, wenn wir mehr utopische Momente zulassen, anstatt wie bisher unsere Standardwelt im Kontext mutloser Anpassungs-Narrative zu reproduzieren oder uns in verheißungsvollen Technikversprechen zu verlieren.
Hoffnung gibt es zudem nur, wenn wir bereit sind, in den Rückspiegel der Geschichte zu blicken und daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen. Viele Zivilisationsprojekte scheiterten, weil ihnen kein realistisches Menschenbild zugrunde lag und weil die Ideale der utopischen Pioniere in der Praxis überforderten. Untergegangene Wunschwelten verdeutlichen, wie der menschliche Faktor zum Tragen kommt, denn Menschen funktionieren nicht wie Maschinen, rational und effizient. Effizienz ist auf Dauer einfach keine angemessene Lebensform für Menschen.
Real-utopische Projekte sollten wir uns daher vorstellen wie „Labore ohne Wände“, in denen ergebnisoffene Zukunftstests ablaufen. Praktische Utopien sind Versuchsanordnungen, die gesellschaftliches Leben unter direkter Beobachtung zeigen. Ihr Wert liegt gerade nicht darin, abschließende oder eindeutige Antworten zu liefern, sondern an verdrängte Fragen zu erinnern. Im besten Fall erkennen Menschen ein gemeinsames Problem, verhandeln Zielvorstellungen, erleben Interessenskonflikte und ringen gemeinsam um tragfähige Lösungen. Idealvorstellungen werden so im praktischen Tun in Lösungswege umgesetzt.
Damit sind real-utopische Projekte wiederkehrende Versuche, kollektive Störungen zu beheben, explorative Versuchsanordnungen und soziale Experimente mit dem Potenzial, die Welt zu verbessern. Der einen oder anderen praktischen Utopie ist das zumindest einen historischen Augenblick lang gelungen. Zukünftige Unterwasserstädte oder gar Marssiedlungen müssen den Beweis ihrer Gesellschaftsfähigkeit jenseits technischer Machbarkeit hingegen erst noch antreten.
Fassen wir zusammen:
Was wir über praktische Utopien wissen, lässt sich mit der Idee des Regulativs umschreiben. Jede Utopie verfügt dabei über das Potenzial, latent vorhandene Kräfte zu wecken und einen Impuls zum Wandel auszulösen.
Schon der Historiker und Politiker Alexis de Tocqueville wusste, dass sich über jede empirische Gesellschaft eine imaginäre Gesellschaft legt, die aus utopischen oder gar revolutionären Ideen besteht. Das Imaginäre ist keineswegs nutzlos, es dient vielmehr als Katalysator des Denkens, Fühlens und Handelns und ist damit Grundlage für eine ‚Poesie der Hoffnung‘. Praktische Utopien geben uns Nachhilfeunterricht. Sie helfen, Blockaden aufzulösen und jenseits ideologischer
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Verkrampfungen und Dogmen wieder an die Traglast unserer Zivilisation zu glauben. Oder anders: Sie helfen uns, zu träumen.
Doch wo sollen eigentlich die neuen Träume herkommen? Träumer haben zu Unrecht einen schlechten Ruf. Zwar ist gerade der utopische Traum der Schlüssel zum Neuen. Dennoch sind Träume als zentrale Kulturtechnik der Vorausschau in Gefahr. Der Traum von einem Neuanfang wird viel zu schnell in die Nähe von Geistesgestörtheit gerückt. Trotzdem werden gerade jetzt Träumer dringend gebraucht. Utopisches Denken sollte daher Allgemeingut werden, an Schulen gelehrt, in der Politik hoch verehrt.
In Zeiten der Krise brauchen Menschen Zuversicht. Wir brauchen Mittel gegen die Resignation und das Gefühl allgegenwärtiger Hilflosigkeit. Dazu ist nicht die eine große Utopie notwendig, sondern viele tragfähige Kooperationen und Verbindunglinien zwischen bereits bestehenden Engagementfeldern.
Wir sollten endlich lernen, in utopisches Kapital zu investieren, also Zukunftsinvestitionen jenseits des Ökonomischen und Technischen in den Mittelpunkt unserer kollektiven Zukunftserzählungen zu rücken. Aufbruchserzählungen sind ein Ausdruck dieser Haltung. Sie sollten das zentrale Leitbild für unser Zukunftsdesign abgeben.
Erst auf dieser Basis kann der Masterplan für eine kommende Zivilisation entstehen, für ein Wunschland, das diesen Namen auch verdient.
Jede Krise hat auch ein ‚Danach‘. Für diese Zeit benötigen wir visionären Pragmatismus – also Aufbruchserzählungen, die die gemeinsame Gestaltbarkeit der Welt betonen, ohne dabei jedoch die gesellschaftliche Realität zu ignorieren. Einfach ist das nicht. Doch trotz aller Schwierigkeiten ist die Suche nach dem Wunschland einer der spannendsten Fortsetzungsromane der Menschheit.
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