Politische Mythen heute – Zurück zum Irrationalismus? Felix Heidenreich

Diskurs Platon Akademie 4.0 PA4 > Diskurse 2022 > EU-Demokratien . Natur . Weltkultur gestalten II.2 >D
Mythen - Politisch . F. Heidenreich
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Politische Mythen heute – Zurück zum Irrationalismus? Felix Heidenreich

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Überblick
> Politische Mythen scheinen heute in immer drastischeren Formen aufzutauchen und mit katastrophalen Folgen
verbunden zu sein. Wladimir Putin träumt vom Kiewer Rus, von einer mythischen "russischen Welt" und begründet
damit einen Angriffskrieg;
> Recep Tayyip Erdogan inszeniert sich auf geradezu lächerliche Weise als Sultan und widmet die Hagia Sophia wieder
zu einer Moschee um. Es gibt gute Gründe und schreckliche Anlässe, erneut über politische Mythen nachzudenken.
> Wladimir Putin träumt vom Kiewer Rus, von einer mythischen "russischen Welt"; Recep Tayyip Erdogan inszeniert
sich auf geradezu lächerliche Weise als Sultan. Es gibt gute Gründe, über politische Mythen nachzudenken.
> Ein Vortrag von Dr. Felix Heidenreich ist Politikwissenschaftler an der Universität Stuttgart.

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MANUSKRIPT
Anmoderation:
Mit dem Thema: „Politische Mythen heute – Zurück zum Irrationalismus?“. Am Mikrofon: Ralf Caspary.
Felix Heidenreich:
Die Vorstellung, die Geschichte des menschlichen Fortschritts bestehe darin, dass der Mythos durch den Logos ersetzt
werde („Vom Mythos zum Logos“ lautete die Formel des Philologen Bruno Snell), ist immer wieder und in den
verschiedensten Varianten kritisiert worden. Philosophen wie Hans Blumenberg stehen mit ihrer Kritik an einer
teleologischen Vorstellung der Überwindung mythischen Denkens in einer langen Tradition, die genaugenommen bereits
mit dem Poeten und Geschichtenerzähler Platon selbst beginnt, der seine Kritik am Mythos in einen Mythos packt.
Platon hatte das Denken in Bildern einerseits sein gedankliches Sich-Treiben-lassen beschrieben. Wie vom Wind übers
Meer getrieben komme man zwar schnell voran, könne aber die Richtung nicht wirklich bestimmen. Die berühmte
„zweitbeste Fahrt“ besteht, so Platon, im Rudern, also dem sorgfältigen, dialektischen Arbeiten mit sauberen Begriffen,
klaren Unterscheidungen, logischen Schlussfolgerung. Rudernd kommt man zwar langsamer voran, dafür aber
kontrolliert und zielgerichtet. Die Paradoxie bei Platon besteht nun aber darin, dass diese Kritik am Denken in Bildern
selbst in einer Metapher formuliert wird.
Noch deutlicher wird diese Paradoxie im Höhlengleichnis. Dass die Menschen durch Rhetorik, bloße Bilder,
Erzählungen und allerlei Schein getäuscht werden, erklärt uns Platon – selbst in einem Mythos, eben dem
Höhlengleichnis. Und neben dem Höhlengleichnis gibt es natürlich noch viele andere Geschichten, Metaphern,
Denkbilder bei Platon. Auch der große Kritiker der Rhetorik war also selbst Rhetoriker und Schriftsteller.
Neue Plausibilitäten sind in den vergangenen 50 Jahren hinzugekommen, und unterfüttern die Beobachtung, dass der
Mythos nicht einfach überwunden wird. Für die Bedeutung des narrativen Denkens und die welterschließende Funktion
von
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Metaphern gibt es heute empirische Belege. Die Kognitionswissenschaften haben beispielsweise erklärt, dass der
Mensch manchmal langsam und logisch, meistens aber schnell und sozusagen „analogisch“ denkt. Das Buch des
Nobelpreisträgers Daniel Kahnemann „Thinking: fast and slow“ ist ein Weltbesteller, der in dutzende Sprachen
übersetzt wurde.1
Ob diese beiden Modi des Denkens (einerseits logisch, analytisch, langsam und andererseits analogienbildend,
metaphorisch, narrativ) mit dem Umstand zusammenhängen, dass der Mensch zwei Hirnhälften hat, ist umstritten. Der
Literaturwissenschaftler und Mediziner Iain McGilchrist hat zu zeigen versucht, dass ein Wissen um die divergierenden
Arbeitsmodi unserer beiden Hirnhälften eine interessante Heuristik für die Kulturgeschichtsschreibung abgeben kann.2
Aber vielleicht lassen sich „Logos“ und „Mythos“ nicht so einfach physiologisch lokalisieren. Wie dem auch sei: Dass in
der Politik nicht nur „rational“, kalkulierend und „deliberativ“ kommuniziert wird, sondern eben auch mythisch,
performativ und rhetorisch, ist heute eine Trivialität.
Allerdings zeigt sich diese Trivialität in immer drastischeren Formen und mit erneut katastrophalen Folgen. Vladimir
Putin träumt von einer „russischen Welt“, von historischer Einheit, dem Wesen des Russentums – und begründet damit
einen Angriffskrieg; Tagyip Erdogan inszeniert sich auf geradezu lächerliche Weise als Sultan und widmet die Haggia
Sophia wieder zu einer Moschee um.
Auch im „Westen“ geht es nicht nur vernünftig zu – im Gegenteil. Auch hier haben politische Mythen seit Jahren
Hochkonjunktur. Boris Johnsons‘ und Nigel Farrages notorische Verweise auf die Geschichte sind vielleicht weniger
harmlos und spielerisch als sie erscheinen. Nigel Farrage bezog sich in seiner Kampagne für den Brexit explizit auf den
Dunkirk-Mythos. Noch einmal, so schien er zu suggerieren, gehe es darum, möglichst schnell vom Kontinent
loszukommen, wie damals bei der Evakuierung der britischen Truppen aus der Stadt Dunkirk (Dünkirchen) im Zweiten
Weltkrieg.3 Boris Johnson inszenierte sich als neuer Churchill, übernahm dessen rhetorischen Stil, lobte ihn – und
irgendwie zugleich sich selbst für genialische Durchsicht und harte Entscheidungen. Nicht nur in Russland, auch in
Großbritannien muss der Zweite Weltkrieg immer wieder aufs Neue gewonnen werden, so scheint es.
Womöglich besteht die von Olaf Scholz ausgerufene „Zeitenwende“ auch darin, dass einer mythologisierenden
Verwirrung entgegengearbeitet werden muss. Bisweilen scheint es, als seien bloße Argumente, Statistiken, Verweise auf
internationales Recht oder ökonomische Folgen wenig überzeugend. Dass man gegen alle Indizien an einem Dialog mit
Putin festhielt, erklärt sich wohl auch aus der im Rückblick naiven Hoffnung, man werde sich doch wohl irgendwie
„vernünftig“ einigen können.
1 Deutsche Ausgabe: Daniel Kahnemann, Schnelles Denken, langsames Denken, Siedler Verlag 2012.
2 Iain McGilchrist, The Master and His Emissary: The Divided Brain and the Making of the Western World, zweite
erweiterte Auflage, Yale University Press 2019.
3 Vgl. Hierzu: Felix Heidenreich: “Dunkirk – Leaving the Continent, again. Hans Blumenberg über die Tragik der
Wiederholung”, in: Weiter denken – Journal für Philosophie 1/2020.
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Diese Zuversicht in die Stärke ökonomischer und anderer kalkulatorischer Argumente scheint nun dahin.
Aber nicht nur nach außen sucht man nach neuen Ansätzen. Auch im innenpolitischen Kampf muss eine Strategie
gefunden werden, um den motivierenden und berauschenden Mythen der autoritären Bewegungen irgendwie begegnen
zu können. Aber wie? Nur mit Logos, mit Dekonstruktion und Wissenschaft, oder auch mit demokratischen Mythen,
mit Gegenbildern und den allerorten beschworenen „Narrativen“?
Das Anarbeiten gegen den Mythos ist zweifellos schwer. Carl Schmitt schrieb 1938 am Ende seines Buches über den
Leviathan des Thomas Hobbes: „Keine noch so klare Gedankenführung kommt gegen die Kraft echter, mythischer
Bilder an. Die Frage kann nur sein, ob ihr Weg im großen Gang des politischen Schicksals ins Gute oder Böse, ins
Richtige oder Falsche verläuft. Wer solche Bilder benutzt, gerät daher leicht in die Rolle eines Magiers, der Gewalten
herbeiruft, denen weder sein Arm noch sein Auge noch das sonstige Maß seiner menschlichen Kraft gewachsen ist.“ 4
Lässt sich diese Macht, diese Tendenz zum Kontrollverlust (den Schmitt selbst nur zu gut kannte) genauer verstehen?
Was wissen wir eigentlich über die Funktionsweise politischer Mythen?
Hans Blumenberg hat in einem Text über die Figur der „Präfiguration“ daran erinnert, dass der Angriffstag der
arabischen Allianz gegen Israel 1973 in Analogie zu einer berühmten Schlacht des Propheten Mohammed gewählt
wurde. „Der Operationsstab entschied für den zehnten Tag des Fastenmonats Ramadan, den 6. Oktober. Weshalb? Am
zehnten Tag des Ramadan im Jahr 623 hatte der Prophet Mohammed mit den Vorbereitungen für die Schlacht von
Badr begonnen, die zehn Tage später den Triumph des Islam über die arabische Welt mit seinem Einzug in Mekka
einleiten sollte.“5 Eine „bedeutsame Koinzidenz“ wurde also inszeniert. Die Geschichte sollte sich in transformierter
Form wiederholen, eine Vorausdeutung erfüllt werden.
Nach Blumenberg sind es vor allem totalitäre Regime, die solche historischen Verheißungen und Ankündigen behaupten,
um dann deren Erfüllung und Umsetzung durchzusetzen. Hitler, so Blumenberg, habe sich in beständig changierender
Weise mal als neuer Alexander der Große, dann wieder als Friedrich der Große oder auch als Napoleon inszeniert. Im
Hintergrund stand dabei jeweils der Mythos des „großen Mannes“, der Geschichte schreibt und die Welt nach seinen
Ideen formt.
Eine Inszenierung vermeintlich bedeutsamer Koinzidenzen beobachten wir auch in der Gegenwart. Es gibt den
durchaus plausiblen Verdacht, dass eine geradezu an Zahlenmystik erinnernde Imagination Putin auf den Gedanken
gebracht haben könnte, den Krieg gegen die Ukraine ausgerechnet am 22.02.2022 beginnen zu lassen – nachdem er am
08.08.2008 den aus seiner Sicht erfolgreichen Krieg gegen Georgien begonnen hatte. Zwar marschierten die Truppen
erst am 24.02. wirklich los, aber die entscheidende Rede wurde am Vorabend des 22.02. gehalten, an dem dann die
Anerkennung der „Volksrepubliken“ ratifiziert wurde und erste Truppen in die Ostukraine einmarschierten.
4 Carl Schmitt, Der Leviathan der Staatslehre des Thomas Hobbes, S. 123f..
5 Hans Blumenberg, Präfiguration. Arbeit am politischen Mythos, hrsg. Von Angus Nicholls und Felix Heidenreich,
Berlin 2014, hier: S. 10-11.
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Putin geht es womöglich um das termingerechte Heilen alter Wunden. Am 22.02.2014 musste der moskaufreundliche
ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch aus der Ukraine fliehen. Schon bald kursierten Aufnahmen aus seinem
Palast, Zimmer voller alberner Protzigkeiten, goldene Wasserhähne und ähnliche Geschmacklosigkeiten. Für Putin stellt
dieses Szenario wohl bis heute eine Horrorvision dar: das Volk, das in die Paläste kommt, Demokratie in einem
(zumindest auch) russischsprachigen Land. Der Angriff am 22.02.2022 sollte die Wunde vom 22.2. 2014 schließen.6
Seine immer direkteren Bezüge auf vergangene Zaren lassen vermuten, dass er diese Analogien nicht nur instrumentell
einsetzt, sondern tatsächlich an sie glaubt.
Die Denkfigur der termingerechten Reparatur der Geschichte finden wir auch bei Erdogan: Am 24. Juli 1923 war der
Vertrag von Lausanne unterschrieben worden, der das Ende des Osmanischen Reiches bedeutete. Genau am 24. Juli
2020 musste daher die Umwidmung der Hagia Sophia erfolgen, eine Art symbolische Korrektur der Geschichte und
Wiederbelebung alter Größe. Der Imam saß mit einem Krummschwert in der Hand neben dem Präsidenten in der Hagia
Sophia. Konstantinopel war noch einmal gefallen, der Sultan Mehmed II. war wiedergekehrt.
Aus einer distanziert-wissenschaftlichen Perspektive scheint an diesen Beispielen ein Aspekt besonders augenfällig:
Politische Mythen sind immer „gemacht“, wirken aber nur, wenn sie „natürlich“ erscheinen. Wenn die Künstlichkeit,
die „Gemachtheit“ des Mythos allzu erkennbar wird, erscheint er als bloßer Kitsch. Die Propaganda macht sich dann
durch Überdosierung sozusagen selbst kaputt. Aber ist nicht genau dies der Fall?
Putins und Erdogans politische Mythen sind in den Augen westlicher Beobachter bloßer Kitsch. Kitsch benutzt die
Mittel der Ästhetik auf eine so durchschaubare Weise, dass er damit den eigenen Zielen entgegenarbeitet, ja diese
unterminiert: Kitsch dekonstruiert sich selbst. Zumindest in unserem Rezeptionsraum wirken derartige politische
Mythen daher schnell lächerlich und die historischen Analogien völlig deplatziert.
Ein solcher Kitschverdacht, eine Skepsis gegenüber jeder Form von Pathos wendet sich nicht nur gegen die Mythen
von Autokraten, sondern auch gegen Pathosformeln in der Demokratie. Der hohe Ton ist uns tendenziell verdächtig
geworden. Gerade die bürokratisch anmutende Nüchternheit erwies sich für Angela Merkel und Olaf Scholz als
Erfolgsrezept. Die Skepsis gegenüber den starken Denkbildern gilt wohlgemerkt schon für die Inszenierungen auf
Parteitagen – und in Teilen für den Wahlkampf in Demokratien insgesamt.
Aber damit werden wir nur auf die umfassende Frage gestoßen, ob und wie denn politische Mythen heute noch möglich
sind. Was bedeutet die Veränderung von Rezeptionsräumen für die Praxis der politischen Rhetorik? Ist politischer
Mythos heute etwas Anderes als im 19. Jahrhundert, der Epoche Napoleons? Wie sind unter heutigen Bedingungen
demokratische politische Mythen möglich?
6 Dies war auch der Grund dafür, dass Putins Rede zum Gedenken an den Sieg über Hitler-Deutschland am 9. Mai
2022 mit größter Nervosität erwartet worden war. Es stand zu befürchten, dass die russische Führung die
Mobilmachung oder irgendeine andere Form eines neuen „großen vaterländischen Krieges“ erklären und die letzten
Hemmungen fallen lassen würde.
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Blumenberg unterscheidet in Arbeit am Mythos deutlich zwischen „gewachsenen“ Mythen und „gemachten“ Mythen.
Die einen haben sich in einer Art Evolutionsgeschichte durchgesetzt, über Jahrhunderte oder gar Jahrtausende. Sie
kommen in immer größerer Klarheit zum Vorschein. Die sogenannten „Kunstmythen“ hingegen werden fabriziert. Aber
bedeutet dies, dass Kunstmythen scheitern müssen?
Blumenberg selbst hat diesbezüglich, so scheint mir, keine ganz klare Meinung: Einerseits ist er der Ansicht, dass
Kunstmythen nicht „greifen“, keine wirkliche Wirkung entfalten können. Ein Beispiel ist die Mythologie der Nazis, die,
so zumindest Blumenberg, nie wirklich verfangen hat. Für ihn ist Rosenbergs „Mythus des 20. Jahrhunderts“ ein
Beispiel für den erfolglosen Versuch einer planmäßigen.
Ob dieses Mythopoiesis-Beispiel gut gewählt ist, ließe sich diskutieren, aber grundsätzlich scheint Blumenberg zunächst
recht zu haben. Emmanuel Macron beispielswiese leidet paradoxerweise an der zu großen Perfektion seiner Auftritte, an
der allzu makellosen Geschliffenheit seines Pathos. Ihm neben viele Französinnen und Franzosen übel, dass er ein so
guter, so fleißiger, so geschickter Rhetoriker und Mythopoet ist. Auch seine fotographische Selbstinszenierung – mal im
Kapuzenpulli und mit Dreitagebart, dann mit Sorgenfalten die Stirn haltend – hat viel Spott auf sich gezogen. Sie war
sozusagen zu gut gemacht und wurde dadurch als solche durchschaubar.
Andererseits muss Blumenberg natürlich einräumen, dass auch schon der Napoleon-Mythos eine kunsthandwerkliche
Dimension hatte: Mythen werden auch und gerade in der Romantik gemacht – und das scheint ihnen nicht geschadet zu
haben. Das beste Beispiel ist natürlich die erfolgreiche Selbstmythisierung Goethes, die für Blumenberg geradezu
paradigmatisch für die „Arbeit am Mythos“ war. Und niemand würde wohl behaupten, die Selbstmythisierung Goethes
habe nicht verfangen.
Wir könnten mit Blumenberg daraus schließen, dass erfolgreiche politische Mythen die Spuren der eigenen
„Gemachtheit“ verwischen müssen. Erinnern wir uns noch einmal daran, was Roland Barthes über das legendäre Auto
der 1960er-Jahre, die Citroen DS (die déesse, die Göttin) sagte: Ihre Oberfläche sei so makellos, dass die Spuren ihrer
Herstellung verschwunden scheinen. Dieses extrem windschnittige und Ufo-hafte Auto wirke, als stamme es von einem
fremden Stern, als sei es nicht von Menschen gemacht, sondern von Außerirdischen.
Auch für erfolgreiche Mythen scheint also zu gelten: Die Spuren ihrer Herstellung müssen wegpoliert werden. Es ist
womöglich wie bei einem Solo im Jazz: Es muss spielerisch, leicht, geradezu hingeschludert wirken. Dass die
Instrumentalisten Jahre damit verbracht haben, die entsprechenden Fähigkeiten zu entwickeln, muss unsichtbar bleiben.
Das „Z“, das die russische Propaganda benutzt, muss beispielsweise wie eine spontane Erfindung tapferer Soldaten
erscheinen. Nur so kann es wirken.
Diese Hypothese ließe sich an Willy Brandts Kniefall in Warschau testen. Würde sich unser Blick auf diese
tiefberührende Geste ändern, wenn sich herausstellte, dass sie von langer Hand geplant, in Arbeitsgruppen diskutiert
und schließlich beschlossen wurde? Dafür gibt es bekanntlich keinerlei Hinweise, alles spricht für eine spontane
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Eingebung. Und gerade dieser Umstand macht das Bild so stark. Dieselbe Geste als Ergebnis einer langen
Teambesprechung hätte niemals dieselbe Wirkung.
Willy Brandt war wohl ein Genie der politischen Kommunikation. Das können nicht alle in der Politik von sich
behaupten. Wahrscheinlicher ist ein Szenario, in der die Mythenproduktion recht sorgfältig geplant, diese Planungen
dann aber unsichtbar gemacht werden. Dies ist die Option, die Goethe gewählt hatte. Er verfügte über eine Art
Maschine der Selbstmythisierung, die wiederum Blumenberg in seinem Buch „Goethe zum Beispiel“ mit viel Liebe fürs
Detail auseinanderschraubt wie den Motor eines Oldtimers.
Vielleicht aber haben sich nicht nur die Produktionsbedingungen des Mythos geändert, von der naiven zur
sentimentalischen Produktionsweise, um es in Schillers Worten zu sagen. Vielleicht gilt dies auch längst für die
Rezeption politischer Mythen. Vielleicht erwartet das Publikum heute im Gegenteil, über die Entstehungsbedingungen
ins Bild gesetzt zu werden. Dann wäre auch noch die Herstellung des Mythos ein Teil des Mythos.
Und kennen wir nicht auch genau dies: unendliche Geschichten darüber, wie die Beatles ihr legendäres Weißes Album
aufgenommen haben? Nicht etwa die Perfektion des Ergebnisses, sondern die Kontingenz der Entstehung trägt dann
plötzlich zum Mythos bei. Unser zeitgenössisches Äquivalent zu Citroens DS wäre ein Auto aus Glas, dass die eigenen
Tricks offenlegt, vielleicht ein Tesla, der mit den eigenen Tricks prahlt, statt sie zu verbergen.
Kein Kinofilm kann heute mehr gefeiert werden, ohne dass die Produktionsbedingungen transparent wären. Jeder
Mythos kommt mit einem eigenen „Making-of“ daher. Die special-effects müssen immer gleich miterklärt werden, und
die Schauspieler erzählen von der intensiven Probenarbeit und den Strapazen bei den Action-Szenen.
Es ist auffällig, dass auch bei den politischen Akteuren in Demokratien immer öfter ein „behind-the-scenes“ publiziert
wird. Vor allem Barack Obama perfektionierte diesen „Blick hinter die Kulissen“ in zahllosen Youtube-Videos. Deutsche
Beispiele ließe sich ebenfalls nennen, Minister, die sich mit Kaffeetasse auf dem Boden sitzend vor dem Manuskript
zeigen, kurz bevor sie in der Generalversammlung der UNO sprechen.
Wir sitzen folglich nicht mehr einfach in einem politischen Theater und konsumieren die Inszenierung. Die Bürgerinnen
und Bürger werden beständig durch den Maschinenraum des Theaters geführt, sehen Drehbühnen und Maskenbildner,
Requisiten und den Theaterdonner. Dies bedeutet aber nicht das Ende der Inszenierung, sondern nur deren Ausweitung:
Auch das am Abendbrottisch gemachte Selfie des Politikers wird auf einer Bühne gemacht, nur an einem anderen Ende
der Bühne, weiter hinten im Maschinenraum.
Dies aber bedeutet: Auch die Demokratie hat Mythen. Der Rütli-Schwur, der angeblich die Grundlagen der
eidgenössischen Demokratie in der Schweiz legte, wird natürlich mythisch verklärt. Und dies gilt auch für die
Geschichte der europäischen Einigung, der Europäischen Union. Die Freundschaft zwischen Charles De Gaulle und
Konrad Adenauer, die gemeinsam in der Kathedrale von Reims an
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einem Gottesdienst teilnahmen, ist natürlich hochgradig aufgeladen, man könnte auch sagen mythisch übersteigert. Aber
das macht sie noch nicht falsch oder „bloß“ mythisch.
Aber was genau ist dann anders bei der sentimentalischen Produktion und Rezeption politischer Mythen? Putin und
Erdogan verachten wir, Obama, Charles de Gaulle und Adenauer sind uns sympathisch. Aber das kann ja kein formales
Kriterium sein.
Vielleicht können wir hier noch einmal die Unterscheidung von Mythos und Logos bemühen, mit der sich Blumenberg
so ausführlich auseinandergesetzt hat. Beide Modi der Weltbewältigung sind nötig, in den jeweiligen Situationen
angemessen, ja unvermeidlich. Im Modus des „Mythos“ denkt der Mensch schnell, arbeitet mit Analogien, bloßen
Bildern, hofft bereits bekannte Situationen wiederholen zu können. Im Modus des Logos reflektiert er, hält inne, sucht
nach Unterschieden, versucht die Dinge auf den Begriff zu bringen. Und doch bleibt die Frage, wer am Lenkrad sitzt.
Benutzt das mythische Denken die Rationalität bloß für die eigenen Zwecke? So könnte man die perfekte Kriegs- und
Vernichtungslogistik der Nazis verstehen: instrumentelle Rationalität zu wahnsinnigen Zielen.
Oder aber hegt der Logos die Verwendung des Mythos ein? In diesem zweiten Fall hätte das langsame Denken des
Logos eine Art Kontrollfunktion, ein Vetorecht: Was wir im Modus des „Mythos“ an Analogien bilden, würde das
langsame Denken auf Stichhaltigkeit prüfen. Der Mythos fantasiert, bildet wilde Hypothesen, stellt Bedeutsamkeiten
und Beziehungen her. Der Logos prüft, ob das alles überhaupt stimmen kann. Wo der Mythos zum bloßen Märchen,
zur Lüge wird, muss und kann der Logos Einspruch erheben. Der Krieg gegen die Ukraine ist eben ein „Krieg“ und
keine „spezielle Operation“, wie der Kreml behauptet. Die Wechselwirkungen beider Modi sehen in beiden Fällen sehr
ähnlich aus, sind aber grundverschieden. Entscheidend ist, so könnte man als Hypothese formulieren, wer hier das
letzte Wort hat.
Die Frage lautet also: Wer ist Meister, wer Diener? Dient der Logos dem Mythos oder umgekehrt? Politische Mythen
wären aus dieser Perspektive auch unter postheroischen, demokratischen Vorzeichen denkbar, insofern sie sozusagen
„schwach“, „gebrochen“ sind.
Was man sich darunter vorzustellen hätte, beschäftigte auch Hans Blumenberg. An einer aus meiner Sicht
entscheidenden Stelle zitiert er Thomas Mann. In einem Brief beschreibt dieser, was er mit dem monumentalen Werk
„Joseph und seine Brüder“ eigentlich beabsichtigte: die Wiedergewinnung des Mythos für die Zivilisation. Thomas
Mann – das ist nun durch und durch sentimentalische Mythopoiesis.
Die Gegenwart zeigt, dass dies keineswegs bedeutet, dass Mythen keine Wirkung erzielen. Ich ziehe dazu als letztes
Beispiel des Mythos vom „Ghost of Kiev“ heran. Angeblich gab es einen ukrainischen Piloten, der dutzende russische
Flugzeuge abgeschossen hat. Wie ein „Geist“ sei der „Ghost of Kiev“ aus dem Nichts aufgetaucht und habe die
Menschen geschützt und Rache an den Angreifern genommen. Auf Twitter wurde dern „Ghost of Kiev“ zu einem
Meme, einem feststehenden Topos. Manche behaupteten, ihn gesehen zu haben. Andere zeichneten Bilder oder
druckten T-Shirts. Es entstand ein Mythos, der als solcher gekennzeichnet war. Schon der Titel war ironisch: Ghost!
Wer soll schon ernsthaft an
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Gespenster glauben? Aber auch ein solcher sentimentalischer, halbironischer Mythos kann Trost spenden, Hoffnung
geben, Mut machen.
Die ukrainischen Kommunikationsstrategie ist vielleicht ein besonders eindrückliches Beispiel für einen einerseits
ironisch gebrochenen und anderseits dennoch erfolgreichen Gebrauch mythischer Denkbilder. Als Volodimir Selensky in
verschiedenen europäischen Parlamenten um Unterstützung bat, rief er sehr geschickt die jeweils passenden
historischen Topoi auf. Im spanischen Parlament sprach er beispielsweise von Guernica. Diese baskische Stadt wurde
im spanischen Bürgerkrieg von der Deutschen Luftwaffe zerstört. Sie gilt als Sinnbild für das Grauen des Krieges, für
den gnadenlosen Angriff auf Zivilisten. Nicht zuletzt das berühmte Gemälde von Pablo Picasso hat zu dieser Aufladung
beigetragen. Die spanischen Parlamentarier waren verständlicherweise tief beeindruckt.7 Offenbar reflektierte Selensky
sehr genau, welche Bilder und historischen Bezüge in welchen Parlamenten entscheidend sind.
Ein solcher Gebrauch bekannter Denkbilder kann auch eine „Umbesetzung“ von politischen Bildern beinhalten. Unter
einer „Umbesetzung“ versteht Blumenberg die Verwendung mit veränderten Rollen, den Austausch von einzelnen
Begriffs- oder Bildbeständen. Ein für Blumenberg wichtiges Beispiel ist das Denkbild vom „Licht der Vernunft“.
Während diese Vorstellung im Platonismus noch mit der Idee der Erleuchtung verbunden ist, wird der Mensch unter
modernen Vorzeichen selbst zum Beleuchter: Immer noch ist zwar vom „Licht der Vernunft“ die Rede, nun aber in
umbesetzter Form, nicht mehr als Erleuchtung von Gläubigen oder Philosophen, sondern als Ausleuchtung durch
Forscherinnen und Forscher.
Auch diesen Effekt der Umbesetzung finden wir im Kampf der Bilder. Timothy Snyder hat immer wieder auf die
wichtige Rolle von Iwan Iljin für Putins Denken hingewiesen. Dessen Hauptwerk „Über den gewaltsamen Widerstand
gegen das Böse“ stellt das Denkbild des Heiligen Georgs im Kampf mit dem Drachen ins Zentrum. In der deutschen
Ausgabe sehen wir den Heiligen Georg auf dem Cover.8
Iljins Text ist ein gutes Beispiel dafür, wie fremd uns die Pathosformeln eines unironischen politischen Mythos heute
geworden sind. Der religiös geläuterte „Krieger“ solle endlich sein Schwert gegen die Übeltäter erheben, so erfahren wir.
Russland, so die These, kämpfe gegen das Böse in Gestalt eines dekadenten, gottlosen Westens. In der Terminologie
des Kreml ist Moskau heute die letzte Bastion im Kampf gegen „Gayropa“.
Für die Frage nach dem Charakter demokratischer politischer Mythen ist es interessant, die ukrainische Umbesetzung
dieses Denkbilds zu betrachten, wie sie seit Beginn des Krieges im Netz kursiert: Selensky nun plötzlich als Heiliger
Georg, der den Drachen Putin tötet. Dieses Bild kann aber die Distanz zur Mythisierung nicht verbergen, sie versucht
nicht, die Spuren der eigenen Gemachtheit zu verwischen, sondern zwinkert uns gleichzeitig zu: Natürlich ist dieses Bild
auch irgendwie ein Witz. Und gerade deshalb ist es ein demokratischer oder zumindest demokratiekompatibler
politischer Mythos.
7 Vgl. den ausführlichen Bericht in El País vom 6.4.2022.
8 Aus dem Russischen übersetzt von Sascha Rudenko, Wachtendonk: Edition Haggia Sophia 2018.
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Entscheidend wäre dann nicht so sehr der Inhalt oder die Form politischer Mythen, sondern die Art des Umgangs mit
ihnen. Solange politische Mythen und Mythisierungen noch in Frage gestellt werden können, solange sie so etwas Kritik
und Reflexion zulassen, ja vielleicht sogar so etwas wie ironische Brechung und humoreske Überdrehung, sind sie mit
einem demokratischen Denken durchaus kompatibel. Solange man den Mythos vom Heiligen Georg nicht ernst nimmt,
ist er durchaus keine Propaganda und keine Ideologie. Demokratien nutzen Mythen, ohne sich an diese zu verlieren.
Unter diesen Voraussetzungen scheint es in der Tat aussichtsreich, antidemokratischen Mythen nicht nur die nackten
Fakten und die kalten Argumente entgegenzusetzen, sondern auch so etwas wie demokratische Gegenmythen. Solange
diese sich nicht ideologisch verhärten, unhinterfragbar und unkritisierbar werden, scheinen demokratische Mythen nicht
nur zulässig, sondern geradezu unvermeidbar. Momentan scheint man in vielen Demokratien noch nach dem richtigen
Ton zu suchen. Wie die „Zeitenwende“ sich auf den Stil unserer politischen Kommunikation langfristig auswirken wird,
ob der Stil von Angela Merkel und von Olaf Scholz, wie wir ihn lange kannten, tatsächlich abgelöst wird, bleibt
momentan unklar. Eine Reflexion über Geschichte und Form politischer Mythen eröffnet zumindest
Möglichkeitshorizonte. Dass die Demokratie nur in die Sprache des Logos spricht, sozusagen einsprachig verfährt, war
schon immer falsch, wirkt nun aber endgültig wie eine aus der Zeit gefallene These.
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