.Der Philosoph Peter Sloterdijk – Denken als Provokation .Von Gabi Schlag und Benno Wenz

Diskurs Platon Akademie 4.0 PA4 - Diskurs 2022 > EU-Demokratien . Natur . Weltkultur gestalten II.2
Denken - Diskursiv - Provokatorisch . P. Sloterdijk
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Ein Meister der provokatorisch denkenden, schreibenden wie sendenden Zunft <k.>

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Der Philosoph Peter Sloterdijk – Denken als Provokation
22.6.2022, 16:00 UHR
GABI SCHLAG UND BENNO WENZ

Peter Sloterdijk (*1947) gilt als der bekannteste und wirkmächtigste deutsche lebende Philosoph. Seine 1983 erschienene
"Kritik der zynischen Vernunft" wurde zur erfolgreichsten philosophischen Veröffentlichung seit dem Ende des Zweiten
Weltkriegs.
In seinem neuesten Werk konstatiert er, die Corona-Krise markiere "den Beginn eines Zeitalters, dessen basale ethische
Evidenz Ko-Immunismus lautet, das Einschwören der Individuen auf wechselseitigen Schutz."
Ist der Provokateur Sloterdijk im Angesicht der weltweiten Bedrohung versöhnlich geworden?

SWR2 Wissen
Der Philosoph Peter Sloterdijk – Denken als Provokation
Von Gabi Schlag und Benno Wenz
Sendung vom: Donnerstag, 23. Juni 2022, 8:30 Uhr
Redaktion: Ralf Kölbel
Regie: Autorenproduktion
Produktion: SWR 2022
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MANUSKRIPT
Erzählerin:
Wenn er so aus seinem Garten kommt, mit dem Strickpullover über den Schultern, sieht er aus wie immer: verwuschelte,
etwas zu lange Haare, voller Tatendrang und unbeirrter Provokation, fast fröhlich. Doch dann sagt Peter Sloterdijk etwas,
das in dieser Absolutheit verblüfft:
O-Ton 01 Peter Sloterdijk:
In meinen Augen ist die Philosophie als historische Disziplin erschöpft. Ich glaube, sie hat ihr letztes Wort weitgehend schon
gesagt. Und es ist kein Zufall, dass von der Mitte des 20. Jahrhunderts an Autoren, die früher Philosophen geworden wären,
Phänomenologen werden oder Ideenhistoriker oder Sprachanalytiker oder Metaphernkundler. Überhaupt, die Verwandlung
von Philosophie in Metaphern Kunde ist ein Zeichen dessen, dass die Philosophie in das Zeitalter ihrer absoluten Epigonalität
eingetreten ist.
Zitator - Titelansage:
Der Philosoph Peter Sloterdijk – Denken als Provokation. Von Gabi Schlag und Benno Wenz
Erzählerin:
Die Philosophie ist am Ende, hat zumindest nichts Neues anzubieten.
Das sagt einer, der den meisten Experten als der bedeutendste und wirkmächtigste lebende deutsche Philosoph gilt, über
seine Zunft.
Aber vielleicht ist das ja gar nicht so gemeint. Sondern ironisch. Oder provokant. Schließlich gilt Sloterdijk für viele seiner
Kollegen als „ein heiteres Medium von Denkereignissen“.
Der Schweizer Philosoph Yves Bossart:
O-Ton 02 Yves Bossart:
Heiter würde ich sagen, ja, also seine Texte, auch seine Auftritte sind sehr heiter. Er hat sehr viel Distanz zu allem. Ich habe
ihn mal verglichen mit einem Alien, mit einem Außerirdischen. Weil er auf die Menschen und auf die Welt blickt, von einer
riesigen Distanz. Und er hat so etwas wie ein Weitwinkelobjektiv. Das finde ich unglaublich schön. Verständlich würde ich
definitiv sagen: Nein (lacht). Also diese Texte sind nicht leicht verständlich, sie sind sehr voraussetzungsreich.
Erzählerin:
Sloterdijks Freund und Mitautor Thomas Macho:
O-Ton 03 Thomas Macho:
Auf der anderen Seite muss man aber auch hinzufügen, dass die Heiterkeit bei Peter Sloterdijk sehr oft auch eine tiefe
Melancholie verbirgt, die dann oft nur sehr gelegentlich und nicht in den lustigen und aphoristisch zitierbaren Formulierungen
herauskommt, ich denke etwa an seine philosophischen Einlassungen auf das Thema Geburt und an seine eigenen
Erfahrungen mit einem langwierigen und immer wiederkehrenden Geburtstrauma oder wie immer man das nennen soll. Und
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daher: Es gibt eine heitere, und es gibt auch eine sehr traurige Seite im Denken von Peter Sloterdijk.
Erzählerin:
Der Philosoph Rüdiger Safranski, der 10 Jahre lang neben Peter Sloterdijk Mitmoderator der Fernsehsendung „Das
philosophische Quartett“ war:
O-Ton 04 Rüdiger Safranski:
Ja, eine Grundheiterkeit ist bei ihm da, eine Verspieltheit, eine sehr produktive Verspieltheit. Verständlich - für mich, ja denn
ich kenne ihn gut. Ob für ein größeres Publikum? Doch, wohl auch. Jedenfalls immer wieder, weil er pointenreich und
pointen stark ist. Auch für die Leute, die an manchen Stellen es nicht ganz begreifen. Aber es kommt dann doch auch immer
wieder mal ein Lacher und dann erholt man sich von den Schwierigkeiten, die man vorher hatte.
Erzählerin:
Sogar über sein Äußeres wird spekuliert, aber als Freund darf man das. Yves Bossart:
O-Ton 05 Yves Bossar:
Ja, über seine Frisur könnten wir jetzt ganz lange reden. Das lassen wir aber besser, denn er hat ja schließlich Geburtstag.
Und es gilt ja: Ab 30 ist jeder für seine Frisur selbst verantwortlich.
Erzählerin:
Peter Sloterdijk zumindest bezeichnet sich selbst als unfrisierbaren Unhold. Der bestimmt die meisten aufgebrachten
Debatten unter Deutschlands Denkern angestoßen hat.
Peter Sloderdijk wird als Kind einer Deutschen und eines Niederländers am 24.06.1947 in Karlsruhe geboren und wächst,
nachdem die Ehe bald geschieden wird, bei der Mutter auf.
Von 1968 – 1974 studiert er Philosophie in München und Hamburg und promoviert.
1976 mit dem Thema "Literatur und Organisation von Lebenserfahrung. Gattungstheorie und Gattungsgeschichte der
Autobiographie der Weimarer Republik.
1918-1933". Nach einer ziemlich wilden, von Drogen und psychischen Grenzerfahrungen geprägten Studienzeit hält er sich
ab Dezember 1979 für vier Monate im Ashram von Bhagwan Shree Rajneesh im indischen Poona auf.
Musik:Ravi Shankar: The Spirit Of India
Seit 1980 arbeitet Sloterdijk als freier Schriftsteller. Mit seinem 1983 erschienenen zweibändigen Epos „Kritik der zynischen
Vernunft“ gelingt ihm auf Anhieb ein Bestseller mit mehr als 50.000 verkauften Exemplaren allein bis 1988. Sloterdijk
überzeugt darin mit Variationen des Denkens, ausgehend von zwei geschichtlichen Kontexten: Zum einen dem des
altgriechischen Kynismus, zum anderen des
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modernen Zynismus, wie er sich aus dem laut Sloterdijk uneingestandenen Scheitern des Projekts der Aufklärung ergeben
hatte. Aus diesem Zynismus des Scheiterns entsteht bei Sloterdijk die «Grundlegung einer guten Illusionslosigkeit», eine
Haltung, die Sloterdijk seinen Lesern durchaus nahelegt. Gleich im ersten Satz der „Kritik der zynischen Vernunft“
proklamiert Sloterdijk zum ersten Mal das Ende der Philosophie:
Zitator:
Seit einem Jahrhundert liegt die Philosophie im Sterben und kann es nicht, weil ihre Aufgabe nicht erfüllt ist.
Erzählerin:
Ein Satz, von dem er selber sagt, dass er darin seinen Ton als Autor gefunden habe.
Der Philosoph Rüdiger Safranski:
O-Ton 06 Rüdiger Safranski:
Das war im Übrigen ja auch der wunderbare Durchbruch bei Sloterdijk mit seinem ersten Buch „Kritik der zynischen
Vernunft“, da war ja die Rede, man redet ja immer so: die Vernunft, die Vernunft, die Vernunft, und da hat dann der
Sloterdijk gezeigt, dass wir kombattante Vernünftigkeiten haben. Wir haben einen Tumult von Vernünftigkeiten. Ja, so und
darin klug zu lavieren, das ist die Aufgabe. Also, das war sein erstes Buch von Sloterdijk, war schon mal ein Schlag gegen
eine professionelle Deformation der Philosophie, nämlich Prinzipienreiterei. Er brachte die Prinzipien zum Tanzen.
Erzählerin: Peter Sloterdijk hat mehr als 50 Bücher geschrieben und schreibt nach Meinung des Feuilletons schneller, als man
lesen kann. Sloterdijk, der laut Johan Schloemann „an einer historisch informierten und formierten Sozialpsychologie
arbeitet, in der Erkenntnisse insbesondere aus der Biologie, der Ökonomie und Theologie zu einer neuen Analyse der
Gegenwartskultur zusammenfließen“, sucht nicht nur den philosophischen, sondern auch den politischen Diskurs. Das wird
ihm von Anfang an von manchen übelgenommen.
O-Ton 07 Peter Sloterdijk:
Ich selber habe als Schriftsteller den Raum der akademischen Publizistik schon relativ früh verlassen. Ich bin eben als Autor
aufgetreten, vor allem mit meinem ersten wahrgenommenen Buch „Kritik der zynischen Vernunft“ habe ich mich selber als
Autor positioniert und nicht als Verfasser von Sekundärliteratur. Das wurde natürlich als eine Geste der Anmaßung
wahrgenommen und entsprechend kritisiert. Ein halbes Jahrhundert später sieht die Sache schon ein bisschen anders aus.
Was damals eine Jugendsünde war, ist heute Teil eines Werkverzeichnisses.
Erzählerin:
Doch so, wie er Feinde gewinnt, gewinnt er auch Bewunderer.
Bossart:
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O-Ton 08 Yves Bossart:
Wenn man sich da reinbegibt, dann kann man sehr viel gewinnen. Das hat unglaublich gute Metaphern drin, Sprachbilder,
das ist kreativ, innovativ, auch viele historische Bezüge natürlich, man kann sehr, sehr viel lernen. Aber so leicht bekömmlich
sind die Texte dann doch nicht.
Erzählerin:
Sloterdijk polarisiert und sicher ist Sloterdijk der einzige Philosoph, der dazu steht, dass er sich vier Monate lang begeistert
im Bhagwan-Ashram in Poona aufgehalten hat, dort Bhagwans monologischen Vorträgen zur spirituellen Weltliteratur
gelauscht und nach seiner Rückkehr noch zwei Jahre lang die orangefarbene Sannyasin-Tracht getragen hat. Und darüber
reflektiert hat, wie der Ashram eine tiefe Aufheiterung in sein Dasein gebracht hätte. Als Grund nennt er das Glück, prekäre
Erfahrungen gemacht zu haben, die er nicht missen möchte. Sein Freund und Weggefährte Rüdiger Safranski.
Musik:Ravi Shankar: The Spirit Of India
O-Ton 09 Rüdiger Safranski:
Also, Ich glaube, Poona war eine ganz wichtige Erfahrung. Wie das bei solchen wichtigen Erfahrungen ist: In irgendeiner
Weise wirken sie unterschwellig weiter.
Musik:Ravi Shankar: The Spirit Of India
Erzählerin:
Und Peter Sloterdijk selbst:
O-Ton 10 Peter Sloterdijk:
Ich weiß nur, dass ich damals so schöne Formulierungen hervorgebracht habe wie die: Es gehe um eine Osterweiterung der
Vernunft. Ich denke, das ist eine Prägung, die sich immer noch hören lassen kann. Denn in der Tat haben Europäer zu Recht
sich seitens anderer Kulturen sagen lassen müssen, dass sie doch sehr nombrelistisch, das heißt also, auf das Eigene bezogen,
sich in kulturellen Dingen zumeist verhalten haben. Aber das Gegenvotum dazu liefern die europäischen
Kulturwissenschaften, denen ich mich im weiteren Sinne auch zurechne, die mit einer beispiellosen Neugier und Weite des
Blicks und Gehörs sich auf andere Kulturen hin geöffnet haben. Und in bescheidenem Ausmaß habe ich das auch mit meinen
Mitteln sozusagen für die indische Inspiration getan.
Musik:Ravi Shankar: The Spirit Of India
O-Ton 11 Peter Sloterdijk:
Und mir kam diese indische Zeit eher wie ein verlängertes Pfingstwochenende vor, das sich über einige Monate erstreckt hat.
Es war aber lange genug, um so eine Um-Stimmung zu erfahren. Und das ist etwas, was ich meinen jüngeren Kollegen gerne
wünschen möchte.
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Erzählerin:
1998 erscheinen nach einer Reihe von kürzeren Werken - darunter so bedeutende wie „Der Zauberbaum“ oder
„Eurotaoismus“ - die ersten beiden Bände des als Trilogie angelegten Hauptwerks „Sphären“.
Zitator:
Die ganze Kulturaufgabe ist, das "Kraftfeld" mit der "Existenz der Worte" kompatibel zu machen. Es geht um lebbare
Metaphern vorgängiger Verhältnisse.
Erzählerin:
2004 erscheint der letzte Band von Sloterdijks Opus Magnum, das dem Publikum sicher weniger bekannt sein dürfte als
andere Werke. Nach Meinung von Stephan Nehrkorn, der an der Humboldt Uni eine Einführung in die „Sphären“
veranstaltet, versucht Peter Sloterdijk unter philosophisch-anthropologischem Blickwinkel eine historisch orientierte
Zusammenschau der unterschiedlichen Weisheitstraditionen, um den "beseelten Raum der Gattungsgeschichte" auszuloten.
Dieses insgesamt 2565 Seiten starke Mammutwerk nötigte den Kollegen Richard David Precht zu der Feststellung, Peter
Sloterdijk sei zwar ein „begnadeter Sprachkünstler und Kritiker, aber kein großer Philosoph“. Das macht Rüdiger Safranski
wütend:
O-Ton 12 Rüdiger Safranski:
Unsinn. Einfach Unsinn. Und wahrscheinlich hat er das Buch auch nicht gelesen. Und ich will nur ganz kurz dazu sagen: Es
ist ein kühner Versuch einer narrativen Phänomenologie. Den Grundtatbestand, dass wir Wesen sind, die immer irgendwo
drinnen enthalten sind, vom Mutterleib an bis nachher in der Welt, in der Arena der Welt. Die verschiedenen Verfasstheiten
und Prägungen, die wir im Rahmen der Raumerfahrung haben, so eine genaue Beschreibung dieses Phänomens des Raumes,
indem wir sind oder der Räume, in denen wir sind. Jetzt sage ich ein großes Wort: Das hat es im 20. Jahrhundert, das hat es
eigentlich noch gar nie gegeben.
Musik: Johann Sebastian Bach, Das Wohltemperierte Klavier, Fuge in cis-moll, Glenn Gould
O-Ton 13 Rüdiger Safranski:
Nein: Mit dem Denken auf die Höhe des Reichtums der Erfahrung zu kommen - und zu dem Reichtum der Erfahrung gehört
die Raumerfahrung – das hat noch keiner richtig gemacht. Und dann kommt der Sloterdijk in seiner opulenten barocken Art
und beginnt da, zweieinhalbtausend Seiten darüber zu erzählen, quer durch die Geschichte vom Mutterleib bis zur
Raumstation. Hoppla! Und dann kommt so ein Bürschchen wie der Precht daher und sagt: Das ist keine große Philosophie!
Also, das erledigt sich von selbst.
Erzählerin:
1999 entfesselt Sloterdijk mit seiner „Elmauer Rede“ mit dem Titel „Regeln für den Menschenpark“ einen gewaltigen Sturm
im deutschen Feuilleton. Hatte der Philosoph tatsächlich einer faschistoiden Züchtungsideologie das Wort geredet oder wollte
er in erster Linie provozieren? Jedenfalls fühlten sich Kollegen wie Ernst Tugendhat
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herausgefordert, Sloterdijk zu widersprechen, und die Kontroverse ging als „Sloterdijk-Debatte“ in die Geistesgeschichte ein.
O-Ton 14 Rüdiger Safranski:
Naja, diese Vorwürfe, die damals kamen, die sind absurd und hängen auch mit anderen Verfeindungen zusammen oder
Gegnerschaften, die unterschwellig da waren. Im Kern war ja die Elmauer Rede ein Vortrag über Heidegger und
insbesondere den Humanismusbrief. Ja, und was Sloterdijk da unternahm, ausgehend von dem Heideggerschen Wort, dass
der Mensch ein Hüter des Seins ist, ja, das hat er aufgegriffen. Der Hüter des Seins ist so eine pastorale Wendung. Ja, passt
zu der Schwäbischen Alb, woher der Heidegger kam. Und der Sloterdijk nahm das mal ernst und sagte Aber was passiert
denn heute? Was machen wir? Wie sind wir als Hüter des Seins unterwegs? Und dann sagt er Wir sind nicht mehr Hüter des
Seins, sondern wir greifen da ganz tief rein. Wir sind Ingenieure, wir sind Manipulateure des Seins. Da begann die
Gendebatte. Es ist nur so: in seiner frechen, verspielten und provokanten Weise war nicht immer ganz deutlich, ob er das gut
fand oder nicht gut fand. Sondern er ließ es manchmal so dahingestellt. Und da kamen dann die schweren Geschosse, die
aber ja auch munitioniert waren von der Gegnerschaft, die sich der Sloterdijk in der Zwischenzeit auch schon herangezüchtet
hat, ja, die ihm aus anderen Gründen auch nicht grün waren. Und da fiel man über ihn her.
Erzählerin:
Sloterdijk machte sich nichts draus, da hatte man ihn eben mal wieder falsch verstanden.
Kulturjournalist Michael Köhler vom Deutschlandfunk sagte über Peter Sloterdijk:
Zitator:
Er ist wirklich der letzte große öffentliche Denker in Deutschland, der sich traut, auch einmal Sachen zu sagen, die kein
anderer so sagen würde. Weil er sonst wahrscheinlich seine Professur verlieren würde.
Erzählerin:
Sloterdijk selbst sieht als Besonderheit in seinen Werken eine Allianz zwischen den Gedanken und der sprachlichen Form:
O-Ton 15 Peter Sloterdijk:
Ich könnte in wenigen Sätzen sagen, was meine wichtigsten Inspirationen auf dem Gebiet der philosophischen Schriftstellerei
gewesen sind. Ich habe in relativ jungen Jahren schon etwas gehabt, was man um 1900 herum eine Nietzsche-Erfahrung
genannt hätte. Der war eigentlich sozusagen der größte philosophische Rapper aller Zeiten, der zugleich die deutsche Sprache
auf einen Höhepunkt geführt hat. Und dies nicht ganz zu vergessen, glaube ich, ist eine der Hauptaufgaben der
zeitgenössischen Philosophie. Das heißt, alles, was die Allianz zwischen dem Gedanken und der sprachlichen Form berührt,
das macht etwas aus, wo ich mich immer so mit im Spiel sehe, weswegen mir Ovids Metamorphosen mehr bedeuten als die
Meditationen des Decartes über die erste Philosophie und warum ich glaube, dass Musils Mann ohne Eigenschaften
philosophisch tiefer und bedeutender sind als
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die phänomenologische Theorie von Edmund Husserl. Auf jeden Fall, überall dort, wo sich das Sprachliche mit dem
Gedanklichen besonders eng berührt, da finde ich meine Lehrer. Und wenn es gut geht, auch meine Kollegen.
Ausschnitt „Das Philosophische Quartett“
Erzählerin:
Bekannt ist Sloterdijk außerdem einem breiteren Publikum, weil er 10 Jahre lang gemeinsam mit Rüdiger Safranski „Das
philosophische Quartett“ im ZDF moderierte, in dem Grundsatzfragen der modernen Gesellschaft diskutiert wurden.
Thomas Macho:
O-Ton 16 Thomas Macho:
Ich fand das sehr mutig damals. Es ist eigentlich nicht die Rolle von Philosophen.
Ausschnitt „Das philosophische Quartett“
Erzählerin:
–und Peter Sloterdijk selbst:
O-Ton 17 Peter Sloterdijk:
Sobald man aus der akademischen Publizistik in die allgemeine Publizistik überwechselt, erweckt man Argwohn und da ich ja
noch auch ein zweites Mal das Medium gewechselt habe, sondern auch in den großen Massenmedien Fernsehen und Radio
eingetreten bin, da ist dann der Widerstand der schreibenden Zunft gegenüber der sendenden Zunft noch einmal verstärkt
worden. Da treffen entgegengesetzte publizistische Welten aufeinander. Und dass dieser Streit natürlich oft in Form von
ungünstigen Qualitätsurteilen ausgetragen wird, das liegt ganz in der Natur der Sache, dass man sozusagen dem, der das Feld
verlässt, die Kompetenz streitig machen will. Das ist wohl das Mindeste, was man in einer solchen Situation erwarten muss.
Ich habe mich allerdings, was Gegenpolemik anging, meistens ziemlich zurückgehalten, weil ich alles in allem einfach eine zu
große Liebe und Zuneigung zu den gut gemachten Arbeiten der Wissenschaft in mir bewahrt habe.
Ausschnitt „Das philosophische Quartett“
Erzählerin:
Rüdiger Safranski, der Mitmoderator:
O-Ton 18 Rüdiger Safranski:
Wir haben uns auch Gäste rausgesucht, das waren in den wenigsten Fällen die Philosophen. Deswegen waren auch manche
gekränkt, weil die nicht eingeladen wurden, sondern Leute, die etwas dazu zu sagen hatten. Und die ganze Atmosphäre war
doch so, dass das Konzept aufging. Es wurden keine Positionskämpfe betrieben, es war ein Format des recht wohl
gelaunten, gelassenen Nachdenkens. Fand ich eine ganz schöne Sache.
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O-Ton 19 Peter Sloterdijk:
Wir hatten eine Zeit lang das Privileg, anders kann man es ja nicht nennen, durch das Wohlwollen des Intendanten, eine
Sendung gestalten zu können, in der für deutsche Verhältnisse ziemlich utopisch nur vier Personen eine volle Stunde lang das
Rederecht bekamen.
Erzählerin:
Sloterdijk hat seine philosophische Praxis nicht - wie üblich - ausgehend von einer Professorenposition aufgenommen. Im
Gegenteil: Eher wurde die Ernennung zum Rektor der Karlsruher Hochschule für Gestaltung im Jahr 2001 als Folge von
Sloterdijks wacher Präsenz im öffentlichen Raum interpretiert. So konnten Vorurteile voller Frustration von akademischen
Fachkollegen nicht ausbleiben, während herausragende Universitätsphilosophen – Luhmann und Habermas etwa – Sloterdijk
zumindest als Antagonisten stets ernst genommen haben.
Und was hält der Meister selbst für sein wichtigstes Werk?
O-Ton 20 Peter Sloterdijk:
Ich glaube, dass jemand, der kennenlernen möchte, was ich tue, am besten das Buch „Die schrecklichen Kinder der
Neuzeit“ zur Hand nimmt. Das ist ein relativ anspruchsvolles, relativ dunkel getöntes Buch mit einem gewissen realistisch-
kulturpessimistischen Grundton, in dem wird nach meinem Dafürhalten meine Sicht auf die Problematik der gegenwärtigen
Welt besonders sichtbar ausgerollt.
Zitator:
Zögernd machen sich die aktuellen Kulturwissenschaften bewusst, dass scheinbar zu Ende gedachte Grundbegriffe wie
Generation, Filiation und Erbe von ihr noch nie mit dem Ernst durchdrungen wurden, den die Abgründigkeit der Sache
verlangt. Um zur Behebung dieses Mangels beizutragen, wird mit den nachstehenden Überlegungen eine nicht-theologische
Neubeschreibung menschlicher Erbverlegenheiten unternommen.
O-Ton 21 Peter Sloterdijk:
Und der Grundgedanke ist der, dass die Intervalle zwischen den Generationen inzwischen nicht mehr gefüllt werden durch
die traditionelle Weitergabe einer bestimmten Lebenskunst, dass die neuen Generationen in einem bisher unbekannten
Ausmaß improvisieren, lernen müssen.
Das scheint umso schwieriger, wenn die jungen Menschen nunmehr auch noch mit allen möglichen Krisen, wie Pandemie,
Klimawandel und Krieg in Europa zu tun haben. Und für Leute, die ihn eh schon kennen, empfiehlt Sloterdijk sein eigenes
Brevier:
O-Ton 22 Peter Sloterdijk:
Und für die Liebhaber würde ich ein ganz kleines Büchlein empfehlen, das mein verstorbener Lektor Fellinger vom
Suhrkamp Verlag herausgegeben hat. Ein winziges Ding mit 80 Seiten, das nennt sich das Sloterdijk Brevier. Und darin hat er
auf eine sehr raffinierte Art und Weise einige Stellen zusammengestellt aus den weit auseinander liegenden Büchern, um
daraus so etwas wie ein ironisches Porträt zu
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zeichnen. Und das halte ich für außerordentlich geglückt. Aber weil dieses Büchlein noch von wenigen genau angeschaut
worden ist, fühle ich mich fast noch unbekannt.
Erzählerin:
Sloterdijk fast noch unbekannt? Aber wie kann das sein, wo er sich doch immer wieder einmischt, vielleicht nicht mehr so
lautstark oder provokant wie früher? Sloterdijk also anders, denn laut Sloterdijk markiert die Coronakrise „den Beginn eines
Zeitalters, dessen basale ethische Evidenz Ko-Immunismus lautet, das Einschwören der Individuen auf wechselseitigen
Schutz.“
Auch sein bisher letztes Werk wendet sich gegen das Schwarz-Weiß-Denken, und behandelt die Farbe Grau. „Wer noch kein
Grau gedacht hat“ in Anlehnung an die Äußerung von Paul Cézanne:
O-Ton 23 Peter Sloterdijk:
„Wer noch kein Grau gemalt hat, ist auch gar kein Maler.“ Im selben Zusammenhang sagt er über sich: „Sehen Sie doch die
Linien auf dem Bild, die stürzen doch jetzt alle ab. Ich kann gar nichts mehr.“ Cézanne war auch ein Genie der Selbst-
Infragestellung. Und in diesem Zusammenhang muss man die Äußerung verstehen. Er war auf der Suche nach einem
lebendigen Grau, nach einem Grau, das nicht nur der Kompromiss zwischen den beiden Un-Farben weiß und schwarz ist,
sondern ein Grau, das eine eigenwertige Hinzufügung zu der Palette der sichtbaren Dinge ist, also die Welt des Lichts und
ihre Brechungen in den erscheinenden Oberflächen. Er hatte vor sich einen Maler wie Delacroix, der seine Kollegen
verunsichert mit der These, das Grau sei der Feind aller Malerei.
Zitator:
Wer, gleichsam einer Laune nachgebend, sich von der Neigung erfassen ließe, zu behaupten, das „Phänomen“ Grau – als
Farbe an Dingen, als Schattierung der Raumbeleuchtung oder als Stimmung des Daseins – verdiene eine eingehendere
Betrachtung, als es sie bisher in den Sphären der ästhetischen und philosophischen Theorie gefunden hat, könnte sich von
dem Ausbruch Paul Cézannes, „solange man nicht ein Grau gemalt hat, ist man kein Maler“, zu einer komplementären
Behauptung herausfordern lassen: solange man das Grau nicht gedacht hat, ist man kein Philosoph.
Erzählerin:
Ist der Provokateur Sloterdijk also im Angesicht der weltweiten Bedrohung versöhnlich geworden?
O-Ton 24 Peter Sloterdijk:
„Grau, teurer Freund, ist alle Theorie“, sagt Mephisto, und damit soll das Graue eigentlich unattraktiv gemacht werden. Aber
es ist genau das Gegenteil zu entdecken. Man muss die Nuance finden. Und in diesem Sinne ist dieses neue Buch eigentlich
ein großer Traktat über die Nuance, über die gemischten Zustände, in denen sich menschliches Leben und auch weltliches
Dasein sehr häufig zuträgt. Und es ist, wenn man so will, eine Farbenlehre für die Tage, an denen die Sonne nicht senkrecht
über uns steht.
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Und was wünscht er sich zum 75.Geburtstag? Ein gelbes Trikot haben ihm Freunde schon geschenkt, damit man ihn sieht,
wenn er durch das Elsass radelt. Doch Sloterdijk hat trotzdem noch einen Wunsch:
O-Ton 25 Peter Sloterdijk:
Ich würde einfach sagen: Bleib! Zukunft als solche muss nur bleiben, damit die Gegenwart durchgelüftet werden kann.
Erzählerin:
Damit die Gegenwart aber auch in Zukunft gut durchgelüftet werden kann, braucht es solche Denker wie Sloterdijk, deshalb
der Wunsch:
Peter Sloterdijk möge sich weiterhin einmischen und uns mit seinen Denkereignissen herausfordern.
Musik: Johann Sebastian Bach, Das Wohltemperierte Klavier, Fuge in cis-moll, Glenn Gould
Zitator:
SWR 2 WissenDer Philosoph Peter Sloterdijk – Denken als Provokation. Von Gabi Schlag und Benno Wenz. Es sprachen:
Ilka Teichmüller und Adam Nümm. Redaktion: Ralf Kölbel.

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