Krieg gegen die Ukraine – Darum ist Putins Denken autoritär, destruktiv und stalinistisch . Thilo Baum
dp-swr2aula-putin
Diskurs Platon Akademie 4.0 > 2022 EU-Demokratien . Natur . Weltkultur gestalten II.2
An Putin. Rede von T. Baum, SWR2
Krieg gegen die Ukraine – Darum ist Putins Denken autoritär, destruktiv und stalinistisch . Thilo Baum
1
Überblick
Krieg gegen die Ukraine – Warum Russlands Wirtschaft unter Putin scheitern wird, zeigt Thilo Baum
Der Krieg gegen die Ukraine hat auf erschreckende Weise deutlich gemacht, dass Putin sich als Erbe Stalins versteht und von einem groß-russischen Reich träumt. Rigoros und rücksichtslos setzt er seine Interessen durch. Er will die Ukraine auslöschen und nimmt dabei in Kauf, dass er Russland mit in den Abgrund zieht. Thilo Baum beschreibt die fatale Mentalität, die hinter Putins Denken steht.
Autor
Thilo Baum ist Kommunikationsexperte und Buchautor.
(* 19. Dezember 1970 in Schwäbisch Hall) ist ein deutscher Journalist und Autor.
Manuskript zur Sendung
SWR2 Wissen: Aula
Krieg gegen die Ukraine – Darum ist Putins Denken = autoritär, destruktiv und stalinistisch . Thilo Baum . Redaktion: Ralf Caspary
Sendung vom: Pfingstsonntag, 5. Juni 2022, 8.30 Uhr
Bitte beachten Sie:
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Anmoderation:
Mit dem Thema: „Krieg gegen die Ukraine – Darum ist Putins Denken autoritär,
destruktiv und stalinistisch“. Am Mikrofon: Ralf Caspary.
Es gibt viele Stimmen, viele Experten, die sich zum Ukrainekrieg melden, Historiker,
Politikwissenschaftler, Philosophen, Militärexperten, Slawisten und so fort. Heute soll
in der SWR2 Aula eine Position zu Wort kommen, die im Diskurs eher selten präsent
ist. Es geht um eine unternehmerische Perspektive, die auf Putins Ideologie und
Verhaltensweisen blickt und die fragt: Wie geht Putin mit Freiheit, Kreativität, mit
Diversität um, das sind ja alles Punkte, die moderne Unternehmen und
Marktwirtschaften am Leben erhalten und die die Demokratie stützen. Hören Sie
dazu den Vortrag des Unternehmensberaters, Kommunikationsexperten und
Buchautors Thilo Baum.
Thilo Baum:
Guten Morgen, Herr Putin.
In den Neunzigerjahren als Student war ich gerne in einem russischen Café im
Ostteil Berlins. Eines Tages kam ich rein, setzte mich an den Tresen und fragte den
Wirt: „Hast du einen Kaffee für mich?“ Und der Wirt antwortete mit russischem
Akzent: „Ich habe keinen Kaffee, aber ich kann welchen besorgen.“
Eine großartige Ironie, finden Sie nicht? Die Mauer war weg, und dieser Wirt scherzte
mit der schlechten Versorgungslage im Ostblock. Natürlich bekam ich einen echten
Bohnenkaffee. Und ich bezahlte mit Westgeld, in den Neunzigern in Berlin.
Dieses Improvisieren in der Mangelwirtschaft – das war für uns damals typisch
Ostblock. In der Ex-DDR altölverseuchte Militärgelände hinterlassen ohne Respekt
für die Umwelt – das nannten wir „russisch“.
Ende Februar 2022 – kurz nachdem Ihre Truppen in der Ukraine einmarschiert waren
– war ich auf einer Party in Köln. Dort klappte irgendwas mit der Musik nicht, eine
Lautsprecherbox hatte einen Wackelkontakt. Kabelbruch. Also nahm ich ein
Klebeband und einen Zahnstocher und schiente das Kabel vorläufig. Die Musik lief
erst mal, es war ein Provisorium. Ich sagte zum Gastgeber aus alter Gewohnheit:
„Das ist jetzt erst mal die russische Lösung. Langfristig brauchst du ein neues Kabel.“
„Russisch“, das war für uns, wenn man eine Stoßstange mit einem Seil an den Trabi
knotet, weil es kein Klebeband gibt. Aber es hält erst mal irgendwie.
Natürlich hat das Volk der Russen tolle Künstler und Wissenschaftler hervorgebracht,
und auch viele Kreative. Der Punkt ist nur: Unter Ihrer Regie, Herr Putin, verstummen
die guten Leute oder wandern aus. Alleine 100.000 IT-Leute haben Russland bis
Mitte April wegen des Ukraine-Krieges den Rücken gekehrt.1
1 https://www.diepresse.com/6125945/ueber-100000-russische-it-fachleute-wandern-aus
3
Wir im Westen wissen: Wenn immer mehr gute Leute ein Unternehmen verlassen, ist
meistens der Chef schlecht. Mit Ihrem Führungsstil, Herr Putin, müssten Sie eine
Mauer bauen, damit die klugen Köpfe bleiben. Gute Leute wollen Ideen entwickeln
und sich ohne Redeverbote austauschen. Sie wollen „Krieg“ sagen dürfen, wenn
Krieg herrscht. Wenn sie nicht frei reden dürfen, kommen die russischen High-
Potentials eben zu uns. Das ist nicht schwer zu verstehen.
Gute Führung würde bedeuten, die guten Leute wieder ins Land zu holen, statt sie zu
beschimpfen und zu bedrohen. Auch ausländische Unternehmen zu beleidigen, die
alleine in Moskau 200.000 Arbeitsplätze geschaffen haben und sich jetzt
zurückziehen, ist kein Zeichen klugen Managements.2
Wirtschaftlichen Unverstand gibt es natürlich nicht nur in Russland, Kuba und
Nordkorea. Auch bei uns im Westen haben viele erst durch Corona begriffen, was
eine Wertschöpfungskette ist. Der Krieg in der Ukraine aber könnte nun eben auch
Ihnen zeigen, Herr Putin, dass Isolation nicht klug ist.
Jedenfalls hat mein dummer Spruch mit der „russischen Lösung“ für völlige
Entgeisterung gesorgt. Ich musste begreifen, dass die Formulierung seit Ihrem
Angriff nicht mehr fürs Improvisieren steht, sondern für Respektlosigkeit,
Übergriffigkeit, stumpfsinnige Gewalt, Verachtung des Lebens und Niedertracht.
So weit voneinander entfernt sind wirtschaftliches Versagen und Gewalt übrigens gar
nicht. In keiner Diktatur leben die Menschen in Wohlstand. In Diktaturen lebt nur eine
reiche, kleptokratische Pseudo-Elite im Wohlstand. Das Volk ist unfrei und leidet.
Und das wollen Sie offenbar so haben in Ihrem eurasischen Großrussland.
Sicher kennen Sie den Human Development Index. Welche Länder stehen auf den
ersten Plätzen, beispielsweise im Jahr 2020? Norwegen, Irland, die Schweiz,
Hongkong, Island, Deutschland, Schweden, Australien, die Niederlande, Dänemark –
seltsamerweise alles freie Länder. Russland steht hier auf Platz 52.3 19 Millionen
Russen leben unter der Armutsgrenze.4 Woran liegt das nur? Ich weiß: Sie sagen,
der Westen ist schuld.
Allerdings denke ich, was viele im Westen denken: Russland sollte freies Denken
ermöglichen, um erfolgreich zu werden. Und verstehen, dass es heute egal ist,
welchen Pass jemand hat. Ob das alte Königsberg in Ostpreußen heute russisch ist
– für den Westen spielt das keine Rolle. Hauptsache, die Menschen dort leben in
Frieden und Freiheit.
Schauen Sie – in der freien Welt interessieren wir uns für die besten Argumente. Wir
hören einander zu. Ob jemand Schweizer ist oder Brite, ob aus der EU oder aus
Afrika, Mann oder Frau, jung oder alt, Katholik oder Jüdin – es zählt nur, was jemand
sagt und tut.
2 https://www.rnd.de/wirtschaft/der-ukraine-krieg-zerstoert-die-wirtschaftsbeziehungen-zwischen-dereu-
und-russland-KZ3VRXQX2VDVZEYJAXIHWFHPYA.html
3 https://www.laenderdaten.de/indizes/hdi.aspx
4 https://www.nzz.ch/feuilleton/die-russische-armut-hat-das-gesicht-einer-einsamen-alten-frauld.
1669597
4
Die Ukraine und andere Länder wollen dabei mitmachen – Sie nicht. Und Sie
missgönnen es anderen. Während die Welt sich öffnet, machen Sie zu. Sie greifen
mit fadenscheinigen Begründungen ein friedliches Land an und lassen übelste
Kriegsverbrechen verüben. Welche Motive treiben Sie an? Da tritt eine krude
Mischung zutage, die auch Ihren ökonomischen Unverstand erklärt: erstens eine
verzerrte Vorstellung von Christentum, zweitens die imperialistische Wahnvorstellung
eines eurasischen Großrusslands und drittens ein sowjetisches Staatsverständnis.
Sie selbst inszenieren sich als gläubigen Christen, schenken dem Patriarchen Kyrill
ein verziertes Osterei. Kyrill, offiziell ein Mann Gottes, steht zu Ihrem Krieg. Trotz
aller Nächstenliebe, trotz des christlichen Tötungsverbotes missbrauchen Sie die
Religion, um sich Ihren Krieg schönzureden. Patriarch Kyrill schreibt Ihrem Krieg
sogar eine metaphysische Bedeutung zu.
Der Erfurter Theologe Vasilios Makrides sagt im Deutschlandfunk, damit meine Kyrill
eine Polarisierung zweier Weltanschauungen, die aus russisch-orthodoxer Sicht
inkompatibel seien: auf der einen Seite der dekadente Westen und auf der anderen
Seite die traditionellen russischen Werte, beispielsweise die Familienwerte. Makrides
spricht von einem Krieg Russlands gegen den Westen.5
Sie führen also einen Kreuzzug gegen die moralische Verlotterung. Obwohl Sie
geschieden sind6, wohlgemerkt, und damit kein Vorbild für traditionelle Familien. Und
apropos: Obwohl Sie gegen Homosexualität sind, vergewaltigen russische Soldaten
in der Ukraine laut UNO auch Männer.7 Wie kann das sein? Sehen wir da eine
klitzekleine kognitive Dissonanz?
Widersprüche sind wir von Ihnen ja gewohnt: Gerne zeigen Sie sich mit Ihren
nationalistischen Rockern der Nachtwölfe. Der Gründer der Gruppe Wagner hat sich
den SS-Kragenspiegel tätowieren lassen8 – aber dem Westen werfen Sie vor, er sei
voller Nazis. Und gegen dieses Böse kämpfen Sie. Das Böse ist der Westen mit
seinen Regenbogenfahnen und Frauen in Regierungsämtern – kurz: „Nazis“. Sie
haben kein Problem damit, über Leichen zu gehen – aber wenn jemand schwul ist,
dann ist das für Sie ein Verbrechen.
Bei diesen verschobenen Prioritäten spielt die Kirche mit. Sie spielt die gleiche Rolle
wie die staatlichen Medien Russlands: Sie dient als Propagandarohr. Aus Sicht des
Theologen Cyril Hovorun wird die orthodoxe Kirche für Sie so zu einem, Zitat: „Träger
einer Ideologie, als Instrument zur Beeinflussung der Massen“, Zitat Ende, wie er in
dem christlichen Magazin „Publik-Forum“ schreibt.9
Vor diesem Hintergrund ist es auch nachvollziehbar, dass sich ein ukrainischer Teil
der russisch-orthodoxen Kirche vom Moskauer Patriarchat verabschiedet, wie Ende
5 https://www.deutschlandfunk.de/tag-fuer-tag-26-04-2022-komplette-sendung-dlf-23f6ef2f-100.html
6 https://www.spiegel.de/politik/ausland/wladimir-putin-laesst-sich-von-ehefrau-ljudmila-scheiden-a-
962271.html
7 https://www.spiegel.de/ausland/ukraine-krieg-russische-soldaten-sollen-auch-maenner-und-jungenvergewaltigt-
haben-a-674a632b-0390-40e3-b5b8-9c1f9cb01b4f
8 https://www.bild.de/bild-plus/politik/ausland/politik-ausland/gruppe-wagner-hier-ueben-putins-elitesoeldner-
79604808.bild.html
9 https://www.publik-forum.de/Publik-Forum-09-2022/putins-metaphysik?Danke=true#mehr
5
Mai geschehen. Begründung unter anderem: Der Angriffskrieg Putins sei ein Verstoß
gegen das Gebot „Du sollst nicht töten“.10
Und der Fehler des Westens? Der Westen habe die metaphysische Dimension Ihres
Denkens ignoriert, Herr Putin, schreibt Hovorun. Der Fehler des Westens war und ist
wohl, Ihr Denken rational deuten zu wollen. Und das scheint schwierig zu sein, da Ihr
Denken, Herr Putin, alles andere als rational ist.
Ein zweiter Schlüssel zu Ihrem Denken – neben der Kirche – ist die Rolle des
nationalistischen Philosophen Iwan Alexandrowitsch Iljin, der 1883 in Moskau
geboren wurde und 1954 in der Schweiz starb. Der Autor Michel Eltchaninoff äußert
sowohl im „Spiegel“-Interview11 als auch in seinem Buch „In Putins Kopf“ spannende
Dinge über Iljin. Eine von Iljins Überlegungen: wie ein postsowjetischer Führer
aussehen könnte. Und: Russland sei ein, Zitat: „historisch gewachsener und kulturell
gerechtfertigter Organismus“, Zitat Ende. Eltchaninoff schreibt, es sei, Zitat:
„unmöglich, diesen Organismus zu zerstückeln, ohne dass er dabei leidet oder gar
zugrunde geht“.12 Zitat Ende. Daran glauben Sie, und so wollen Sie eben ein
Großrussland. Daraus leiten Sie Ihren Imperialismus ab.
Durch Iljin lässt sich auch Ihr Wahn erklären, der Westen wolle Russland zerstören.
Titel eines Iljin-Textes: „Was verheißt der Welt die Aufteilung Russlands?“ Daraus
schließen Sie auf das angebliche Streben des Westens, Russland zu zerstören. Sie
verhalten sich wie ein Verschwörungsgläubiger: Sie halten nicht für wahr, was
sinnvoll ist, sondern was Ihnen oberflächlich einleuchtet und woran Sie glauben
wollen. Iljin gefällt Ihnen gut, weil er, Zitat: „zur Konstruktion einer neuen russischen
Idee“ aufruft, Zitat Ende. Ihr Idol Iljin hofft auf einen Führer, schreibt Eltchaninoff, der
weiß, was zu tun ist. Und dieser Führer wollen Sie sein.
Der dritte Punkt neben Religion und Philosophie schließlich ist Ihre sowjetische
Prägung. Sie sind in der Sowjetunion aufgewachsen und wurden dort KGBMitarbeiter.
Das hat Ihr Weltbild maßgeblich geformt. Sie sagen, der Untergang der
Sowjetunion sei die schlimmste Katastrophe des 20. Jahrhunderts gewesen, obwohl
die Sowjetunion an ihrer eigenen Fehlkonstruktion gescheitert ist und am Ende pleite
war.
Das ist die Mischung, um die es bei Ihrem Weltbild geht: ein kruder Nationalismus
eines Iwan Ijin, ein kirchlich begründetes moralisches Zerrbild und der Gedanke,
sowjetischer Führungsstil sei zielführend. Ein ziemlich verkorkster Mix.
Ihre Logik findet sich in den Sprüchen Ihrer Fans übrigens wieder. Viele Ihrer
Anhänger im Westen haben erst erklärt, niemals würde Putin die Ukraine angreifen,
Russland sei doch so friedlich. Dann greifen Sie die Ukraine an, und dieselben Leute
sagen: Das hat der Westen provoziert. Die gleichen Stimmen sagen inzwischen, man
dürfe Sie, den friedlichen Putin, nicht provozieren, sonst werfen Sie Atombomben. Ist
das nicht kurios? Die gleichen Leute, die Ihnen einen atomaren Erstschlag zutrauen,
wollen uns weismachen, dass Sie durch Appeasement friedlich werden.
10 https://www.domradio.de/artikel/ukrainische-kirche-trennt-sich-vom-moskauer-patriarchat
11 Der Spiegel, 15/9.4.2022, Seite 116ff.
12 Eltchaninoff, S. 57.
6
Ihre Propaganda funktioniert hervorragend. Auch im Westen folgen erstaunlich viele
Menschen Ihrer Logik, sie stören sich nicht an den Widersprüchen. Ihre Propaganda
hat erfolgreich Millionen von Gehirnen auch im Westen infiziert. In dem bösen
Westen, in dem Faschisten regieren und der trotz dieser totalitären Führung völlig
dekadent ist. Sie argumentieren, wie die DDR argumentiert hat. Schon der Begriff
„antifaschistischer Schutzwall“ war eine Verdrehung: Die Mauer war kein Bollwerk
gegen außen, sondern nach innen.
Diese vielen Widersprüche führen natürlich in Sackgassen. So glauben Sie, der
Westen sei schwach und wehrlos. Da sind wir uns im Westen nicht so sicher. Wir
setzen uns schon für die Zivilisation ein und kämpfen gegen Bestrebungen, das
Recht des Stärkeren durchzusetzen. Und drogensüchtige Nazis sind bei uns auch
nicht alle. Entsprechend schreibt der Theologe Hovorun auch in „Publik-Forum“, Ihr
Krieg richte sich im Grunde gar nicht gegen den Westen, sondern gegen Ihre
Vorstellungen vom Westen. Sie bekämpfen ein Klischee, ein Phantom. Weil Sie aber
nun an dieses Phantom glauben und Ihrem Volk einen Maulkorb verpasst haben,
glauben die Menschen in Russland eben zunehmend an dieses Phantom. Mithilfe
der Kirche, hergeleitet von Iljin und im Glauben an ein großrussisches Reich
sowjetischer Machart.
Wenn ich mich übrigens umschaue, denkt niemand in solchen Kategorien, Herr
Putin. Ich kenne vor allem Menschen, die arbeiten, Werte schaffen. Keiner denkt
nationalistisch. Ja, es gibt auch im Westen Verschwörungsgläubige, und die fallen
auf Ihre Propaganda auch rein. Aber wer seine Zeit mit Arbeit verbringt, wundert sich:
Sie denken immer noch in Staatsgrenzen? Nationalistisch? In Einflusssphären?
Geopolitisch statt im Sinne der Menschheit? Konfrontativ statt kooperativ?
Dass es darum geht, dass wir alle auf der Welt möglichst frei miteinander agieren
und handeln können, ist Ihnen fremd. Dass die freie Welt Aggressoren wie Sie
einhegen muss, deuten Sie als Bedrohung, obwohl es gar nicht anders geht.
Natürlich muss die Weltgemeinschaft dafür sorgen, dass Sie nicht noch mal so eine
Aggression vom Zaun brechen. Warum auch sollten Sie andere beim Leben stören
dürfen?
Es ist das gute Recht der Ukraine, sich nach Westen zu orientieren. Das akzeptieren
Sie nicht. Warum nicht? Weil Ihnen nicht Werte wie Respekt, Integrität und
Souveränität wichtig sind, sondern Härte, Macht und Stolz.
Bei uns wollen auch manche Auto-Poser stark rüberkommen. Sie denken, sie
würden andere beeindrucken, wenn sie mit röhrendem Auspuff langsam durch die
Innenstädte cruisen – und merken nicht, dass die Öffentlichkeit sie belächelt.
Schauen Sie sich die Chefs von Apple, Microsoft, Facebook und Tesla an oder
meinetwegen deutsche Ministerinnen und Minister – unter diesen Top-
Führungskräften finden Sie keine Halbstarken und Angebertypen. Da spielt keiner
den starken Mann. Und genau das verachten Sie. Das finden Sie schwach. Darum
zeigen Sie sich auch lieber mit nacktem Oberkörper zu Pferde. Und die Öffentlichkeit
schließt daraus eben auf Ihren Charakter.
Wissen Sie, was wir im Westen wichtiger finden als Posing? Das Know-how, wie
Erfolg funktioniert. Wie bringt man ein Unternehmen voran? Wie bringt man eine
7
Volkswirtschaft voran? Dazu ist konstruktives Denken nötig, kein destruktives. Die
Bereitschaft, sich Argumente anzuhören und sich im Zweifel überzeugen zu lassen.
Rechthaberei führt da nicht weiter. Das Fehlermachen und Korrigieren gehört dazu
wie die Toleranz anderer Sichtweisen. Aber wer noch nie ein Führungskräfteseminar
oder ein Seminar zur Persönlichkeitsentwicklung besucht hat, weiß davon eben
nichts. Und was wir nicht wissen, können wir nicht denken.
Nehmen wir das Thema Leadership, Führung. Sie erinnern sich, wie Sie Ihren
Spionagechef vor laufenden Kameras gemaßregelt haben wie einen Schuljungen.13
Jemanden öffentlich so bloßzustellen, das ist heute für westliche Manager ein klarer
Beweis für schlechte Führung. Gute Führungskräfte führen vor allem sich selbst gut,
sie haben sich im Griff. Gute Führungskräfte wissen, dass sie sich nicht aufwerten,
wenn sie andere herabwürdigen. Und Sie, Herr Putin, denken, Sie demonstrieren
damit Stärke? Irrtum.
Auftrumpfen, Untergebene niedermachen, Rechthaberei – das war bei uns früher
auch mal angesagt bei Führungskräften. Heute laufen Management und Leadership
anders: wertschätzend, menschlich, im Miteinander.
Und Ihre Neigung zu Härte und Gewalt sabotiert eben das Ziel, Russland stark zu
machen. Ja, Sie haben richtig gehört. Härte macht nicht stark. Härte macht schwach.
Entwicklung braucht Bewegung, Flexibilität. Starrheit und Rigorosität führen eher
zum Stillstand und zur Niederlage. „Nach fest kommt ab“, sagen Handwerker zum
Lehrling, wenn er eine Schraubenmutter zu fest anzieht.
Wegen Ihrer Werte „Macht“ und „Stärke“ können Sie auch gar nicht verstehen,
warum Sie den Ukrainekrieg nicht in drei Tagen gewonnen haben. Oder warum die
Wirtschaft am Boden ist. Und so kaschieren Sie Schwächen oder machen andere
dafür verantwortlich. Vorzugsweise den bösen Westen. Der viel zu weich und viel zu
tolerant ist und merkwürdigerweise genau damit Erfolg hat.
Doch Sie machen immer weiter. Dabei funktioniert Ihre Rigorosität auf Dauer nicht.
Am Ende sitzen Sie als Gewaltherrscher auf Ihren Bodenschätzen und verkaufen sie
an andere Diktaturen. Aber das war es dann auch. Russland wird dann eben zu
einem „failed state“.
Vielleicht ist das der eine, entscheidende Punkt: Würden Sie akzeptieren, dass Härte
nicht stark macht, würden Sie den Krieg sofort beenden und Russland wieder fürs
internationale Miteinander öffnen.
Im Westen machen sich sensible Geister Gedanken darüber, wie Sie aus der Sache
gesichtswahrend rauskommen. Dabei haben Sie Ihr Gesicht längst verloren. Aus
Sicht der Leistungsträger im Westen versagen Sie. Nicht weil Sie Kiew noch nicht
eingenommen haben, sondern weil Sie nicht teamfähig sind. Sie denken, Sie wahren
Ihr Gesicht durch Härte. Aus Sicht des erfolgreichen Teils der Welt verlieren Sie Ihr
Gesicht genau dadurch.
13 https://www.focus.de/politik/ausland/praesident-korrigierte-ihn-live-putins-spionagechef-versprichtsich-
praesident-korrigiert-ihn-live_id_57222085.html
8
Doch weil Sie nicht verstehen, dass Sie Russland mit Ihrem Stil gar nicht zum Erfolg
führen können, greifen Sie zu Fakes. Zu Lügen, Legenden, Propaganda. Deshalb
verdrehen Sie die Wahrheit. Nicht nur im Krieg.
In seinem Buch „Putins russische Welt. Wie der Kreml Europa spaltet“ wirft Manfred
Quiering Ihrem Land schlicht vor, eine Attrappe zu sein.14 Alles sei falsch: der
Rechtsstaat – nur auf dem Papier. Die angebliche Marktwirtschaft sei pure Fassade,
weil in Russland privates Eigentum an Produktionsmitteln nach wie vor als, Zitat:
„Inbegriff allen Übels“ gelte.15 Wohlgemerkt einer der Hauptfaktoren, die den Erfolg
des Westens ausmachen. Produktionsmittel in privater Hand.
Sicher kennen Sie das kommunistische Lehrbuch „Politische Ökonomie“,
herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. Ich habe hier die
deutschsprachige Ausgabe von 1955, Berlin, DDR. Dieses Buch müssten Sie aus
Ihrem Studium als junger Sowjet-Jurist kennen. Es war die Bibel für angehende
Stalinisten.
Wer das Buch liest, stößt auf Ihr Denken. Wenn Sie beispielsweise eine Planzahl
vorgeben, wie stark Sie den Mittelstand in Russland stärken wollen16, dann belegen
Sie damit Ihre Überzeugung, wirtschaftlicher Erfolg lasse sich staatlich steuern. 2018
haben Sie verkündet, Sie wollten den russischen Mittelstand bis 2025 auf 40 Prozent
anheben – als lasse sich das verordnen. Aber so denken Planwirtschaftler eben. Das
ist Ihre Sozialisation. In der Theorie haben Sie begriffen, dass eine Volkswirtschaft
einen Mittelstand braucht, der Werte schafft. Aber in der Praxis scheitert das Ganze
an Ihrer Misswirtschaft aus Korruption und Bürokratie. Und so ermöglichen Sie eben
keine Wertschöpfung.
Und wissen Sie, was im Kern das Problem ist? Das sowjetische Lehrbuch „Politische
Ökonomie“ würdigt das Individuum nicht. Zum Privateigentum heißt es, Zitat: „Das
persönliche Eigentum erstreckt sich im Sozialismus auf Konsumgüter.“17
Interessant, oder? Demnach haben Selbstständige im Sozialismus keinerlei
Produktionsmittel. Kreative Leute haben keine Computer, keine Drucker, nichts.
Bei uns im Westen konnte sich in den Achtzigerjahren jeder die nötigen
Produktionsmittel zulegen, um zum Beispiel Computerprogramme zu schreiben. Bill
Gates und Steve Jobs haben so angefangen. Herausgekommen sind Microsoft und
Apple. Wer konnte jemals in der Sowjetunion so arbeiten? Oder in der DDR?
Wäre das konstruktive Denken Ihr Treiber, hätten Sie aus dem Ende der Sowjetunion
den Schluss gezogen: Wir brauchen gedankliche Freiheit. Schluss mit der
Bevormundung! Russland muss interessant werden für Gründer. Offen sein,
freundlich zu den Nachbarn – Sie hätten ein freies Land aufbauen können, das
attraktiv ist für kreative Leute. Sie hätten dem Silicon Valley Konkurrenz machen
können. Aber leider sind Ihre Treiber Macht und Stolz. Also haben Sie den Schluss
gezogen: Was für eine Schmach ist das Ende der Sowjetunion. Was für eine
14 Quiring, S. 15.
15 Quiring, S. 17.
16 https://mdz-moskau.eu/russlands-mittelstand-im-abwaertstrend/
17 Politische Ökonomie, S. 458.
9
Kränkung! Russland muss wieder stark werden. Und so wirkt sich ein Mindset dann
eben aus.
Unliebsame Unternehmen enteignen Sie einfach – Beispiel Yukos. Sie denken, Sie
kommen damit als starker Mann rüber, der eine Basta-Entscheidung trifft. Doch
zugleich zeigen Sie der Welt, dass man bei Ihnen besser nicht investieren sollte.
Wozu auch, unter solchen Bedingungen?
Westliche Unternehmen ziehen sich aus Russland nicht nur zurück, weil sie gegen
den Krieg sind. Sondern vor allem, weil sie erkennen, wie dünn das Eis in Russland
ist. Also ziehen die Unternehmen und die guten Leute ab. Und mit ihnen Wissen und
Technik. Überrascht Sie das? Es war vorherzusehen.
Die Folgen sind skurril: Der Moskauer Bürgermeister will nun ohne westliche Hilfe
Autos bauen lassen.18 Kein Airbag, kein ABS, denn das sind alles Techniken aus der
freien Welt, die Sie, Herr Putin, so hassen. Dann erklären Sie selbst Ende Mai, der
Westen werde Russland technologisch nicht abhängen. Trotz der Sanktionen.
Rückschläge würden Russland stärker machen. Der Rückzug einiger ausländischer
Firmen vom russischen Markt sei wahrscheinlich das Beste.19
Na dann mal los. Wie wollen Sie das mit Bordmitteln hinbekommen? Ohne freies
Denken? Also: kein Microsoft Office mehr, richtig? So gut wie alle Gewaltregime auf
der Welt verteufeln die USA, nutzen aber amerikanische Software. Das ist die
Doppelmoral der destruktiven Unkreativen. Wer soll das High-tech-Know-how in
Russland denn entwickeln, wenn Sie die guten Leute vergraulen oder ins Straflager
sperren?
Warum Sie die wirtschaftlichen Zusammenhänge so beharrlich ignorieren, ist eine
große Frage. Soweit ich das sehe, haben Sie in der Sowjetunion Jura studiert und
wurden dann Beamter und schließlich Politiker. Das ist an sich nicht schlimm. Auch
bei uns im Westen haben viele Politiker kein Verständnis von Wirtschaft und
Wertschöpfung. Auch bei uns erkennen Politiker immer wieder zähneknirschend,
dass sich der Staat nicht als Unternehmer eignet.
Aber wir ziehen eben – zumindest meistens – die richtigen Schlüsse daraus. Wir
lassen freie Geister arbeiten. Und wir haben immerhin den Konsens, dass ohne
Wirtschaft keine Steuern fließen. Das versteht im Westen nur der linke Rand nicht,
der Sie in Schutz nimmt. Der linke Rand ist nicht bekannt dafür, Geschäftsideen zu
entwickeln und Arbeitsplätze zu schaffen. Die Marktwirtschaft ist dem linken Rand ein
Dorn im Auge – diese Freiheit würde der linke Rand gerne abschaffen wie nach dem
sowjetischen Lehrbuch „Politische Ökonomie“. Deshalb haben Sie bei der extremen
Linken Fans.
Fans haben Sie auch am rechten Rand. Die haben es gerne autoritär und wünschen
sich jemanden wie Sie, der mit der Faust auf den Tisch haut. Wie Sie auch, verachtet
18 https://www.bild.de/auto/auto-news/auto-news/ohne-airbag-abs-und-esp-russland-will-jetzt-steinzeitautos-
produzieren-80128018.bild.html
19 https://www.spiegel.de/ausland/ukraine-news-separatisten-sprechen-von-tausenden-ukrainischenkriegsgefangenen-
im-donbass-a-e1767c9b-e209-4a00-92ab-e96bd1ff4bc7
10
der rechte Rand die westlichen Demokratien als schwach. Der rechte Rand glaubt
wie Sie, Härte mache stark.
Gemeinsam ist diesen politischen Rändern ein ganz bestimmtes Phänomen: der
Kollektivismus. Sowohl Kommunisten als auch Nazis ordnen das Individuum dem
Kollektiv unter. Beide Ansätze wünschen sich im Kern kollektivistische Systeme,
beide Ansätze erwarten Gehorsam und sanktionieren Andersdenkende. Darin sind
sich Linksaußen und Rechtsaußen sehr nah. Dass es um Mittelstand und
Wertschöpfung geht, um ein Miteinander auf der Welt? Das verstehen diese Leute
nicht, es interessiert sie auch nicht.
Den Vertretern des Kollektivismus steht die politische Mitte gegenüber. Die weiß,
dass keine Volkswirtschaft vorankommt, wenn gute Leute ihre Ideen nicht entwickeln
können. Die politische Mitte setzt auf Vielfalt und Integration, auf die freie Entfaltung
der Persönlichkeit. Es geht darum, dass die Völker der Welt in freiem Austausch
miteinander stehen. Und dabei ist es wie gesagt egal, ob Königsberg nun deutsch ist
oder russisch. Es geht nicht um Abgrenzung, sondern um Kooperation.
Der Gegensatz von Individualismus und Kollektivismus ist, auf den Punkt gebracht,
der Konflikt, auf den alles zusteuert. Die Ukraine strebt zum Individualismus, in
Richtung Vielfalt und Freiheit. Sie will ihre Wirtschaft auf solide Beine stellen wie jede
vernünftige Nation. Russland und auch China, wo das Individuum ebenso wenig
zählt, setzen auf Kollektivismus und bekämpfen die Vielfalt. Individualismus und
Kollektivismus sind die beiden Denkmodelle, die einander gegenüberstehen.
Und damit sind wir beim Kernpunkt in meinen Augen, wenn es um die Frage geht,
warum Sie handeln, wie Sie handeln. Sie misstrauen dem Individuum. Sie denken,
es bedürfe einer umfassenden Kontrolle darüber, wer was macht.
Wir im Westen schauen zu und rätseln, wie Ihr Konzept aufgehen soll. Nehmen wir
die miserable Fehlerkultur. Sie sagen, die „Moskwa“ sei im Sturm gesunken,
nachdem an Bord Munition explodiert sei. Die Wetterdaten aber sagen: Es gab gar
keinen Sturm.20 Und so kommt Ihre Propaganda an ihre Grenzen: Entweder hat die
Ukraine die „Moskwa“ getroffen, oder Ihre Soldaten können nicht mit Munition
umgehen. Beides spricht nicht für die glorreiche russische Armee. Oder? Sie haben
sich verhalten wie im Jahr 2000 bei der Havarie des U-Bootes „Kursk“. Erst mal
leugnen, denn so etwas passiert dem glorreichen Russland natürlich nicht.
Ein Korrektiv, das Sie auf blinde Flecken und Denkfehler hinweist, haben Sie nicht in
Ihrer Filterblase.
Westliche Manager setzen inzwischen auf Diversity,
um Entscheidungen aus unterschiedlichen Blickwinkeln hinterfragen zu können. Fehler
gelten inzwischen als gut, weil sich daraus lernen lässt und weil sich aus den
Lerneffekten Entwicklungsmöglichkeiten ergeben.
Und Sie denken, mit dem Westen technisch mitzuhalten, indem Sie Kritiker mundtot
machen? Da fragen sich Top-Performer im Westen, wie Sie sich das vorstellen.
Unsere Diversity im Westen, die Toleranz, halten Sie ja eben für Zeichen der
Schwäche. Dabei sind genau das die Elemente, die eine Volkswirtschaft stark
machen.
20 https://www.n-tv.de/politik/Wetterdaten-wecken-Zweifel-an-Kreml-Erklaerung-article23271026.html
11
Viele im Westen glauben, dass Sie Opfer Ihrer eigenen Propaganda geworden sind.
Sie haben möglicherweise zu viel RT geschaut. Von einer Staatsführung mit Sinn für
Fehlerkultur und für sinnvolle Ergebnisse können die Russen jedenfalls nur träumen.
Ich glaube, ich weiß, was für ein Russland sich der Westen wünscht: kein kaputtes
Russland, sondern ein wirtschaftlich starkes und daher selbstbewusstes Russland,
das auf dem Stand der Zeit ist und mit dem man reden kann. Konstruktiv. Und das
andere in Ruhe lässt. Doch das gelingt nicht mit Antreibern wie Härte, Stolz und
Unterdrückung. Es gelingt mit Offenheit, Fehlerkultur und Wertschätzung.
*****
Literaturangaben:
- Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Institut für Ökonomie: Politische
Ökonomie. Lehrbuch. Dietz Verlag Berlin, DDR 1955
- Eltchaninoff, Michel: In Putins Kopf. Logik und Willkür eines Autokraten. Dt.
Ausgabe: Cotta’sche Buchhandlung, aktualisierte Neuausgabe, Stuttgart 2022
- Quiring, Manfred: Putins russische Welt. Wie der Kreml Europa spaltet. Ch Links
Verlag, Berlin 2017
***