SWR2 Wissen: Aula : Zurück zur beseelten Natur – Plädoyer für einen Perspektivwechsel . Von Andreas Weber


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Wissen: Aula : Zurück zur beseelten Natur – Plädoyer für einen Perspektivwechsel . Von Andreas Weber
Sendung vom: Donnerstag, 13. Mai 2021, 8.30 Uhr
Erst-Sendung: Sonntag, 25. November 2018, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Caspary Produktion: SWR 2018
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ÜBERBLICK
Plastikmüll, Dürrekatastrophen, Luftverschmutzung, Gletscherschwund - wir können
nicht mehr so weitermachen wie bisher. Ein Wandel, davon ist der Philosoph Andreas
Weber überzeugt, ist nur möglich durch ein radikal neues Verhältnis zur Natur und
ihrer Seele.
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede
weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des
Urhebers bzw. des SWR.
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Quintessenz: Schelling statt Fichte,< k. >

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MANUSCRIPT
Anmoderation:
Mit dem Thema: „Zurück zur beseelten Natur - Plädoyer für einen
Perspektivwechsel.“ Am Mikrofon: Ralf Caspary.
Zuerst haben wir die Natur jahrhundertelang ausgebeutet, dann haben wir erkannt,
dass wir uns damit selbst den Ast absägen, auf dem wir sitzen. Dann haben wir die
Natur als schützenswertes Terrain deklariert. Und mittlerweile scheinen wir die Natur
auch mit anderen Augen zu sehen, sie ist nicht mehr nur ein Objektbereich, den man
auf wissenschaftliche Weise verstehen und gemäß wissenschaftlicher Erkenntnisse
ummodeln kann, sondern beseeltes Gegenüber.
Und dabei geht es um einen neuen Naturbegriff, mit dem wir die ökologische
Zerstörung aufhalten können. Wie der aussieht, sagt der Biologe, Philosoph und
Buchautor Andreas Weber.
Andreas Weber:
Der Zusammenbruch, den das IPCC noch verhindern möchte, hat schon begonnen,
direkt vor der Haustür. Eine Dürre des Ausmaßes von 2018 herrschte im Nordosten
Europas zuletzt im Jahre 1540. Ein heißer Sommerwind treibt noch Mitte Oktober
Staub vor sich her, die krautigen Pflanzen sind zu grauem Pulver zerfallen, die
Bäume lösen schon im August ihre vergilbten Blätter. Es ist ein Herbst zur Unzeit.
Das fast weiße Gelb der gezackten Ahornblätter zwischen dem Grün, das noch
aushält, wie silberne Strähnen im Haar, nicht gereift, sondern überrascht. Und heute,
Ende November 2018, sind Rhein und Elbe über weite Strecken von Wasser entleert,
zu seicht, um vollbeladene Schiffe zu tragen, die Brennstoffe und Industrieprodukte
zu transportieren.
Der Dürresommer ist vielleicht nicht allein dem menschlichen Reißen an der
Fruchtbarkeit und ihren Gesetzen geschuldet, aber er weist doch darauf hin. Er weist
auch darauf hin, weil so wenige ein Bedürfnis nach Gegenseitigkeit zeigen. Bäume
verdorren in den Straßen vor den Fenstern der Anwohner, anscheinend unbemerkt.
Immer wieder muss ich, wenn ich einen meiner Baumpaten mit Wasser aus dem
Hahn eines Wochenmarktes tränke, Anfeindungen über mich ergehen lassen, dass
ich das Nass nicht bezahlt hätte.
Es scheint in diesen Dürretagen eine seltsame Baumblindheit zu herrschen, eine
Blindheit gegen alles, was sich von selbst entfaltet und zu blühen begehrt. In
Wahrheit ist es auch ein Unvermögen, das eigene Begehren nach Blüte zu erfassen.
Es ist eine Blindheit dafür, dass die schmachtenden Körper der Wesen, die mit ihrem
Laub die Straßen beschatten – mit jenen sonst saftig grünen Blättern, die jetzt, über
Nacht vergilbt, wie ein zerstreuter Trauerflor zu Boden sinken – unsere Körper sind,
dass sie Bedürfnisse haben wie wir, dass wir ihnen helfen können, diese zu stillen,
weil sie so sind wie wir.
Die Natur nehmen viele Menschen bis heute als ein bloß äußeres Setting wahr, dem
sie nichts schulden: etwas außerhalb ihrer Körper und außerhalb ihrer Gefühle. Was
aber wenn der verdorrende Kirschbaum letztlich nichts anderes ist als wir selbst? Um
eine solche Sicht in unser Herz einzulassen, bedarf es in der Tat unerhörten
Wandels. Einer Revolution der Seele – und eine tiefgreifende Neuausrichtung
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unserer Beziehungen.
„Rasche, weitreichende und nie dagewesene Änderungen in allen Belangen unserer
Gesellschaft“ – das ist radikal, weil es von Mainstream-Experten kommt, nicht aus
kulturkreativen Kreisen. Es ist radikal, und doch immer nicht ganz zu Ende
ausgesprochen. Darum will ich übersetzen: Es heißt Umsturz. Es heißt, verstehen,
dass wir selbst Natur sind und dass Natursein immer heißt, Seele zu sein. Es heißt,
dass wir alle – die Menschen, die Linden, die Nachtigallen, die Erde und das Wasser
– Partner in einer symbiotischen Gegenseitigkeit sind, die nur fruchtbar bleiben kann,
wenn sie auf seelischer Gemeinschaft und fairer Teilhabe beruht.
In Ankunft des neuen Zeitalters, das wir auf den Namen „Anthropozän“ – die neue
Epoche des Menschen – getauft haben, ist die Forderung der 6.000 einer der
einschneidenden Wendepunkte. Sie verlangt, dass wir unser Verhältnis zu allem,
was lebt, auf radikale Weise überdenken. Zu einander, vor allem aber zu dem, was
wir immer „Natur“ genannt haben. Merken Sie sich, verehrte Hörerinnen und Hörer,
diesen Tag, und das, was die Forscher verlangen. Es ist der Ruf danach, das, was
wir schon lange wissen, als Wirklichkeit anzuerkennen. Was wir jetzt brauchen –
nicht subjektiv brauchen, nach Meinung von Blumenkindern und Müslis, sondern
objektiv brauchen, als Ergebnis wissenschaftlicher Abwägung, ist ein Ende des
trennenden Grabens zwischen “der Natur” und „den Menschen“. Wir brauchen einen
neuen Bund.
Wir sägen nämlich nicht nur den Ast ab, auf dem wir sitzen. Wir sägen den Ast ab,
der wir sind. Was unser Klima zerstört, aber ja längst nicht nur das, sondern auch die
Leben von Abermillionen Arten, die gemeinsam mit uns das funkelnde Netz des
Lebens auf diesem blauen Planeten bilden, ist die lange herrschende Idee, dass die
Natur – und letztlich alle Wesen außer den Menschen – Dinge sind. Objekte. Und
dass es in dieser Welt darum gehe, über Objekte so zu verfügen, dass man sich den
besten Platz vor anderen erobert.
Das ist das Herz des Kapitalismus – Verdrängung des Schwächeren durch
geschickte Nutzung der Ressourcen. Und es ist lange auch die Botschaft der
Biologie gewesen: Wettkampf der Arten um knappe Güter (knappes Fressen,
mäkelige Geschlechtspartner, begrenzte Lebensräume) und Sieg des Besten. Die
Welt, so war die Mainstream-Lesart lange Zeit, ist kalt und herzlos. Sinn gibt es nur,
wenn wir ihn selbst erfinden – oder uns gegen seinen Mangel durch den Kauf eines
netten Objekts betäuben.
Die Baumblindheit des Dürrefrühjahrs, -sommers und –herbstes 2018 ist das
Ergebnis einer Betäubung. Baumblindheit ist Anästhesie. Anästhesie heißt „mit den
Sinnen nicht wahrnehmen“. Sie ist der Verzicht darauf zu fühlen. Und hat man uns
nicht seit Jahrzehnten eingetrichtert, dass die Welt in Wahrheit völlig gefühllos sei?
Und auch unsere eigenen Gefühle seien Illusion, erfunden von egoistischen Genen,
damit wir beim Kampf um den besten Partner die anderen aus dem Felde schlagen?
Was aber, wenn alles ganz anders wäre? Wenn sich die Natur nicht als seelenlose
Mechanik eines großen Fressens enthüllte, sondern als Mosaik von Lust und von
Betroffensein, von Sinn und schöpferischer Verwandlung? Wenn nicht nur Menschen
eine Innenwelt hätten, sondern alles, was lebt? Könnten wir uns dann auf diesem
Planeten nicht ein wenig mehr willkommen fühlen? Und läge in einem solchen
Willkommenfühlen nicht Hoffnung für die von Öko- und Klimakrisen bedrohte Welt,
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und somit für uns?
Wenn alles fühlt, dann ist die Richtung klar, in der wir unsere Gesellschaft radikal
ändern müssen: Hin auf eine Gegenseitigkeit mit allen anderen Wesen. Aufhören,
diese als Dinge zu behandeln, und sie endlich als Gleichgestellte begrüßen – als
Gleichempfindende, Gleichfreudige und Gleichleidende. Bis vor kurzem galt solche
Hoffnung als sentimentale Schwärmerei. Heute aber wird sie immer stärker von
klugen Denkern des Mainstreams propagiert.
Der Zusammenbruch des Klimas, wie wir es kannten, lehrt uns auf brutale Weise,
dass die Idee, der Mensch sitze draußen, die Natur sei eine „black box“, mit er man
möglichst effizient umgehen muss, an der Wirklichkeit zuschanden geht. Im
Treibhaus gibt es kein draußen. Es gibt keine „Fitteren“, die nicht auch betroffen
wären. Es gibt niemanden, der sich langfristig der Gegenseitigkeit entziehen kann,
ohne dass alle dafür zahlen.
Die Erkenntnis, dass Leben eine Innenseite hat, die auf Gegenseitigkeit drängt,
macht gegenwärtig besonders die Biologie. Nachdem die Wissenschaft des Lebens
lange die Metapher vom blinden Wettkampf vorangetrieben und in ihrer
Beschäftigung mit dem Leben dieses auf die Gesetze des Toten zurückgeführt hat,
begreift sie nun, dass diese Welt keine Maschine ist. Vielmehr zeigt sich die
ökologische Wirklichkeit als ein aus Materie und Gefühlen, aus Strukturen und
Bedürfnissen komponierter Tanz – ein zutiefst ausdrucksvolles und poetisches
Geschehen. Sie ist ein Raum der Begegnung und Verwandlung, also ein
Seelenraum.
Die Biologie gebiert sich wie keine andere Naturwissenschaft gerade selbst neu.
Konzepte, die Biologen noch in den 1990er-Jahren so sicher galten wie Newtons
Schweregesetz vor dem Einschlag der Relativitätstheorie, sind heute als Altlasten
entsorgt. Biologen haben das Maschinenmodell der Wirklichkeit verabschiedet.
Stattdessen erkennen sie, dass wir Einheimische einer Welt des miteinander
geteilten Atems sind und nicht Ausländer zwischen Zombies in einem
erbarmungslosen Überlebenskampf.
So ist das einst jedem Schüler eingebläute Dogma, das die Umwelt niemals die
Gene beeinflussen kann, begraben. Mittlerweile weiß man, dass Traumata, die eine
Großmutter erlebt hat, noch das Genom der Enkel durcheinander bringen können.
Botaniker entdecken ein geheimes Leben bei Pflanzen, die fühlen und
kommunizieren wie wir, nur anders. Zoologen weisen Emotionen heute sogar bei so
roboterhaft wirkenden Wesen wie der Hummel nach, die sowohl unter Verstimmung
leiden wie Euphorie auszudrücken vermag. Gene sind für Entwicklungsbiologen nicht
mehr codierte Befehle, sondern Partituren, die der Organismus je nach Verfassung
anders interpretiert.
Die Biologie befindet sich auf dem Quantensprung. Wie Physiker vor hundert Jahren
begreifen mussten, dass unendlich weit entfernte Partikel, wenn sie gemessen
werden, sich verändern und somit unsichtbar mit den Beobachtern
zusammenhängen, erkennen heute Biologen, dass es keine restlos voneinander
getrennten Individuen gibt. Ihre wissenschaftliche Revolution ist nicht technisch,
sondern sentimental. Denn wer Lebewesen erforscht, ist selber eins. Wer Leben
untersucht, spricht immer auch sich selbst. Was gestern noch kühle
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Naturwissenschaft war, wird dadurch zur Biopoetik, zu einer Hermeneutik der
Lebendigkeit in der ersten Person.
Und vergessen wir nicht die alte Lektion aus dem Bio-Unterricht, als der
Zellstoffwechsel durchgenommen wurde. Alle Wesen, auch wir, wechseln den Stoff
miteinander: Wenn wir einen Apfel essen, so wird der Stoff, aus dem er besteht, zu
unserem Körper. Mit jedem Atemzug, den wir tun, wiederum, löst sich unser Körper
in der umgebenden Luft auf. Das CO2, das die anderen einatmen, ist unser Körper,
der sich an die Welt hingibt, um sich in den Körper der Bäume zu verwandeln.
Bäume sind Atem, könnte man aus der Perspektive der poetischen Biologie sagen.
Die subversive Arbeit an unserem Naturverständnis leisten aber nicht nur
Wissenschaftler, sondern derzeit vor allem die Dichter. In den letzten Jahren ist ein
Genre auf dem deutschen Buchmarkt groß geworden, das noch vor einem Jahrzehnt
niemand ernst nahm:dDas Schreiben über Natur. Vorläufiger Kulminationspunkt ist
das „Geheime Leben der Bäume“ des Försters Peter Wohlleben, das ein echter
Weltbestseller geworden ist, ein geradezu anthropozänischer Globalerfolg. Es zeigt,
dass Pflanzen fühlen, miteinander kommunizieren, einander helfen – dass der ganze
Wald eine einzige große Community ist, in der Individuen zum Ganzen beitragen,
und dieses den einzelnen bei Krisen hilft.
Das ist eine Sichtweise, die lange aus dem vorgeblich objektiven Bild einer kalten,
egoistischen Wirklichkeit verschwunden war. Doch Bäume richten sich nach ihr. Und
viele Leser des Nature Writing auch. Sie finden sich wieder, fühlen ihre Lust an der
Gegenwart anderer Lebensformen bestätigt, die Intuition, dass es Verbindung mit
ihnen gibt, das Glück angesichts des Frühlings, die Rührung, wenn die Katze auf
dem Schoß schnurrt. Das neue Genre des Nature Writing bestätigt, was wir
eigentlich immer schon gefühlt haben. Vielleicht also sind die Empfindungen von
Verbundenheit und Echtheit doch nicht so ganz aus der Luft gegriffen, wenn wir
einen Bläuling um die Blütendolde flattern sehen. Vielleicht schläft ja doch ein Lied in
allen Dingen!
Dieses Lied wieder zu hören, wäre eine solche unerhörte und radikale Änderung, wie
sie der IPCC vorschlägt. Ein anderes Bild der Welt und unserer Rolle darin. Eine
Welt, die nicht nur Körper ist, sondern auch Seele.
Stärker noch als die Revolution der Biologie bringt das neue Nature-Writing auf
poetischem Weg die Jahrhunderte alte Gegenüberstellung des Humanen und der
Anderen durcheinander und schleust eine neue Wirklichkeitssicht ein. Was sich
dahinter abzeichnet, könnte etwas sehr Ernsthaftes sein: Das Bild einer Welt, in der
wir Menschen unseren Platz wiederfinden. Nicht in der Heimat einer trivialen Idylle,
sondern in einer radikalen Wechselseitigkeit, in der den nichtmenschlichen
Mitspielern jene schöpferischen und emotionalen Qualitäten nicht fremd sind, die wir
allein für unser eigenes Artmerkmal halten.
Denn Blümchen und Bäume haben mit dem Menschen eine entscheidende
Eigenschaft gemeinsam. Sie sind verletzliche Körper, die aus dem unbekannten
schwarzen Loch eines winzigen Keimes entstehen, eine eigene Geschichte mit
Aufschwüngen und Rückschlägen erleben, sich mit anderen verbinden, um
Nachkommen zu zeugen und Nahrung aufzunehmen, um sie selbst zu werden und
wieder zu vergehen.
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Andere Geschöpfe, ob Sommerlinden oder Mönchsgrasmücken, teilen, um es mit der
Philosophin und Soziologin Hannah Arendt zu sagen, mit uns das Schicksal der
Gebürtigkeit. Oder wie es eine andere unsentimentale Intellektuelle, die polnische
Dichterin Wisława Szymborska, formulierte, sie werden vom „selben Stern in
Reichweite gehalten“. Man könnte sogar den Ästhetik-Philosophen Theodor W.
Adorno, Feind jeder trüben Eigentlichkeit, ins Felde führen, um die Hingezogenheit
zu anderem Leben zu erklären, der sagt: „Liebe ist die Fähigkeit, Ähnliches an
Unähnlichem wahrzunehmen.“
All das begleitet das Heraufdämmern einer Weltsicht, die uns für die Gestaltung einer
unerhört neuen Gesellschaft – einer Gemeinschaft mit allem Lebendigen –
inspirieren kann. Ein solcher neuer Bund ist unumgänglich, wenn wir den finalen
Klimawandel abwenden sollten, aber er ist auch nötig, um das, was wir schon
angerichtet haben, zu überleben.
Dieser Bund folgt weniger Romantik als Realismus. Gleichwohl knüpft er da an, wo
Hölderlin, Schelling, Wordsworth und Coleridge im 19. Jahrhundert aufhören
mussten, nämlich bei der Idee, dass alles, was eine berührbare Außenseite hat, auch
empfindsame Innenseite ist, genau wie wir. In der angelsächsischen Kultur ist dieser
Boden anders als hier immer fruchtbar geblieben. Dort lebte mit Emerson, Thoreau
und Whitman die Romantik bis ins 20. Jahrhundert fort. Die Sparten Ökophilosophie
und Nature Writing gehen heute im angelsächsischen Denken fruchtbar ineinander
über, setzen sich mit der Biologie auseinander und probieren neue
Kommunikationsformen und eine radikal subjektive Sprache.
Was dort im Werk von Protagonisten wie Rebecca Solnit, Robert MacFarlane und
Gary Snyder entsteht, ist eine poetische Wissenschaft in der ersten Person. Von
dieser Forschung mit dem eigenen spürenden Körper als wichtigstes Messinstrument
hatte sich die deutsche Kultur lange abgeschnitten. Das wird jetzt vorsichtig revidiert.
Und noch haben wir einiges zu tun, gerade im deutschen Sprachraum.
Der schlechte Ruf der Romantik in Deutschland hat damit zu tun, dass der Philosph
Fichte gewonnen hat und nicht sein Kollege Schelling. Für Fichte war das „Ich“ der
Mittelpunkt, das aus sich selbst eine Welt konstruiert. Schelling hingegen galt der
Kosmos als Ursprung, der das Bedürfnis verspürt, sich als „Ich“ zu fühlen und somit
unweigerlich fühlende, begehrende Subjektivität hervorbringt. Fichte – die Welt, die
um das Begehren des Ichs kreist. Schelling – das Ich, das Teil einer der Begegnung
begehrenden Welt ist.
Das Erbe der Romantiker bestimmte somit hierzulande nicht die Leitidee eines
schöpferischen Kosmos, der aus sich selbst Betroffenheit und Empfindung gebiert,
weil er neugierig auf sich ist wie ein kleines Kind auf sein Spielzeug. Sondern die
Vision eines Ich, das sich selbst als absolut entwirft, und in dieser Herrschaftsgeste
weder auf einen verletzlichen Körper angewiesen ist noch auf die Gegenseitigkeit
eines Ökosystems und der in ihm verteilten Gaben. Wegen dieses Erbes war gerade
im Geburtsland der Romantik die Rede über Natur lange Zeit suspekt – und somit
auch jeder Versuch, philosophisch zu einem neuen Miteinander der Wesen zu
kommen.
Erst das Anthropozän liefert ein wirksames Antidot gegen die deutsche Furcht, dass
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Nature Writing, die Biopoetik in der ersten Person, nichts als verträumter Kitsch wäre,
ein schaler Aufguss der ersten Romantik. Dieses Gegengift ist die Idee, mit der die
historischen Romantiker damals stecken geblieben sind, die radikale Konsequenz
ihres Denkens, die schnell vergessen wurde.
Wenn die Welt seelenförmig ist, dann ist Seelisches, Ausdruck, Schönheit, ja sogar
Identität nicht der Triumph souveräner Subjektivität, sondern ein massiv distribuierter
Prozess. Dann ist Sein immer nur Sein durch Teilen. Ein Wesen ist nicht eine Seele,
die einen Körper bewohnt wie ein mehr oder weniger schickes Konsumgut, sondern
ein Stück Welt, das nur blühen kann, wenn andere mit ihm solidarisch sind.
Was in einer solchen Sicht als erstes zu korrigieren ist, wäre dann die Rede von „der
Natur“. Es würde helfen zu sehen, dass „die Natur“ ein Gewirr von sowohl
lebensspendenden als auch tödlichen Gestaltungsprozessen ist, die Individuen
formen wie die Meere ihre Wogen, und deren Essenzen wieder vermischen. Keiner
ist einer, immer sind wir viele (was schon Goethe gewusst hat). Gut und schlecht
sind unauflöslich vermengt. Wir alle sind Natur, weil wir alle Leben sind. Und wir alle
sind nicht einer, sondern viele. Jedes Subjekt ist Gegenseitigkeit, bevor es Einheit ist.
Das ganze Lebensreich ist „queer“ – gebrochen, widersprüchlich, nicht auf den
sauberen Nenner einer Individualität zu bringen. Wir selbst haben in unserem Körper
mehr Gene von unseren Darmbakterien als eigene. Ein Fünftel unserer DNA stammt
von Viren, die vor langer Zeit unsere entfernten Vorfahren umgebracht haben, bis
diese das infektiöse Erbgut als etwas Neues, Nützliches eingemeindeten.
Eine solche Sicht kann auch helfen, die Skepsis der Gebildeten gegenüber den
Naturliebenden und Naturliteraten abzubauen. Auch der Körper ist ein Sprachspiel,
aber nicht, weil er Fiktion ist, sondern weil alles Körperliche existentielle Poesie und
Bedeutung ist. Das zu sehen ließe uns verstehen, dass wir in einer Welt der
graduellen Fremdheit und Verwandtschaft leben, nicht wir hüben und die drüben.
Wir stimmen mit uns selbst auch nicht zu hundert Prozent überein, mit der Partnerin
vielleicht zu sechzig Prozent und mit unserem Hund zu dreißig – Ebenen der
Überlappung, aus denen Sinn geschaffen werden kann, der freilich niemals
erschöpflich ist.
Dieses Argument bringt der Ökophilosoph und Björk-Intimus Timothy Morton in
seinem neuen Buch „Humankind“. Morton, bislang Star-DJ eines wilden Zynik-Slams
gegen jede Natursentimentalität, stellt hier auf atemberaubende Weise die Romantik
auf die Füße des Anthropozäns. Er zeigt: Was uns alle empfindungsfähig macht, ist
das genuin Gebrochene, Unperfekte aller biologischen Individualität. Welt ist
zersplittert, die der Tomaten, und unsere eigene.
Man könnte auch sagen: Wir sind berührbar, weil wir essbar sind. Und anders herum:
Wir müssen uns essbar machen, um berührbar zu bleiben. Nur wer sich essbar
macht, vermag zu blühen. Und nur wer sich essbar macht, ist auch küssbar.
In der Idee der Essbarkeit ist nicht nur die tiefe Gegenseitigkeit eines neuen
Verständnisses von Leben enthalten, sondern bereits eine Ethik materieller
Beziehungen. Essbar sein heißt, dass mir nichts allein gehört. Dass Leben nur
fruchtbar wird im Tausch und Austausch. Die Natur ist nämlich ein Haushalt der
Gemeingüter. Nichts ist in ihr Monopol, alles ist Open Source. Nicht das egoistische
Gen ist die Quintessenz des Organischen, sondern der offenliegende Quelltext jeder
genetischen Information.
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Die DNA konnte sich in so viele Spezies verästeln, weil alle ihren Code nutzen
dürfen, weil jeder das für ihn Sinnvollste daraus basteln kann. So wie es in der Natur
kein Eigentum gibt, gibt es auch keinen Abfall. Alle Verfallsprodukte sind Nahrung.
Jedes Individuum macht sich, wenn es stirbt, einem anderen zum Geschenk, so wie
es selbst durch die Gabe des Sonnenlichts seine Existenz empfangen hat. Zwischen
Geben und Nehmen herrscht ein Zusammenhang, in dem Produktivität Verlust
bedingt.
Natur sie ist unendlich verwandelbar und lädt überall zur Teilhabe ein. Aber was sie
nicht ist, ist effizient So verbrauchen Warmblüter über 97 Prozent ihrer Energie allein
zur Unterhaltung des Körpers. Die Photosynthese erreicht einen lächerlichen
Wirkungsgrad von fünf Prozent. Fische, Amphibien und Insekten müssen oft
Millionen von Eiern legen, damit ein einziger Nachkomme überlebt.
Doch das Leben macht mögliche Verluste durch unvorstellbare Fülle und
atemberaubende Verschwendung wett. Es ist nicht sparsam, weil die Grundlage aller
Arbeit, die Sonnenenergie, als Geschenk vom Himmel fällt. Auch die Sonnenenergie
ist essbar, was uns Pflanzen zeigen. Und Pflanzen zeigen uns auch: Die Innenseite
der Essbarkeit ist die Empfindungsfähigkeit.
Die unaufhörliche Verwandlung des einen Individuums in das andere ist das große
Geheimnis der Natur. In letzter Linie kann man sagen: Ökosysteme sind
Liebesprozesse. Sie sind Liebesprozesse, nicht, weil in Wahrheit in der Natur alles
nett und harmonisch wäre. Das ist es eben nicht. Aber alles ist Gegenseitigkeit, ein
einander Durchmischen und ein gemeinsam sich Imaginieren. Das Individuum
gedeiht nur dann, wenn es das Ganze nährt, und das Ganze nur dann, wenn das
Individuum frei ist, es selbst zu sein.
Selbst fruchtbar sein, weil der andere fruchtbar ist, das ist für mich die Bedeutung
des Liebens. Ökosysteme sind Liebesprozesse. Kein Wunder, dass wir uns in der
Natur geliebt fühlen und uns dort auch nachweislich selbst mehr lieben – und andere.
Die Baumblindheit des Sommers 2018 ist dann auch eine Liebesblindheit. Wer nicht
essbar ist, ist nicht küssbar. Ich hoffe, dass Sie, liebe Zuhörer, bemerken, dass diese
ökologische Idee von Liebe die Bereitschaft einschließt, für das Leben zu sterben.
Wirklich werden heißt sterben lernen. Das kennen wir aus unseren seelischen
Krisen. Es ist ein ökologisches Grundgesetz.
Wir können uns in dieser Wirklichkeit noch nicht wirklich zurechtfinden. Aber es ist
die Sphäre, welche die Dutzende Millionen Leser von Wohllebens beseelter Waldwelt
wiedererkennen, weil wir sie alle bewohnen. Die Wirklichkeit hat vielleicht nicht die
simplistische Form, die solche Waldliteratur manchmal annimmt. Aber sie folgt doch
einer Erkenntnis, die der Beginn einer neuen kulturellen Epoche sein könnte, und
zwar in jeder Form des Austauschs, auch des ökonomischen: Wir alle, wir
verletzlichen Körper, sind durch und ineinander, und dieses Durch- und
Ineinandersein ist keine effizient absurrende Mechanik, sondern ein seelisches
Geschehen intensivster Betroffenheit.
Was sich da abzeichnet ist kein Paradies, in dem die gute Mutter uns an ihre Brust
nimmt, wenn wir nur brav Biotope schützen. Es ist ein Begehren, in dem jede Geburt
einen Tod voraussetzt, in dem alles, was wir erhalten, von einem anderen erst
losgelassen werden musste. Wir sehnen uns danach, zu empfangen, aber auch
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freizulassen, um zu geben. Wir sind lebendig, und die anderen sind es auch, und wir
sind es nur miteinander, und durcheinander, in der Sehnsucht, zu blühen, indem
mein Gegenüber blühen darf.
Jedes Individuum kann sein, weil seine Existenz einem anderen geschuldet ist.
Menschen brauche Eltern und ein soziales Umfeld, um gesund heranzuwachsen, sie
bedürfen der anderen Wesen, die sie nähren, der Luft, der Erde. “Ich bin, weil Du
bist” ist ein grundsätzlicherer Satz als “Ich bin ich und du bist du.” Die Wirklichkeit
kann nur fruchtbar bleiben, wenn diese Gegenseitigkeit gewahrt ist, wenn die
Anderen heilig sind, und wenn das, was mir geschenkt ist, immer Anlass gibt zu einer
Geste der Dankbarkeit.
Sich selbst diese Blüte zu erlauben und sie so dem anderen zu ermöglichen – das ist
vielleicht die radikalste Haltung, mit der wir auf die IPCC-Forderung nach radikalen
gesellschaftlichen Änderungen antworten können. Sich selbst die Blüte zu erlauben –
statt Sachzwänge abzuarbeiten – ist nämlich der Standpunkt, das alles lebendig ist,
und alles in Gegenseitigkeit blühen will, der Wille der Natur.
Plötzlich dreht sich alles um: die Sehnsucht nach Sinn, die für Jahrhunderte Zeichen
einer einsamen Menschenwelt war, durchdringt nun jede Regung der Körper.
Plötzlich verstehen wir, dass alles Blüte will, und dass für diese Blüte immer der
andere notwendig ist. Sein ist stets teilen. Wollen wir wirklich sein, sind wir zur
radikalen Gegenseitigkeit gezwungen.
Das ist das besonders Bittere am Insektensterben, des anderen gigantischen
Schwindens – 80 Prozent der Insektenbiomasse in den letzten zwanzig Jahren –,
von dem wir noch weniger ahnen als vom Gegenstand der Baumblindheit. Das
Insektensterben ist ein Zusammenbruch der Gegenseitigkeit. Es ist damit auch das
Erlöschen der Blüte.
Der einsame Schmetterling, dem wir an manchen Frühsommertagen begegnen,
verkörpert unsere zerbrechliche Freude, die aufflackert, bevor sie von der
Sachzwangmaschine unter schalen Vergnügungen begraben wird. Der Schmetterling
ist die Blüte unserer Solidarität, als Leben mit dem Leben, und Leben, das ist das,
was sich selbst will, indem es anderes, was auch sich selbst will, zu berühren
vermag, zu streicheln, zu atmen, zu verdauen.
„Ich spiele Perlspanner, um die Lebensformen / der ganzen Welt in eine einzige zu
bringen. / So dass ich dem Tode antworten kann, wenn er kommt...“ schreibt die
dänische Lyrikerin Inger Christensen, auch sie eine der Kräfte hinter dem Comeback
der Natur ohne Sentimentalität.
Schmetterlinge, das sind ja die Blüten der Luft, das, was Blumen wären, wenn sie
fliegen könnten. Sie sind es, weil sie sich ganz in ihre eigene Verletzlichkeit geben
und blind in Kauf nehmen, zu Billionen an Windschutzscheiben und Kühlergrills zu
zerschellen, wenn man sie denn noch ließe. In ihnen bildet sich, wie in aller Poesie,
die zentrale Einsicht ab, jene Einsicht des eigenen Körpers und des eigenen
sommerlichen Jauchzens, die uns unsere Kultur immer noch so beharrlich verwehrt,
dass wir den anderen brauchen, um blühen zu können, dass wir uns öffnen müssen,
den anderen einlassen, und dass Schönheit kein Konsum ist, sondern ein Opfer, in
dem die Welt zu unserem Atem wird.
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Es ist der Atem dessen, was der Philosoph Morton in einem kühnen Schlenker, der
den Psychoanalyse-Begründer Freud mit einem Federstrich abhakt, das „Symbiotisch
Reale“ nennt: die Sphäre des Lebens, in der jeder des anderen Geist und jeder des
anderen Echo ist. Das „Symbiotisch Reale“ ist das, was vom selben Stern in
Reichweite gehalten wird. Es ist ein dauerndes Sehnen nach mehr Wirklichkeit und
ein dauerndes Vergehen in der Wirklichkeit des anderen. Es ist kein Weg zur Rettung
im Idyll, aber ein Grund zu fühlen. Es ist die Welt, in der wir essbar sind, und
küssbar.
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