SWR2 Wissen: Aula :Leben in der Angstgesellschaft . Von Alexander Grau

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Lebenswelt - Angst . A. Grau
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SWR2 Wissen: Aula :Leben in der Angstgesellschaft . Von Alexander Grau
Sendung vom: Donnerstag, 3. Juni 2021, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Caspary
Produktion: SWR 2021
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Autor
Alexander Jürgen Grau
(* 1968 in Bonn) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Buchautor.
https://de.wikipedia.org/wiki/Alexander_Grau_(Journalist)


ÜBERBLICK
Angststörungen nehmen zu, das zeigen viele Statistiken. Gleichzeitig sind wir
rundum abgesichert und versichert. Leben wir in einer Angstgesellschaft?
Der Mensch der Spätmoderne hat Angst. Angst vor dem Klimawandel, Angst vor tödlichen Viren, Angst vor Stickoxiden, Feinstaub, Gewalt. Sogar der Alltag gerinnt ihm zu einem Hort drohender Gefahren. Deshalb umgibt er sich mit Airbags, Fahrassistenten und Sicherheitsgurten.
Und sollte doch mal etwas schiefgehen im Leben, hat er sich rundumversichert, gegen Krankheit und stornierte Ferienreisen. Dennoch: Jeder sechste Erwachsene sucht im Laufe eines Jahres einen Arzt wegen krankhafter Angstzustände auf. Keine andere psychische Störung wird häufiger diagnostiziert. Wie ist das zu erklären?...
Alexander Grau ist Philosoph und Publizist

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MANUSKRIPT
Anmoderation:
Mit dem Thema: „Leben in der Angstgesellschaft“. Am Mikrofon: Ralf Caspary.
Angststörungen sollen in der modernen Gesellschaft zunehmen, das zeigen viele
Statistiken, und das ist ein interessanter Befund, denn: Gleichzeitig sind wir ja
rundum abgesichert und versichert gegen alles Mögliche. Tja, und dann kommt ein
Virus und wir haben wieder Angst.
Warum ist das so, leben wir in der Angstgesellschaft, wenn ja, was sind die
Ursachen? Antworten gibt der Philosoph und Publizist Alexander Grau.
Alexander Grau:
Der Mensch der Spätmoderne hat Angst. Angst vor dem Klimawandel, Angst vor
tödlichen Viren, Angst vor Stickoxiden, Feinstaub, Terror und Gewalt. Sogar der
Alltag gerinnt ihm zu einem Hort drohender Gefahren. Deshalb umgibt er sich mit
Airbags, mit Fahrassistenten und Sicherheitsgurten. Er radelt mit Helm durch den
Stadtpark und ernährt sich gesundheitsbewusst, kalorienarm und vegetarisch. Seine
letzte Zigarette hat er vor Jahrzehnten geraucht. Und sollte doch mal etwas
schiefgehen im Leben, hat er sich rundumversichert, gegen Krankheit und Feuer
ebenso wie gegen stornierte Ferienreisen.
Dabei hat der Bürger westlicher Industriestaaten nüchtern betrachtet wenig Grund
zur Sorge. Die sozialstaatlichen Sicherungssysteme sind eng geknüpft und
ermöglichen selbst bei Erwerbslosigkeit eine niedrigschwellige Teilhabe am
Massenkonsum. Die Schwerkriminalität nimmt seit Jahrzehnten ab. Und eine
moderne Hochleistungsmedizin trägt dazu bei, dass das durchschnittliche Sterbealter
gemessen an den Erfahrungen früherer Menschheitsgenerationen biblische
Dimensionen erreicht hat. Zwar hält das Leben auch für den Bürger westlicher
Wohlfahrtsstaaten tragische Einzelschicksale parat, doch im Großen und Ganzen
lebt er in einer geradezu monströsen Sicherheitsblase.
Dennoch strukturieren Ängste seinen Alltag. Einen Großteil seiner Lebenszeit
investiert er in Sicherheit und Vorsorge. Er erarbeitet sich ökonomische Rücklagen,
investiert in Sicherheitsversprechen aller Art und widmet sich besessen einer
gesundheitsbewussten Lebensführung. Doch es hilft nichts: Nach Zahlen des MaxPlanck-Instituts für Psychiatrie macht jeder vierte Bundesbürger einmal in seinem
Leben pathologische Angsterfahrung. Jeder sechste Erwachsene sucht im Laufe
eines Jahres einen Arzt wegen krankhafter Angstzustände auf. Keine andere
psychische Störung wird häufiger diagnostiziert. Wir entkommen der Angst einfach
nicht. Sie bestimmt unser persönliche Lebensplanung, die gesellschaftlichen
Debatten und das politische Handeln. Mehr noch: Mit jedem Versuch unsere Ängste
endlich zu überwinden, intensivieren und verfestigen wir sie noch. Wie die Fliege, die
sich aus dem Netz der Spinnenfäden zu befreien sucht, strampeln wir uns immer
mehr in das klebrige Gefängnis unserer Schrecken und Phobien.
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Dieser Befund wäre schon unter individualpsychologischer Perspektive
problematisch genug. Als gesellschaftspolitische Diagnose ist er jedoch alarmierend.
Er läuft darauf hinaus, dass wir uns ein Gesellschaftssystem geschaffen haben, dass
in der Absicht, den Bürgern ihre Ängste zu nehmen, immer neue Ängste generiert.
Die Folgen sind verhängnisvoll. Denn ein gesellschaftliches und politisches System,
das seine Legitimation daraus ableitet, seinen Bürgern ihre Ängste zu nehmen und
umfassende Sicherheit zu gewährleisten, wird zwangsläufig scheitern, wenn jede
Maßnahme zur Angstbeseitigung neue Ängste generiert und der Pluralismus der
vorhandenen Ängste zudem zu einer strukturellen Überforderung der
Angstbewältigungsinstitutionen führt. Dieses Scheitern vor Augen und in dem
Bemühen, die Zukunftsängste der Menschen endgültig zu eliminieren, wird das
gesellschaftspolitische Klima zunehmend restriktiv und intolerant. Die staatlichen
Institutionen beginnen, sich mehr und mehr in die private Lebensführung
einzumischen, vorzuschreiben, zu verbieten oder einzuschränken. Flankiert werden
diese Maßnahmen durch eine Öffentlichkeit, die den damit einhergehenden
Freiheitsverlust als Sicherheitsgewinn verkauft und all jene, die sich entsprechenden
Maßnahmen widersetzen als unverantwortlich oder unsozial brandmarkt. So
verwandelt die pathologische Angst der Spätmoderne die offene, demokratische
Gesellschaft zunehmend in ein repressives und paternalistisches Gemeinwesen,
wobei der autoritäre Druck bezeichnender Weise nicht nur von Institutionen ausgeübt
wird, sondern aus der Mitte der Gesellschaft selbst kommt.
I. Symbolische Angstüberwindung
Angst ist das archaischste aller Gefühle. Und das älteste. Ohne die Angst unserer
Vorfahren wären wir nicht. Das prägt. Unser Gehirn ist ein
Gefahrenvermeidungsorgan. Seine wichtigste Funktion ist nicht Erkenntnis, das
Komponieren von Fugen oder das Erstellen von Hexametern, sondern uns am Leben
zu erhalten. Deshalb scannt es in jeder Zehntelsekunde unsere Umwelt nach Indizien
für eine Gefahr. Auch wenn es uns nicht immer bewusst ist: Wir leben in einem
permanenten Alarmzustand, stets bereit, eine gefährliche Situation als solche zu
erkennen, Angst zu bekommen und Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Und manchmal
meldet es auch einen Fehlalarm. Lieber einmal zu oft geflohen als einmal zu wenig.
Der Mensch ist ein Hasenfuß, deshalb hat er so lange überlebt.
Doch Angst belastet. Also braucht der Mensch Techniken der Angstüberwindung.
Das probateste kollektive Mittel zur Angstüberwindung ist die Kultur. Denn Kultur
schafft Sicherheit. Zunächst indem sie die Wildnis mittels kultiviert. Deshalb lautet der
lateinische Ausdruck für Ackerbau, Pflege, Bearbeitung cultura. Durch cultura schafft
sich der Mensch einen überschaubaren Ort der Geborgenheit inmitten des
natürlichen Chaos. So bannt Kultur in ihrer ersten Form als cultura die Angst, indem
sie das Chaotische, Unberechenbare und Unheimliche aussperrt und Ordnung,
Übersichtlichkeit und Strukturen schafft. Kultur schützt vor schlechten
Überraschungen.
Doch die cultura, der bearbeitete Acker ist fragil. Jederzeit drohen
Naturkatastrophen, durch Dürre, Stürme, Kälte oder Hitze, die die geschaffene
Ordnung wieder zerstören. Kultur, die sich behaupten will, ordnet daher nicht nur den
Raum, sondern versucht auch die Zeit zu bändigen. Denn nur berechenbare Zeit
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garantiert auch langfristige die Ordnung des Raumes. Also versucht der Mensch
mittels Riten und Festen die Natur zu bändigen, ihre Geister und Götter gnädig zu
stimmen und so die Zeit kalkulierbar zu machen. Zugleich gliedern diese Feiern den
Jahreslauf und geben so auch der Zeit Struktur.
So entspringt aus der Kultur der Kult als Beschwörung und Anbetung der rettenden
Ordnung. Nicht erst Religion, sondern Kultur als Ganzes ist Kontingenzbewältigung.
Auch deshalb tradiert Kultur sich selbst. Nur die bruchlose Überlieferung der
Ordnungstechniken ermöglicht Konstanz. Daher steht am Anfang aller Kultur die
Weitergabe des Wissens über die Kultivierung der Natur und die richtige
Durchführung der Kulthandlungen.
Das hat Folgen für die normative Grundausrichtung von Kultur überhaupt. Kultur ist
konservativ. Als wertvoll gilt das Althergebrachte, das Überlieferte, das
Stabilisierende, das Ordnende. Als minderwertig, bedrohlich und ängstigend
hingegen das Wildwüchsige, Ungeordnete, das Plötzliche und Überraschende – erst
das 20. Jahrhundert und seine Avantgarde wird das Gegenteil behaupten.
Überlieferung kann jedoch nur dort organisiert werden, wo es Kanonisierung gibt.
Denn nur die Kanonisierung des kulturellen Wissens ermöglicht dessen gesicherte
Weitergabe. Kanonisierung aber bedeutet Exklusion. Es muss zwischen demjenigen
unterschieden werden, das überliefert werden soll, und demjenigen, das dem
Vergessen anheimgegeben werden kann. So bildet sich über die Kanonisierung der
Überlieferung ein normatives Netz, das über alle Handlungen, Entscheidungen und
Artefakte gelegt wird und die Welt in gut und schlecht, in mehr oder minder wertvoll
einteilt. Im Ergebnis bildet Kultur ein Standardisierungssystem, das auf die Ewigkeit
hin ausgelegt ist. Seine Normen werden als überzeitlich und unerschütterlich
begriffen und geben so Halt und Orientierung in einer kontingenten Welt, in der
morgen schon das Chaos einbrechen kann.
Doch Kultur überwindet nicht nur die Angst vor dem Unabsehbaren und
Ungeordneten. Als Symbolsystem mit Anspruch auf Ewigkeit transzendiert sie die
menschliche Existenz und enthebt sie so der Endlichkeit. Kultur ordnet somit nicht
nur das Chaos und schafft Orientierung, in ihr überwindet der Mensch zugleich
zumindest symbolisch seine Sterblichkeit. Jeder Tempel, jede Kathedrale und jeder
Wolkenkratzer sind letztlich Zeugnisse des menschlichen Versuchs, der eigenen
Endlichkeit zu entkommen und dem Schicksal des Leiblichen zu entgehen. Kultur ist
der Modus, in dem der Mensch das überwindet, was er physisch nicht überwinden
kann: den Tod. Für Sozialanthropologe Ernest Becker ist daher jeder Kultur ein
eigenes „symbolisches Heldensystem“. Dabei sei es „irrelevant, ob nun das kulturelle
Heldensystem als magisch, religiös und primitiv oder als weltlich, wissenschaftlich
und zivilisiert auftritt. Es ist und bleibt ein mythisches System, in das die Menschen
hineingeboren werden, um sich das Bewusstsein ihres primären Wertes, ihrer
kosmologischen Besonderheit … zu erwerben“. Kurz: Kultur ist die metaphysische
Revolte des Menschen schlechthin.
Doch eine metaphysische Revolte bedarf der Metaphysik. Ohne den Glauben, das
eigene Leben zumindest symbolisch dem Physischen und Vergänglichen entheben
zu können, ist Kultur langfristig zum Untergang verurteilt. Genau dieser Glaube aber
geht in der Moderne verloren. Und so kehrt mit dem Untergang der Kultur als
verbindlichem Normierungssystem die Angst zurück, die mit der Kulturalisierung der
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menschlichen Lebenswelt gebannt wurde. Die Moderne, einst angetreten, die Angst
zu besiegen, um die Menschen frei und selbstbestimmt zu machen und zu einem
würdigen Dasein zu führen, droht genau jene Strukturen dauerhaft zu zerstören, die
es dem Menschen ermöglichen seine Angst zu kompensieren.
II. Der Weg in die postheroische Gesellschaft
Die Moderne ist ein Produkt der Angst. Im Kern ist sie der Versuch des Menschen,
sich selbst Sicherheit zu schaffen, als es ihm dämmerte, dass kein Gott sie ihm
bereiten kann. Waren bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts die meisten Menschen
Europas noch davon überzeugt, dass Gott der Herr der Geschichte ist und
Katastrophen daher Teils eines höheren Sinngefüges sind, mit denen der
Allmächtige sündige Menschen straft, so bricht dieser Glaube im Laufe des 19.
Jahrhunderts in sich zusammen. Die Industrialisierung reißt die Menschen aus ihren
seit Jahrhunderten vertrauten bäuerlichen Lebensräumen und katapultiert sie in die
Trostlosigkeit der explodierenden Städte, an Hochöfen, in Bergwerke und
Produktionshallen. Damit gehen zugleich traditionelle Sozialgefüge und
Rollenvorstellungen unter. Die durch Rituale und Feiern gegliederte Lebenswelt
zerbricht. Das trostspende Vokabular des Christentums mit seinen agrarischen
Bildern verliert an Lebensnähe und wirkt zunehmend unzeitgemäß.
Zugleich verändert sich die Bedrohungslage für den Einzelnen. Die drei dunklen
Reiter der Apokalypse büßen ihre Bedrohlichkeit ein: Epidemien und Hunger treten in
den historischen Zentren der Industrialisierung zunehmend weniger auf. Die letzte
große Hungersnot in Westeuropa ereignet sich den späten 1840er Jahren in Irland.
1892 kommt es in Hamburg mit dem Ausbruch der Cholera zu einem letzten lokalen
Auftreten klassischer Epidemien. Und auch der Krieg verliert im 19. Jahrhundert
verhängnisvoller Weise seinen Schrecken, was zur Augustbegeisterung des Jahres
1914 nicht unerheblich beiträgt.
In seiner Autobiografie Die Welt von Gestern beschreibt Stefan Zweig die Jahrzehnte
vor dem Ersten Weltkrieg als „das goldene Zeitalter der Sicherheit“. Das
Finanzsystem sei stabil gewesen, jeder Beamt hätte auf den Tag genau seine
Beförderung ausrechnen können, Haus, Hof und Geschäft wurden über
Generationen vererbt, jeder sei an seinen Platz gestellt, jeder hätte gewusst, was ihm
zukam, was erlaubt und was verboten war. „Dieses Gefühl der Sicherheit“, so Zweig,
„war der erstrebenswerte Besitz von Millionen, das gemeinsame Lebensideal. Nur
mit dieser Sicherheit galt das Leben lebenswert, und immer weitere Kreise begehrten
ihren Teil an diesem kostbaren Gut.“
Zweigs sentimentaler Rückblick ist erkennbar Produkt seiner späteren Erfahrungen
und Ausdruck seiner Herkunft. Für das großbürgerliche Milieu des
Habsburgerreiches ebenso wie für die Standesgenossen in Frankreich, England und
Deutschland waren insbesondere die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts und die
Jahre vor dem Weltkrieg eine Epoche der Stabilität und Sicherheit. Aus Sicht der
unzähligen Wanderarbeiter, osteuropäischen Migranten und Proletarier in den
Arbeitsquartieren der europäischen Großstädte galt das schon weniger. Doch
immerhin ist Zweig zuzugestehen, dass „immer weitere Kreise“ nicht nur an der
Sicherheit jener Zeit partizipierten, sondern vor allem partizipieren wollten. Selbst die
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revolutionären sozialistischen Bewegungen strebten keine destabilisierte
Gesellschaft an, sondern Sicherheit für alle.
Es ist das häufig übersehene konservative Moment der marxistischen Parteien dieser
Epoche: Anders als manche Kulturrevolutionäre des späteren 20. Jahrhunderts
strebten sie weder eine fragmentierte und instabile noch eine unberechenbare
Gesellschaft an. Das letzte, was die klassische Linke des 19. und 20. Jahrhunderts
wollte, war eine Art „Risikogesellschaft“. Auch sie sah sich vielmehr dem Ziel
verpflichtet, umfassende Sicherheit zu schaffen. Ihr Ideal war nicht nur eine
Gesellschaft ohne Krieg und Konflikt, sondern vor allem ohne materielle Sorgen und
Angst vor Armut und Arbeitslosigkeit. Sicherheit sollte es für alle Klassen geben,
nicht für das Bürgertum, und die Methode dafür, war die Abschaffung aller Klassen.
Denn wenn Geschichte die Geschichte von Klassenkämpfen ist und Klassenkämpfe
Ausdruck ökonomischer Ängste, dann strebte der Marxismus mit der Abschaffung
aller Ängste zugleich das Ende der Geschichte. Denn aus dieser marxistischen
Perspektive ist Geschichte die Geschichte von Ängsten. Und der Versuch, angstfreie
Gesellschaften zu schaffen, ist immer auch der Versuch, Geschichte hinter sich zu
lassen.
Doch Geschichte lässt sich nicht abschütteln, am allerwenigsten dadurch, dass man
versucht, eine angstfreie Gesellschaft zu schaffen. Denn der Mensch strebt nicht nur
nach Sicherheit, sondern auch nach Entgrenzung, nach Sinn jenseits von Sicherheit,
nach Selbsttranszendierung im Erleben – also in der Überwindung der Angst. Gerade
weil Angst unter vorzivilisatorischen Bedingungen unvermeidbar ist, gehört nicht nur
die Angstvermeidung zu den grundlegenden menschlichen Verhaltensmustern,
sondern ebenso das Hochgefühl nach der erfolgreichen Überwindung der Angst.
Sich der Angst gestellt, sie überwunden und den Angstauslöser gegebenenfalls
beseitigt zu haben, versetzt Menschen in einen euphorischen Zustand. Ebenso wie
Angst lähmen kann, so berauscht die Angstüberwindung. Und umgekehrt gilt: Ein
Individuum, das sich seinen Ängsten nicht stellt, sondern Angst systematisch meidet,
wird irgendwann lebensuntüchtig und schraubt sich in einer Abwärtsspirale der
Pathologisierung seiner Ängste hinein. Am Ende stehen Depressionen und Phobien.
Entsprechend reagieren sowohl Individuen als auch Gesellschaften auf ein zu
zementiertes Sicherheitsgefühl mit der Diskreditierung der Sicherheit, der Abwertung
des bürgerlichen Lebensgefühls, der Verächtlichmachung von Ordnung und der
Apotheose von Gefahr, Vitalität und Kampf. Die Verklärung von Gefahr und
Abenteuer bestimmt bis weit in die Populärkultur und den alltäglichen Habitus die
gesellschaftliche Atmosphäre Europas in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg:
So unterschiedliche Kulturphänomene wie Futurismus, Expressionismus,
Symbolismus, Lebensreformbewegung, Wandervogel, Ästhetizismus oder Djagilews
Ballets Russes – sie alle sind auch Ausdruck eines tiefen Unbehagens an der
bürgerlichen, wohlgeordneten Sicherheitskultur und einer Sehnsucht nach
Ursprünglichkeit, Authentizität, Befreiung, Abenteuer, Exzess und Gefahr, die
schließlich in die Sehnsucht nach einem alles reinigenden und erlösenden Krieges
mündete, der großen „Befreiung von bürgerlicher Enge und Kleinlichkeit“, wie es
Carl Zuckmayer exemplarisch formulierte. „Denn glaubt mir“, hatte Nietzsche 1882
versichert, „– das Geheimnis, um die größte Fruchtbarkeit und den größten Genuss
vom Dasein einzuernten, heißt: gefährlich leben !“
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Doch in dem Dreck der Schützengräben an Maas und Somme, zwischen Kadavern,
Ratten und Exkrementen, entlarvte sich das Geheimnis des gefährlichen Lebens als
perverse Groteske und professorale Schreibtischfantasie. Die Selbsttranszendierung
ins Heroische, die Flucht aus der elenden Enge bürgerlicher Ängstlichkeit in die
Ewigkeit erhabenen Heldentums erwies sich als verbaut. An die Stelle des
individuellen zeitlosen Ruhms trat das anonyme Massensterben.
In diesem Sinne lassen sich Faschismus und Nationalsozialismus auch als
nochmalige Revolte gegen die bürgerliche Ordnung, gegen Maß, Vernunft und
Selbstbeschränkung verstehen, als Versuch, in Nietzsches Sinne gefährlich zu leben,
ohne Schranken, ohne Skrupel, jenseits aller verhassten bourgeoisen Rücksichten
und Normen. Denn gefährlich zu leben bedeutet, auf der Grenze zu leben, maßlos,
provozierend und selbstzerstörerisch. Die Gesellschaften Europas nach dem Ersten
Weltkrieg konnten sich die Überwindung der Angst offensichtlich nur noch als
Karikatur vorstellen. Das symbolische Heldensystem wurde ins Groteske
überzeichnet.
Flankiert wurde diese Verzerrung des Heroischen ab den 20er Jahren von einem
affirmierenden Zugang zu dem Phänomen Angst. Der Krieg, der Zusammenbrauch
der von Zweig beschworenen Welt der Sicherheit, Hyperinflation, soziale
Unsicherheit und ein radikaler Kulturwandel machten ein neues Nachdenken über
die Angst notwendig. Anknüpfend an Sören Kierkegaard fasste etwa Martin
Heidegger in Sein und Zeit Angst nicht als Angst vor einem speziellen Ereignis.
„Nichts von dem, was innerhalb der Welt zuhanden oder vorhanden ist, fungiert als
das, wovor die Angst sich ängstet.“ Das innerweltlich Seiende sei vielmehr
vollkommen gleichgültig. „Wovor sie Angst sich ängstet“, so Heidegger, „ist das Inder Welt-sein selbst“. Mehr noch: Erst die Angst führt dem Dasein – vulgo: dem
einzelnen Menschen – sein In-der-Welt-sein vor Augen. Damit erschließt nach
Heidegger die Angst dem Dasein sein Möglichsein, seine Freiheit sich als dies oder
jenes zu wählen. Oder in Heideggers Jargon: „Die Angst bringt das Dasein vor sein
Freisein für…“.
An diesen Punkt wird siebzehn Jahre später Jean-Paul Sartre anknüpfen und in der
Angst ebenfalls eine existentielle Grundgestimmtheit erkennen. Analog zu Heidegger
sieht Sartre in der „Angst die Erkenntnis einer Möglichkeit als meine Möglichkeit“.
Diese Angst wird noch dadurch verstärkt, dass das Ich sich allein verantwortlich für
seine Entscheidungen weiß und keine Zuflucht zu irgendwelchen Werten, Regeln
oder Normen nehmen kann: „Ich entscheide darüber, allein, ich bin ohne
Rechtfertigung und unentschuldigt.“
Insbesondere der Existenzialismus Sartres und seine popkulturellen Erscheinungen
in den späten 40er- und 50er-Jahren sind der letzte Versuch, das Ideal des
rundumversicherten Lebens zurückzuweisen und die Sehnsucht nach dem
gefährlichen, unkontrollierten Leben in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zu
tragen. Zumindest Teile der akademischen Jugend und des Kunst- und
Intellektuellenmilieus deuteten so den Heroismus der Kriegsjahre in einen privaten
und zivilen Eskapismus um, während die kleinbürgerliche westeuropäische
Mehrheitsgesellschaft ihr Heil in einem Neobiedermeier suchte.
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Spätestens mit der aufkommenden Friedens-, Anti-Atomkraft- und
Umweltschutzbewegung in den 70er Jahren hatte sich dieser Wohlstandbiedermeier
der Elterngeneration auch in einigen Jugendmilieus etabliert. Kann man die
Punkbewegung und ihre Nachfolger in den 80er Jahren noch als
postexistentialistische Rebellionsgeste – „No Future!“ – verstehen, so kultivierte das
links-alternativen Milieu zunehmend jenes Angstdenken, das heutzutage nicht nur
politische Agenda bestimmt, sondern auch die Alltagskultur. Man propagiert
Achtsamkeit, Sensibilität für alles und jedes, will sichere Räume einrichten und
streitet für Wokeness und Radical Softness. Die postheroische Gesellschaft wird zu
Karikatur ihrer selbst. Der Held hat ausgedient, das Hypersensibelchen wird zum
Ideal.
III. Das Scheitern der Moderne an der Angst
Denn Angst macht nicht frei, wie die Existentialisten vermuteten, sondern Freiheit ist
Risikobelastet. Deshalb haben Mensch auch nicht Angst vor ihrer Freiheit, sondern
vor deren eventuellen Folgen. Wirklich frei ist ein Handeln nur, wenn man die
möglichen negativen Folgen dieses Handelns nicht selbst tragen muss.
Demokratisch Massenwohlstandgesellschaften tendieren daher dazu, ihren Bürgern
immer mehr Freiheitsrechte zuzugestehen und sie zugleich vor den Folgen ihrer
Freiheitswahrnehmung abzusichern. Freiheit und Wohlstand werden privatisiert,
Verantwortung und soziale Lasten sozialisiert. Für den einzelnen Wohlstandbürger ist
diese Entlastung vollkommen rational. Denn unter einer einfachen Kosten-NutzenRechnung ist es sinnvoll, mögliche Aufwendungen und Einschränkungen soweit wie
möglich auf die Allgemeinheit umzulegen, um eine mögliche Freiheitseinschränkung
als Folge der Freiheitsinanspruchnahme vorzubeugen. Das ist der einfache Grund für
das auf den ersten Blick seltsame Paradox, dass hochindividualistische
Selbstverwirklichungsgesellschaften nicht liberal oder gar libertär wählen, sondern
strukturell links. Der Selbstverwirklichungsindividualismus wählt sich seinen
Absicherungskollektivismus.
Langfristig droht diese Strategie jedoch zu scheitern. Denn je heterogener die
Gesellschaft wird und je schneller soziale Beziehungen, Institutionen und
Präferenzen sich wandeln, desto kleiner wird die Basis an gemeinsamen
Überzeugungen, Ritualen und Regeln und umso schneller schwindet damit die
Gewissheit von Stabilität und Orientierung. Denn Pluralismus selbst ist kein Wert,
sondern allenfalls eine soziale Zustandsbeschreibung.
In seinem Kompensationsbemühen weitet der Wohlfahrtsstaat die Sicherheitszone
um den Einzelnen immer weiter aus. Doch umsonst. Der subjektive
Sicherheitsverlust frisst den objektiven Sicherheitsgewinn zunehmend auf.
Schlimmer noch: Da in pluralistischen Gesellschaften auch ein Pluralismus der
Ängste herrscht, erweisen sich die staatlichen Sicherungsmaßnahmen zunehmend
als umstritten. Empfindet sie ein Teil der Bürger als überzogen und autoritär, so sind
sie aus der Perspektive anderer nicht ausreichend und zu zaghaft. Die Gesellschaft
driftet auseinander. Die demokratische Gesellschaft wird aufgerieben zwischen den
auseinanderklaffenden Sicherheitsbedürfnissen heterogener Angstmilieus. Haben
die einen Angst vor einem immer autoritärer auftretenden Staat, so fürchten die
anderen die Gefahr, die aus ihrer Sicht von den Kritikern dieser Maßnahmen
auszugehen scheint. Die Folgen sind politische Polarisierung und Radikalisierung.
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Die Spannungen innerhalb der Gesellschaft nehmen weiter zu. Die Angstspirale
dreht sich immer schneller und schneller.
Zugleich haben Kultur, Religionen und Kulte endgültig ihre Sicherungsfunktion
verloren. Einen gemeinsamen Code zur Angstbewältigung gibt es in heterogenen
Gesellschaften nicht mehr. Traditionelle Narrative, die Bedrohungen eine
Sinndimension abringen konnten, haben sich aufgelöst. Die Idee historischer
Schicksalsgemeinschaften, die sich in den Wechselfällen der Geschichte bewähren,
ist vom Zeitgeist als reaktionäres Konstruktion entlarvt. Und die Vorstellung eines
Weltlenkers, die Katastrophen immerhin als Strafe und Aufruf zur sittlichen Umkehr
deutbar machte, ist unter dem Bannstrahl der Aufklärung verdampft. Der moderne
Gott züchtigt nicht mehr, er setzt lieber Zeichen gegen Hass und Intoleranz. So
verwundert es nicht, dass sogar die meisten Geistlichen in Zeiten von Corona eher
Trost bei Virologen finden als in der Heiligen Schrift. Das Fürchtet-Euch-nicht verhallt
ungehört. Die Menschen fürchten sich sehr wohl und hoffen nicht auf den Heiland,
sondern auf einen Impfstoff. Aber auch der wird sie nur kurzzeitig erlösen. Das
Projekt Moderne, einst initiiert, um die Menschen aus Unmündigkeit und Angst zu
befreien, droht an seinem eigenen Erfolg zu scheitern. Seiner traditionellen
Angstbewältigungssysteme beraubt, schlägt sich das befreite, emanzipierte
Individuum der Moderne in die Ketten seiner Phobien. Und in seinen verzweifelten
Versuchen, jene Sicherheit wiederzugewinnen, derer es sich selbst beraubte,
ertränkt es auch noch den letzten Rest an Anarchie und Freiheit in Vorschriften,
Verboten und Regelungen.
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