SWR2 Wissen: Aula : Corona-Krise – Hat die Pandemie die Demokratie beschädigt? Von Felix Heidenreich

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Corona - Risikodemolratie . F. Heidenreich

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SWR2 Wissen: Aula : Corona-Krise – Hat die Pandemie die Demokratie beschädigt? Von Felix Heidenreich
Sendung: Sonntag, 14. März 2021, 8.30 Uhr Redaktion: Ralf Caspary Produktion: SWR 2021; http://www.swr2.de/
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Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede
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Kernaussage
Der Begriff Vulnerabilität bedeutet „Verwundbarkeit“ oder „Verletzbarkeit“. Er findet in verschiedenen wissenschaftlichen Fachrichtungen Verwendung.und findet uin dieser Corona-Krise eine bedeutende Zuschreiuung
die wichtigste Lehre nach einem Jahr Corona-Krise:
Wenn wir den Aufmerksamkeitshorizont der Politik erweitern wollen,
um einen reaktiven Modus zu überwinden, müssen wir Mechanismen entwickeln, die den
Möglichkeitssinn systematisch in die Politik einspeisen.
Die drei Thesen von Heidenreich, dass die Demokratie auch wie es bereits Ulrich
Beck eine Risikogesellschaft ist, erinnern (in der Arme ärmer und Reiche stetig reicher werden..) , dazu Expertise und Fantasie braucht. Das wäre dann keine bloße romantische Schwärmerei, sondern schlicht die Einsicht als eine Überlebens-Notwendigkeit in der aktuellen Risikogesellschaft zu einer humanen Zukunft.. < k.>

1-2
ÜBERBLICK
Wie ein Brennglas hat das Corona-Virus die sozialen, politischen und ökonomischen
Probleme der Gesellschaft offenbart. Vor allem im Umgang mit Risiken müssen wir
noch einiges lernen.

MANUSKRIPT
Anmoderation:
Mit dem Thema: „Corona-Krise – Was muss die Demokratie aus der Pandemie
lernen?“, am Mikrofon: Ralf Caspary.
Vor einem Jahr wurde deutlich, dass das Corona-Virus kein chinesisches Problem
bleiben, sondern sich zu einer globalen Pandemie entwickeln würde. In der
deutschen Öffentlichkeit waren es vor allem die Nachrichten aus der italienischen
Region Bergamo, die eine Schockwirkung auslösten. Das ganze zurückliegende Jahr
2020 war in der Folge davon geprägt, dass Infektionszahlen, Reproduktionsraten und
Sterbefälle interpretiert und Maßnahmen kontrovers diskutiert wurden. Die ganze
Weltgesellschaft wurde einem bisher unbekannten Stresstest unterzogen. Unter
besonderer Beobachtung standen jene Gesellschaftssysteme, in denen die
Meinungen der Bürgerinnen und Bürger Beachtung finden: die Demokratien.
Was hat das Corona-Virus mit uns und unserer Demokratie gemacht, welche
Lektionen hat es uns erteilt? Noch ist die Krise nicht zu Ende, und doch darf man
nach einem Jahr ein erstes Fazit versuchen. Das liefert in der Aula der
Politikwissenschaftler Felix Heidenreich.
Felix Heidenreich:
Im Dezember 2019, ja selbst noch im Januar 2020 schien das Corona-Virus weit weg
von Europa zu sein. Merkwürdige Nachrichten aus einer chinesischen
Provinzhauptstadt interessierten damals bestenfalls einige Expertinnen und
Experten. Die breitere deutsche Öffentlichkeit indes hatte andere Sorgen. Die
Nachfolge auf dem Posten des CDU-Vorsitzes schien das drängendste Problem zu
sein.
Doch dann kam die Pandemie nach Europa und plötzlich war alles anders. Was von
manchen zunächst für eine Art Husten gehalten wurde, erwies sich bald als eine
brandgefährliche virale Erkrankung, die sich zunächst langsam und dann immer
schneller ausbreitete. Die größte Krise seit 1945 durchleben wir gerade – so war
seitdem oft zu hören. In der Tat: Die langfristigen Folgen für die Bildungswege vieler
Kinder und Studierender, aber auch die ökonomischen Auswirkungen vor allem für
Selbstständige, für die Gastronomie, für die freien Künstlerinnen und Künstler, für
den Einzelhandel, sind dramatisch.
Wie aber haben verschiedene Demokratien auf diese Herausforderung reagiert? Hat
das vergangene Jahr die Krise der repräsentativen Demokratie, von der lange vor
Ausbruch der Pandemie die Rede war, verstärkt? Oder im Gegenteil: Hat unsere
kollektive Anstrengung erkennbar gemacht, dass diese Krise der Demokratie so
dramatisch gar nie war, dass sich Bürger*innen einerseits und Politiker*innen
andererseits alles in allem eben doch mehr oder weniger vertrauen? Können nach
rund einem Jahr allgemeine Lehren aus unserer Erfahrung mit dem Virus gezogen
werden?
3
Diese Fragen sind äußerst schwierig zu beantworten. Sie zu stellen, während die
Pandemie ja noch unser Leben beherrscht, mag unseriös erscheinen. Es sei noch zu
früh, um Lehren zu ziehen, so könnte man einwenden. Zudem gibt es in der
Öffentlichkeit bisweilen eine Tendenz zur Besserwisserei – und das Internet bietet
bekanntlich die Möglichkeit, eine je private Theorie als Grundlage für diese
Besserwisserei zusammen zu kochen. Ist es also noch zu früh für Bilanzen? Ist es
unhöflich und kleinkrämerisch nach den lessons learned zu fragen?
Dagegen ließe sich einwenden, dass man mit dem Lernen besser früher als später
anfängt, ja genaugenommen so früh wie irgend möglich. Und vielleicht lässt sich ein
Beitrag zu diesem kollektiven Lernen aus der Pandemie auch ohne den in
Deutschland bisweilen anzutreffenden belehrenden Tonfall leisten. Wie aber
bekommt man angesichts der Komplexität des Gegenstandes methodisch festeren
Boden unter die Füße? Wie lässt sich Ordnung in den Wust der zahllosen Aspekte
hineinbringen, mit denen zu beschäftigen uns die Corona-Krise ja zwingt?
Vielleicht hilft zunächst eine disziplinäre Beschränkung. Die Medizin, die Virologie,
die Pandemieforschung, die Wirtschaftswissenschaften, die Rechtswissenschaften
(vor allem das Verfassungsrecht) – all diese Disziplinen werden ganz eigene Lehren
und Schlussfolgerungen aus dem Krisenjahr ziehen.
Im Folgenden soll es jedoch nur um eine politikwissenschaftliche und
demokratietheoretische Perspektive gehen. Dazu möchte ich im Folgenden in drei
Schritten eine grobe Skizze zeichnen. Erstens möchte ich unter Rückgriff auf Ulrich
Beck an den Begriff der Risikogesellschaft erinnern. Zweitens möchte ich fragen,
was wir bezüglich einer erfolgreichen Integration von Expertise in den politischen
Prozess gelernt haben. Und drittens will ich abschließend für eine Wiederentdeckung
des Möglichkeitssinns, der Fantasie und für die Ausweitung unseres
Aufmerksamheitshorizonts plädieren.
Politik in der Risikogesellschaft
Ich komme zu meinem ersten Punkt: Politik in der Risiko-Gesellschaft. Ein Argument,
das immer wieder aufgerufen wird, lautet: Die Pandemie habe gezeigt, was vorher
bereits der Fall war. Aus dieser Perspektive haben das Corona-Virus und die
umfassenden Reaktionen auf die Pandemie keine entscheidenden strukturellen
Veränderungen in unserer Gesellschaft angeschoben, sondern lediglich einen
Schleier weggerissen, der gewisse Zustände verdeckt hielt.
Die Pandemie hat uns beispielsweise mit aller Härte daran erinnert, dass wir eine
Debatte darüber führen sollten, wie wir Einsamkeit im Alter verhindern können, wie
wir den letzten Lebensabschnitt eigentlich gestalten wollen. Der
gesamtgesellschaftliche Umgang mit alten Menschen ist nicht nur betrifft eben nicht
nur die verbesserungswürdige Situation in Pflegeheimen oder die ungleiche
Verteilung von Pflegearbeit.
Die Pandemie macht aber auch soziale Ungleichheiten erkennbar, ungleiche
Bildungschancen, ungleich verteilten Wohnraum. Sie macht offensichtlich, dass
manche Menschen in einer ökonomischen Prekarität leben, in der Umsätze und
Einkünfte jeden Monat neu erkämpft werden müssen, während andere ein sicheres
Auskommen haben, sei es als Beamte, Vermieter oder Empfänger von sogenanntem
„passivem Einkommen“, also beispielsweise von Kapitalrenditen. Die Pandemie
4
betrifft nicht alle gleichermaßen und die soziale Ungleichheit scheint, je stärker sie
ausgeprägt ist, Gesellschaften vulnerabler zu machen. Dass mit den USA und
Großbritannien zwei ökonomisch sehr ungleiche Gesellschaften besonders stark
betroffen waren und noch immer sind, scheint vor diesem Hintergrund erklärbar.
Aber auch Gesellschaften mit sehr gleich verteiltem Wohlstand erwiesen sich
bekanntlich als verletzlich.
Gerade diese Vulnerabilität moderner Gesellschaften ist die vielleicht eigentlich
schockierende Erkenntnis: Auch und gerade hochentwickelte, komplexe,
interdependente Gesellschaften können durch Naturereignisse wie eben
beispielsweise eine Pandemie innerhalb kürzester Zeit lahmgelegt werden. Welche
sozialwissenschaftliche oder politikwissenschaftliche Theorie würde diesen Umstand
erhellend beschreiben können? Nun, es ist wohl kein Zufall, dass Ulrich Becks
Klassiker im vergangenen Jahr immer wieder aus so manchem Bücherregal geholt
wurde: Sein Buch mit dem Titel Risikogesellschaft erschien unter dem Schatten der
Atomkatastrophe von Tschernobyl 1986. Den GAU in der Ukraine hatte er während
seiner Arbeit an der rund 300 Seiten umfassenden Analyse natürlich nicht
antizipieren können. Und doch schien das Buch den Zeitgeist der 1980er-Jahre
perfekt auf den Begriff zu bringen.
Auch heute, vor dem Hintergrund der Pandemie, wirkt seine Analyse enorm
hellsichtig, ja Ulrich Becks erster Satz scheint heute, rund 35 Jahre nach Erscheinen
des Buches, wie auf die Gegenwart gemünzt. Dieser Satz lautet: „In der
fortgeschrittenen Moderne geht die gesellschaftliche Produktion von Reichtum
systematisch einher mit der gesellschaftlichen Produktion von Risiken.“1 Alle Mittel,
alle Technologien, alle Komplexitäten, die wir aufbauen und verwenden, um
Reichtum zu generieren, produzieren je neue Risiken, die diesen Reichtum
wiederum gefährden. Und ist es nicht genau so? Zeigt die Corona-Krise nicht genau
dies? Das Outsourcing nach China, die günstigere Produktion von Pharmazeutika in
Indien, die beständige Verlängerung und Verkomplizierung von Lieferketten, am
besten noch just in time, die große globale Mobilität von Menschen, ja so wird
vermutet der Kontakt mit seltenen Wildtieren – all diese meist nur implizit gefällten
Entscheidungen dienten der Produktion von neuem Reichtum und sie produzierten
zugleich neue Risiken.
Ulrich Beck sprach in diesem Kontext auch von den „Nebenfolgengefährdungen“2
,
die den Produkten und Dienstleistungen in den entwickelten Gesellschaften wie eine
„Verunreinigung“ (so sein Begriff) anhaften. Dabei hatte er weniger Seuchen und
Pandemien vor Augen, als vielmehr die Umweltverschmutzung, den
Ressourcenverbrauch, die Anhäufung von Risiken wie sie sich schon damals
beispielsweise für die Entlagerung von Atommüll ganz klar abzeichnete. Für das
Ineinandergreifen, das „Sich-Vernetzen“ von Risiken wird heute der Begriff der
systemischen Risiken verwendet, die beispielsweise von dem Risiko-Soziologen
Ortwin Renn sehr klar und verständlich dargestellt wurden.3
1 Beck, Ulrich, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main 1986, S.
25.
2 Ebda. S. 27.
3
Ich empfehle hier ganz besonders zu Lektüre die Abschnitte in: Renn, Ortwin, Das Risikoparadox.
Warum wir uns vor dem Falschen fürchten, Frankfurt am Main2014, S. 330-339. Besonders relevant
scheint mir hier neben der Vernetzung der nicht-lineare Charakter, also bspw. das exponentielle
Wachstum bei Pandemien.
5
Eine wichtige Pointe bei Ulrich Beck lautete nun, dass das Management, die genaue
Analyse, die antizipierende Bearbeitung und vor allem die gerechte Verteilung von
Risiken zu den wichtigsten Aufgaben der Politik gehören: Die Risikogesellschaft, die
Beck beschreibt, ist eine Gesellschaft, die beständig über Risiken spricht, über diese
diskutiert, ja sogar heftig über deren Bewertung streitet. Eine Professionalisierung
von Risikoanalysen und Risikomanagement ist für Demokratien daher
überlebensnotwendig.
Manchen Demokratien ist, so können wir nach einem Jahr Corona-Krise festhalten,
dieses Risikomanagement erstaunlich gut gelungen,beispielsweise Taiwan oder
Neuseeland, die ja geradezu als Weltmeister der Corona-Bewältigung gelten können.
Es stimmt natürlich, dass diese Länder durch ihre Insellage im Vorteil waren. Aber
dieser Umstand allein sollte uns nicht vor einer unangenehmen Selbstkritik
ausweichen lassen. Gerade in den ältesten Demokratien, in den USA und in
Großbritannien, war das Missmanagement spektakulär. Donald Trump versagte nicht
nur in der Bekämpfung der Pandemie, sondern trug sogar aktiv zur Verschlimmerung
der Situation bei, durch dreiste Lügen über die Gefährlichkeit des Virus, aber auch
durch Wahlkampfauftritte oder das sogenannte „rosegarden-super-spreader-event“,
einen Empfang zu Ehren der von Trump ins Amt gehievten Richterin am Supreme
Court, bei dem im Rosengarten des Weißen Hauses zahlreiche Personen infiziert
wurden.4
Nun, Trump war und ist zweifellos ein besonderer Fall. Aber die Frage, warum es so
vielen Demokratien schwerfällt, Risiken zu antizipieren, nicht nur Pandemie-Pläne
vorzuhalten, sondern diese auch umsetzen zu können, stellt sich ja in vielen
Demokratien. Kann uns die sozialwissenschaftliche Theoriebildung hier noch einmal
helfen?
Ulrich Beck war in seiner Zunft nicht unumstritten. Sein Kollege Niklas Luhmann fand
die Theorie der Risikogesellschaft unterkomplex, theoriearm, ja er bezeichnete sie
gar als Teil der soziologischen „Regenbogenpresse“. Er mokierte sich regelrecht
darüber, das in Wortbildungen wie „Risikogesellschaft“, „Informationsgesellschaft“
oder „Erlebnisgesellschaft“ ein Teilaspekt moderner Gesellschaften zum alles
erklärenden Charakteristikum erhoben wurde.5 Die Systemtheorie, die er selbst über
viele Jahrzehnte entwickelte, trat hingegen mit universellem Anspruch auf: Sie sollte
die Komplexität moderner Gesellschaft abbilden, ohne sie unzulässig zu reduzieren.
Luhmann war der Ansicht, es sei naiv von „der Politik“ – was immer das genau im
Einzelnen sein mag – ein weitsichtiges, erfolgreiches und nachhaltiges Management
von Risiken zu erwarten. Politik, so Luhmanns Gegenthese, kennt nur ihre eigene
Logik, ihre eigene Zukunft, ihre spezifischen und daher recht engen
Aufmerksamkeitshorizonte. Dass die Debatte um den CDU-Vorsitz die politische
Aufmerksamkeit dominierte, während man sich seit November 2019 besser über
Schutzausrüstung, Einreisebeschränkungen und Intensivbetten hätte Gedanken
machen sollen, hätte Luhmann also nicht überrascht. Das Funktionssystem der
4 Vgl.: Bedford, T., Logue, J., Han, P., Wolf, C. et al. (2020). Viral genome sequencing places White
House COVID-19 outbreak into phylogenetic context.
https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2020.10.31.20223925v1.
5 Luhmann, Niklas, Die Gesellschaft der Gesellschaft. Band 2, Frankfurt am Main 1997, S. 1088ff.
6
Politik, so Luhmanns These, operiert nach der kurzfristigen Logik von Wahlen, von
Machtverteilung, von Allianzen und Konkurrenzen. Das berühmt-berüchtigte „Fahren
auf Sicht“ wäre aus Luhmanns Perspektive geradezu der Normalzustand von Politik
die einzelnen Akteure eben gefangen in jenem System, in dem sie sich bewegen.
Aber vielleicht wäre das ja gerade eine sehr wichtige Lektion aus der Corona-Krise,
dass es nämlich fatal ist zu glauben, man könne sich mit Problemen erst dann
beschäftigen, wenn sie da sind. Lektion 1 könnte also lauten: „Fahren auf Sicht“ ist
keine erfolgreiche Strategie. Die Kurzfristigkeit, die durch den demokratischen
Wettbewerb entsteht, ist eine echte Gefahr, eine Gefahr, der wir nicht durch Appelle
oder Moral begegnen sollten, sondern durch systemische Antworten. Auch um die
Folgen des Klimawandels sollten wir uns nicht erst sorgen, wenn sie vollends da
sind. Erstens ist es dann zu spät und zweitens sind die Auswirkungen der
Erderwärmung auch bei uns bereits beobachtbar. Die Politik braucht dringend einen
weiteren, einen größeren Aufmerksamkeitshorizont, ein Gegenprogramm gegen den
„short-termism“, das bloße „Fahren auf Sicht“. Wo aber ist unsere Agenda 2030?
Inputlegitimation oder Expertokratie
Damit komme ich zum zweiten Schritt. Meine zugegebenermaßen schematische
Kontrastierung von Ulrich Beck und Niklas Luhmann bedürfte natürlich zahlreicher
Verfeinerungen und Differenzierungen. Vor allem könnte man die Fortentwicklung
der Risikosoziologie viel ausführlicher darstellen. Aber vielleicht genügt diese
zugegebenermaßen sehr grobe Skizze doch, um die Frage zu umreißen, die die
Corona-Pandemie in aller Dringlichkeit aufwirft: Wie gelingt es der Politik einen
angemessenen Aufmerksamkeitshorizont zu entwickeln? Lassen sich institutionelle,
strukturelle, systemische Antworten auf die Frage finden, wie wir professionelles,
antizipationsfähiges Risikomanagement in die Politik bringen?
Die klassische Antwort darauf lautet natürlich: Expertise. Und wer hat Expertise?
Natürlich Expertinnen und Experten. Auch hier lohnt es sich Ulrich Becks Klassiker
heute noch einmal zu konsultieren. Er diagnostizierte nämlich bereits Mitte der 80erJahre einen Trend, der heute die Kommunikation zwischen Exper*iInnen und den
Bürgerinnen und Bürgern prägt: Expertise wird nicht mehr unhinterfragt
angenommen. Die Bürgerinnen und Bürger konsultieren Gegenexperten, sie wollen
mehrere Meinungen hören, sie wollen nicht nur Ergebnisse sondern auch
Herleitungen und Begründungen.
Ganz explizit schreibt Ulrich Beck 1986, dass es die persönliche Glaubwürdigkeit ist,
die im Durcheinander konkurrierender Stimmen so etwas wie Orientierung geben
kann.6 Und diese Glaubwürdigkeit muss durch Ehrlichkeit erarbeitet werden. Der
legendäre Corona-Podcast des NDR lieferte über Monate genau das: ausführliche
Argumentationen, Hinweise auf wissenschaftliche Studien, Verweise auf brandneue
Paper und soeben hochgeladene pre-prints, stets versehen mit dem Hinweis, dass
die Wissenschaft ein Suchprozess und keine Offenbarungsreligion ist.
Dass Bürgerinnen und Bürger die Wissenschaft zur Begründung ihrer Ergebnisse
und zur diskursiven Einbettung ihrer Empfehlungen nötigen, kann aus
demokratietheoretischer Sicht als ein Schritt der Emanzipation gewertet werden.
Blinde Wissenschaftsgläubigkeit und das Outsourcing der eigenen Urteilskraft an
6 A.a.O., S. 274-278.
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Expertinnen und Experten können gefährlich sein. In diesem Fall würde aus der
Demokratie nämlich eine Expertokratie werden. Dann würde die Wissenschaft die
Politik nicht mehr nur beraten, sondern regelrecht ersetzen. Das provoziert dann nur
Misstrauen und womöglich gar Verschwörungsmythen. In Ländern wie Frankreich,
wo es eine analoge diskursive Erläuterung wissenschaftlicher Erkenntnis und
möglicher Maßnahmen nicht gab – also, um es platt zu sagen, kein so gutes
podcast-Angebot – ist das Misstrauen gegenüber der Expertise der Virologie und
gegenüber der Regierung deutlich größer.
Gerade die diskursive Erschließung und Erläuterung des allmählichen Fortschritts
von Wissen, das Einräumen von Unsicherheiten und vagen Schlüssen, erhöht das
Vertrauen in die Wissenschaft. Eine Lektion 2 lautet also, so mein Vorschlag, dass
wir was uns in der Corona-Krise geholfen hat, auch im Falle der Klimakrise
anwenden sollten: ein regelmäßiges, diskursives update durch Expertinnen und
Experten, in dem die Unsicherheiten offen benannt, aber die wissenschaftliche
Validität zugleich klar verteidigt wird. Von einem Klima-Update parallel zum CoronaUpdate würde unsere demokratische Debatte über den richtigen Weg in der
Klimafrage enorm profitieren.
Welche Maßnahmen für die Einhegung des Klimawandels zu empfehlen sind, wo die
Herausforderungen liegen, wie sich neue wissenschaftliche Erkenntnisse in Politik
umsetzen lassen: All diese interdisziplinär oder transdiziplinär zu bearbeitenden
Fragen stellen sich nämlich bezüglich der Klimakrise in analoger Weise zur CoronaKrise. Wir sollten uns folglich auf die Suche machen nach Personen, die für die
Klimadebatte das leisten können, was Christian Drosten und Sandra Ciesek oder Mai
Thin Nguyen-Kim paradigmatisch für die Corona-Krise geleistet hat. Vielleicht wird
man hier bei den Gästen mehr Fluktuation haben, man wird das Format nicht völlig
übertragen können, aber auch bezüglich der Klimapolitik brauchen wir eine
wissenschaftlich fundierte und zugleich politisch offene Debatte über Risiken, Kosten
und vor allem eine langfristige, möglichst kohärente Strategie.
Kurze Wahlzyklen – kleine Aufmerksamkeitshorizonte?
Damit komme ich zu meinem dritten Punkt: Die Frage nach der kohärenten Strategie.
Wieviel Kohärenz, also logische Schlüssigkeit lässt sich bei hektisch umgesetzten
Maßnahmen erwarten? Vermutlich geht es Ihnen ähnlich wie mir: Immer wieder blickt
man auf einige der Corona-Maßnahmen und findet logische Widersprüche. Wenn
dieses erlaubt ist, warum ist dann jenes verboten? Und sind viele Grenzwerte nicht
willkürlich gesetzt? Sind nicht auch die Zeiten für die Sperrstunden beliebig definiert?
Warum 20 Uhr und nicht 20.15 Uhr, so könnte man fragen. Verlangen wir von einem
Normensystem, bspw. der Straßenverkehrsordnung oder dem Steuerrecht nicht auch
logische Konsistenz, also echte Widerspruchslosigkeit?
Ich will so manche unlogisch erscheinende Entscheidung nicht kleinreden. Manche
Widersprüche scheinen in der Tat schwer erträglich. Stimmt es beispielsweise
wirklich, dass man die Risikogruppen in den Alten- und Pflegeheimen nicht
systematischer hätte schützen können? Die Erfahrungen in Tübingen legen das
Gegenteil nahe. Und hätte man nicht im Sommer 2020 die systematische
Anwendung von FFP2-Masken ab Herbst vorbereiten können, so dass ab September
2020 nur noch die wirkungsstärkeren Masken in Gebrauch gewesen wären?
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Derartige Fragen stellen sich vermutlich viele von uns, und zwar völlig zu Recht. Eine
Demokratie lebt ganz zentral davon, dass die Bürgerinnen und Bürger mitdenken
und die parlamentarische Opposition den Finger in die Wunde legt. Aber in einem
Moment der akuten Krise ist der Wunsch nach völliger Kohärenz womöglich zu
anspruchsvoll. Auch in anderen Fällen ziehen wir Grenzen, die letztlich beliebig sind.
Warum beispielsweise darf man den Führerschein mit 18 machen und nicht mit 17
oder 19? Warum dauert ein Fußballspiel 90 Minuten und nicht 80 oder 100?
Irgendwo muss man eine Linie in den verwehenden Sand der Wirklichkeit ziehen.
Manche der Maßnahmen sollten wohl auch den Ernst der Lage verdeutlichen und
eine generelle Atmosphäre der Vorsicht generieren. Man hätte vieles anders machen
können, aber irgendwie musste man es auch machen. Den Anspruch auf Konsistenz
sollten wir nicht aufgeben, aber man darf ihn wohl auch nicht verabsolutieren.
Wichtiger wäre indes eine systematische Evaluation der Maßnahmen gewesen. Und
noch besser wäre es natürlich, die Maßnahmen wären gar nicht nötig, man würde die
Probleme antizipieren. Gerade das aber, so hatten wir eingangs gesehen, fällt in
politischen Kontexten offenbar schwer. Vor dem 11. September 2001 unterschätzte
man die Bedrohung durch den islamistischen Terror, vor der Lehman-Brothers-Pleite
ignorierte man die Risiken auf dem Immobilienmarkt, auch angesichts der
sogenannten Flüchtlingskrise erwies sich die Politik bekanntlich als „getrieben“7
.
Auch vom Rechtsterrorismus wurde im Kontext des NSU oder des Anschlags von
Hanau behauptet, seine Dimension sei außerhalb des Vorstellbaren gewesen. Auch
der Sturm auf das Kapitol in Washington als „unamerikanischer Akt“ oder als
geradezu „surreal“ bezeichnet. Daher sei das Sicherheitspersonal unterbesetzt
gewesen. Immer wieder dieses Wort: „unvorstellbar“. Und so war es auch vor einem
Jahr in Deutschland, zu Beginn der Pandemie: Der Präsident des RKI Lothar Wieler
sagte am 20.3. 2020 wörtlich: „Wir sind in einer Krise, deren Ausmaß ich mir nie
hätte vorstellen können“. Wieder also dieses Wort: „Unvorstellbar“. Aber waren die
Dinge wirklich so unvorstellbar?
Es geht mir keineswegs darum, das RKI zu kritisieren. Bemerkenswert finde ich an
dieser Aussage vielmehr, dass hier ein systematisches Problem benannt wird (wenn
auch vielleicht unfreiwillig): nämlich der Mangel an Vorstellungsvermögen.
Die menschliche Fähigkeit zur Imagination, unsere Fähigkeit, sich Abwesendes, ja
sogar Inexistentes vorstellen zu können, hat die Philosophie seit den Anfängen
fasziniert. Jean-Paul Sartre hat der menschlichen Imaginationskraft ein ganzes Buch
gewidmet. Der Mensch kann ganze Welten erfinden, die fantastische Literatur ist
bekanntlich ein eigenes Genre. Robert Musil sprach vom menschlichen
„Möglichkeitssinn“, den er dem Wirklichkeitssinn an die Seite stellte. Die Fantasie gilt
heute jedoch vor allem als Kompetenz von Träumern, Literaten, ja vielleicht sogar
etwas nerdigen Spinnern. Kurz ist der Weg von der Fantasie zur Fantasterei.
Angesehen ist Fantasie nur noch bei Unternehmerinnen und Unternehmern.
Was Lothar Wieler in seiner Aussage selbstkritisch bemerkt hat, ließe sich folglich
auch als Plädoyer für die Wiederentdeckung der Vorstellungskraft lesen: Um Krisen
zu antizipieren, hätte man mehr Fantasie gebraucht. Die jetzige Situation hätte man
7 Mit dieser Formulierung spiele ich natürlich auf das Buch von Robin Alexander an: Die Getriebenen:
Merkel und die Flüchtlingspolitik: Report aus dem Innern der Macht, München 2017.
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sich durchaus vorstellen können, ja sogar vorstellen müssen. Und einige Akteure
haben die Szenarien für mögliche Pandemien ja sehr detailliert durchgespielt. Genau
dazu sind Katastrophenpläne dar, dass sie auf jene Situationen vorbereiten, die wir
uns nur mit Anstrengung oder Fantasie vorstellen können.
Eine dritte Lektion könnte also lauten: Wer Visionen hat, sollte nicht zum Arzt
gehen, wie Helmut Schmidt bekanntlich empfahl. Im Gegenteil: Wenn wir nicht nur
auf Sicht fahren wollen, sondern unsere Zukunft aktiv gestalten wollen, brauchen wir
Fantasie, nicht nur um mögliche Risiken durchzuspielen, sondern auch um
Möglichkeitshorizonte zu erschließen. Genau darin könnte aber ein systematisches
Problem der Institutionen liegen: Um Präsident des RKI zu werden, braucht man
einen hochentwickelten Wirklichkeitssinn. Man muss nüchtern und faktenbasiert
arbeiten und sich jeder Fantasterei enthalten. Um dann aber den Job gut zu machen,
braucht man auch das Gegenteil: Vorstellungsvermögen, Möglichkeitssinn, Fantasie.
Wer sich mit Seuchen beschäftigt, muss sich grundsätzlich so ziemlich alles
vorstellen können.
Diese dritte und letzte Lektion ist vielleicht die wichtigste Lehre nach einem Jahr
Corona-Krise: Wenn wir den Aufmerksamkeitshorizont der Politik erweitern wollen,
um einen reaktiven Modus zu überwinden, müssen wir Mechanismen entwickeln, die
den Möglichkeitssinn systematisch in die Politik einspeisen. Die These, dass die
Demokratie auch Fantasie braucht, wäre dann keine bloße romantische
Schwärmerei, sondern schlicht die Einsicht in eine Notwendigkeit in der
Risikogesellschaft.
Wir hatten gesagt, die Corona-Krise habe den Schleier weggerissen, der so
manchen Missstand verborgen hat. Wie ein Brennglas macht die Krise bereits zuvor
bestehende Probleme sichtbar. Man kann aber auch ein anderes Denkbild bemühen:
Die Corona-Krise als eine Art Generalprobe, als Möglichkeit zu lernen. Dieses
kollektive Lernen sollte nicht zu kleinteilig ausfallen. Wir sollten auch im kollektiven
Lernen ehrgeizig sein. Entscheiden Sie gerne selbst, ob meine drei Vorschläge
hierzu einen hilfreichen Beitrag leisten.
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