Eine Kulturgeschichte des Anfangs | Sabine Appel über das biblische Paradies und wie Neuanfänge gelingen können .Geschichtsmodelle (swr2)
Arcadia
Bildquelle: Heribert Heere, 2018, Acryl/Collage, 100 x 70 cm
mailto:heribert_heere@web.de
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Arkadien - Neuanfänge . S. Appel
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Eine Kulturgeschichte des Anfangs | Sabine Appel über das biblische Paradies und wie Neuanfänge gelingen können .Geschichtsmodelle (swr2/2)
'Das Nochnichtbewusste ist die Dämmerung des Neuen: Was noch niemals war'
Ernst Bloch:
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Sendung: Sonntag, 31. Januar 2021, 8.30 Uhr Redaktion: Ralf Caspary Produktion: (SWR 2021)
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ÜBERBLCK
Wie hat die Welt angefangen? Gab es eine goldene Zeit, ein Paradies? Und wie kann
ein Neu-Anfang gelingen? Die europäische Moderne war entscheidend geprägt von
diesen Fragen.
INHALT
2
MANUSKRIPT
Anmoderation:
Mit dem Thema: „Eine Kulturgeschichte des Anfangs, Teil 2 – Geschichtsmodelle“. Am
Mikrofon: Ralf Caspary.
Wie hat alles angefangen? Gab es am Anfang eine goldene Zeit, war am Anfang alles
besser? Wie können wir am Ende einer geschichtlichen Epoche wieder zu einem Anfang
zurückkehren? Das alles sind Fragen, die die europäische Moderne und ihr
Geschichtsverständnis entscheidend geprägt haben.
Dr. Sabine Appel, Buchautorin mit einem Schwerpunkt auf europäischer Ideengeschichte,
beschreibt im zweiten Teil diese Zusammenhänge. Es geht um die Idee eines Arkadien,
eines Paradieses am Anfang der Menschheitsgeschichte.
Sabine Appel:
Einmal war alles gut – oder als Prospektiv, an die Anfänge angelehnt: Einmal wird alles
gut. Die im westlichen Denken tief verwurzelte Vorstellung von Arkadien ist eigentlich ein
Konkurrenzmodell zur Geschichte vom Sündenfall.
Arkadien. Das Goldene Zeitalter. Der verlorene glückliche Urzustand der Menschen. Die
Idealexistenz am Anfang der Zeiten. Es gibt diese Vorstellungen bei Hesiod und Homer,
bei Vergil und Ovid, bei den Renaissance-Dichtern Boccaccio und Petrarka, Torquato
Tasso und Sannazaro. Sir Philip Sidney schuf eine Arkadien-Dichtung, die den Namen im
Titel trägt, und auch bei Shakespeare taucht eine neuzeitliche Form von Arkadien auf, und
zwar in seiner Komödie: "As you like it" ("Wie es euch gefällt") im Idyll des Waldes von
Arden. Dorthin ziehen sich mehrere Personen des Stückes immer wieder freiwillig zurück.
um die Freiheit des Jagens, des Singens, des freien Wortes und vor allem der Liebe zu
genießen, aber auch, um in dieser von Gesellschaftszwängen unbelasteten freien Natur
zu meditieren, Geist und Seele zu reinigen.
Mit der Zeit wird Arkadien immer mehr ein bewusst stilisiertes Gegenmodell zu den als
mangelhaft empfundenen Gesellschaftsverhältnissen. Der Fragment gebliebene
ArkadienRoman des Franzosen Bernardin de Saint-Pierre wurde von Jean-Jacques Rousseau
inspiriert, mit dem der Autor befreundet war. Die Vorstellung einer harmonischen
Verbindung des Menschen mit der Natur und einer auf Gleichheit basierenden
Lebensweise der Menschen, die sich von der Zivilisation losgesagt haben, hat hier ihren
dichterischen Ausdruck gefunden.
Bei dem griechischen Dichter Hesiod ist das Goldene Zeitalter die Chronos-Zeit, und das
heißt die Epoche, bevor Prometheus das Feuer geraubt hat. Da lebten die Menschen in
einem ewigen Frühling, mit der Natur, mit den Tieren, den anderen Menschen und mit den
Göttern vereint. Sie kannten keinen Neid, keinen Besitz, keine Arbeit und keinen Zwang,
und die Natur bot freiwillig ihre Gaben dar, um die Menschen damit zu nähren. Kein
mühsamer Ackerbau war notwendig, um sie ihr abzuringen, und auch sonst gab es keine
Sorgen und keine Plage. Erst der Feuerraub des Prometheus, das Erscheinen Pandoras,
die ihre Büchse mit den Übeln der Welt öffnete, um sie über die Menschen zu gießen, und
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schließlich die Ordnung des Zeus brachten die Not und den Zwang zur Arbeit in die Welt.
Noch im Zeitalter der Heroen aber in den fünf Weltaltern nach Hesiod speisten die
Menschen an den Tischen der Götter. Sie lebten in ewiger Jugend, kannten kein Alter und
keine Krankheiten. Friedensvisionen prägten zudem diese arkadischen Bilder, die immer
wieder von den Dichtern beschworen wurden, oft in größtmöglichem Kontrast zu ihrer
historischen Realität.
Auch der biblische "Garten Eden" trägt arkadische Züge, aber diese Anfangserzählung ist
gekennzeichnet durch einen nachhaltigen und entscheidenden Bruch: den Sündenfall und
die Vertreibung der ersten Menschen Adam und Eva aus dem Paradies, da sie vom Baum
der Erkenntnis gegessen haben und sein wollten wie Gott. Auch hier gibt es Parallelen zu
den antiken Vorstellungen, denn der Feuerraub des Prometheus ist ebenfalls eine erste,
aber entscheidende Grenzüberschreitung und ein Akt des zivilen Ungehorsams gegen die
göttliche Autorität. Das, was den zivilisatorischen Fortschritt verbrieft, ist zugleich ein
sträflicher Ausdruck menschlicher Hybris, die unmittelbar bestraft werden muss. Der
Mensch will die Welt beherrschen, und damit verliert er seine natürliche Einbindung in die
göttliche und kosmische Weltordnung, und zwar hier wie dort.
Zum Konkurrenzmodell wird Arkadien für den fortgeschrittenen christlichen Menschen
aber in folgender Hinsicht: In der christlichen Überlieferung stellt der Sündenfall den
eigentlichen Beginn der Geschichte des Menschen dar. Gott hat den Menschen
geschaffen, aber dieser Mensch ist ein Mängelwesen, und er darf es als solches nicht
wagen, sich mit Gott jemals messen zu wollen. Die Maßgaben und die
Ausgangsvoraussetzungen menschlichen Wirkens können mithin gar nicht anders sein,
als im Zeichen der Sünde zu stehen, mit der die menschliche Natur nach der
Erbsündenlehre untrennbar und unausweichlich verbunden ist. Die Beschwörung
Arkadiens, also einer Vorstellung aus vor-christlichen Zeiten, hat daher viel mit der
Sehnsucht nach einer neuen Unschuld zu tun, als es den Begriff der Sünde schlicht noch
nicht gab. Der Blick zurück geht folglich nicht zu den in der Heiligen Schrift vermittelten
fatalen Anfängen des sündhaften Menschen, der zwar durch Christus erlöst werden kann,
aber in dieser Welt eigentlich keine Chance hat, sondern ins arkadische Goldene Zeitalter.
Hier nimmt man phantasievolle Anleihen, mit dem Fernziel verbunden, auch einst im Hier
und Jetzt die Welt zu verbessern, damit ihr wieder etwas Paradiesisches oder besser
gesagt; etwas Arkadisches zukommen kann. Das jedenfalls schwingt bei all den noch so
unschuldigen Schäferdichtungen und idyllischen Szenen, den Liebesgrotten, Gesängen
und bukolischen Phantasien von freiheitsliebenden Menschen in freier Natur fernab der
Gesellschaft und ihrer Zwänge im Hintergrund mit. Wann wäre der Mensch schon jemals
autark gewesen, frei vor allem von gesellschaftlichen Zwängen? Über die Bedingungen
dazu herrschte aber allmählich erhöhter Gesprächsbedarf und so auch die Forderung, sich
neue irdische Paradiese zu schaffen.
Für Jean-Jacques Rousseau bleiben die Ursprünge des noch nicht vergesellschafteten
Menschen jenseits der erfahrbaren Wirklichkeit. Er setzt diesen imaginären Urzustand
dennoch als ideale Bezugsgröße, die er sozusagen ex negativo definiert und rekonstruiert.
Er ist quasi alles, was der Mensch in der Gesellschaft und vor allem in der Gesellschaft
seiner Epoche nicht ist, und ins Bild tritt die Selbstgenügsamkeit des einzelgängerisch
lebenden Menschen in der Natur, der weitgehend autark und bedürfnislos ist, da er die
Konkurrenz und die Abgrenzung von den anderen noch nicht kennt. Dieser Urmensch ist
nur auf die Befriedigung seiner unmittelbaren physischen Bedürfnisse ausgerichtet. Er
erhält sich, vermehrt sich, sucht Schutz und Behausung, Nahrung und Sicherheit, aber
nicht mehr. Auch ist ihm das Mitleid mit seinen Artgenossen und allem Lebendigen
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natürlich gegeben, ebenso wie die Selbstliebe, "amour de soi", die Rousseau von der
egoistischen Eigenliebe, der "amour propre", strikt unterscheidet. So lebte er in stiller
Selbstgenügsamkeit und im Einklang mit seiner Umgebung. Neid, Zank und Besitzstreben,
alle diese Dinge, der Beginn auch von Kriegen und mannigfachen selbstgemachten
Katastrophen der Menschheit, entstanden erst, als er begann, sich in Familienverbänden,
Stämmen und Siedlungen zu organisieren und indem er "Mein" und "Dein" unterschied.
Von nun an, so Jean-Jacques Rousseau, ging es nur noch bergab. Zwischen diesen
ersten Sozialformen und der dekadenten Welt des Zeitgenossen Rousseau im Zeitalter
des Spätfeudalismus vor allem mit Blick auf das absolutistische Frankreich und seine
Hofkultur liegen natürlich Äonen. Doch im Kern ist die fatale Entwicklung dieselbe,
gemessen an ihrem Ausgangspunkt. Abstieg, nicht Aufstieg, vor allem, wie der Genfer
Aufklärer meint, in moralischer Hinsicht. Der große Aufschwung der Künste und
Wissenschaften in seiner Epoche kann seiner Meinung nach nicht darüber
hinwegtäuschen, dass das Gesellschaftsleben der Menschen von Falschheit, Verstellung
und Konformismus, krassen Ungleichheiten, Entfremdung, Naturferne, ungerechtfertigten
Standeseinteilungen, Privilegien auf der einen Seite und Rechtlosigkeit auf der anderen
und Willkür der Herrschenden geprägt ist. Und da man aber nicht zurückkehren kann in
einen früheren Zustand, also zu dem prä-sozialen, imaginierten Ideal, ist die einzige
Möglichkeit des Auswegs eine stufenweise Befreiung von den entfremdeten Zuständen
und gesellschaftlichen Fehlentwicklungen. Die Zukunft, auch für Rousseau, ist völlig offen,
aber fundamentale Veränderungen werden immerhin als möglich gesetzt. Dafür steht
schon die im Menschen grundsätzlich angelegte "perfectibilité", seine Fähigkeit zur
Selbstvervollkommnung. Also, man darf da getrost hoffen...
Völlig anders sind die Vorstellungen von Staatstheoretikern, die die Anfänge in der
Geschichte der Menschheit nicht positiv sehen, sondern negativ, da sie auch den
Menschen an sich nicht positiv sehen wie Rousseau. Für Thomas Hobbes ist der
Naturzustand ein wildes Spiel der Kräfte, das in der berühmten Formel gipfelt: "ein Krieg
aller gegen alle". Den von Natur aus grausamen und egoistischen Menschen kann seiner
Meinung nach nur eine entschlossene politische Ordnung in Schach halten und nach einer
gesellschaftlichen Maßgabe zivilisieren. Die Rolle des Staates als Ordnungsmacht ist bei
Hobbes eine völlig andere als bei Rousseau, dessen Überlegungen, auch zum Staat und
Gesellschaftsvertrag, immer ein utopistisches Element innewohnt, gemessen an einem
imaginierten Ideal, idealen, nahezu arkadischen Anfängen.
Den ersten kulturpessimistischen Einwürfen, wie sie Rousseau in sein aufklärerisches
Zeitalter einbrachte, werden viele weitere folgen, und er ist in dieser Dezidiertheit der
erste, der formuliert hat, dass Fortschritt immer auch in Teilen Rückschritt bedeutet. Die
Dialektik der Aufklärung im 20. Jahrhundert wird das im großen Stil aufgreifen, die
Ökologie-, die Friedens- und die anti-Atomkraft-Bewegung, die Globalisierungskritik
unserer Zeit und die Protestbewegungen im Zeichen des Klimawandels. Aber schon die
Romantiker haben den Verlust der Einheit beklagt, den vor allem die Aufklärung schuf.
Schelling beklagte die Selbstentfremdung des Menschen in der Moderne, und die
Frühromantiker fokussierten eine romantische Universal-Poesie unter dem Leitbegriff der
Unendlichkeit. Kritisiert wurde die einseitige Verstandeskultur im Lichtzeitalter der
Aufklärung, die die unbewussten Kräfte des Menschen nicht einbezog, das Elementare,
für das die Nacht sinnbildlich wurde. Nicht wenige dieser romantischen Dichter und
Denker beiderlei Geschlechts, die sich um 1800 in Jena und an anderen Orten
versammelten, imaginierten sich zurück ins katholische Mittelalter, in die universelle
Einheit des Glaubens und der erlebten Ganzheitlichkeit. Alle diese Bewegungen, so
regressiv sie vereinzelt auch sein mögen, sind mehr oder weniger dezidierte
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Fortschrittskritik, getragen vom Blick zurück auf die wirklichen oder vermeintlichen
Anfänge.
Im Maschinenzeitalter und angesichts der immer stärker werdenden Hybris des Menschen
durch Technisierung und die entsprechenden Welteroberungsfantasien entstanden dann
auch philosophische Konkurrenzmodelle zum linearen Bild der Geschichte. Arthur
Schopenhauer und Friedrich Nietzsche haben zyklische Geschichtsbilder entworfen, die
schon durch ihre irrationalistische Anlage, was das Bild vom Menschen betrifft, den
Fortschrittswahn konterkarierten. Nietzsches Gedanke der "ewigen Wiederkehr" als ein
solches Gegenmodell ist ein Dreh- und Angelpunkt seines Werks. Nietzsche hat sich in
dem Zusammenhang auch mit moderner Physik beschäftigt, und er sah im Zweiten
thermodynamischen Hauptsatz eine Bestätigung seiner Philosophie. Mit dem Begriff der
"Entropie" wurde 1862 durch Rudolf Clausius eine physikalische Größe als Grad der
Nichtumkehrbarkeit physikalischer Vorgänge eingeführt. Innerhalb der verschiedenen
Energiearten gibt es keine beliebigen Umwandlungsprozesse. So kann jede Energieform
in Wärme umgewandelt werden, diese aber nicht mehr beliebig zurück. Neben den
umkehrbaren Prozessen gibt es also auch irreversible Vorgänge innerhalb des Systems,
bei denen die Entropie folglich zunimmt. Bereits Nietzsches Zeitgenossen haben für
diesen imaginierten Maximalwert der Entropie im thermodynamischen Gleichgewicht den
Begriff: „Wärmetod“ formuliert, der ein globaler Endzustand wäre. Das scheint aus
heutiger Sicht geradezu visionär, auch wenn es damals völlig anders gerichtet war und
Vorstellungen einer globalen Zerstörung, etwa durch Erderwärmung, noch niemandem
schlaflose Nächte bereiteten.
Hundertzwanzig Jahre später sah das ganz anders aus. Die Endzeitstimmung und die
latente Apokalyptik der neunzehnhundertachtziger Jahre, die mit dem atomaren
Wettrüsten der beiden Machtblöcke Ost und West im Kalten Krieg aufkamen, produzierten
Bilder totaler Zerstörung, wie sie durch einen Atomkrieg vorstellbar wurden, den Supergau.
Der US-amerikanische Film: "The Day After" von 1983 hat das plastisch und drastisch vor
Augen geführt. Dass der Mensch aufgrund seines technischen Fortschritts in der Lage ist,
sich gleichsam in die Steinzeit zurück zu katapultieren, sei es durch einen Atomkrieg oder
durch sukzessivere Formen globaler Zerstörung seines eigenen Lebensraums, begleitet
das allgemeine Bewusstsein spätestens seit dieser Zeit. Die Bilder vom Rückwärtsdrehen
der Uhr, wie sie hier kenntlich werden, haben jedoch gewiss nichts Arkadisches, sondern
entsprechen wohl eher dem Satz in der Genesis im 1. Buch Mose: "Und die Erde war wüst
und leer."
Die Anfänge. Inwieweit bestimmen sie den unausweichlichen Verlauf von Entwicklungen,
sei es im persönlichen Leben, in Gesellschaften oder in ganzen Kulturen? Im Mythos
herrscht da ein reichlich flächendeckender Fatalismus. Ob Odysseus oder Ödipus, die
Helden der nordgermanischen Edda oder der Nibelungen: Die Schicksale der Heldinnen
und Helden sind durch ihre Anfänge gesetzt und von den Göttern vorherbestimmt,
unausweichlich und unentrinnbar, selbst im Falle der glücklichen Heimkehr des Helden
Odysseus nach seiner Irrfahrt, denn diese war von den Göttern in ihrem Rat von Anfang
an beschlossen, was im Umkehrschluss aber bedeutet, dass keine einzige seiner
Handlungen und gefährlichen Abenteuer, die er wacker bestand, ursächlich von seiner
persönlichen Initiative abhing oder eben auch anders hätte ausgehen können. Das
Nibelungenlied trägt das Kernthema: "Kriemhilds Rache". Die verletzte Ehre der Königin
setzt eine ganze Reihe von Morden und Katastrophen in Gang, bis hin zum Untergang des
Nibelungengeschlechts. Da die Stoffe alle vorchristlich sind, ist auch keinerlei Erlösung in
Sicht. So ähnlich steht es um unglückliche Biografien, deren schlechte Anfänge einen
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Lebensweg negativ prägen, sofern es dem Individuum nicht gelingt, mithilfe
psychologischer Aufarbeitung und Überwindung eine Musterdurchbrechung zu leisten und
die Fehlentwicklung in gute Bahnen zu lenken. Die schlechten Anfänge wären damit
idealerweise eliminiert, überwunden.
Eines der ersten literarischen Zeugnisse, das eine solche individuelle
Entwicklungsgeschichte als Seelengeschichte analysiert und dabei aber auch mit Kritik an
den Gesellschaftsverhältnissen und milieubedingten Prägungen, Verwundungen und
destruktiven Erziehungseinflüssen nicht hinterm Berg hält, ist der psychologische Roman:
"Anton Reiser" von Karl Philipp Moritz, der starke autobiographische Züge trägt und 1785 -
90 erschien. Er erzählt die Geschichte eines sensiblen Jugendlichen mit intellektuellen und
künstlerischen Bestrebungen, dem die kleinbürgerliche Enge seines Herkunftsmilieus,
aber auch eine dort gelebte zerstörerische Religiosität, die vom Quietismus geprägt ist,
schweren seelischen Schaden zufügen und ihn in permanenten Konflikt zu seiner
Außenwelt stellen. Die autoritären Strukturen in Bildungsanstalten und bei diversen
Lehrmeistern tun ihr Übriges, und auch, als es dem Protagonisten mit großen Mühen
gelingt, die von ihm gewünschte höhere Bildung zu erlangen und in den Bereichen
Theater und Dichtung tätig zu werden, spürt er doch immer seine soziale
Unterprivilegiertheit, gemischt mit einer spezifischen Form von Überempfindlichkeit und
Hypochondrie, Minderwertigkeitsgefühlen, die auch die äußeren Aufstiege und
Verbesserungen kaum aufheben können. Fazit: Die ersten starken Prägungen bleiben und
lassen das Individuum unter Umständen nicht mehr gesunden. In Thomas Manns Novelle:
"Der kleine Herr Friedemann" stammt der Titelheld zwar aus privilegierten Verhältnissen
wie fast alle literarischen Figuren von Thomas Mann, aber seine Anfänge sind trotzdem
fatal. Er fällt als Säugling vom Wickeltisch, weil seine Amme der Trunksucht verfallen ist
und in einem entscheidenden Moment nicht aufgepasst hat. Die körperliche Missbildung,
die er von diesem Sturz davonträgt, bestimmt sein weiteres Leben, das ein Leben voller
Demütigungen und Zurückweisungen ist, vor allem ein Leben ohne Freundschaft und
Liebe. "Die Amme hatte die Schuld"., lautet der erste Satz dieser Novelle von Thomas
Mann.
Erste Sätze von Romanen oder epischen Werken sind sogar schon Gegenstand
wissenschaftlicher Betrachtungen geworden. Hier ein paar Beispiele für erste Sätze in
Romanen und Erzählungen: Franz Kafka: "Das Schloss": "Es war spätabends, als K.
ankam." Adalbert Stifter: "Nachsommer": "Mein Vater war ein Kaufmann." Anne Weber.
"Erste Person": "Die besten Verstecke der Welt liefern uns die grammatischen Personen."
Günter Grass: "Der Butt": "Ilsebill salzte nach." Johann Wolfgang Goethe: "Die Leiden des
jungen Werther": "Wie froh bin ich, daß ich weg bin!". Judith Hermann: "Rote Korallen":
"Mein erster und einziger Besuch bei einem Therapeuten kostete mich das rote
Korallenarmband und meinen Geliebten." Um nur bei der deutschsprachigen Literatur zu
bleiben. Oder der Beginn des ersten Teils von Thomas Manns biblischer JosephTetralogie: "Tief ist der Brunnen der Vergangenheit." Dieser Romananfang ist vielleicht
unübertroffen.
Was aber ist mit den hoffnungsfrohen Anfängen im Zeichen des Neubeginns, die es doch
auch gibt und geben muss? Jean-Paul Sartre saß während des Zweiten Weltkriegs als
Häftling in einem deutschen Kriegsgefangenenlager in der Nähe von Trier, und da sollte er
- der erklärte Atheist! - ein Weihnachtsmysterienspiel schreiben und vor den
Lagerinsassen aufführen. Er tat es mit Bravour und Begeisterung und ohne seine
Ungläubigkeit zu verbiegen. "Bariona oder: Der Sohn des Donners", wie Sartre das Stück
nannte, ist die geschickte Verknüpfung seiner Freiheitsphilosophie mit der christlichen
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Verkündigung, die der Autor auf eine säkulare Weise positiv ausdeutet. Die Geburt eines
neuen Menschen, und so in der Weihnachtsgeschichte die des Jesus von Nazareth, ist
immer eine neue Hoffnung, ein neuer Anfang. In all dem Inferno, das er in dem Lager
erlebte, dem Schmutz, dem Hunger, den Misshandlungen, der Kälte und der Verzweiflung,
konnte er sich und seinen Mithäftlingen mit diesem Stück eine Hoffnung nach vorne
abringen.
Was war in Deutschland in der "Stunde Null"? Es sei barbarisch, äußerte Theodor
Wiesengrund Adorno noch in den letzten Kriegsjahren, nach Auschwitz noch ein Gedicht
zu schreiben. Doch die Menschen schrieben auch weiterhin Gedichte, und sie fingen neu
an, auch nach dem unsagbaren Grauen des Zweiten Weltkriegs und der NS-Herrschaft,
nach dem Holocaust, dem millionenfachen Morden und der Zerstörung. Auch die
Überlebenden der Konzentrationslager mussten neue Anfänge finden. Sonst hätte ihr
Überleben ja auch gar keinen Sinn gehabt.
Wie machen Menschen weiter nach einer Scheidung, nach dem Verlust eines geliebten
Menschen, nach dem Ende des Berufslebens, nach überstandener schwerer Krankheit,
nach einer Suchttherapie, nach einem Strafvollzug oder als Kriegsflüchtlinge in einem
fremden Land, einer fremden Kultur? Immer wieder gibt es Anfänge, die schwer sind und
zugleich Chancen bergen. Ohne Neuanfänge gibt es kein gelingendes Leben.
Ein Philosoph des Anfangs par excellence ist Ernst Bloch. Mit seinen Lebensdaten 1885
bis 1977 hatte er eine für das 20. Jahrhundert, seine Zäsuren und Eruptionen geradezu
exemplarische Biographie. Er wuchs im Kaiserreich auf und studierte während des Ersten
Weltkriegs, veröffentlichte seine ersten Werke in den Jahren der Weimarer Republik, war
während der NS-.Zeit im amerikanischen Exil, erlebte den Ost-West-Konflikt und den
Kalten Krieg zunächst als freiwilliger DDR-Bürger im Staat Walter Ulbrichts und später
doch in der Bundesrepublik, deren tagespolitische Themen er in den Siebzigern noch
kommentierte, und starb schließlich in Tübingen hochbetagt als "linker Denker", nicht
zuletzt zeitgeschichtlich vereinnahmt.
Seine Philosophie des Anfangs, die in seinem Hauptwerk: "Das Prinzip Hoffnung" gipfelt,
scheint indes in ihrem Kern von den eruptiven Zeitereignissen und Polarisierungen
seltsam unberührt und autark. Diese Philosophie ist zeitlos und transpolitisch, was
erstaunlich genug ist bei einem Neomarxisten. Sie stellt die allerersten Fragen der
Menschen, die eigentlich auch schon die Kinder stellen, sofern sie empfänglich sind, und
das war dieser Sohn einer säkularen jüdischen Familie in der Industrie- und Arbeiterstadt
Ludwigshafen am Rhein um 1900.
Wer sind wir? Wo kommen wir her? Wohin gehen wir? Was erwarten wir? Was erwartet
uns? Die Träume und Phantasien der Kindheit nehmen denn auch in der Form erster
Impulse einen sehr großen Raum ein in dieser Hoffnungsphilosophie, bei der die Utopie,
gedacht als das noch-Nicht, als das noch zu Schaffende, einen konstruktiven
Entwurfscharakter besitzt. Die Träume und Phantasien der Kindheit sind so etwas wie die
Initialzündung jeder Veränderung für die Schaffung einer besseren Welt. "Wir fangen leer
an.", so beginnt: "Das Prinzip Hoffnung". "Ich rege mich. Von früh auf sucht man. Ist ganz
und gar begehrlich, schreit. Hat nicht, was man will."1 Von den ersten Regungen und
Wünschen des Kindes formten sich später die Bilder und die Erwartungen, wie alles sein
solle. Man lerne zu warten, und man warte sogar auf das Wünschen selbst, bis es
1 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, Erster Teil: Kleine Tagträume, GA 5, S. 21
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deutlicher werde, um später konkrete Gestalt anzunehmen. Ausgangsbasis ist immer der
Mangel, das "noch-Nicht". Es ist die Voraussetzung für gelingendes Leben, die Hoffnung
sein Paradigma.
Ein zentraler Begriff ist in diesem Zusammenhang das "noch-nicht-Bewußte", das Ernst
Bloch, wie er in seinen werkbiographischen Aufzeichnungen bekennt, im Alter von 22
Jahren wie ein Wetterleuchten durchzuckte. Das Unbewusste bei Freud wird damit
gewissermaßen umgekehrt, vom Kopf auf die Füße gestellt,
denn das noch-nichtBewusste ist eine Antizipation, die Vorwegnahme einer Gestaltungskraft. Dem
Verdrängten, Pathologischen und also Sekundären in der Freud´schen Psychologie, dem
Unbewussten, wird im noch-nicht-Bewussten ein neuer Anfang, ein Hinausweisen
entgegengesetzt, das den Menschen in seinen Kräften erweitert und nicht behindert. Im
Hauptwerk nennt Bloch es die "Dämmerung nach vorwärts". Es ist "der psychische
Geburtsort des Neuen", das im Zeichen des Schöpferischen steht, der Jugend, der
Zeitenwende. In Blochs frühen Aufzeichnungen heißt es dazu: "Besonders in der
schöpferischen Arbeit wird eine eindrucksvolle Grenze überschritten, die ich als die
Übergangsstelle zum noch nicht Bewußten bezeichne. Mühe, Dunkel, krachendes Eis,
Meeresstille und glückliche Fahrt liegen um diese Stelle. An ihr hebt sich, bei gelingendem
Durchbruch, das Land, wo noch niemand war, ja das selber noch niemals war. Das den
Menschen braucht, Wanderer, Kompass, Tiefe im Land zugleich."2
Dass die Hoffnung ins Gelingen verliebt sei statt ins Scheitern, betont der Philosoph immer
wieder, und er betont damit eine positive Initiation, den Garanten einer konstitutiven vita
activa, die sich eben nicht als passiv geworfen sieht, wie es andere zeitgenössische
Philosophien betonen. Der Affekt des Hoffens mache die Menschen weit, statt sie zu
verengen, und die Arbeit dieses Affekts verlange Menschen, die sich ins Werdende tätig
hineinwerfen.3
Dabei ist das Suchen und Streben ein Grundmovens menschlichen
Daseins, und der Denker macht keinen grundsätzlichen Wertunterschied zwischen
kindlichen Tagträumereien, der Phantasiewelt des Märchens, der Kolportage, der Religion,
der Mythen, der Kunst und den großen Utopien der Menschheit. Als Anregung und Initial
kann alles dienen, sofern es nur hinausweist aus einem unbefriedigenden und
mängelbehafteten Ist-Zustand. Und so ist es auch ganz am Anfang für das noch kindliche
und offene Gemüt des jungen Ernst Bloch in den nur durch den Rhein getrennten Städten
Ludwigshafen und Mannheim. Das bunte Jahrmarktstreiben der Gaukler und Schausteller
mit singenden Hermaphroditen, ägyptischen Tänzerinnen, lebenden Aquarien, den ersten
Cinematographen mit ihren bewegten Bildern und der zauberhaften Laterna Magica ist
genauso inspirativ wie die Wildwest-Romane Karl Mays.
Ebenso wie das von ihm so genannte "Wildwest am Rhein" in der noch jungen
Arbeiterstadt Ludwigshafen, die in ihrem atemberaubenden Wachstum nahezu
amerikanische Ausmaße hat, oder die abenteuerliche Welt des Rheinhafens, wo
weitgereiste Seeleute haarsträubende Geschichten von exotischen Ländern erzählten.
Nicht zu vergessen die Welt des Märchens und seiner Luftschlösser. Das seien aber
Luftschlösser, betont der Autor, "in guter Luft". Als der Bauer noch in Leibeigenschaft lag,
sinniert Bloch, eroberte so der arme Märchenjunge des Königs Tochter, und als die
gebildete Christenheit vor Hexen und Teufeln zitterte, betrog der Märchensoldat Hexen
2 Ernst Bloch: Aufzeichnungen zur Theorie des noch-nicht-Bewußten, Garmisch 1911 (begonnen
1907),
3 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, Vorwort, GA5, S. 1
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und Teufel von Anfang an.4
Für den angehenden Philosophen bleibt gültig festzuhalten: Das Luftschloss ist richtig. Es
stamme zu guter Letzt aus dem Goldenen Zeitalter und wolle auch wieder in ein solches
zurück, ins Glück also, "das von Nacht zu Licht dringt." "Derart schließlich, daß dem
Bourgeois das Lachen vergeht und dem Riesen, der heute Großbank heißt, der Unglaube
an die Kraft des Armen."5 Hier also dringt sie doch durch, die revolutionäre Stimme des
marxistischen Denkers, der um 1900 in Ludwigshafen und Mannheim ein eindrucksvolles
Anschauungsbeispiel vor Augen hatte für den Fabrikschmutz, das todmüde, ausgebeutete
Proletariat auf der einen Rheinseite und auf der anderen im beschaulichen Mannheim die
bürgerliche und die großbürgerliche Welt des Kapitals, die in der Gründerzeit profitierte.
Blochs Hoffnungsphilosophie, seine Philosophie des Anfangs geht aber weit über solche
sozialkritischen Positionen hinaus, denn sie tranzendiert jede Form einer immer
unvollkommenen und verbesserungswürdigen Welt, ihre Realität hier und jetzt.
"Ich bin.", schreibt Bloch, "Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst."6
Aufbruchstimmung. Morgenröte. Der Dämmer nach vorwärts. Terra incognita. Entwürfe für
eine bessere Welt. Bloch selbst macht sich im Sinne eines Mottos für sein Werk die
Abschiedsworte des Marquis Posa an die Königin in Schillers Drama: "Don Karlos"
zueigen, die da lauten: "Sagen Sie ihm, daß er für die Träume seiner Jugend soll Achtung
tragen, wenn er (ein) Mann sein wird." Und Bloch fügt hinzu: "Genau das wollte ich auch."7
*****
Literatur:
Werke:
− Ernst Bloch: Gesamtausgabe, Frankfurt am Main 1959 f
− Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines
Schaffens, Münchener Ausgabe, München 1985
− Thomas Hobbes: Leviathan, Stuttgart 2014
− Thomas Mann: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Zweite
durchgesehene Auflage, S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1974
− Nietzsche: Werke, Kritische Gesamtausgabe, hrsg. v. Giorgio Colli und
Mazzino Montinari, Berlin/ NY 1995
− Platon: Sämtliche Werke, Rowohlt Klassiker, Hamburg 1989
− Jean-Jacques Rousseau: Oeuvres complètes, Raymond Trousson/Frédéric
S. Engeldinger, Genève 2012
− Arthur Schopenhauer: Werke in fünf Bänden nach der Ausgabe letzter
Hand, hrsg. v. Ludger Lütkehaus, Haffmans Verlag Zürich 2006
− Seneca: Von der Seelenruhe. Philosophische Schriften und Briefe, hrsg. und
aus dem Lateinischen übertragen von Heinz Berthold, Frankfurt am Main
(Insel) 2002
4 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, GA5, Kap. 27: "Bessere Luftschlösser in Jahrmarkt und Zirkus, in
Märchen und Kolportage", S. 411
5 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, GA5, Kap. 27, S. 428
6 Ernst Bloch: Spuren (1930), GA1
7 Ernst Bloch: Werke, GA 4, S. 21
10
− Anne Weber: Im Anfang war, Frankfurt am Main 2012
Forschungsarbeiten:
− Emil Angehm (Hrsg.): Anfang und Ursprung. Die Frage nach dem Ersten in
Philosophie und Kulturwissenschaft, Colloquium Ruricum Band 10, Walter
de Gruyter, Berlin/NY 2007
(Teil 1, Sonntag, 24. Januar, 8.30 Uhr)
*****