SWR2 Wissen: Aula : Wilhelm Schmid : Vertrauen - Die Basis des sozialen Miteinanders . Redaktion: Ralf Caspary Online: Susanne Paluch . Stand: 29.12.2019

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Selbst - Vertrauen . W. Schmid
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SWR2 Wissen: Aula : Wilhelm Schmid : Vertrauen - Die Basis des sozialen Miteinanders . Redaktion: Ralf Caspary Online: Susanne Paluch . Stand: 29.12.2019

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Quelle: SWR2 2019 https://www.swr.de/swr2/programm

Anmoderation:
Moderne Identität
Mit dem Thema „Vertrauen – Die Basis des sozialen Miteinanders.“ Am Mikrofon: Ralf Caspary.
Vertrauen ist wissenschaftlich schwer zu fassen, es ist ein eher diffuses Gefühl, obgleich es Basis unseres sozialen Miteinanders ist. Wir vertrauen Institutionen, Firmen, Produkten, Schulen, Lehrern, Eltern, den Kindern und dem Partner. Wir wollen ständig Vertrauen gewinnen und es auf keinen Fall verlieren. Der Philosoph Wilhelm Schmid aus Berlin erklärt, was Vertrauen ist, warum es so wichtig ist und warum wir in einer Kultur wachsenden Misstrauens leben.
Sich auf andere verlassen können - Vertrauen ist ein Grundpfeiler des sozialen Miteinanders. Der Philosoph Wilhelm Schmid über die Frage, was Vertrauen ist und weshalb es früher leichter war, Vertrauen aufzubauen.

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Der Vortrag von Wilhelm Schmid auf einen Blick:
Was ist Vertrauen und wie entsteht es?
Die Frage des Vertrauens berührt alle Bereiche des Lebens. Wie eine Welt ohne jedes Vertrauen aussähe, ist schon zu ahnen. Ich könnte keinen Bus, keinen Zug, kein Flugzeug mehr besteigen, denn ich müsste befürchten, nicht mehr zuverlässig ans Ziel gebracht zu werden.
Was ist Vertrauen? Mich auf Andere, auf Dinge und Verhältnisse verlassen zu können. Darauf hoffen zu dürfen, dass mir und vertrauten Anderen nichts Schlimmes widerfährt, wenn aber doch, dass es gut zu bewältigen ist.
Vertrauen entsteht
•durch den Vorgang der Widerspiegelung, wenn Menschen in sich das Vertrauen widerspiegeln, das sie bei Anderen wahrnehmen;
•sodann kommt es auf den Weg der Erfahrung an. Ist mir nichts Schlimmes widerfahren, ist meine Zuversicht groß, dass dies auch weiterhin so bleiben wird;
•zusätzlich oder ersatzweise zu diesen beiden Arten der Entstehung von Vertrauen kann ein Prozess der Prüfung in Gang gesetzt werden;
•der Sprung ins Vertrauen: "Jetzt vertraue ich einfach mal!". Viele Beziehungen werden so begründet.
Der Faktor Zeit
Vertrauen wächst und gedeiht auf dem Boden sorgsam behandelter Beziehungen, die ihre Tragfähigkeit im Laufe der Zeit unter Beweis stellen. Es braucht Geduld und Ausdauer, dass man miteinander vertraut werden kann.
Das ist allerdings ein Element, das von der Grundstruktur der Moderne gerade nicht begünstigt wird.
 Hektik, Langzeitbelichtung
Sie will von alten Geschichten nichts wissen, es zählt nur das Neue und Neueste, das aber zwangläufig unbekannt und somit beunruhigend ist.
Alle Versuche, Vertrauen zu schaffen, finden an den Eigenheiten dieser Zeit ihre Grenzen. Vertrauen wird zur knapper werdenden gesellschaftlichen Ressource.
Das moderne Problem mangelnder Vertrauensbasis gräbt sich tief in das Individuum ein und wird in ihm selbst am stärksten erfahrbar. Die misstrauische Selbstüberwachung, die im Laufe der abendländischen Kulturgeschichte erlernt worden ist und in der Selbstoptimierung neu auflebt, verstärkt diesen Effekt noch.
Die Rolle der Identität
Eine Identität, ein Sich-selbst-gleich-Bleiben, wie es unter vormodernen Bedingungen noch ohne Weiteres möglich war, wird in der modernen Zeit des Immerneuen von Grund auf unmöglich.
Das aber hat zur Folge, nicht mehr so recht zu wissen, wer oder was das eigene Selbst ist, also auch auf sich selbst nicht mehr vertrauen zu können. Vertrauensvolle Beziehungen zu Anderen kommen auf diesem wankenden Grund nicht mehr zustande.
Der Ansatzpunkt zu einer Stärkung des Vertrauens auf dem Weg in eine veränderte Moderne ist jedoch ebenfalls beim eigenen Ich zu finden.
Bei aller Bereitschaft zu Veränderungen kann ich Punkte meiner Beharrung definieren. So wird anstelle der verlorenen Identität eine verlässliche Integrität möglich. Selbstvertrauen entsteht.
Mit wachsendem Selbstvertrauen wächst die Fähigkeit, Anderen zu vertrauen und deren Vertrauen zu gewinnen.

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MANUSKRIPT
Wilhelm Schmid:
Da ich Philosoph bin, will ich mich gleich vorweg kritisch selbst fragen, ob ich als solcher zur Frage des Vertrauens etwas beizutragen habe. Gehört das nicht ins Feld der Psychologie, vor allem in die Unterabteilung Wirtschaftspsychologie? Sollte nicht auch die Politologie bereits im Grundstudium Kenntnisse dazu vermitteln? Möglicherweise, aber Philosophen verfügen über eine historische Erfahrung, die

nicht zu verachten ist: Sie haben großes Vertrauen in die Wahrheit gesetzt, meist ihre eigene. Die Erfahrungen, die damit zu machen waren, haben dazu geführt, dass allzu forsche Behauptungen von Wahrheit nicht mehr sehr populär sind, weder in der Philosophie noch sonstwo. Eine Folgerung daraus ist, sich mehr in der Skepsis zu üben. Skepsis hat mit einem Mindestmaß an Misstrauen zu tun, doch dazu später mehr.
Erst einmal gilt alle Aufmerksamkeit dem verlorenen Vertrauen, beispielsweise bei Banken, die das Misstrauen ihrer Kunden beklagen, oder Pharmaunternehmen, die die Ablehnung von vertrauenswürdigen Insektenvernichtungsmitteln nicht verstehen. Auf dem alltäglichen Kampffeld der Ernährung wissen viele nicht mehr, welchen Lebensmitteln überhaupt noch zu trauen ist. Im politischen Raum misstrauen viele junge Menschen allen, die den gravierenden Folgen der Klimaveränderung mit Nichtstun begegnen. Die Frage des Vertrauens berührt alle Bereiche des Lebens. Dass Vertrauen unverzichtbar ist, weiß jede und jeder. Dass ein allzu großes, ja, blindes Vertrauen wesentlich am Entstehen von Vertrauenskrisen beteiligt ist, gestehen nicht alle sich ein. Es verhält sich eben nicht so einfach mit dem Vertrauen, das lehrt schon die alltägliche Erfahrung in menschlichen Beziehungen.
Die Beziehungen der Liebe, der Freundschaft und der Kollegialität leben vom Vertrauen. Wo ein Mindestmaß an Vertrauen möglich ist, kann es mehr Kooperation und viel Verlässlichkeit geben, die Kommunikation fällt leichter und aufwändige Kontrollen können entfallen. Das bringt für die Beteiligten größere Bewegungsspielräume und vielfältigere Möglichkeiten des Lebens. Wo hingegen nicht der kleinste Lichtblick an Vertrauen sich zeigt, wird das Leben schwer, der Bewegungsspielraum klein. Würde das um sich greifen, könnte sich jede bejahenswerte Form von Gemeinschaft und Gesellschaft auflösen. Eingeschlossen in ein Verlies, in dem jeder ständig vor jedem auf der Hut sein müsste, wären alle damit beschäftigt, sich wechselseitig zu verdächtigen, zu kontrollieren und zu verfolgen.
Wie eine Welt ohne jedes Vertrauen aussähe, ist bei dessen Irritation schon zu ahnen. Ich könnte keinen Bus, keinen Zug, kein Flugzeug mehr besteigen, denn ich müsste befürchten, nicht mehr zuverlässig ans Ziel gebracht zu werden. In der modernen Gesellschaft, deren kalte Funktionalität oft geschmäht wird, kann immerhin noch in relativ hohem Maße auf das zuverlässige Funktionieren von Menschen, Dingen und Systemen vertraut werden. Und doch kommt gerade dort, wo in einem solchen Maß auf Vertrauen gesetzt werden darf, auch dessen möglicher Verlust empfindlich ins Spiel, ausgelöst von der kleinsten Unstimmigkeit. Das Vertrauen scheint eine komplizierte Angelegenheit zu sein.
Was ist Vertrauen? Mich auf Andere, auf Dinge und Verhältnisse verlassen zu können. Darauf hoffen zu dürfen, dass vor allem die Macht, die Andere über mich ausüben können, nicht missbraucht wird, und dass mir und vertrauten Anderen nichts Schlimmes widerfährt, wenn aber doch, dass es gut zu bewältigen ist. Auf dieser Basis können Menschen sich in Beziehungen heikle und intime Dinge anvertrauen, ohne einen Missbrauch des Wissens darüber befürchten zu müssen. Aber kann ich auch einer Abhördose wie Alexa vertrauen?
Wem kann ich vertrauen und wem nicht? Diese Frage durchzieht das gesamte Leben, berührt sämtliche Bereiche und Ebenen des menschlichen Umgangs
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miteinander und bezieht sich auf Personen, Institutionen und Techniken. Sie betrifft Liebende und Freunde, Eltern und Kinder, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Manager und Mitarbeiter, Kollegen untereinander, Produzenten und Konsumenten, Bankberater und ihre Kunden, Ärzte und ihre Patienten, Kirchen und ihre Mitglieder, Parteien und ihre Wähler, Medien und ihre Nutzer, Staaten und ihre Bürger. Und aufs Neue stellt sich die Frage des Vertrauens bei Begegnungen und Informationen im virtuellen Raum.
Selbst dann, wenn grundsätzlich vertraut werden kann, verlangt die Frage nach weiterer Präzisierung: In welcher Hinsicht kann ich vertrauen, in welcher nicht? Denn auch der eigentlich verlässliche Mensch kann sich mit der Einhaltung von Terminen schwer tun. Und wer im Fachlichen vertrauenswürdig ist, ist es nicht zwangsläufig auch im Privaten. Wer sich in einer Lebensphase als vertrauenswürdig erweist, ist es nicht unbedingt in einer anderen. Und so, wie in manchen Situationen die Offenheit vertrauenswürdig ist, ist es bei anderen Gelegenheiten eher die Verschwiegenheit.
Auffällig ist: Vertrauenswürdig wollen alle sein, in jeder Hinsicht. Offenkundig handelt es sich um einen besonderen Aspekt der allgemeinen Würde des Menschen, denn alle fühlen sich gewürdigt, wenn ihnen und der Sache, die sie vertreten, Vertrauen geschenkt wird, sowie entwürdigt, wenn nicht. Schon bei Kindern ist das so: „Du vertraust mir nicht!“ So beklagen sie sich bei den Eltern, die nur mal nachsehen wollten, ob das Kind seine Hausaufgaben gemacht hat. Mangelndes Vertrauen macht unglücklich, denn es bringt eine fehlende Wertschätzung zum Ausdruck, zumindest wird es so verstanden. Vertrauen hingegen macht glücklich, denn es lässt einem Menschen die Wertschätzung zukommen, die er oder sie für angebracht hält. Noch besser, wenn das Vertrauen Ausdruck einer außerordentlichen Hochschätzung ist. Ein Verzicht auf Machtausübung kann damit verbunden sein, um etwa einem Mitarbeiter zu vertrauen und seiner Freiheit und Eigenverantwortung Raum zu geben.
Das Vertrauen, das einem Menschen geschenkt wird, wirkt wie ein Muntermacher. Es stärkt dessen Vertrauen in sich selbst und seine Fähigkeiten ungemein. Er traut sich etwas zu und macht die Erfahrung, selbst etwas bewirken zu können. Das passiv erhaltene Vertrauen wird in ein aktives, eigenständiges umgewandelt und sorgt für einen Motivationsschub ersten Ranges. Es ermöglicht auch, sich Anderen zu öffnen, eigene Einstellungen zu überdenken, Probleme anzugehen und überhaupt große Anstrengungen auf sich zu nehmen, ausgestattet mit Kräften, die nicht mehr nur die eigenen sind. Sehr viel Mut, Zuversicht und Kreativität wird auf diese Weise frei. Das neu gewonnene Selbstvertrauen befördert wiederum das aktive Vertrauen gegenüber Anderen, das diesen nun als passiv erhaltenes zur Verfügung steht und deren Selbstvertrauen stärkt …, ein Perpetuum mobile.
Aber wie ist der Anfang dazu zu machen? Dass Menschen überhaupt vertrauen können, kommt auf verschiedenen Wegen zustande. Vertrauen entsteht durch den Vorgang der Widerspiegelung, wenn Menschen in sich das Vertrauen widerspiegeln, das sie bei Anderen wahrnehmen, vornehmlich bei Eltern, Geschwistern, Freunden, Idolen, auch Vorgesetzten und sonstigen Autoritäten. Möglich ist außerdem die Vorstellung von einem Vertrauen Gottes, solange der Glaube an ihn nicht erschüttert ist. Aus Widerspiegelung geht das so genannte Grundvertrauen und viel gerühmte „Urvertrauen“ hervor.
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Sodann kommt es auf den Weg der Erfahrung an. Ist mir nichts Schlimmes widerfahren oder konnte ich es, wenn doch, gut bewältigen, ist meine Zuversicht groß, dass dies auch weiterhin so bleiben wird. Erfahrung gibt zudem den Ausschlag dafür, dass Andere mir vertrauen, denn einem erfahrenen Menschen wird vieles zugetraut und anvertraut. Er kennt die Regelmäßigkeiten und Unregelmäßigkeiten des Lebens und der Dinge und weiß wahrscheinlich gut damit umzugehen.
Zusätzlich oder ersatzweise zu diesen beiden Arten der Entstehung von Vertrauen kann ein Prozess der Prüfung in Gang gesetzt werden. Er dient dazu, über fragliche Menschen, Dinge und Verhältnisse Auskünfte einzuholen, Zeugnisse heranzuziehen, Gutachten erstellen zu lassen und im direkten Gespräch einen Eindruck zu gewinnen, ob vertraut werden kann.
Allerdings erbringen auch noch so penible Prüfungen keine letzte Gewissheit über künftige Erfahrungen, so dass zuletzt nur der Sprung ins Vertrauen übrig bleibt. Er fällt leicht, wenn bisher schon gute Erfahrungen gemacht worden sind und der Mensch, um den es geht, sympathisch erscheint. Er fällt besonders leicht, wenn der Andere dem Selbst Zuwendung, Zuneigung, Interesse und Verständnis entgegenbringt, aber es ist nicht immer leicht zu erkennen, ob das echt ist. Möglich ist außer dem unwillkürlichen auch der willentliche Sprung ins Vertrauen, der so genannte Vertrauensvorschuss als Wette auf die Zukunft: „Jetzt vertraue ich einfach mal!“ Viele Beziehungen werden so begründet.
Anfänglich und immer von Neuem sind es Besonderheiten der Haltung und des Verhaltens eines Menschen, die Vertrauen erwecken: Der offene Blick, die verhaltene Gestik, die sonore Stimme, die sorgfältige Formulierung, das Zuhörenkönnen, das Eingehen auf Wünsche. Das Vertrauen wird größer durch Einfühlung, Anerkennung, Ermutigung, Bestärkung, die einem Menschen geschenkt werden. Es wächst auch, wenn ein Anderer mich um Hilfe bittet und sich mir anvertraut, oder durch seine eigene Hilfsbereitschaft. Dort kann ich vertrauen, wo eine Orientierung an Werten und die Konzentration auf eine Sache erkennbar ist, wo ein gutes Erinnerungsvermögen Verlässlichkeit verbürgt, und auch dort, wo die Nähe eines Menschen beruhigend wirkt und dessen Humor erwarten lässt, dass nichts Schlimmes droht.
Gemeinsamkeiten sind hilfreich: Demselben Geburtsjahrgang anzugehören, ähnliche Erfahrungen gemacht zu haben, dieselbe Musikrichtung zu mögen, gleiche Interessen zu hegen, mit den gleichen Schwierigkeiten befasst zu sein. Vertrauen wächst und gedeiht auf dem Boden sorgsam behandelter Beziehungen, die ihre Tragfähigkeit im Laufe der Zeit unter Beweis stellen. Es geht einher mit Gewohnheit, Selbstverständlichkeit, Verlässlichkeit, Beharrlichkeit, Berechenbarkeit, Wahrhaftigkeit, durchschaubaren Entscheidungsprozessen und einer Entsprechung von Worten und Taten, Behauptungen und Tatsachen. Wenn Regeln, Absprachen und Verabredungen eingehalten werden, nicht nur einmalig, sondern wiederholte Male, verfestigt sich Vertrauen. Wo aber auf keine Absprache Verlass ist, steht es in Frage. Auf dieser Basis kann Vertrauen zum Medium werden, das die Verhältnisse zwischen Menschen regelt und ihre persönliche Entwicklung fördert.
Als entscheidend erweist sich, dass Vertrauen vorzugsweise mit der Zeit entsteht: Es braucht Geduld und Ausdauer, um Anlass zur Vermutung zu geben, dass vertraut werden kann. Erst im Laufe der Zeit entsteht die Gewissheit, dass aus vergangenen
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Erfahrungen auf künftige geschlossen werden darf. Das ist allerdings ein Element, das von der Grundstruktur der Moderne gerade nicht begünstigt wird. Sie will von alten Geschichten nichts wissen, es zählt nur das Neue und Neueste, das aber zwangläufig unbekannt und somit beunruhigend ist. Ein Anbieter macht mein altes Handy madig, das sich bewährt hat. Ich soll das Neueste kaufen, aber was ist, wenn es nicht gut funktioniert? Dass häufig Produkte auf den Markt gebracht werden, die noch nicht ausgereift sind, führt zu einem strukturellen Verlust von Vertrauen.
Alle Versuche, Vertrauen zu schaffen, finden an den Eigenheiten dieser Zeit ihre Grenzen. Mit systemimmanenter Notwendigkeit werden daher immer neue flehentliche Appelle erforderlich, doch Vertrauen zu haben: In die Liebe, die Politik, die Marktwirtschaft, die Konjunktur, die Zukunft, die Redlichkeit von Unternehmen, die Technik, die gentechnisch veränderten Lebensmittel ... Die Dringlichkeit der Appelle und ihre schiere Zahl vermitteln einen Eindruck davon, welche Bedeutung dem Vertrauen zukommt – und dass es wohl gute Gründe dafür gibt, es nicht gedankenlos zu gewähren. Vertrauen wird zur knapper werdenden gesellschaftlichen Ressource, mit spürbaren Konsequenzen für das individuelle Leben.
Kaum einem fällt noch auf, dass die eigene Haustür nach der Auflösung vormoderner Vertrauensverhältnisse kein Zugang zur Welt mehr ist, der immer offenstehen kann, sondern eine hochgezogene Zugbrücke der heimischen Burg gegen die anonyme Bedrohlichkeit der modernen Zeit darstellt. Schmerzlicher ist, dass insbesondere die Beziehung zwischen zweien nach der Befreiung von alten Zwängen kein Bund fürs Leben mehr sein kann, nur noch einer „bis auf Weiteres“, die Verabredungsapp Tinder lockt schon. Auf die aufkommende Verunsicherung reagieren nicht wenige Menschen, indem sie wider besseres Wissen blind vertrauen, mit fatalen Folgen, wenn das Vertrauen enttäuscht wird.
Wo so viele vertraute Beziehungen zerbrechen, leidet auch die des Einzelnen zu sich selbst. Das moderne Problem fehlender Beharrung und somit mangelnder Vertrauensbasis gräbt sich tief in das Individuum ein und wird in ihm selbst am stärksten erfahrbar. Die misstrauische Selbstüberwachung, die im Laufe der abendländischen Kulturgeschichte erlernt worden ist und in der Selbstoptimierung neu auflebt, verstärkt diesen Effekt noch. Lange konnte das Selbstvertrauen eines Menschen eine Funktion seines Gottvertrauens sein, so lange nämlich, wie er sich als Kind Gottes verstehen konnte, von ihm akzeptiert, in welcher Verfassung auch immer, von ihm geführt, wohin auch immer.
Aufgrund des Befreiungsprojekts aber steht dem modernen Menschen dieser metaphysische Rückhalt nicht mehr zur Verfügung, und sobald der Überhang an traditionellem Vertrauen, das aus vormoderner Zeit noch weit in die Moderne hineinragte, abbricht, stürzt er ins Nichts. Eine Identität, ein Sich-selbst-gleich-Bleiben, wie es unter vormodernen Bedingungen noch ohne Weiteres möglich war, wird in der modernen Zeit des Immerneuen von Grund auf unmöglich. An ihre Stelle tritt das Paradigma der Flexibilität, der Veränderung, die ständig stattfinden muss und jedem Einzelnen abverlangt, sich den je aktuellen Gegebenheiten anzupassen. Das aber hat zur Folge, nicht mehr so recht zu wissen, wer oder was das eigene Selbst ist, also auch auf sich selbst nicht mehr vertrauen zu können. Vertrauensvolle Beziehungen zu Anderen kommen auf diesem wankenden Grund nicht mehr zustande.
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Der Ansatzpunkt zu einer Stärkung des Vertrauens auf dem Weg in eine veränderte Moderne ist jedoch ebenfalls beim eigenen Ich zu finden, schon weil ich nicht über Andere, nur über mich selbst umstandslos und ohne Verzug verfügen kann. Bei aller Bereitschaft zu Veränderungen kann ich Punkte meiner Beharrung definieren. So wird anstelle der verlorenen Identität eine verlässliche Integrität möglich. Sie verbürgt eine ausreichende Festigkeit meiner selbst, grundsätzlich veränderbar, ohne ständig verändert zu werden, mit mehr Spielraum für unterschiedliche Aspekte des Ich als bei einer Identität, die ja nicht von ungefähr immer „multipler“ werden muss.
Selbstvertrauen entsteht dort, wo Selbstgewissheit ist. Selbstgewissheit wächst dort, wo ein klar definiertes Selbst ist, das seine inneren Zusammenhänge bewahrt, um sie von Zeit zu Zeit neu zu überdenken. Mit der Einübung entsprechender Gewohnheiten kann ich meine eigene Zuverlässigkeit und Beharrlichkeit stärken, um sie dann auf die Beziehungen zu Anderen zu übertragen. Mit wachsendem Selbstvertrauen wächst die Fähigkeit, Anderen zu vertrauen und deren Vertrauen zu gewinnen. Die Gefahr der Abhängigkeit vom Vertrauen Anderer verringert sich, und das Vertrauen, das mir von Anderen entgegengebracht wird, findet nun den nötigen Gegenhalt: Ich kann es aushalten, dass mir vertraut wird, und empfinde es nicht mehr als unerträgliche Last, der ich mich nicht gewachsen fühle.
Alle Arbeit an mir selbst zielt darauf, den Anteil vertrauensvoller Beziehungen der Liebe, der Freundschaft und der Kollegialität in meinem Leben zu erhöhen. Sinnvoll erscheint auch, das funktionale Vertrauen, dass Menschen zuverlässig ihre Funktion erfüllen, in ein menschlich zugewandtes, kooperatives Vertrauen zu verwandeln, wo immer es möglich ist, schon weil dann vieles besser funktioniert. Das bedeutet, Andere als Menschen statt als Funktionäre zu sehen. Niemand will gerne als bloße Maschine wahrgenommen werden, ich selbst auch nicht.
Mit einer Stärkung des menschlichen Vertrauens ist das Grundproblem, das die Moderne systematisch produziert, auf ein lebbares Maß zu reduzieren. Denn es gibt eine signifikante Konjunktur des Misstrauens, die mit dem Prozess des Fortschritts einhergeht. Misstrauen ist keine Erfindung der Moderne, es ist ein altes Phänomen, das aber von Zeit zu Zeit seine Erscheinungsform variiert. War es einst die Willkür der Macht und mitunter auch des Rechts, die misstrauisch machte, so ist es in der Moderne die unablässig drohende Veränderung, die dafür sorgt, dass auf bewährte Verhältnisse, die aus Erfahrung Vertrauen verdienen, nicht mehr gebaut werden kann: Schon morgen wird alles wieder ganz anders sein.
Vertrauen entsteht neu, wenn die Arbeit daran als eigene Aufgabe begriffen wird, die ebenso viel Aufmerksamkeit beansprucht wie jede andere Art von Arbeit. Wichtig dafür ist jedoch das Wissen, wie verloren gegangenes Vertrauen zurückgewonnen werden kann: nicht in einem einzigen Moment, nur mit längerem Atem, beginnend bei der Arbeit an mir selbst, die mein Wohlwollen für Andere, dann deren Wohlwollen für mich wieder möglich macht. Ich will Anderen wohl, indem ich mich um Verständnis für ihre Sichtweisen bemühe und ihnen wiederholt gerade dort entgegenkomme, wo es ihnen besonders wichtig ist. Diese Arbeit endet nie, denn Vertrauen wird nicht ein für alle Mal erworben. Ein angehäuftes „Vertrauenskapital“ kann, wie jedes andere Kapital, jederzeit wieder verspielt werden.
Die neue Arbeit am Vertrauen zielt nicht mehr darauf, das Ideal völliger Vertrauensseligkeit zu erreichen. Es kommt darauf an, sich selbst und Andere nicht
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ins Gefängnis eines blinden Vertrauens einzuschließen, das keinerlei Abweichung und keine überraschende Entwicklung mehr erlauben würde. Ein allzu großes Vertrauen öffnet nur dessen Missbrauch Tür und Tor, denn dem, der nie misstraut, kann alles zugemutet werden. Ungute Entwicklungen, die keiner gewollt hat, werden ausgerechnet von guten Menschen befördert, die keinerlei Argwohn hegen. Der eigentliche Auslöser der weltweiten Finanzkrise von 2008 war das blinde Vertrauen vieler Menschen in die Banken, denen niemand mehr auf die Finger sah, so dass sie aberwitzige Geschäfte machen konnten.
Der Sinn des Misstrauens erschließt sich, wenn es für einen Moment „weggedacht“ wird: Wäre es wirklich ein besseres Leben, eine bessere Welt, wenn es keinerlei Misstrauen gäbe, also alle Menschen sich und Anderen stets vertrauen könnten und niemand gegen niemanden etwas im Schilde führen würde? Eine Welt, in der es ausgeschlossen wäre, jemals hintergangen zu werden, könnte eine harmlose, langweilige Welt mit einem Leben ohne jede Spannung sein, das zugleich sehr bedroht wäre: Die kleinste Irritation würde unversehens und unverhältnismäßig auf den Zusammenhalt des Ganzen durchschlagen. Die Kontrasterfahrung, die den Wert des Vertrauens erst fühlbar macht, würde ersatzlos entfallen. Die Kreativität, zu der keineswegs nur das Vertrauen, sondern auch das Misstrauen antreibt, würde versiegen, ebenso die Motivation, die sich dem Misstrauen eines Anderen verdankt, „es ihm mal zu zeigen“. Eine Auseinandersetzung mit dem „Kleingedruckten“ des Lebens fände nicht mehr statt, denn das Vertrauen sieht großzügig darüber hinweg, während das Misstrauen stets die vermeintlichen Kleinigkeiten im Blick hat, in denen das große Ganze auf dem Spiel steht.
Angesichts dessen drängt sich der Eindruck auf, dass es inhuman ist, absolutes Vertrauen vorauszusetzen, um sodann jeden Haarriss in einer Beziehung als absoluten Vertrauensbruch abzustrafen. Human ist es hingegen, grundsätzlich von einer Basis des Vertrauens auszugehen und gelegentliche Einbußen und Enttäuschungen mit einzukalkulieren. Wenn alle Blicke sich nur darauf richten, verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen, gerät die Bedeutung des Misstrauens leicht außer Blick. Misstrauen hat dort Sinn, wo es am Platz ist. Es ist dort am Platz, wo Vertrauen Dummheit wäre.
Zu praktizieren ist das minimale Misstrauen am besten in Form von Vorsicht, um Probleme frühzeitig wahrzunehmen und rechtzeitig Antworten auf Herausforderungen vorzubereiten: Vorsicht etwa beim Verleihen von Dingen, denn das Vertrauen auf Rückgabe ist meist fehl am Platz. Vorsicht bei der Preisgabe intimer Informationen in Beziehungen, erst recht im digitalen Raum, denn wenn es Gelegenheit zum Missbrauch gibt, wird sie irgendwann auch genutzt. Vorsicht, wenn es angeblich „nur um die Sache geht“, denn es geht nie nur um Sachen, immer auch um Personen, und diesen meist um Macht. Vorsicht, wenn ein Mensch behauptet, es gehe ihm niemals um Macht, denn gerade ihm geht es um nichts Anderes. Vorsicht auch, wenn einer zuviel vom Vertrauen spricht: Er könnte ein Interesse daran haben, mich einzuschläfern. Vorsicht, wenn eine ganze Flut von Vertrauensbeweisen hereinbricht: Es handelt sich wohl um einen Versuch zur Überwältigung. Vorsicht letztlich gegenüber einer Kultur, die das Misstrauen theoretisch missachtet, praktisch aber befördert, mit immer neuen Versprechungen, die sich als uneinlösbar erweisen: Immerwährender Fortschritt, Aufhebung aller Widersprüche, universelles Glück, alles wird total positiv. Wo es Anlass zum Misstrauen gibt, ist blindes Vertrauen reiner Leichtsinn.
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Sinnvoll erscheint demgegenüber, einen maßvollen Pegel des Misstrauens aufrecht zu erhalten, schon um die Anfälligkeit für Enttäuschungen abzumildern und das Bewusstsein für den Wert des Vertrauens zu stärken. Ein Mindestmaß an Misstrauen erscheint angebracht, da das Vertrauen die vielfältigen Beziehungen zwischen Menschen keineswegs nur vereinfacht, nicht immer also „ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität“ ist, wie der Soziologe Niklas Luhmann 1968 meinte. Beziehungen werden vielmehr schwieriger, wenn ein allzu großes Vertrauen unliebsame Konsequenzen nach sich zieht, die mit ein wenig Misstrauen zur rechten Zeit zu verhindern gewesen wären. Nicht nur ein zu großes Misstrauen macht Stress, sondern auch ein unangebrachtes Vertrauen.
Entscheidend ist, das richtige Maß zu finden: Ein Untermaß an Misstrauen ist Leichtsinn, ein Übermaß löst jede bejahende Beziehung auf. Im langen Prozess der Erfahrung und Besinnung entsteht erst ein Gespür dafür, in welcher Situation bei welchem Gegenüber welches Maß an Vertrauen und Misstrauen angemessen ist. Vertrauen kann das Leben erleichtern, aber ein wohldosiertes Quantum an Misstrauen sorgt dafür, dass die Erleichterung nicht unversehens das Leben erschwert. Vertrauen hat weiterhin Sinn, wenn das Misstrauen nicht gänzlich missachtet wird.
Im Alltag ergänzt eine gesunde Skepsis das Vertrauen, auch ohne konkreten Anlass, um im Zweifelsfall nicht „aus allen Wolken zu fallen“, sondern das Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen. Die Skepsis verhindert das Übermaß an Vertrauen, das sich plötzlich in ein Übermaß an Misstrauen verkehrt. Auch ein sehr großes Vertrauen muss kein restloses sein. Die Pflege der Skepsis erfordert kein ständiges, aufwendiges Kontrollieren, nur ein beiläufiges, unaufdringliches Draufschauen in verlässlicher Regelmäßigkeit. Auf die Dinge und Verhältnisse von Zeit zu Zeit „ein Auge zu haben“, ist eine Methode, für ihre Verlässlichkeit Sorge zu tragen.
Wünschenswert wäre ein Grundvertrauen, das grundsätzlich gilt, aber einen Hauch von Misstrauen mit umfassen kann: Ein Grundvertrauen auch zwischen zweien, das groß genug ist, um sich wechselseitig sehr viel Freiraum gewähren zu können. Dann muss nicht mehr ständig um die Beziehung gefürchtet werden, da bei aller erhofften Zuverlässigkeit eine gelegentliche Unzuverlässigkeit nicht gänzlich aus dem Rahmen fällt. Die kleine Unwahrheit, die der gewöhnlichen Polarität des Lebens zuzurechnen ist, muss die Beziehung nicht mehr von Grund auf in Frage stellen. Worte und Taten müssen sich nicht mehr immer „Eins zu Eins“ entsprechen. So werden auch unter modernen Bedingungen wieder die vertrauensvollen Beziehungen möglich, die Menschen fürs Leben brauchen.
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