SWR2 WISSEN: AULA Entfremdung – Ein Phänomen der Moderne und seine Ursprünge (1/2) Von Sabine Appel
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SWR2 WISSEN: AULA Entfremdung – Ein Phänomen der Moderne und seine Ursprünge (1/2) Von Sabine Appel
Sendung: Sonntag, 9. August 2020, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Caspary
Produktion: https://www.swr.de/swr2/programm/index.html
> Entfremdung hat etwas damit zu tun, dass das Individuum zu seiner Außenwelt zur Distanz steht
> Der Philosoph, Schriftsteller und Komponist Jean-Jacques Rousseau entwarf ein zivilisationskritisches Konzept von Entfremdung.
> Entfremdung hat etwas damit zu tun, dass das Individuum zu seiner Außenwelt zur Distanz steht.
ÜBERBLICK
Ursprünge in der Antike
In der spätantiken Gnosis, die die Gotteserkenntnis auf dem Wege der philosophischen Spekulation zu erlangen strebt, gibt es eine Lesart, die sich mit der deutschen Übersetzung des Wortes "Entfremdung" mit der Vorsilbe "ent-", die ja immer einen Vorgang des Wegnehmens oder Rückgängigmachens bezeichnet, sinnfällig dokumentieren lässt.
"Weggenommen" wird hier nämlich nicht das Heil oder die intakte Beziehung zu Gott durch Verstrickungen irdisch-sinnlicher Art, sondern im Gegenteil: Das Pneuma, also der Heilige Geist, löst den erlösungsbedürfigen Menschen aus seiner Befangenheit im trügerischen Erdendasein. Die Fremdheit wird aufgehoben.
Man muss erst das "Fremde" loswerden, abschütteln, überwinden, um die Voraussetzung zu erbringen, Gott zu schauen und mit ihm eins zu werden. Das wirkt dann bis in die Moderne hinein: Das moderne Subjekt muss die Entfremdung aufheben, um wahrhaftig und authentisch sein zu können.
Der Philosoph, Schriftsteller und Komponist Jean-Jacques Rousseau entwarf ein zivilisationskritisches Konzept von Entfremdung.
Imago Imago/Fotograf XY -
Rosseau, der Entfremdungstheoretiker der Moderne
Rousseaus Konzept sagt: Wir leben alle in der Entfremdung, mehr oder weniger, fern von unserem natürlichen Ursprung, wie auch immer dieser einmal ausgesehen hat, der sich irgendwie an der instinkthaften, weitgehend tierischen Daseinsweise der allerersten Formen der Gattung Mensch orientiert. Die Entfremdung ist gewissermaßen eine conditio sine qua non des zivilisierten, vergesellschafteten Menschen.
Auch wenn das Wort: "Entfremdung" damals noch kaum geläufig war, ist die Kulturdiagnose, die damit einhergeht, doch eine ganz entscheidende und eine nachhaltig prägende Wegmarke für das Bewusstsein des Individuums in der Moderne. Es ist zerrissen und seines Ursprungs beraubt, auf der Suche und orientierungslos, auch überfordert mit der Verantwortung eigener Sinnsuche
Leben jenseits der Entfremdung
In-sich-Sein, bei-sich-Sein, authentisch leben, nach einer inneren Gesetzmäßigkeit und idealerweise im Einklang von Innen- und Außenwelt, mit sich und anderen, das wäre das Gegenteil der Entfremdung.
Entfremdung hat etwas damit zu tun, dass das Individuum zu seiner Außenwelt zur Distanz steht. (Foto: Colourbox, Image Source, all rights reserved)
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Es würde auch das Zusammenleben mit anderen Menschen harmonischer machen, wenn man selbst einen stabilen inneren Kompass besitzt. Es wäre Ausdruck einer inneren Autarkie, die nicht getrieben wird von den irrlichternden Affektionen der Außenwelt, die allzu oft in der Verfolgung von Scheinzielen endet, vom Ich-Verlust gar nicht zu reden.
Die entfremdete Arbeitswelt, der sich selbst entfremdete Mensch, entfremdetes Wohnen in der Großstadt, entfremdete Gesellschaftsverhältnisse, Entfremdung in Familien und Paarbeziehungen - der Begriff ist allgegenwärtig und beschreibt zumeist negative Seiten der modernen Gesellschaft. Welche Bedeutung hat „Entfremdung“ für die
Befindlichkeitsanalysen der Gegenwart? Dr. Sabine Appel, Germanistin und Buchautorin mit Schwerpunkt europäische Ideengeschichte, beschreibt die Aktualität des
Die entfremdete Arbeitswelt, der sich selbst entfremdete Mensch, entfremdete
Gesellschaftsverhältnisse – der Begriff beschreibt zumeist negative Seiten der
modernen Gesellschaft. Wo liegen seine geistesgeschichtlichen Wurzeln, was
bedeutet Entfremdung?
INHALT 1
MANUSKRIPT
Anmoderation und Redaktion: Ralf Caspary
Mit dem Thema: „Entfremdung - ein Phänomen der Moderne und seine Ursprünge“,
Teil 1.
Die entfremdete Arbeitswelt, der sich selbst entfremdete Mensch, entfremdetes
Wohnen in der Großstadt, entfremdete Gesellschaftsverhältnisse, Entfremdung in
Familien und Paarbeziehungen - der Begriff ist allgegenwärtig und beschreibt
zumeist negative Seiten der modernen Gesellschaft.
Doch wo liegen seine geistesgeschichtlichen Wurzeln, seit wann wird über
„Entfremdung“ nachgedacht, was bedeutet sie? Die Fragen beantwortet Dr. Sabine
Appel, Germanistin und Buchautorin mit Schwerpunkt europäische Ideengeschichte,
in zwei Teilen, heute im ersten Teil geht es um die Ursprünge in der Antike, im
Mittelalter und der beginnenden Moderne:
Sabine Appel::
Die entfremdete Arbeitswelt, der sich selbst entfremdete Mensch, eine Naturentfremdete
Umwelt, entfremdetes Wohnen in der Anonymität der Großstädte und
Metropolen, entfremdete Gesellschaftsverhältnisse, dysfunktionale Familien und
Partner, die sich einander entfremdet haben - vereinzelte Spuren führen noch heute
im täglichen Sprachgebrauch zu einem Begriff und damit zu einer Befindlichkeit, die
in den 1950er- und 60er-Jahren ihre absolute Hochkonjunktur hatte.
Was hat es auf sich damit? Welche Ursprünge hat der Befund? Und warum erreichte
diese Kulturdiagnose gerade in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine solche
Bedeutung, um das Lebensgefühl einer ganzen Generation zu beschreiben? Welche
gesellschaftlichen Analysen beschäftigten sich mit dem Phänomen oder gingen ihm
sogar historisch voraus? Und schließlich: Welche Bedeutungsfelder hat der Begriff
der Entfremdung noch heute in den Befindlichkeitsanalysen der Gegenwart? Denn
dass er etwas mit Fehlentwicklungen der Gesellschaft und/ oder des Individuums zu
tun hat, das zu seiner Außenwelt in Distanz steht oder bestimmte Entwicklungen sich
nicht zu eigen machen kann, ist dem Begriff inhärent.
Allgemein definiert, bezeichnet Entfremdung einen individuellen oder
gesellschaftlichen Zustand, in dem eine ursprünglich intakte oder als intakt
angenommene Beziehung aufgehoben beziehungsweise zerstört wurde - sei es die
Beziehung von Mensch und Natur, von Mensch und Gott, vom Menschen zu anderen
Menschen oder zu seinem vermeintlich authentischen Selbst.
Diese Vorstellung verweist nicht umsonst auf die Geschichte vom Sündenfall, und sie
hat in der Tat eine zutiefst christologische Grundlage im Narrativ einer Vertreibung
aus dem Paradies, erweitert durch sämtliche, auch antike Vorstellungen eines
Idealzustandes am Anfang der Geschichte: sei es Arkadien, die Zeit der Heroen, das
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Goldene Zeitalter oder das christliche Paradies.
Man findet diesen Verwendungszusammenhang in der christlichen Theologie, in der
Gnosis, bei Augustinus, im Neuplatonismus, bei Thomas von Aquin, bei dem Mystiker
Meister Eckhart und bei Bonaventura, wobei die lateinischen und die griechischen
Termini (Lateinisch: "alienatio" = "Entäußerung") in einem heilsgeschichtlichen
Kontext verwendet werden, also um die Entfremdung mit Hilfe der Gottesbegegnung
zu heilen.
So bemerkenswert der juristische Bedeutungsgehalt in dem Ursprungswort
"Entäußerung" ("alienatio") auch ist - und in diesem Sinne, also in der Bedeutung des
Übergangs einer Sache aus einer Verfügungsgewalt in eine andere, etwa im Falle
einer Entäußerung von Besitz und Recht, wird das Wort zum Beispiel in der
vorchristlichen Zeit der Antike von Aristoteles und von Cicero gebraucht. So
augenfällig ist auf der anderen Seite seine implizite Doppeldeutigkeit. Das Wort wird
nämlich im theologisch-mystischen Kontext, in nachgerade gegensätzlicher
Bedeutung verwendet. Neutestamentlich steht die "Entäußerung" ("alienatio") für
Gottesferne und Ungläubigkeit, Unwissenheit und Verblendung. In der spätantiken
Gnosis aber, die die Gotteserkenntnis auf dem Wege der philosophischen
Spekulation zu erlangen strebt, gibt es zum Beispiel auch eine Lesart, die sich mit
der deutschen Übersetzung des Wortes "Entfremdung" mit der Vorsilbe "ent-", die ja
immer einen Vorgang des Wegnehmens oder Rückgängigmachens bezeichnet,
sinnfällig dokumentieren lässt.
"Weggenommen" wird hier nämlich nicht das Heil oder die intakte Beziehung zu Gott
durch Verstrickungen irdisch-sinnlicher Art, sondern im Gegenteil: Das Pneuma, also
der Heilige Geist, oder wie es in der gnostischen Sprache heißt, der "Funke", löst den
erlösungsbedürftigen Menschen aus seiner Befangenheit im trügerischen
Erdendasein mit seinen mannigfachen Versuchungen und führt ihn durch die
Ausrichtung auf das Jenseits zum Heil, zur pneumatischen Wiedergeburt. Also: Die
Fremdheit wird aufgehoben, "Entfremdung" bedeutet den Weg zur Erlösung.
Hier begründet sich gleichsam eine ganze theologisch-mystische Tradition, die in der
"alienatio" eine Vorstufe der Gotteserkenntnis sieht. Man muss erst das "Fremde"
loswerden, abschütteln, überwinden, um die Voraussetzung zu erbringen, das Heil zu
erlangen, Gott zu schauen und mit ihm eins zu werden. Bei dem mittelalterlichen
Mystiker Meister Eckhart, 1260 geboren, finden wir denn auch die erste,
mittelhochdeutsche Form des deutschen Wortes "Entfremdung": "entfrömdekeit".
Und diese ist bei ihm die Voraussetzung des Lebens in Wahrheit. Um das Sprechen
Gottes zu vernehmen, so der Mysiker Meister Eckhart, muss ich ganz entfremdet,
also losgelöst sein von allem, was sonst, man könnte sagen, an Einflüssen der
Außenwelt, die an meine Sinnlichkeit appelliert, in mir ist. Schon der Frühscholastiker
Hugo von St. Viktor, 1141 gestorben, hat das so gesehen. Bei ihm bezeichnet die
"alienatio" die oberste von drei Stufen der "contemplatio", die der Überwindung von
sinnlichen Widerständen und der Öffnung für Erfahrungen dient, welche dem
menschlichen Geist sonst wesensfremd sind. So gesehen, ist die "Entfremdung",
also die Überwindung der Fremdheit, ein Geschenk göttlicher Gnade.
Diese Verwendung des Wortes "Entfremdung" im theologisch-mystischen Kontext
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des christlichen Mittelalters mit all seiner Ambivalenz (frei werden von fremden
Einflüssen oder aber unter den fremden Einflüssen stehen, von Gott entfernt leben
wie etwa die Heiden und andere Ungläubige) hat wenig oder auch gar nichts mit der
viele Jahrhunderte späteren Verwendung des Wortes zu tun, wie sie sich in der
europäischen Aufklärung etablierte. Hier aber wird zunächst die ursprünglich
juristische Bedeutung des Wortes "Entäußerung" reaktiviert, die schon die antiken
Autoren eingeführt hatten. Ich gebe einen Rechtsanspruch ab, übergebe einen
Besitz beziehungsweise ein Recht in die Verfügungsgewalt eines anderen, in diesem
Falle eines Gemeinwesens, tue dies aber freiwillig und erhalte dafür etwas anderes,
zum Beispiel Sicherheit, verbriefte Rechtssicherheit.
Das ist ein Grundgedanke der klassischen Naturrechtsdebatten. Diese basieren auf
der Setzung einer vertraglichen Übereinkunft, wodurch sich das Individuum seiner
natürlichen Freiheitsrechte entäußert, damit eine positive Rechtsordnung etabliert
werden kann, die gesellschaftliche Rechte zu garantieren vermag und damit auch die
Freiheit aller in einem organisierten Gemeinwesen. Die Entfremdung - oder anders
gesagt: die Entäußerung naturgegebener Rechte zur Erlangung einer Freiheit
höheren Grades - stünde damit also in einer untrennbaren Verbindung mit dem
Vergesellschaftungsprozess in der Zivilisationsgeschichte des Menschen, im Grunde
einer unwiederbringlichen Verlustgeschichte, wie sie die Moderne dann auch ein ums
andere Mal konstatiert.
Jean-Jacques Rousseau verwendet das Wort "Entfremdung" (Französisch:
"aliénation") eben in dieser Verbindung. Und das heißt: sowohl in seiner ursprünglich
juristischen Bedeutung im Rahmen des Gesellschaftsvertrags im Anschluss an die
bereits etablierten neuzeitlichen Diskussionen als auch im Zusammenhang mit der
These einer Verlustgeschichte des Menschen durch Zivilisation, wie sie in seinem
Werk nachhaltig konstitutiv werden soll.
Im Unterschied zu seinen Zeitgenossen sowie vielen Denkern der Revolutionsära
(Rousseau selbst starb elf Jahre vor dem Ausbruch der Französischen Revolution)
geht Rousseau in seiner Geschichtsphilosophie nicht vom Aufstieg aus, sondern von
Deszendenz, also Abstieg. Und in diesem Zusammenhang steht auch die Annahme
eines glücklichen Urzustands der vorzivilisatorischen Menschheit, den es nach
Auffassung des Philosophen und Zivilisationskritikers auf die eine oder andere
Weise, und sei es auch nur als Annäherung, wiederzuerlangen gilt, wozu freilich auch
die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen andere sein müssen als die seiner
Gegenwart.
Aber sind Gesellschaften jemals frei von "Entfremdung"? Die Antwort gibt sich von
selbst, und Rousseau gibt bei der Frage nach der Art dieses angenommenen
vorzivilisatorischen "Urzustands", an dem sich Gesellschaften als imaginiertes Ideal
orientieren sollen, zugleich unumwunden zu, dass man dies nicht wissen könne und
dass der Urzustand überhaupt lediglich auf einer Annahme beruhe. Ganz sicher ist er
aber in seinen Augen sehr weit entfernt von der als dekadent empfundenen
Gesellschaftsform seiner Epoche am Vorabend der Französischen Revolution.
Die Annahme eines Gesellschaftsvertrages als Entäußerung seiner ursprünglichen
Freiheitsrechte, soweit geht Rousseau mit seinem Vorgänger Thomas Hobbes auch
d´accord, war und ist ein freiwilliger Akt. Er war und ist auch gewissermaßen
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alternativlos, da sonst kein Staatswesen und auch keine Ordnung in den
Gesellschaften denkbar wäre, seit der Mensch nun einmal nicht mehr als
Einzelgänger, Jäger und Sammler durch die Wälder streift wie in den ersten Tagen
der Menschheit, sondern zunächst im Familien- und Stammesverband und dann in
der Form einer zunehmend ausdifferenzierten und organisierten Gesellschaft.
Was Rousseau von Hobbes aber unterscheidet, und zwar grundlegend, ist das
Menschenbild. Darauf basiert zugleich seine Vorstellung gesellschaftlicher und
politischer Entwicklungsmöglichkeiten, denen aus seiner Sicht ein utopistisches
Moment innewohnt in der Entwicklung hin zu einem "neuen Menschen" in
Gesellschaftsverhältnissen, die ihm die Möglichkeit geben für inneres Wachstum und
für authentisches Leben.
Bei Jean-Jacques Rousseau, der damit auch die Erbsündenlehre hinfällig macht, die
im christlichen Kulturkreis derart dominiert, ist der Mensch ursprünglich gut, und nur
die Gesellschaftsverhältnisse haben ihn korrumpiert.
Prägend für sein Denken ist die Vorstellung eines intakten Urzustands, einer Art
eingeborener stiller Selbstgenügsamkeit im Einklang mit der Natur, da der Mensch im
vorzivilisatorischen Zustand auch die Leidenschaften und das Begehren und folglich
auch das Böse, geboren aus gesellschaftlichen Konkurrenzverhältnissen, noch nicht
kannte, und die Sehnsucht, dahin zurückzukehren, und sei es auch nur
augenblicksweise.
Diese Vorstellung prägt zugleich die gesamte europäische Geistesgeschichte bis auf
den heutigen Tag. Alle Sozialutopien haben hier ihren Ursprung, zuallererst die
politischen Utopien mit dem Ideal einer gerechten Gesellschaft samt ihrer
revolutionären Geschichte, aber auch alle alternativen Bewegungen, von alternativen
Lebensmodellen über die Reformpädagogik und die Vorstellung einer
herrschaftsfreien Erziehung über die Ökologiebewegung bis hin zu den
Aussteigerattitüden zivilisationsmüder Zeitgenossen im postindustriellen Zeitalter.
Je rasanter sich die technologische Entwicklung vollzieht, umso unauthentischer,
umso entfremdeter wird das Leben. Die Metapher vom gläsernen Gehäuse der
Moderne, wie sie das späte 19. Jahrhundert entwickelte, vom Leben in einer
Stahlkonstruktion, für die zum Beispiel auch die Architektur des Pariser Eiffelturms
stand, den wir heute als Wahrzeichen von Paris bewundern, den die Zeitgenossen
aber als stählernes Monster empfanden, als Ungetüm, das die weltberühmte
Metropole verschandelte, ist dafür sinnbildlich. Aber auch in der Hochphase der
Industrialisierung die verwüsteten Landschaften, die rauchenden Schornsteine und
die seelenlose mechanische Arbeit der Massen in den Fabriken. Entfremdung kennt
viele Formen.
Für Jean-Jacques Rousseau war es sein degeneriertes Zeitalter im Spätfeudalismus,
das Nebeneinanderbestehen von Luxus und Armut, die Dekadenz an den
Fürstenhöfen und in der verschwenderischen Lebensweise der Aristokraten, während
weite Teile des Volkes in Armut lebten, in Rechtlosigkeit sowieso, das Stadtleben und
die von schnelllebigen Moden und willkürlich gesetzten äußeren Normen bestimmten
mondänen Gesellschaften, die Scheinwelten und Scheingefechte, die
Verbalakrobatik und hochgezüchtete Atmosphäre voll beißenden Spotts und verbaler
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Vernichtung schließlich auch in der Salonkultur von Paris, die er ablehnte und von
der er sich distanzierte.
Diese Gesellschaft parfümierter Menschen mit Schminke, Spitzenjabot und
Puderperücke, die ihre Rollen in einem Welttheater spielten, das erkennbar dem
Untergang geweiht war, war nur noch durch eine totale Umkehr und Rückkehr zu
heilen - und trotzdem war Jean-Jacques Rousseau entgegen einer weitverbreiteten
Meinung alles andere als ein politischer Revolutionär, der von der Erhebung der
Massen träumte und den Sturm von Paris antizipierte, wenn er ihn auch zweifellos
durch sein Werk anregte.
Seine tendenziell konservativen, auch wertkonservativen Vorstellungen waren eher
bäuerlich-kleinbürgerlicher Natur und beschreiben so etwas wie das kleine Glück,
das nicht-entfremdete Leben, wie es eigentlich jeder Mensch bei etwas Achtsamkeit
ohne große Mühe erreichen kann: in kleinen, überschaubaren Sozialgemeinschaften,
einer erfüllenden Tätigkeit und einem naturnahen Leben fern der Städte und ihrer
Versuchungen und Deformationen. Das Idyll von den Schweizer Bergbauern und
anderen ländlich geprägten Sozialformen konterkariert dann auch bei Rousseau auf
durchaus berückende Weise das Zerrbild von den Künstlichkeiten und Entartungen
seines Zeitalters in seinem von arkadischen Bildern so reichen Werk.
Was wären heutige Formen eines entfremdeten Lebens? Das Leben in Metropolen
und Mega-Cities mit ihrem gläsernen Gehäuse, Stahl und Beton, sozialen
Brennpunkten und viel zu vielen Menschen auf engstem Raum? Der
durchtechnisierte Alltag eines durchschnittlichen Bewohners der nördlichen
Hemisphäre dieses Planeten oder das Leben in der Matrix des virtuellen Raums?
Naturferne und Naturzerstörung im großen Stil? Fremdbestimmung durch die
Bedürfnisindustrie des Konsums, durch das Versprechen von Macht, Geld und
Erfolg, die Leerstellen und Primärbedürfnisse in der eigenen Seele damit
überlagernd? Unentwegte Zerstreuung, um die bedrohliche Stille im eigenen Selbst
nicht spüren zu müssen? Eine weitgehend an äußeren Normen ausgerichtete
Existenz? Acht bis zehn Stunden am Tag im klimatisierten Großraumbüro? Die
unerlässlichen Rollenspiele des Lebens, die uns per definitionem in verschiedene
Funktionen setzen, die wiederum die Gesellschaft vorgibt und nicht der Einzelne mit
seinen Bedürfnissen?
Die Kompromisse, die man unweigerlich eingehen muss, um mit anderen Menschen
leben zu können oder sozial zu bestehen, in Familie, Beruf, Freundschaft und
Partnerschaft, wobei der Befund der Entfremdung von sich und anderen dann oft nur
noch eine Gratwanderung ist, temporär oder situativ? Die normale Lohnarbeit, die
meistens hinlänglich weit von dem Luxus entfernt ist, in der bezahlten Tätigkeit, die
einen beträchtlichen Teil unserer Lebenszeit im Wachzustand schluckt, so etwas wie
persönliche Erfüllung zu sehen, Selbstverwirklichung gar?
In-sich-Sein, bei-sich-Sein, authentisch leben, nach einer inneren Gesetzmäßigkeit
und idealerweise im Einklang von Innen- und Außenwelt, mit sich und anderen, das
wäre das Gegenteil der Entfremdung. Und es würde auch das Zusammenleben mit
anderen Menschen harmonischer machen, wenn man selbst einen stabilen inneren
Kompass besitzt. Es wäre Ausdruck einer inneren Autarkie, die nicht getrieben wird
von den irrlichternden Affektionen der Außenwelt, die allzu oft in der Verfolgung von
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Scheinzielen endet, vom Ich-Verlust gar nicht zu reden. Der Philosoph Arthur
Schopenhauer würde eine solche Idealexistenz im buddhistischen Heiligen sehen,
doch das scheint als Maßstab auch nicht so recht tauglich und allgemein übertragbar
zu sein.
Rousseau annehmen heißt zugleich anzuerkennen: Wir leben alle in der
Entfremdung, mehr oder weniger, fern von unserem natürlichen Ursprung, wie auch
immer dieser einmal ausgesehen hat, der sich irgendwie an der instinkthaften,
weitgehend tierischen Daseinsweise der allerersten Formen der Gattung Mensch
orientiert. Die Entfremdung ist gewissermaßen eine conditio sine qua non des
zivilisierten, vergesellschafteten Menschen.
Auch wenn das Wort: "Entfremdung" damals noch kaum geläufig war, ist die
Kulturdiagnose, die damit einhergeht, doch eine ganz entscheidende und eine
nachhaltig prägende Wegmarke für das Bewusstsein des Individuums in der
Moderne. Es ist zerrissen und seines Ursprungs beraubt, auf der Suche und
orientierungslos, auch überfordert mit der Verantwortung eigener Sinnsuche ohne die
apodiktischen Wertvorgaben unhinterfragbarer Mächte und Institutionen, von denen
es sich doch in der Aufklärung gerade erfolgreich befreit hat.
Somit ist der Entfremdungsbefund auch Ausdruck eines Säkularisierungsprozesses,
wie ihn die europäische Moderne mit sich gebracht hat. Es ist bezeichnend, dass
zum Beispiel die Jenaer Frühromantiker um 1800, die die Zerrissenheit des
Individuums und seine unerfüllten Sehnsüchte durch Regression zu überwinden
versuchen. Auch die Entfremdung, der es in der modernen Zeit ausgesetzt ist, indem
die sinnsuchende Seele mit dem bedrohlichen Szenario des aufziehenden
Maschinenzeitalters und seiner einseitig rationalistischen Denkfundamente nicht
Schritt halten kann.
Die Frühromantiker denken sich ins christliche Mittelalter hinein, in eine diffuse
Spiritualität, in Grenzgängereien von Tag und Traum, Rausch und Ekstase, einige
auch in einen Mode-Katholizismus und die entsprechenden, teils reaktionären
politischen Konzeptionen. Und heute?
Der innerlich ausgebrannte Unternehmensberater und die stressgeplagte
Marketingleiterin gehen zum Retreat nach Indien, um sich dort einem Guru vor die
Füße zu werfen, in der Hoffnung auf nachhaltige Wiederherstellung ihres Kontakts
zum verlorenen Selbst. Auch die Lösungen, die Jean-Jacques Rousseau anbietet,
um die flächendeckende Entfremdung zu überwinden, sind mindestens pseudoreligiöser
Natur. Nichts scheint jedenfalls schwieriger für den aufgeklärten Menschen
zu sein, als authentisch zu leben, im Einklang mit dem eigenen Ich.
Bevor der Entfremdungsbegriff im 19. und 20. Jahrhundert seine auch heute noch
relevante sozialkritische Note erhält, weil er im Spannungsverhältnis von Individumm
und Gesellschaft das Problem der Freiheit unter real existierenden
Sozialbedingungen diskutiert, wurde er erst noch einmal im Deutschen Idealismus
auf eine transzendentalphilosophische Stufe gehoben. Bei Hegel steht die
Entfremdung im Zusammenhang der Aneignung von Wirklichkeit durch den sich
selbst vollendenden Geist, während ihn Schelling sogar wieder in theologische
Dimensionen zurückführt, also im Sinne einer Entfremdung des Göttlichen. In Hegels
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phänomenologischer Darstellung des werdenden Wissens ist der Akt der
Selbstentfremdung eine Integrationsleistung des Geistes, der durch die Annahme
des Anderen, Fremden zu einer höheren Bewusstseinsstufe gelangt. Ähnlich äußert
sich Fichte in seiner Wissenschaftstheorie, in der die "Entäußerung" eine
transzendentalphilosophische Kategorie ist, versteht Fichte doch das Objekt als vom
Subjekt gesetzte entäußerte Vernunft.
Karl Marx, der Schöpfer des historischen Materialismus, wird diesen idealistischen
Ansatz verächtlich als "deutsche Ideologie" brandmarken und aber doch über die
Junghegelianer, besonders Feuerbach, den Entfremdungsdiskurs aufgreifen, um ihn
auf eine höchst fruchtbare Art in den Kontext seiner fundamentalen Kritik an den
Gesellschaftsverhältnissen zu integrieren.
Ludwig Feuerbach interpretiert die Entfremdung in einem anthropologischen Sinne
als Selbstentfremdung des inneren und äußeren Menschen, der als ursprüngliche
Einheit jedoch wiederhergestellt werden könne. Feuerbach setzt bei der
Religionskritik an, bei der Selbstentfremdung durch religiöse Projektionen, die in eine
empirisch-diesseitige Gestalt münden müssten, also in ein zu schaffendes Idealbild
vom Menschen (und nicht von Gott).
Das ist gewissermaßen die Brücke zu Marx und dem im Neomarxismus so populären
Wort der "Entfremdung", das jedoch eine Inkubationszeit von über hundert Jahren
gebraucht hat, um virulent zu werden. Der Grund: Marx machte sich 1844, als 26-
Jähriger, lange bevor er 1867 sein Hauptwerk, "Das Kapital" schrieb, nur ein paar
private Notizen darüber, die nie zur Veröffentlichung gedacht waren und es zu seinen
Lebzeiten auch nicht wurden, und zwar in den ökonomisch-philosophischen
Manuskripten sowie ein Jahr später, 1845, seinen Thesen über Feuerbach.
Im Hauptwerk ging das nur hin und wieder eingestreute Wort, wenigstens in der
Rezeption, bis auf weiteres ein wenig unter, da es in der marxistischen Systemkritik
zunächst nahezu ausschließlich um die ökonomischen Verhältnisse ging und weniger
um die kulturellen Kollateralschäden.
Wie das gesamte Hegel‘sche Lehrgebäude, so hat Karl Marx auch den
Entfremdungsbegriff vom Kopf auf die Füße gestellt. Anders als Hegel und Fichte
und Schelling, die ihn vor dem Hintergrund einer im Kern platonischen
Weltanschauung verwenden, die in einem Primat des Denkens, also des
menschlichen Geistes in Bezug auf die Gestaltung seiner Lebenswelt wurzelt, stellt
Marx das gesellschaftliche Sein allen Denkprozessen voran. Und um dieses war es,
wenigstens für weite Bevölkerungsgruppen, sehr schlecht bestellt im kapitalistischen
Zeitalter.
Hier also, mit diesem kritischen Ansatz, formulierte er den Gedanken der
entfremdeten Arbeit in den gegebenen Produktionsverhältnissen des realexistierenden
Kapitalismus. Der einzelne Arbeiter, der nur ein Glied in einer
Produktionskette ist, hat keinerlei Beziehung mehr zu seinem mechanisch gefertigten
Arbeitsprodukt. Er ist sowohl vom Produkt als auch vom Prozess seiner Arbeit
entfremdet und damit am Ende auch von sich selbst, seiner eigentlichen
menschlichen Wesensnatur. Die Arbeit und der Arbeiter, der seine Arbeitskraft
entäußert, sind in der kapitalistischen Produktion zur Ware geworden.
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Dieser Befund reicht viel weiter, als dass nur das ausbeuterische Verhältnis zwischen
Fabrikbesitzern und Arbeitern moniert wird oder die mörderischen
Arbeitsbedingungen in den Fabrikanlagen, mit 14-Stunden-Schichten, 6-Tage-
Wochen und schwerer körperlicher Arbeit ohne den mindesten Sozial- und
Gesundheitsschutz. Die Sozialdemokratie entstand unter anderem aus der
Beklagung dieser Missstände im fortgeschrittenen industriellen Zeitalter, und im
Laufe der Zeit wurden sie gemildert oder sogar behoben, nicht aber der
Systembefund selbst, der zu den diversen sozialistischen Experimenten im
zwanzigsten Jahrhundert geführt hat.
Grundidee: Die Produktivkräfte sollten allen gehören, es gäbe keine Ausbeutung
mehr, und der Volkskörper wirkte als großes Ganzes an dem Gemeinschaftsprojekt
Sozialismus bis hin zum Fernziel der klassenlosen Gesellschaft. So jedenfalls die
Theorie.
Wenn man nicht davon ausgehen will, dass Arbeit grundsätzlich etwas Fremdes und
nach Möglichkeit zu vermeidendes Übel für die Natur des Menschen ist, dessen
Paradiesesvorstellungen bekanntermaßen mit zweckfreiem Müßiggang im Garten
Eden verbunden sind, dann wäre dem Begriff der "entfremdeten Arbeit" unter den
Produktionsbedingungen des Kapitalismus eine erfüllende und sinnstiftende Arbeit
entgegenzusetzen, bei der sich der die Arbeit Entrichtende idealerweise mit seinem
Produkt oder ihrer Arbeit identifiziert.
Das könnte so sein in einem Handwerksberuf und im künstlerischen Bereich
sowieso, in der Seelsorge, im Sozialen und in den Dienstleistungen, aber eben auch
in der Landwirtschaft, wenn der selbständige Bauer, die Bäuerin den Boden
beackert, sät, erntet, die Ernte einfährt und dann veräußert. Wir denken unmittelbar
an Rousseau und sein Idyll von den Schweizer Bergbauern, das in der Tat mehr
Elemente aus der bukolischen Literatur beinhalten dürfte als den prosaischen
Realitäten in diesem Beruf Rechnung zu tragen.
Fakt ist auch, dass nicht jeder und jede Designerin, Komponist oder
Kunsthandwerkerin auf hohem Niveau werden kann. Im Zweifelsfall fehlt dafür das
Talent, und in einer arbeitsteiligen, differenten Gesellschaft gibt es leider auch
unkreativere Arbeiten, die getan werden müssen.
Was unterscheidet nun nach Marx‘ Ansicht die entfremdete Arbeit unter den
modernen Produktionsbedingungen so sehr von anderen Arten der Lohnarbeit, wie
sie doch immer in der neueren Geschichte der Menschheit bestanden hat? Der eine
backt das Brot, der andere führt Prozesse und spricht das Recht, die eine verdingt
sich als Köchin, die andere als Geburtshelferin. Nur der Adel war traditionell von
jeder Art Erwerbsarbeit befreit, aber das hatte sich im bürgerlichen Zeitalter dann
auch weitgehend erledigt, während der Fabrikant, der Unternehmer allmählich den
(adeligen) Großgrundbesitzer ersetzte. Die Kaufleute, die freien Berufe, die
besonders in den Freien Reichsstädten und Hansestädten über Jahrhunderte das
bürgerliche Bewusstsein geprägt haben und die für Aufbau standen, für
Risikobereitschaft und Innovation, war ihre Arbeit und die, die sie boten, auch (selbst-
)entfremdet beziehungsweise das System, das sie repräsentierten?
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Ist nicht jeder Art Arbeit ein Zwangselement inhärent, mehr oder weniger, und würden
wir nicht alle lieber ganztägig in der Hängematte liegen, sofern wir auf irgendeine Art
von der Notwendigkeit befreit wären, uns unseren Lebensunterhalt verdienen zu
müssen?
Das scheint Karl Marx nicht zu glauben. Er spricht dem homo sapiens grundsätzlich
ein tätiges, produktives Wesen zu, das danach trachtet, eine sinnvolle und erfüllende
Arbeit zu verrichten, womit wahrscheinlich die meisten von uns d´accord gehen
würden. Nun ist es aber nach der Auffassung von Karl Marx vermutlich nicht relevant,
ob die Farbrikarbeit, die er als entfremdet charakterisiert, unter den Bedingungen des
frühindustriellen Zeitalters stattfindet oder in einem modernen Sozialstaat, mit
Arbeitnehmerrechten, tariflich gesicherten Löhnen, die oftmals höher sind als das
Gehalt eines Hochschuldozenten, Zuschlägen, Urlaubsansprüchen und
vollautomatisierten Arbeitsabläufen.
Karl Marx‘ Kritikansatz ist ideologischer Art, und hier ist es ja zum Beispiel auch
bezeichnend, dass der Fabrikbesitzer, also der, der nicht in den Produktionsablauf
involviert ist, aber im Gegensatz zum Arbeiter das Kapital horten kann, das daraus
erwächst, seiner Meinung nach genauso entfremdet ist wie der Lohnsklave, von
dessen Arbeit er profitiert.
Da es Karl Marx um die Ökonomie geht und um das falsche System, auf dem diese
aufgebaut ist, überlässt er es seinen Nachfolgern, eine tiefergehende Kulturkritik zu
etablieren, in der die Entfremdung als ein Signum der Moderne verstanden wird,
Ausdruck fehlgeleiteter Kultur- und Geistesentwicklung.
(Teil 2, Sonntag, 16. August, 8.30 Uhr)
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