SWR2 Wissen: Aula . Erfahrungen nach Corona . Was gibt dem Leben Sinn? Von Wilhelm Schmid

PA4 Diskurse 2020 EU-Demokratien & Selbst
Pandemie - Leben Sinn? . W. Schmid, SWR2
ds-dp-swr2-aula20-9leben-sinn-moeglichkeit
1
SWR2 Wissen: Aula . Erfahrungen nach Corona . Was gibt dem Leben Sinn? Von Wilhelm Schmid
Sendung: Sonntag, 6. September 2020, Redaktion: Ralf Caspary Produktion: SWR 2020
https://www.swr.de/swr2

ÜBERSICHT
Der Corona-Lockdown machte bewusst, wie wichtig der Kontakt zu anderen
Menschen ist. Auf sich selbst zurückgeworfen, stellte sich nicht selten die Frage nach
dem Sinn des Lebens. Was darunter zu verstehen ist? Der Philosoph und Buchautor
Wilhelm Schmid hat sich darüber Gedanken gemacht.
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede
weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des
Urhebers bzw. des SWR.

Autor
Wilhelm Schmid (Philosoph)
Wilhelm Schmid (* 26. April 1953 in Billenhausen / Bayerisch-Schwaben) ist ein deutscher Philosoph mit dem Schwerpunkt auf dem Gebiet der Lebenskunstphilosophie.
https://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_Schmid_(Philosoph)

Weitere Quelle; Richard David Precht
künstliche Intelligenz und der Sinn des Lebens
https://www.kultur-punkt.ch/architektur-design/design-topoi-4-0/design-technik-at-it-ki/ki-lebenssinn-r-d-precht.html

2
MANUSKRIPT
Anmoderation:
Mit dem Thema: „Erfahrungen nach Corona – Was gibt dem Leben Sinn?“. Am
Mikrofon: Ralf Caspary.
Die Pandemie hat auch dazu geführt, dass wir verstärkt die Sinnfrage stellen. Gerade
während des Lockdowns hatten viele Zeit zum Nachdenken, und vielen wurde
schmerzlich bewusst, dass menschliche Nähe, Kommunikation, Freundschaft, Liebe
starke Faktoren sind, die dem Leben einen Sinn geben, und wenn sie wie in Zeiten
der Quarantäne keine Rolle mehr spielen, dann stellt sich schnell die Erfahrung der
Sinnlosigkeit ein.
Insofern kann man sagen: Corona hat uns den eigentlichen Sinn des Lebens vor
Augen geführt. Was das genau heißt, wie man den Sinn des Lebens überhaupt
beschreiben kann, erläutert der Philosoph und Bestsellerautor Wilhelm Schmid.
Wilhelm Schmid:
Was ist der Sinn des Lebens? Wahrscheinlich gibt es nur ein Wesen auf dem
Planeten Erde, das solche Fragen stellt: Wozu bin ich da? Wofür lebe und arbeite
ich? Warum überhaupt leben? Was ist der Sinn von Leben und Welt? Nach
Antworten suchen keineswegs nur professionelle Geistesarbeiter und passionierte
Bücherleser.
Einmal fuhr ich in Berlin mit dem Bus vom Flughafen in die Stadt. Der Bus war voll,
die Straße auch, eine stressige Situation für den Busfahrer, neben dem ich
wenigstens noch einen Stehplatz fand. Berliner Busfahrer sind bekannt für ihren
herben Charme, Neuankömmlinge bekommen da schon gleich einen Eindruck vom
Charakter der Stadt. Er wandte sich ganz beiläufig mir zu und fragte mich: „Und was
machen Sie so beruflich?“ Wahrheitsgemäß outete ich mich als Philosoph und war
gespannt, was jetzt kommt. „Das trifft sich gut“, freute sich der Busfahrer, „dann kann
ich Ihnen ja jetzt mal die Frage stellen: Was ist eigentlich der Sinn des Lebens?“
Hm, schwierig zu beantworten. Ich stand damals selbst erst am Anfang des
Nachdenkens darüber. Erst einmal wäre zu klären, was mit diesem Ausdruck „Sinn“
überhaupt gemeint sein kann. Im Alltag ist erstaunlich oft vom Sinn die Rede, es
muss also offenkundig ein Wissen davon geben, ohne dass es immer bewusst wäre.
Etwas wird beispielsweise als „sinnvoll“ bezeichnet, wenn erkennbar ist, wie Dinge,
Menschen, Erfahrungen zusammenhängen. Sind keine Zusammenhänge erkennbar,
führt dies dazu, in einer Angelegenheit „keinen Sinn zu sehen“.
Als „unsinnig“ wird eine Idee bezeichnet, die keine oder falsche Zusammenhänge
herstellt, vielleicht weil kein Erfolg zu erwarten ist. Als „sinnlos“ wird auch empfunden,
wenn Menschen ihr Tun nicht aufeinander abstimmen und somit zusammenhanglos
agieren. Erfüllt sind sie hingegen von Sinn bei jeder Beziehung, die einen starken
Zusammenhang zwischen ihnen stiftet, insbesondere bei der Beziehung der Liebe.
Insofern lässt sich sagen: Sinn ist Zusammenhang, Sinnlosigkeit demzufolge
Zusammenhanglosigkeit.
3
Und warum steht der Sinn so oft und für so viele in Frage? Nicht zu allen Zeiten war
das so und nicht überall greift es um sich. Die Frage nach Sinn bricht dort auf, wo
Zusammenhänge fragwürdig werden und Beziehungen zerbrechen, die lange als
selbstverständlich erschienen. Das ist die Not der Zeit, eine Folge der Moderne, der
Zeit der Freiheit, die Befreiung bringen wollte von allem, was einengt, begrenzt,
bedrückt. Diese Befreiung war und ist gut für jeden einzelnen Menschen, aber sie
kostet auch etwas: Sie führt zur Auflösung vormals fester Zusammenhänge, die viel
Sinn vermittelten. Zusammenhänge der Religion, althergebrachter Traditionen und
allgemeingültiger Konventionen werden Geschichte. Die sozialen Zusammenhänge,
die in nichtmodernen Gesellschaften schier unauflöslich, oft sogar zwanghaft waren
und sind, zerbrechen und lassen vereinzelte Individuen zurück, die mit sich selbst oft
nicht zurechtkommen.
Die moderne Anonymisierung und Funktionalisierung vieler Zusammenhänge hat zur
Folge, „den Sinn nicht mehr zu sehen“, so dass der Eindruck sinnloser
Einzelphänomene und existenzieller Sinnlosigkeit entsteht, mit einer inneren Leere
und empfundenen Kälte, die viele beklagen und gegen die kaum jemand ankommt.
Warum brauchen Menschen Sinn? Warum können sie nicht darauf verzichten?
Offenkundig ist der Mensch ein sinnbedürftiges Wesen, aber warum ist das so?
Vermutlich, weil in Sinn-Zusammenhängen Energien fließen, die Menschen aufleben
lassen, am stärksten erfahrbar erneut in Beziehungen der Liebe, die äußerst sinnvoll
erscheinen, wenn sie frisch sind, und gänzlich sinnentleert, wenn sie zerbrechen.
Sinn stillt den Energiehunger von Menschen, denen das naturgegebene Quantum
nicht auszureichen scheint, vermutlich weil ihr Denken enormer Ressourcen bedarf.
Wenn aber in der Moderne viele Sinn-Zusammenhänge und Beziehungen aufgelöst
werden, wird es zur Aufgabe der bewussten Lebensführung, der Lebenskunst, sie
wiederzufinden und neue Beziehungen zu gründen und zu pflegen. Denn das ist
offenkundig der Schlüssel zum Sinn:
Ein sinnerfülltes Leben ist ein Leben in Beziehung.
In der Coronakrise haben Beziehungen schlagartig ihre Bedeutung für das Leben
und die Erfahrung von Sinn erwiesen. Auf einmal war klar, wie wertvoll es ist,
jemanden an der Seite zu haben, Freunde kontaktieren zu können,
Nachbarschaftshilfe zu bekommen, Kollegen zumindest über den Bildschirm zu
sprechen. Viele stellten erst im Homeoffice fest, wie wichtig ihnen der direkte
Austausch ist, der Plausch mit den Kollegen von Angesicht zu Angesicht. In der
großen Verunsicherung zeigte sich, wieviel Sinn im Leben wir der Familie, den
Freunden, Nachbarn und Kollegen verdanken. Die schnelle Kontaktanbahnung mit
Apps wie „Tinder“ mag Abwechslung ins Leben bringen, aber es sind verlässliche
Beziehungen zu Anderen, die dafür sorgen, nicht einsam zu sein, wenn das Leben
schwierig wird.
Jetzt war auch die Zeit, sich stärker mit sich und dem eigenen Leben zu befassen.
Die Erfahrung der Krise beförderte das Nachdenken darüber, was mir in meinem
Leben Sinn gibt: Etwa die Beziehungen, in denen ich lebe. Die Arbeit, in der ich Sinn
sehe. Die Arbeitsstelle, die ich gerne aufsuche. Die Reisen, von denen ich träume.
Werte wie Verlässlichkeit, Gerechtigkeit, Solidarität, die ich selbst realisieren will.
Sich zu besinnen, nachdenklich zu werden, die größeren Dimensionen wieder zu
4
sehen, dazu braucht es Distanz, räumliche Distanz, die durch Social Distancing
befördert wurde, für viele auch durch die Distanz zum gewohnten Arbeitsplatz. Jede
und jeder konnte sich fragen: Wie kann ich mit mir so umgehen, dass ich umgänglich
für Andere werde, mit denen ich zusammenlebe und -arbeite? Wie kann ich Anderen
so helfen, wie ich mir das vielleicht von ihnen erhoffen würde?
Die Besinnung auf sich trug in der Coronakrise dazu bei, wieder mehr mit sich ins
Reine zu kommen. Die Arbeit an Sinn-Zusammenhängen beginnt in der Tat bei der
Beziehung zu sich, um sich mit sich selbst zu befreunden, also innere
Zusammenhänge zwischen den verschiedenen und gegensätzlichen Seiten in sich
zu finden: Zwischen körperlichen und geistigen Bedürfnissen, Gefühlen und
Überlegungen, dem Drang nach Freiheit und dem Wunsch nach Bindung.
Diese Gegensätze wurden einst durch religiöse und kulturelle Vorgaben von außen
aufgelöst, lange zu Lasten des Körpers, der Gefühle, der Freiheit. Es liegt an jedem
Einzelnen, Kompromisse für sich selbst zu finden, mit denen er oder sie leben kann,
und festzulegen, was ihm oder ihr wichtig ist, um sich daran zu orientieren.
Ausgehend vom eigenen Selbst ist es einem Menschen auf mehreren Ebenen
möglich, Sinn im Leben zu finden und dem Leben selbst Sinn zu geben. Die
elementarsten Sinn-Zusammenhänge sind die, die sich den körperlichen Sinnen
verdanken. Aus guten Gründen tragen die Sinne das Wort „Sinn“ in sich: Immer und
überall stellen die fünf Sinne des Sehens, Hörens, Riechens, Schmeckens, Tastens
sehr viel Sinn zur Verfügung, denn sie sorgen für Zusammenhänge zwischen Selbst
und Welt, Selbst und Anderen. Würde ein Mensch nichts mehr sehen, hören,
riechen, schmecken, tasten können, fände er sich in einem schwarzen Nichts wieder,
in dem er nicht lange überleben könnte.
Daher kommt so viel darauf an, die Sinne zu pflegen, mit viel Liebe zum sinnlich
Schönen, zum Essen und Trinken, zu Musik und Erotik. Mit den fünf Sinnen ist die
Vielfalt des Lebens in all seinen Erscheinungsformen wahrzunehmen, mit einem
sechsten Sinn in der Bewegung zu erleben, mit einem siebten Sinn im
Körperinneren, im „Bauch“ zu erspüren.
Sinn ist zuallererst sinnlicher Sinn, das war mehr als sonst im Coronafrühjahr
erfahrbar. Der Frühling war früh da, es hätte auch finsterer Winter sein können, das
hätte vieles erschwert. So aber flutete das Licht, frisches Grün brach aus kahlen
Ästen hervor, farbenfrohe Blüten überall, der Sinn des Lebens stand nicht
grundsätzlich in Frage.
Klarer als zuvor wurde jetzt auch für viele, welche Bedeutung die sinnliche Berührung
fürs Leben hat. Berührung macht gelassener. Die Hand eines anderen Menschen
halten zu dürfen. Sich körperlich nahe sein zu können. Sich zu umarmen. Jede und
jeder weiß, wie das wirkt, wenn es willkommen ist, nicht nur zwischen Liebenden,
sondern auch zwischen Freunden, zwischen Eltern und Kindern, Großeltern und
Enkeln. Die Coronazeit wird in Erinnerung bleiben als die Zeit, in der wir manchmal
Berührung schmerzlich vermissten. Wir sollten es nicht mehr daran fehlen lassen.
Eine starke Energiequelle ist neben dem sinnlichen der seelische Sinn, der gefühlte
Zusammenhang mit Anderen und der Welt, oft verbunden mit sinnlichen Momenten.
Gefühle für Andere und von Anderen für das eigene Ich intensivieren das Leben, da
5
sie viel Energie vermitteln. Bejahende Beziehungen zu Anderen können geradezu
erfüllend sein, und sei es nur für einen Moment aufgrund einer Freundlichkeit, wie sie
der Busfahrer zeigte. Jeder weiß aus Erfahrung, wie schön eine Freundlichkeit sein
kann, aber kann ich das auch?
Und was in jedem Fall für die seelische Sinngebung zur Verfügung steht, ist eben vor
allem die Liebe. So wichtig ist sie, dass es sie im Plural geben sollte, statt alles vom
Gelingen einer einzigen Liebe abhängig zu machen. Das ist nicht unbedingt ein
Plädoyer für Polygamie und Polyamorie.
Bei der Vielzahl von Lieben, die nötig sind, um dem Leben Sinn zu geben, geht es
bei weitem nicht nur um die Liebe im engeren Sinne, sondern um viele weitere
Beziehungen, etwa zwischen Eltern und Kindern. Eine Beziehung, die fast immer
glückt und sehr viel Sinn vermittelt, ist die zwischen Großeltern und Enkeln, meist
auch zwischen Geschwistern. Kaum etwas kann so sinnerfüllend sein wie diese
Beziehungen, und ganz deutlich wird hier, dass Sinn wichtiger ist als Glück, denn
beglückend sind sie ja nicht immer in jedem Moment.
Und nicht nur Menschen können geliebt werden, sondern auch Tiere – eine Liebe,
aus der viele Menschen Sinn beziehen. Möglich ist die Liebe zur Natur, ebenso zu
Kunst und Kultur, zur Musik, zu Filmen, auch zu bestimmten Dingen wie zu einem
Buch, einem Auto, einem Fahrrad, einem Smartphone, einer Handtasche, und bei
manchen ist es die Liebe zum Geld. Die Liebe kann dem Leben und der Welt
insgesamt gelten und darüber hinaus auch dem, was viele Menschen Gott nennen.
Alle diese Lieben können dem Leben Sinn geben, und niemand muss darüber
urteilen, was und wen ein Mensch lieben darf oder nicht. Eine Antwort auf die Frage
nach dem Sinn im Seelischen ergibt sich daraus:
Sinn ist dort, wo ich liebe und geliebt werde, wenigstens gemocht werde.
Das ist keine spektakuläre Einsicht, erklärt aber, warum Menschen nicht von der
Liebe lassen können.
Eine unverzichtbare Liebe ist die zu Freunden. Sie ist unproblematischer als die
Liebe der Liebenden, denn in aller Regel wohnen die Freunde nicht zusammen. Das
erspart viel Ärger. Und selten geht es um Sex. Das erspart noch mehr Ärger. Sehr
viel Sinn ist in der Freundschaft erfahrbar, verbunden mit dem Glück eines intensiven
Gefühls füreinander. Das geht in der Freundschaft weniger als in der Liebe mit
Gefühlsausbrüchen einher, mehr mit dem ruhigen Wohlgefühl, einander zugetan zu
sein: Es macht mich anhaltend froh, einen Menschen zu kennen, der mich mag und
ich ihn, bei dem ich Verständnis finde und er bei mir, bei dem ich Privilegien genieße
und er wiederum bei mir. Freunde sind Menschen, die uns mögen, obwohl sie uns
kennen. Selbstverständlich besteht auch die Freundschaft nicht immer nur aus
reinem Glück, auch in ihr tauchen Probleme auf, aber dann sieht man sich halt eine
Weile nicht mehr. Das ist in der Liebe deutlich schwieriger.
Eine reiche Energiequelle offeriert über den sinnlichen und seelischen hinaus der
geistige Sinn, die gedankliche Herstellung von Zusammenhängen: In Gedanken
können Menschen versuchen, sich Zusammenhänge des Lebens zu erklären, um sie
besser zu verstehen. Mit Gedanken, die ein Mensch sich über das Leben macht,
6
auch mit Gedanken, die er von Anderen und aus Büchern aufgreift, kann er sich im
Leben besser zurechtfinden.
Ein möglicher Gedanke ist, dass ein wichtiger Zusammenhang des Lebens die
Polarität ist, ohne die es an Kontrasten fehlen würde: Was wüssten wir von Freude,
wenn es nicht auch Ärger gäbe, was von Lust, wenn nicht auch Unlust oder gar
Schmerz vorkämen? Es ist wohl ähnlich wie beim elektrischen Strom, der
gegensätzliche Pole braucht, um fließen zu können. Die Spannung zwischen
Gegensätzen stellt Kräfte für die Lebensbewältigung zur Verfügung.
Wer den Grundzug der Polarität akzeptiert, muss vom Leben nicht mehr erwarten,
dass es immer nur positiv ist. Er kann damit einverstanden sein, neben dem positiven
gelegentlich den negativen Pol des Lebens wieder touchieren zu müssen. Im
Gegenzug kann er zu negativen Erfahrungen die positive Seite wieder suchen,
etwas, das guttut, sinnlich, seelisch, geistig.
Das hat viel mit der grundsätzlichen Auffassung zu tun, was Leben ist. Das Leben ist
zerbrechlich, das hat die Coronakrise drastisch vor Augen geführt. Für Menschen,
die die Erfahrung einer Krankheit kennen, ist das nicht neu, dass von jetzt auf gleich
alles ganz anders sein kann. Die Krise hat gezeigt, dass jede Gewissheit über Nacht
wegbrechen kann. Dass auch das scheinbar sichere Leben im Wohlstand sehr
verletzlich ist. Dass es nicht selbstverständlich ist, dass alles funktioniert. Dass etwas
Schlimmes geschehen kann, das nicht mehr revidierbar ist. Dass das Leben
„schicksalhaft“ sein kann, wie dies einst genannt wurde. Dass sich das auch durch
ein noch so angestrengtes Positivdenken nicht ändern lässt. Dass es eine gute
Alternative wäre, realistisch zu denken und auch negative Nachrichten zur Kenntnis
zu nehmen, um frühzeitig Schlüsse daraus zu ziehen und sich zu wappnen.
Der geistige Sinn hängt außerdem von den Gedanken ab, die Menschen sich über
Ziele und Zwecke machen, für die zu leben sinnvoll erscheint. Ziel und Zweck (telos
im Griechischen) sorgen für teleologischen Sinn und bestärken die subjektive
Gewissheit: Was ich mache, ist für etwas gut, und mein Glück ist es zu wissen, wofür
ich lebe, arbeite, vielleicht auch leide. Wo ein solcher Sinn ist, da ist Trost in
schwieriger Zeit.
Der Mut, Mühen auf sich zu nehmen und Schwierigkeiten zu überwinden, wird
gefestigt von Zielen und Zwecken. Daher ist es wichtig, sich über dieses Wohin,
Wozu, Wofür klarer zu werden, um sagen zu können: Dafür bin ich da, das ist meine
Aufgabe, die ich übernehme, die Pflicht, der ich nachkomme, das Werk, an dem ich
arbeite, die Idee, für die ich kämpfe. Den Prozess der Klärung unternimmt ein
Mensch selbst, aber er kann dafür auch freundschaftliche oder professionelle Hilfe in
Anspruch nehmen, um fortan sehr viel für das vorgestellte sinnvolle Leben zu tun.
Ansonsten kann eine Sinnlosigkeit entstehen, die als Perspektivlosigkeit erfahren
wird. Individuell und gesellschaftlich kommt viel darauf an, sich und Anderen
Perspektiven aufzuzeigen. Und das geschieht zuallererst mit gedanklicher Arbeit, in
Gesprächen und in Bildungsinstitutionen, die Perspektiven eröffnen können.
Menschen, die keine Perspektive haben, sind in Gefahr, sich aus Verzweiflung
dorthin zu wenden, wo ihnen totaler Sinn versprochen wird. Damit der dann nicht
gleich wieder in Frage steht, geraten sie in Versuchung, alles zu zerstören, was
7
davon abweicht. So entsteht Terrorismus. Es gibt es ein vitales Eigeninteresse der
Gesellschaft daran, es gar nicht erst so weit kommen zu lassen.
Welcher Sinn könnte in der Coronakrise gesehen werden? Ob sie einen aus sich
selbst heraus hat, ist unwahrscheinlich. Aber der Sinn, der Krisen abzugewinnen ist,
liegt darin, Besinnung zu ermöglichen und sogar zu erzwingen. Fast ist es so, als ob
wir so etwas gebraucht hätten: eine Atempause. Rückblickend könnte das der Sinn
sein, der Corona noch gegeben werden kann: Eine Gelegenheit, einiges zu
überdenken. Die Besinnungslosigkeit war zu groß geworden. Alles schien
beherrschbar, alles ging seinen schnellen Gang. Weiter, immer weiter. Tempolimit?
Nicht auf den Straßen und nicht im Leben. Rennen war wichtig, egal in welche
Richtung.
Jetzt war es möglich, den Wert von Rahmenbedingungen des Lebens
kennenzulernen: Die Verlässlichkeit von staatlichen Institutionen. Die Wichtigkeit
einer florierenden Wirtschaft. Und von Friseuren. Die Erfahrung verhilft besser als
jede Theorie dazu, das zu erkennen, was zuvor in der Selbstverständlichkeit
verborgen lag, sich jetzt aber als unverzichtbar erweist, und sei es nur Klopapier
(übrigens auch in anderen Ländern und aus dem einfachen Grund, dass nun mehr
Leute als sonst ganztägig zuhause verdauten).
Besser zurecht kamen vielleicht diejenigen, die einen weiten Blick in ihrem Leben
haben. Die weitestmögliche Perspektive und reichste Energiequelle tut sich auf,
wenn das gewöhnliche Leben im Fühlen und Denken überschritten werden kann:
Außergewöhnliche Erfahrungen bringen einen Sinn über das Leben hinaus in den
Blick. Dass ein solcher Sinn möglich ist, ahnt ein Mensch sein ganzes Leben
hindurch bei ekstatischen Erfahrungen, in intensiver Sinnlichkeit, in der starken
Bewegtheit durch Gefühle, bei ausgiebigen Ausflügen ins Reich der Gedanken, bei
einem tief schürfenden Gespräch oder einer Lektüre, beim Versinken im Spiel oder in
einer Tätigkeit, bei jeder Art von „Flow“ und Traumseligkeit. Einige kennen die
Erfahrung der Unendlichkeit wohl vom Internet, in dem sie sich verlieren.
Typisch für überschreitende und in diesem Sinne transzendente Erfahrungen ist
jedoch immer die Selbstvergessenheit, Zeitlosigkeit, Allverbundenheit, Intensität.
Manche Menschen nennen diese Erfahrungen „göttlich“, und sie sind so stark, dass
sie lange nachhallen. Die Intensität, die dabei erfahren wird, gibt der Vermutung
Nahrung, dass diese Energie das Wesentliche des Lebens ist, das über das Selbst
und alle Zeit und Endlichkeit weit hinausgeht.
Wo Energie ist, da sind Möglichkeiten. Daraus könnte sich auch der Sinn des Lebens
ergeben: Er könnte in der Nutzung von Energien, somit von Möglichkeiten liegen.
Jedenfalls kann ein Mensch diesen Sinn im Leben sehen und sich selbst fragen:
Was kann ich zur Entfaltung der menschlichen Möglichkeiten beitragen? Welche
Möglichkeit ist meine eigene, mit der ich zur Welt gekommen bin? Welche kann ich
neu erfinden? Welcher will ich mein Leben widmen? Was kann ich zu ihrer
Verwirklichung tun? Was kann ich für die Möglichkeiten Anderer tun? Wie kann ich
werden, was ich sein kann?
Das muss keine große Sache sein. Es geht um das, was dem eigenen Ich am besten
entspricht und seine Kräfte freisetzt, was es am besten kann und womöglich noch
erreichen will. Das würde heißen:
8
Der Sinn des Lebens ist die volle Entfaltung des Lebens.
Das könnte ich jetzt dem Busfahrer sagen. Was er wohl darauf antworten würde? Ist
seine Tätigkeit das, was er am liebsten macht und am besten kann? Erfüllt ihn sein
Leben, sein berufliches und privates? Stellt er sich noch etwas Anderes für sein
Leben vor? Was würde er dafür tun? Welche Unterstützung bräuchte er?
Es könnte die Aufgabe von Menschen sein, Möglichkeiten und Unmöglichkeiten zu
testen. Dass eine Verwirklichung gelingt, ist wünschenswert, aber auch ein
Misslingen ist wertvoll, um in Erfahrung zu bringen, was nicht wirklich werden kann,
jedenfalls nicht jetzt.
Manchmal bringt gerade das unmöglich Erscheinende das Leben weiter. Unmöglich
erschien einst beispielsweise das Fliegen, aber irgendwann wurden Flüge normal.
Als unmöglich abgetan wurden einst „Müslifresser“, aber sie fanden sich in der Mitte
der Gesellschaft wieder. Träume und Fantasien dienen dazu, Möglichkeiten
aufzuspüren, auch abseitige und absurde Möglichkeiten. Dass solche im Umgang mit
Corona von einigen vertreten wurden, ist nicht unbedingt beunruhigend, sondern ein
Beweis für die überbordende Fantasie von Menschen.
Und warum und wozu gibt es menschliches Leben überhaupt? Vielleicht nur, damit in
der Gesamtheit der Evolution auch diese Möglichkeit wirklich wird: Ein Wesen, das
die prachtvolle Entfaltung des Lebens wahrnehmen und mitgestalten kann. Jede
Erfahrung jedes Menschen ist dafür von Bedeutung, denn darauf kann die
allgemeine Evolution aufbauen: Sie profitiert vom relativ schnellen Durchspielen der
Möglichkeiten in einzelnen Wesen, damit klar wird, in welche Richtung die
Entwicklung weitergehen kann. Es ist vergleichbar mit dem Reisen: Einzelne
erkunden die zahllosen möglichen Reiseziele, die Ergebnisse sprechen sich herum
und dann wissen alle, was sich lohnt und was nicht. Nehmen die Klagen zu, dass
eine Destination überlaufen ist, gehen einige wieder auf Erkundungstour.
Und warum und wozu gibt es überhaupt Leben, nicht nur menschliches? Vielleicht
nur, weil es irgendwann in der kosmischen Entwicklung möglich wurde. Unter den
Möglichkeiten, die blind durchgespielt werden, erwies sich die des Lebens als
besonders ausbaufähig, um alles zu verwirklichen, was möglich ist. Und was ist das
große Warum und Wozu, der mögliche Sinn über das Leben hinaus, der absolut
große Zusammenhang, der Menschen seit jeher umtreibt und den sie oft allein mit
„dem Sinn“ identifizieren: Warum gibt es überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?
Eine einfache Antwort könnte sein: Weil das eben eine der Möglichkeiten ist. Und
wozu? Um im Laufe endloser Zeiten alle Möglichkeiten dieser Welt auszuschöpfen
und dann eventuell wieder von vorne anzufangen, ewige Wiederkehr des Gleichen,
wenn auch wohl eher nicht des identischen Selben.
Menschen ist es möglich, bewusst daran teilzuhaben. Vorausgesetzt, dass sie nicht
noch alle ihre Möglichkeiten zunichtemachen. Corona zwingt uns dazu, größer zu
denken und die Fundamente unseres Lebens ins Auge zu fassen. Grundlegender als
Staat, Wirtschaft und Gesellschaft ist die Natur des Planeten. Der Mensch ist ein Teil
von ihr, aber sie kann auch das menschliche Leben bedrohen, nicht nur bei
Erdbeben. Mit ihr gibt es keine Diskussionen und Verhandlungen. Die Natur ist nicht
speziell für Menschen gemacht. Unbedachte Eingriffe in sie schlagen auf uns zurück.
9
Wir haben daher ihre Gegebenheiten zu respektieren, zu denen auch unkalkulierbare
Viren und Mikroben gehören.
Steigende Temperaturen infolge der Klimaveränderung fördern die Ausbreitung von
Infektionen durch Zecken und Mücken. Sollte die berechtigte Sorge angesichts der
Klimakrise weiterhin als Hysterie abgetan werden, findet das hoffentlich nur noch bei
wenigen Gehör. Vorsorge ist besser, das sagt jeder Zahnarzt. Das Bewusstsein, das
in der Coronakrise wächst, dass die gesamte Menschheit eine
Schicksalsgemeinschaft im Rahmen der Natur ist, kann eine neue Seite im
Geschichtsbuch aufschlagen. Das könnte der wichtigste Gewinn von Sinn nach
Corona sein.
Auf vielfache Weise ist es also möglich, im Leben Sinn zu sehen und dem Leben
Sinn zu geben. Dazu bedarf es nicht mehr der üblichen Glaubenssätze in
Sinnfragen: Alles ist sinnvoll, wie die einen sagen, obwohl das niemand wirklich
wissen kann. Die anderen glauben ganz im Gegenteil an ein sinnloses Walten und
behaupten: Es gibt keinen Sinn. Aber wer könnte über den Maßstab für die
zweifelsfreie Erkenntnis verfügen, wie es letztlich „ist“ oder „nicht ist“? Wer hätte
jemals den erforderlichen totalen Überblick über alle Zeit und alles Sein, der so weit
reichende Schlüsse erlauben würde? Sinn-Zusammenhänge gehen grundsätzlich
aus Deutungen und Interpretationen hervor. Die können sich im Laufe der Zeit
wandeln, und so kann der Sinn immer nur eine subjektive und provisorische
Lebenswahrheit sein, deren Tragfähigkeit sich im wirklichen Leben erst noch
erweisen muss. Die Vielzahl möglicher Deutungen vermittelt einen Eindruck vom
Umfang der Wahrheit, die es vermutlich gibt, die aber wohl nie vollständig zu
erkennen ist, jedenfalls nicht von Menschen.
Um nicht von Neuem nur Glaubenssätzen zu folgen, erscheint es sinnvoll, jede
Sinnfindung und Sinngebung von vornherein unter einen Sinn-Vorbehalt zu stellen:
Wenn es darum geht, dem Leben Sinn zu geben, setzt dies voraus, dass dieser Sinn
nicht einfach schon vorzufinden ist, nicht jetzt und vielleicht überhaupt nicht. In Frage
steht nicht mehr der einzig mögliche Sinn des Lebens, sondern der eine unter vielen,
den ein Mensch für sich selbst für überzeugend hält und auf den er sein Leben zu
bauen bereit ist. Vorbehalte zu hegen, muss dabei nicht auf eine Sinn-Abstinenz
hinauslaufen: Sogar dann, wenn das Leben an sich keinen Sinn haben sollte, ist es
möglich, vielfachen Sinn im Leben selbst zu finden. Und die Vorbehalte machen es
leichter, jeden Sinn bisweilen wieder kritisch zu befragen, neue Überlegungen
anzustellen, Erfahrungen zu berücksichtigen und jegliche Sinn-Arroganz zu
vermeiden, die über Sinn und Sinnlosigkeit zweifelsfrei Bescheid zu wissen glaubt.
Dies vorausgesetzt, steht jedem Menschen ein Füllhorn an Sinn zur Verfügung, auch
ohne Wissen um einen letzten Sinn. Ein Füllhorn allerdings, das nicht mehr von
irgendwelchen Instanzen sozusagen auf dem Sinn-Silbertablett serviert wird. Alles
hängt von der eigenen Besinnung ab, für die ein Mensch sich immer wieder die Zeit
nimmt, um nach Sinn zu fragen, auch in unmöglichen Situationen wie der eingangs
geschilderte Busfahrer. Besinnung heißt, immer neu darüber nachzudenken, ob dem
Sinn ausreichend Beachtung auf allen Ebenen geschenkt wird: Sinnliche Momente
zu genießen, gefühlten Beziehungen Aufmerksamkeit zu widmen, sich Gedanken zu
allen möglichen Zusammenhängen zu machen, vielleicht abends zu den Sternen
aufzuschauen, die sich in unendlichen Zusammenhängen bewegen, und so eine
Transzendenz zu pflegen, für die es keiner besonderen Religion bedarf. Aber das
10
sind nur Anregungen und Überlegungen. Jeder einzelne Mensch entscheidet selbst,
welche Ebenen und welche Beziehungen für ihn von Bedeutung sind, wenn er dem
Leben Sinn geben will.
*
SWR2 können Sie auch im SWR2 Webradio unter www.SWR2.de und auf Mobilgeräten in
der SWR2 App hören – oder als Podcast nachhören.
Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2?
Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen
Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen.
Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen
Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert.
Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de
Die SWR2 App für Android und iOS
Hören Sie das SWR2 Programm, wann und wo Sie wollen. Jederzeit live oder zeitversetzt,
online oder offline. Alle Sendung stehen mindestens sieben Tage lang zum Nachhören
bereit. Nutzen Sie die neuen Funktionen der SWR2 App: abonnieren, offline hören, stöbern,
meistgehört, Themenbereiche, Empfehlungen, Entdeckungen …
Kostenlos herunterladen: http://www.swr2.de/app
*****