SWR2 WISSEN: AULA : Wie verändert Bildung die Persönlichkeit? Über eine rhetorische Figur . Konrad Liessmann

Das Demolratische SELBST hält stets mindesten 5 METER ABSTAND (statt 2m) von Rechts
Heiko Maas, 28.5.20, sinn-erweitert . https://de.wikipedia.org/wiki/Heiko_Maas
m+w,p20-5

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Diskurs Platon Akademie > PA4 Diskurse (1995-2020) 2020 EU-Demokratien & Selbst
Bildung - Persönlichkeit - Selbst . K. Liessmann
dp-ds-aula20-5bildung-selbst
https://www.swr.de/swr2/programm/index.html

SWR2 WISSEN: AULA : Wie verändert Bildung die Persönlichkeit? Über eine rhetorische Figur . Konrad Liessmann

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Wie verändert Bildung die Persönlichkeit? Über eine rhetorische Figur dem Selbst . Von Konrad Liessmann
Sendung: Donnerstag, 21. Mai 2020, 8.30 Uhr
Erst-Sendung: Sonntag, 10. Januar 2019, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Caspary
Produktion: SWR 2019
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede
weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des
Urhebers bzw. des SWR.

KERNAUSSAGE zum "Selbst"
Erstens: Ich bin es, der sich in seinem Identitätsgefühl verändert, und dies aus freien
Stücken; man könnte hier von Selbstbildungsautonomie sprechen. Ich möchte ein
anderer werden.
Zweitens: Es ist mein Selbst, das durch Bildung verändert wird; dies setzt ein
substanzielles "Selbst" voraus, das durch eine aktivierende und kontrollierende IchInstanz verändert werden kann: Bildung als Selbstsuche oder Selbstverwirklichung.
Drittens: Ich möchte nicht nur mich oder mein Selbst, ich möchte oder ich muss mein
ganzes Leben ändern. Bildung als radikaler Einschnitt, Bildung als Zäsur in einer
Biografie.

ÜBERBLICK
Dass sich Gesellschaften durch Bildung verändern lassen, gehört zu den zentralen Überzeugungen moderner Bildungsideologien. Bildung gilt als jenes Instrumentarium, mit dem die drängenden sozialen, politischen und ökologischen Probleme unserer Zeit gelöst werden können, mit dem Menschen einen hochwertigen Arbeitsplatz und ihr individuelles Glück finden. Aber hält Bildung, was man von ihr erwartet?
Antworten gibt Konrad Liessmann, Professor für Philosophie an der Universität in Wien.

INHALT  Wissen: Aula
ANMODERATION:
Mit dem Thema: „Wie verändert Bildung die Persönlichkeit?“
Am Mikrofon: Ralf Caspary.

Es gibt ein schönes bildungsbürgerliches Ideal: Man ist gebildet, liest Goethe,
Thomas Mann und Kant, man kennt sich aus in ethischen Fragen, und man wird
dadurch ein anderer Mensch und kann sich und die Welt unendlich verbessern. Das
ist die eine Perspektive.
Die andere sagt: Nein, wer viel liest oder klassische Musik hört, wird überhaupt kein
anderer, kein besserer Mensch, Bildung verändert nichts.
Stimmt das? Antworten gibt Konrad Liessmann, Professor für Philosophie an der
Universität Wien.

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Konrad Liessmann:
Nicht alles, was uns beeinflusst und verändert, nicht alles, was wir lernen, bildet uns
auch. Bildung muss von den vielen Faktoren, die das Leben eines Menschen auch
bestimmen können und die von den genetischen Dispositionen über die Zufälle der
Geburt bis zu den Erfahrungen des Lebens reichen, unterschieden werden. Bildung
in diesem Sinne hieße, sich bewusst einem Prozess der Veränderung auszusetzen
und nicht zu warten, was das Leben so aus uns macht.
Nur unter der Voraussetzung, dass nicht jede Form, in der sich Menschen
entwickeln, Bildung genannt werden kann, setzt die Rede von Bildung eine
entscheidende Differenz: die zwischen "gebildet" und "nicht gebildet". Nebenbei: Die
Verwendung der Begriffe "bildungsnah" und "bildungsfern" ist höchst problematisch,
da diese räumliche Metaphorik suggeriert, dass Bildung irgendwo platziert ist und
man sich in mehr oder weniger großer Distanz dazu aufhalten kann; diese
Formulierungen unterschlagen die Anstrengung, die darin besteht, dass Bildung als
Arbeit an sich selbst begriffen werden muss. Zumindest der Begriff "bildungsnah"
wird ja nicht synonym für den "Gebildeten" verwendet, sondern markiert eher die
Möglichkeit, standardisierte Bildungskarrieren mit den entsprechenden Zertifikaten
aufgrund des Milieus, in das man hineingeboren wurde, ohne größere Probleme
durchlaufen zu können.
Worin besteht nun der eigentliche Anspruch von Bildung gegenüber Ereignissen, die
das Leben des Menschen selbstverständlich prägen können? Man denke dabei an
Begriffe wie Erfahrungen, schicksalhafte Begegnungen, Notsituationen, Krankheiten,
aber auch Trainings sowie praxisorientierte oder milieugesteuerte Lernprozesse aller
Art. Darüber ließe sich trefflich streiten. Die Bildungsdebatten sind spätestens seit
dem 18. Jahrhundert gekennzeichnet von den Versuchen, solch einen normativen
Gehalt, also die eigentlichen Bildungsziele, zu explizieren. Bildung ist ohne das Bild
eines guten und gelungenen, eines mündigen, freien und selbstbestimmten Lebens,
das es anzustreben gilt, nicht denkbar.
Uns interessiert aber im Moment weniger eine Rekonstruktion oder Wiederaufnahme
dieser Debatten als vielmehr die Frage, was das Konzept der "Selbstveränderung
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durch Bildung" überhaupt bedeuten kann. Wer ist es denn, der sich selbst durch
Bildung verändern will? Und welche Möglichkeiten dafür gibt es? Dem Begriff der
„Selbstveränderung“ können zumindest drei Bedeutungen unterstellt werden.
Erstens: Ich bin es, der sich in seinem Identitätsgefühl verändert, und dies aus freien
Stücken; man könnte hier von Selbstbildungsautonomie sprechen. Ich möchte ein
anderer werden.
Zweitens: Es ist mein Selbst, das durch Bildung verändert wird; dies setzt ein
substanzielles "Selbst" voraus, das durch eine aktivierende und kontrollierende IchInstanz verändert werden kann: Bildung als Selbstsuche oder Selbstverwirklichung.
Drittens: Ich möchte nicht nur mich oder mein Selbst, ich möchte oder ich muss mein
ganzes Leben ändern. Bildung als radikaler Einschnitt, Bildung als Zäsur in einer
Biografie.
Zu diesen drei Varianten nun einige kursorische Anmerkungen:
Selbstveränderung durch Bildung im Sinne eines autonomen Projekts des Subjekts
geht davon aus, dass es so etwas wie die Einsicht in das Ungenügen, in die Defizite
einer Ich-Identität geben kann und dann gezielt Bildung eingesetzt wird, um dieses
Ungenügen, dieses Defizit zu beheben. Das ist sicher möglich. Allerdings hält sich
bei konventionellen Bildungsprozessen dieser Anspruch eher in Grenzen. Wohl
erinnert dies an das Konzept einer Persönlichkeitsbildung, die vom idealtypischen
Bild einer reifen Persönlichkeit ausgeht und die Bildungsanstrengungen an diesem
Bild orientiert, tatsächlich aber werden Bildungsanstrengungen selten unternommen,
um das eigene Ich zu modifizieren. Zwar ist es unbestritten, dass Menschen – sei es
aus Neugier, Interesse oder Gründen der beruflichen Qualifikation – Dinge lernen
und sich Wissen aneignen, was auch auf die Entwicklung Ihrer Persönlichkeit einen
Einfluss haben kann, die damit einhergehende Veränderung eines Ich ist dabei
allerdings nicht das vorrangige Ziel. Niemand lernt eine Sprache, liest einen Roman,
studiert Astronomie, betreibt Mathematik, erwirbt Programmierkenntnisse, um sich
primär in seiner Identität zu verändern.
Das bedeutet nicht, dass man durch solche Bildungsprozesse nicht verändert wird –
aber die Richtung und die Intensität sind dabei der Kontrolle des Subjekts
weitgehend entzogen. Persönlichkeitsbildung ist so gesehen das vielleicht wichtigste
Nebenprodukt von Lernprozessen. Wir sprechen aber auch gerne davon, dass
Identitäten auch konstruiert und deshalb veränderbar sind. Identitätsdebatten sind
jedoch so gelagert, dass man diese Veränderungen einer Ich-Identität weniger als
Bildungsprozesse, sondern als Durchsetzung von eher emotional bestimmten IchKonzepten in einer diesen gegenüber skeptischen sozialen Umwelt beschreiben
müsste. Das betrifft religiöse, ethnische und kulturelle Identitäten ebenso wie die
Frage der sexuellen Orientierung. Wohl können unter diesen Gesichtspunkten
Identitäten verändert oder variiert werden, der Begriff der Bildung scheint diesen
Veränderungsprozessen gegenüber allerdings seltsam unangemessen.
Ähnlich liegt der Fall bei dem neuerdings viel diskutierten Modell der
Selbstoptimierung. Natürlich hat Bildung sehr viel mit Gestaltung und der Arbeit an
sich selbst zu tun. Bei der Selbstoptimierung geht es in der Regel allerdings darum,
bestimmte Eigenschaften eines Menschen nach effizienztheoretisch bestimmten
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Parametern zu verbessern, etwa das Aussehen, die körperliche Leistungsfähigkeit,
die psychische Belastbarkeit, die Intelligenz, das Gedächtnis oder auch nur die
Ernährungsgewohnheiten. Alles Maßnahmen, die das Ich nicht unberührt lassen
werden, auch wenn dieses Ich dabei nicht im Fokus des Veränderungsprozesses
steht. Allerdings kann es hier durchaus zu interessanten Überschneidungen
kommen, etwa wenn jemand seine Leistungsfähigkeit und Widerstandskraft durch
psychotechnische Optimierungsmaßnahmen steigern will, zu denen etwa auch die
Lektüre von Büchern wie Rilke für Gestreßte oder Nietzsche für Manager gehört.
Damit würde durch diese Strategien ein Anschluss an kanonische Bildungsgüter
hergestellt werden, die nun als Werkzeuge der Optimierung dienen.
Es kann aber sein – und dies betrifft unsere zweite Variante –, dass jemand nicht mit
seinem Wissen, seinen Fähigkeiten, seinem Ich-Gefühl oder seinem Affekthaushalt,
sondern mit seinem Selbst insgesamt unzufrieden ist und es gezielt durch Bildung
verändern möchte. Solch ein Mensch möchte ein Selbst vielleicht überhaupt erst
finden, herausfinden, wer er eigentlich ist, unter Umständen möchte er vielleicht
überhaupt ein ganz anderer werden. Die Gefahr ist groß, dass dieser Mensch in eine
Situation gerät, die man das Kierkegaard-Paradoxon nennen könnte. Der dänische
Philosoph Søren Kierkegaard hat dieses in seinem epochalen Buch Die Krankheit
zum Tode entwickelt. Er hat darin die These entfaltet, dass Identitätskrisen prinzipiell
die Form der Verzweiflung und die Verzweiflung prinzipiell die Form der
Identitätskrise zukommt. Auch wenn man glaubt, man verzweifelt an etwas – an einer
Situation, an einem Schicksalsschlag, an einem Ereignis – verzweifelt man, so
Kierkegaard, eigentlich immer an sich selbst. Man kann, so der dänische Philosoph,
dabei in dreifacher Weise diese prekäre Suche nach seinem Selbst erfahren: Man
kann "verzweifelt sich nicht bewusst sein, überhaupt ein Selbst zu haben“, man kann
„verzweifelt nicht man selbst sein wollen“ oder man kann „verzweifelt selbst sein
wollen."
Kierkegaard demonstriert dies plastisch an einem herrschsüchtigen Menschen,
dessen Losung es ist: „Entweder möchte ich Caesar werden oder gar nichts“. Wird
dieser Herrschsüchtige nun nicht Caesar, dann verzweifelt er darüber – aber dies
bedeutet, "dass er, eben weil er nicht Caesar geworden ist, es nun nicht aushalten
kann, er selbst zu sein." Wäre er aber Caesar geworden, wäre er auch nicht er selbst
geworden – denn er war nicht Caesar –, sondern ein anderer. Er wäre "verzweifelt
sich selbst los geworden".
Jeder Mensch, der versucht, einem Idol nachzueifern, dieses zu kopieren, so zu sein
wie ein anderer, kennt wohl dieses Problem. Der Verzweifelnde verzehrt sich dabei
selbst auf der Suche nach seinem Selbst. Und dies deshalb, weil das Selbst nichts
ist, was man irgendwo finden und dann behalten könnte, sondern das Selbst ist eine
dynamische Beziehung, keine Entität ist, die man irgendwo finden könnte, sondern
eine dynamische Beziehung. Kierkegaard hat dies wunderbar formuliert: Das selbst
ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält. Wir bilden unser Selbst, indem wir
uns zu uns selbst fragend, kritisch, liebend, ablehnend verhalten. Bildung kann unter
diesen Gesichtspunkten nicht bedeuten, dass diese oder eine andere Form der
Selbstveränderung gelingen könnte, ohne die Form der Verzweiflung anzunehmen,
sondern Bildung hieße dann die Einsicht, dass Selbstveränderung in einem
substanziellen Sinn ohne Verzweiflung, ohne Krisen nicht möglich ist. In diesem
Sinne wäre Bildung weniger Motor der Selbstveränderung, als die Erkenntnis, dass
die Melancholie die Begleiterin aller Formen der Identitätssuche sein wird.
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Geht es allerdings darum, nicht nur sein Selbst, sondern sein Leben überhaupt zu
ändern, setzt dies einerseits Kriterien voraus, an denen man das Ungenügen des
Lebens messen oder erfahren kann, andererseits kann es aber nur eine bestimmte
Form der Lebensveränderung sein, die ausgerechnet durch Bildung ermöglicht
werden soll. Sehr oft werden Lebensveränderungen ja durch andere Umstände
bewirkt: etwa durch einen Orts-, Partner- oder Berufswechsel. Dass es Zeit wäre,
sich zu verändern und etwas Neues zu machen, dass man dran gehen sollte, sich
wieder einmal neu zu erfinden – diese Redewendung markieren ja weniger die
Sehnsucht danach, sein Leben radikal gerade durch Bildung umzustellen, als
vielmehr den Wunsch, einmal ein anderes Lebenskonzept auszuprobieren.
Man könnte dies das rilke-sloterdijksche Anforderungsprofil nennen. In Rainer Maria
Rilkes berühmten Gedicht Archaïscher Torso Apollos hat der Betrachter einer
kopflosen antiken Statue plötzlich das Gefühl, von diesem Kunstwerk selbst
betrachtet zu werden: "… denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht". Der
Betrachter fühlt sich plötzlich des Ungenügens seiner Existenz schlagartig überführt
und weiß nun: „Du musst dein Leben ändern.“ Der Philosoph Peter Sloterdijk hat
diesen Vers „Du musst dein Leben ändern“ zu Titel und Programm eines
umfangreichen Buches gemacht. Dieses rilke-sloterdijksche Modell der radikalen
Lebensänderung geht also von einer markanten ästhetischen Bildungserfahrung aus:
Das Kunstwerk hilft uns, uns zu erkennen und zu verändern.
Solche Bildungserfahrungen sind aber nicht planbar oder gar in eine Didaktik zu
überführen: Die Lektüre dieses Rilke-Gedichts in der Sekundarstufe eines
Gymnasiums wird wahrscheinlich weniger zu eminenten Ansprüchen an
Selbstveränderung als vielmehr zu Klagen über die ökonomische Nutzlosigkeit und
Lebensferne von Gedichten führen. Aber immerhin: Es ist dieses Konzept, das noch
am ehesten einen Widerspruch zwischen individueller Bildung und gesellschaftlicher
oder politischer Macht aufbrechen lassen könnte. Denn es kann nicht
ausgeschlossen werden, dass ein Mensch durch die Lektüre eines Gedichts oder
durch den Besuch eines Museums beschließt, mit den Normen und Vorgaben zum
Beispiel einer effizienzorientierten Wettbewerbsgesellschaft oder einer medial
inszenierten Spaßkultur zu brechen.
Dass es – in unserem Fall – ein Gedicht ist und zwar von Rainer Maria Rilke, das
diesen Impuls zur Veränderung setzt, ist aber alles andere als zufällig. Darin drückt
sich jener Bildungsanspruch aus, der eben keine beliebigen Gegenstände, an denen
sich vielleicht Kompetenzen erwerben und erproben ließen, kennt, sondern ein
ästhetisches Ereignis ersten Ranges postuliert, das allein diesen
Veränderungsimperativ „Du musst dein Leben ändern“ aussprechen darf.
Existentielle Bildungserfahrungen lassen sich nicht an beliebigen, sondern nur an
exzeptionellen Objekten machen. An misslungenen oder drittklassigen Kunstwerken
kann vielleicht die Urteilskraft geschult werden, aber die tiefe Berührung, aus der die
Kraft zu einer Lebensveränderung entspringen kann, bleibt wohl jenen Werken
vorbehalten, deren ästhetische Qualität uns eine Ahnung von den tiefen
Dimensionen des Menschseins zu geben vermag. Sofern Bildung ästhetische
Bildung ist, werden die vielzitierten Bildungserlebnisse um solche Begegnungen und
Konfrontationen kreisen.
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Diese durchaus umstrittene Form einer krisenhaften Bildungserfahrung, die als
reflexive Kritik an bestehenden Lebensverhältnissen in Erscheinung tritt, gehorcht
letztlich der Einsicht Friedrich Nietzsches, dass Bildung etwas Kompliziertes und nur
für wenige Erreichbares sei, und dass Bildung letztlich einsam mache: Nur ich
ändere mein Leben, auch wenn Rilke zu all seinen Lesern spricht. Solche
ästhetischen Bildungserfahrungen lassen sich weder verallgemeinern noch in einen
Kompetenzraster zwängen, schon gar nicht standardisieren oder curricular regeln.
Sie bleiben jenen vielleicht sogar schicksalhaften Zufälligkeiten überantwortet, die
sich jeder Form von Bildungsplanung, Überprüfung, Kontrolle und Evaluation
entziehen. Sein Leben zu ändern ist kein Output, den Bildungsprogramme, wie
wohlmeinend gedacht auch immer, versprechen könnten. Dass solches trotzdem
immer wieder versucht wird, gehört zu den unfreiwillig komischen Seiten
institutionalisierter Bildungsanstrengungen.
Gehen wir einen Schritt weiter. Was kann Bildung zur Veränderung einer
Gesellschaft beitragen?
Um diese Frage zu beantworten, muss man sich klar sein, dass doch ziemlicher
Konsens darüber herrscht, dass moderne Gesellschaften ohnehin nur im Modus der
Veränderung existieren können. Dass wir im Zeitalter der Beschleunigung leben, ist
eine Selbstverständlichkeit geworden, dass die Welt in wenigen Jahren eine ganz
andere sein wird als heute, scheint vielen gewiss zu sein. Die Dynamik dieser
Veränderung resultiert aber schon lange nicht mehr aus sozialen Spannungen und
daraus abgeleiteten politischen und sozialen Revolutionen, die auch durch Bildung,
verstanden als Aufklärung, initiiert oder motiviert sein können, sondern diese
Veränderungen entstehen aus technologischen Innovationen und den damit
verbundenen technischen Revolutionen. Der vielzitierte Prozess der Digitalisierung
aller Lebensbereiche ist dafür nur das aktuellste Beispiel.
Der Bildung wird in diesem Prozess permanenter technikinduzierter
Selbstveränderung der Gesellschaft eine durchaus ambivalente Rolle zugeschrieben.
Vor allem in Deutschland gelten Bildung und Bildungssysteme eher als hemmende
Elemente in diesem Veränderungsprozess. Weder Bildungspolitiker, noch Schulen,
schon gar nicht Lehrer hätten die Zeichen der Zeit erkannt, sie ignorierten den
technischen Fortschritt, die Digitalisierung der Klassenzimmer stecke noch in den
Kinderschuhen, auch Universitäten hätten den rasant wachsenden Weltmarkt für
digitalisierte Lehre verschlafen, verstaubte Ideale wie die Einheit von Forschung und
Lehre müssten deshalb rasch beseitigt werden zugunsten technologieaffiner
Spitzenforschung auf der einen und digital aufgerüsteter effizienter Lehre auf der
anderen Seite. Immer wieder hört man diese Klagen. Die Hoffnung, die Probleme
von Schulen und Universitäten durch den Einsatz digitaler Endgeräte zu lösen,
beflügelt zumindest die Märkte. Ob damit allerdings der Bildung gedient ist, ist
ziemlich fraglich.
Die Frage, ob Bildung etwas zur Veränderung von Gesellschaften beitragen kann,
geht allerdings in einem weiteren Sinn von der Vorstellung aus, dass gebildete
Menschen weniger anfällig für jene Vorurteile, Stereotype, Ängste und Aggressionen
sind, die unserer gegenwärtig Gesellschaft so zu schaffen machen. So ist etwa der
Gedanke, dass demokratische Gesellschaften nur mit gebildeten Bürgern
funktionieren können, weit verbreitet. Gegen Fremdenfeindlichkeit,
Rechtspopulismus und totalitäre Versuchungen aller Art soll Bildung wie eine
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Schutzimpfung wirken, die nicht früh genug verabreicht werden kann. Auch wenn
dies der historischen Erfahrung widerspricht, gehört der Glaube an Bildung als eine
gesellschaftspolitische Hygienemaßnahme zum Arsenal unserer spätaufklärerischen
Bildungslegitimationen.
In elaborierter Form hat dies etwa die amerikanische Philosophin Martha Nussbaum
vorgeführt und vor allem in der musischen Bildung, in der Auseinandersetzung und
Produktion mit und von Literatur und Musik jene Voraussetzungen gesehen, die zu
toleranten, verständnisvollen und partizipierenden Akteuren einer demokratischen
Gesellschaft führen sollen. Hinter diesem Konzept verbirgt sich ein
bildungspolitischer Imperativ, der gegen alle Formen der Anpassung, Qualifikation
und bloßen Talentpflege das unverstellte Menschsein im Auge hat und von dem nicht
gesagt werden kann, ob er überhaupt je gelingen kann. Bildung erscheint hier als
Anspruch, der die Herrschaftsverhältnisse, denen sie gleichwohl unterliegt,
konterkarieren soll. Das Postulat, Gesellschaften durch diese Form von Bildung zu
verändern, unterstellt, dass diese Gesellschaften durch inhumane oder ungerechte
Verhältnisse charakterisiert sind, die dennoch in ihrer Mitte, das heißt an ihren
Schulen und Universitäten, die Möglichkeiten zu ihrer eigenen Kritik, vielleicht sogar
Beseitigung bereitstellen sollten.
Schon Karl Marx, der ein großes Interesse an der Veränderung der Gesellschaft
hatte, hat diesen Widerspruch erkannt: "Die materialistische Lehre von der
Veränderung der Umstände und der Erziehung vergisst, dass die Umstände von den
Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muss. … Das
Zusammenfallen des Ändern[s] der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder
Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefasst und rationell verstanden
werden." Man versteht: Durch Tanzen allein werden versteinerte Verhältnisse nicht
zum Tanzen gebracht.
Aber können Bildungseinrichtungen tatsächlich zu Zentren der sozialen Revolutionen
werden? Die Studentenbewegung der 60er-Jahre war davon überzeugt gewesen. Es
war aber vielleicht doch fahrlässig zu glauben, dass Gesellschaften ausgerechnet an
ihren Schulden die Verfahren zur Verfügung stellen sollten, um diese Gesellschaften
radikal zu verändern. Solange Gesellschaftsveränderung der Bildung überantwortet
wird, wird diese Gesellschaften wahrscheinlich nicht im anvisierten Sinne verändern.
Im digitalen Zeitalter etwa bilden die Schulen in ihren Tablet-Klassen Kinder und
Jugendliche nicht zu mündigen und kritischen Bürgern, die den totalen
Versuchungen der Internet-Konzerne widerstehen könnten, sondern machen sie
wahrscheinlich eher zu deren Agenten.
Augenmerk wäre deshalb auf jenen Diskurs zu legen, der die verändernde Kraft von
Bildung weniger in einer sozialen und politischen Veränderung des Gemeinwesens,
als vielmehr in der Auseinandersetzung mit den neuen gesellschaftsverändernden
Technologien sieht. Diese Technologien und die damit verbundenen
Versprechungen haben ja mittlerweile das Denken in sozialen Perspektiven
aufgezehrt, wie es der Schriftsteller Karl-Markus Gauß bündig formuliert hat: "Wenn
die sozialen Utopien zu Schanden gehen, verächtlich gemacht werden oder
vergessen werden, gähnt eine Lücke auf, die wie geschaffen dafür ist, dass in sie die
Verheißungen der Technologie gestopft werden.“
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Gegenüber diesen Verheißungen hinkt Bildung entweder nach – wenn etwa davon
die Rede ist, dass die Umwandlung der Arbeitswelt in Richtung "Industrie 4.0",
Digitalisierung und Automatisierung zu einer permanenten Selbstschulung in Sachen
digitaler Kompetenz zwingen werde; oder die Bildung soll als kritisches Korrektiv
fungieren – wenn etwa Sensibilisierungsprogramme für den Umgang mit sozialen
Medien, Hass-Postings, Fake-News, Big Data, Suchalgorithmen und
Selbstoptimierungstechnologien als neue Bildungsziele formuliert werden. Wirklich
gesellschaftsverändernde Potenziale schreibt diesen Bildungsprogrammen allerdings
kaum noch jemand zu, auch wenn manchmal der Hoffnung Ausdruck verliehen wird,
dass bestimmte Formen von Wachheit, Aufmerksamkeit und Reflexivität zu einem
geänderten Verhalten führen könnten, das imstande sein könnte, die Macht und die
Monopole der Internet-Konzerne, wenn nicht zu brechen, so doch in die Schranken
zu weisen.
Wie immer man es aber dreht und wendet: Ob Bildung ein
Selbstveränderungspotenzial inmHinblick auf Individuen oder Gesellschaft
zugesprochen werden kann, hängt letztlich vom Mut ab, Bildung inhaltlich und
normativ zu bestimmen. Solange Bildung nur formal als Durchlaufen von
Zertifizierungsstellen oder Sammeln von Leistungspunkten definiert oder auf den
Erwerb von Kompetenzen und zeitgemäßen Kulturtechniken reduziert wird, erwächst
aus diesen Bestimmungen weder eine notwendige noch eine mögliche Kraft zur
Veränderung. Allenfalls kann der Zufall dafür sorgen, dass jemand, der an beliebigen
Texten eine veritable Lesekompetenz erworben hat, auch ein Buch entdeckt, das
sein Leben verändert. In der Idee der Kompetenz steckt dieses
Veränderungspotenzial nicht; wohl aber in der Idee, dass Menschen mit dem
Anspruch auf Bildung bestimmte Bücher lesen können sollten, weil diese Bücher
aufgrund ihrer Qualität, Bedeutung, Schönheit oder Widerständigkeit die Möglichkeit
in sich tragen, einem Leben ganz andere Perspektiven zu eröffnen.
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