SWR2 Wissen: Aula - Andreas Weber: Zurück zur beseelten Natur . Plädoyer für einen Perspektivwechsel

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 Natur -Wechselseitigkeit (A. Weber)
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SWR2 Wissen: Aula - Andreas Weber: Zurück zur beseelten Natur . Plädoyer für einen Perspektivwechsel
Sendung: Sonntag, 17. März 2019, 8.30 Uhr . Erst-Sendung: Sonntag, 25. November 2018, 8:30 Uhr Redaktion: Ralf Caspary . Produktion: SWR 2018
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
Anmoderation: Ralf Caspar. Produktion SWR2 Wissen: Online: Susanne Paluch (2018)  Stand: 15.3.2019,

AUSGANGSPUNKT
Im Oktober 2018 forderten 6.000 Wissenschaftler aus aller Welt radikale Veränderungen, um die Erderwärmung aufzuhalten. Und dieses Jahr unterstützen viele Wissenschaftler die protestierenden Schülerinnen und Schüler. Es geht um Veränderungen, die unser Verhältnis zur Natur betreffen, denn wir können sie nicht länger als rein materielles System begreifen, das uns Menschen letztlich fremd ist, das wir gerade deshalb ausbeuten. Die Wissenschaftler haben ihre Forderungen übrigens mit dem jüngsten Klimabericht des IPCC* verbunden.
(* Der Intergovernmental Panel on Climate Change  ist eine Institution der Vereinten Nationen. In seinem Auftrag tragen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weltweit den aktuellen Stand der Klimaforschung zusammen und bewerten anhand anerkannter Veröffentlichungen den jeweils neuesten Kenntnisstand zum Klimawandel. Der IPCC bietet Grundlagen für wissenschaftsbasierte Entscheidungen der Politik, ohne jedoch konkrete Lösungswege vorzuschlagen oder politische Handlungsempfehlungen zu geben).
Letztlich geht es dabei um einen neuen Naturbegriff, mit dem wir die ökologische Zerstörung aufhalten können. Wie der aussieht, sagt der Biologe, Philosoph und Buchautor Andreas Weber.

ÜBERBLICK
Unwetter, Plastikmüll, Dürrekatastrophen, Luftverschmutzung, Gletscherschwund...
- so geht es nicht weiter. Ein Wandel, davon ist der Philosoph Andreas Weber überzeugt, ist nur möglich durch ein radikal neues Verhältnis zur Natur und ihrer Seele.
- wir können nicht mehr so weitermachen wie bisher. Ein Wandel, davon ist der Philosoph Andreas Weber überzeugt, ist nur möglich durch ein radikal neues Verhältnis zur Natur und ihrer Seele.
Der Vortrag von Andreas Weber auf einen Blick:
1. Überwindung der kapitalistischen Sichtweise
Wir sägen nicht nur den Ast ab, auf dem wir sitzen. Wir sägen den Ast ab, der wir sind. Was unser Klima und die Leben von Abermillionen Arten zerstört, das ist die lange herrschende Idee, dass die Natur – und letztlich alle Wesen außer den Menschen – Dinge sind. Objekte. Und dass es in dieser Welt darum gehe, über Objekte so zu verfügen, dass man sich den besten Platz vor anderen erobert. Das ist das Herz des Kapitalismus – Verdrängung des Schwächeren durch geschickte Nutzung der Ressourcen.
2. Eine neue Gegenseitigkeit
Die Natur ist nicht die seelenlose Mechanik eines großen Fressens, sondern ein Mosaik von Lust und von Betroffensein, von Sinn und schöpferischer Verwandlung. Alles, was lebt, hat eine Innenwelt und kann fühlen.
 Herbstwald
Bäume haben eine Seele: Sie schließen Freundschaft, unterstützen sich, warnen vor Gefahren.
.Wenn alles fühlt, dann ist die Richtung klar, in der wir unsere Gesellschaft radikal ändern müssen: hin auf eine Gegenseitigkeit mit allen anderen Wesen. Aufhören, diese als Dinge zu behandeln, und sie endlich als Gleichgestellte begrüßen – als Gleichempfindende, Gleichfreudige und Gleichleidende.
3. Die Entdeckung der Biopoetik
Die Biologie befindet sich auf dem Quantensprung. Sie erkennt, dass es keine restlos voneinander getrennten Individuen gibt. Ihre wissenschaftliche Revolution ist nicht technisch, sondern sentimental. Denn wer Lebewesen erforscht, ist selber eins. Wer Leben untersucht, spricht immer auch sich selbst. Was gestern noch kühle Naturwissenschaft war, wird dadurch zur Biopoetik, zu einer Hermeneutik der Lebendigkeit in der ersten Person.
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Autor
Der Philosoph und Biologe Andreas Weber arbeitet als Buchautor und Journalist.
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INHALT
Andreas Weber:
Der Zusammenbruch, den das IPCC noch verhindern möchte, hat schon begonnen, direkt vor der Haustür. Eine Dürre des Ausmaßes von 2018 herrschte im Nordosten Europas zuletzt im Jahre 1540. Ein heißer Sommerwind treibt noch Mitte Oktober Staub vor sich her, die krautigen Pflanzen sind zu grauem Pulver zerfallen, die Bäume lösen schon im August ihre vergilbten Blätter. Es ist ein Herbst zur Unzeit. Das fast weiße Gelb der gezackten Ahornblätter zwischen dem Grün, das noch aushält, wie silberne Strähnen im Haar, nicht gereift, sondern überrascht. Und heute, Ende November 2018, sind Rhein und Elbe über weite Strecken von Wasser entleert, zu seicht, um vollbeladene Schiffe zu tragen, die Brennstoffe und Industrieprodukte zu transportieren.
Der Dürresommer ist vielleicht nicht allein dem menschlichen Reißen an der Fruchtbarkeit und ihren Gesetzen geschuldet, aber er weist doch darauf hin. Er weist auch darauf hin, weil so wenige ein Bedürfnis nach Gegenseitigkeit zeigen. Bäume verdorren in den Straßen vor den Fenstern der Anwohner, anscheinend unbemerkt. Immer wieder muss ich, wenn ich einen meiner Baumpaten mit Wasser aus dem Hahn eines Wochenmarktes tränke, Anfeindungen über mich ergehen lassen, dass ich das Nass nicht bezahlt hätte.
Es scheint in diesen Dürretagen eine seltsame Baumblindheit zu herrschen, eine Blindheit gegen alles, was sich von selbst entfaltet und zu blühen begehrt. In Wahrheit ist es auch ein Unvermögen, das eigene Begehren nach Blüte zu erfassen. Es ist eine Blindheit dafür, dass die schmachtenden Körper der Wesen, die mit ihrem Laub die Straßen beschatten – mit jenen sonst saftig grünen Blättern, die jetzt, über Nacht vergilbt, wie ein zerstreuter Trauerflor zu Boden sinken – unsere Körper sind, dass sie Bedürfnisse haben wie wir, dass wir ihnen helfen können, diese zu stillen, weil sie so sind wie wir.
Die Natur nehmen viele Menschen bis heute als ein bloß äußeres Setting wahr, dem sie nichts schulden: etwas außerhalb ihrer Körper und außerhalb ihrer Gefühle. Was aber wenn der verdorrende Kirschbaum letztlich nichts anderes ist als wir selbst? Um eine solche Sicht in unser Herz einzulassen, bedarf es in der Tat unerhörten Wandels. Einer Revolution der Seele – und eine tiefgreifende Neuausrichtung unserer Beziehungen.
„Rasche, weitreichende und nie dagewesene Änderungen in allen Belangen unserer Gesellschaft“ – das ist radikal, weil es von Mainstream-Experten kommt, nicht aus kulturkreativen Kreisen. Es ist radikal, und doch immer nicht ganz zu Ende ausgesprochen. Darum will ich übersetzen: Es heißt Umsturz. Es heißt, verstehen, dass wir selbst Natur sind und dass Natursein immer heißt, Seele zu sein. Es heißt, dass wir alle – die Menschen, die Linden, die Nachtigallen, die Erde und das Wasser – Partner in einer symbiotischen Gegenseitigkeit sind, die nur fruchtbar bleiben kann, wenn sie auf seelischer Gemeinschaft und fairer Teilhabe beruht.
In Ankunft des neuen Zeitalters, das wir auf den Namen „Anthropozän“ – die neue Epoche des Menschen – getauft haben, ist die Forderung der 6.000 einer der einschneidenden Wendepunkte. Sie verlangt, dass wir unser Verhältnis zu allem, was lebt, auf radikale Weise überdenken. Zu einander, vor allem aber zu dem, was wir immer „Natur“ genannt haben. Merken Sie sich, verehrte Hörerinnen und Hörer,
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diesen Tag, und das, was die Forscher verlangen. Es ist der Ruf danach, das, was wir schon lange wissen, als Wirklichkeit anzuerkennen. Was wir jetzt brauchen – nicht subjektiv brauchen, nach Meinung von Blumenkindern und Müslis, sondern objektiv brauchen, als Ergebnis wissenschaftlicher Abwägung, ist ein Ende des trennenden Grabens zwischen “der Natur” und „den Menschen“. Wir brauchen einen neuen Bund.
Wir sägen nämlich nicht nur den Ast ab, auf dem wir sitzen. Wir sägen den Ast ab, der wir sind. Was unser Klima zerstört, aber ja längst nicht nur das, sondern auch die Leben von Abermillionen Arten, die gemeinsam mit uns das funkelnde Netz des Lebens auf diesem blauen Planeten bilden, ist die lange herrschende Idee, dass die Natur – und letztlich alle Wesen außer den Menschen – Dinge sind. Objekte. Und dass es in dieser Welt darum gehe, über Objekte so zu verfügen, dass man sich den besten Platz vor anderen erobert.
Das ist das Herz des Kapitalismus – Verdrängung des Schwächeren durch geschickte Nutzung der Ressourcen. Und es ist lange auch die Botschaft der Biologie gewesen: Wettkampf der Arten um knappe Güter (knappes Fressen, mäkelige Geschlechtspartner, begrenzte Lebensräume) und Sieg des Besten. Die Welt, so war die Mainstream-Lesart lange Zeit, ist kalt und herzlos. Sinn gibt es nur, wenn wir ihn selbst erfinden – oder uns gegen seinen Mangel durch den Kauf eines netten Objekts betäuben.
Die Baumblindheit des Dürrefrühjahrs, -sommers und –herbstes 2018 ist das Ergebnis einer Betäubung. Baumblindheit ist Anästhesie. Anästhesie heißt „mit den Sinnen nicht wahrnehmen“. Sie ist der Verzicht darauf zu fühlen. Und hat man uns nicht seit Jahrzehnten eingetrichtert, dass die Welt in Wahrheit völlig gefühllos sei? Und auch unsere eigenen Gefühle seien Illusion, erfunden von egoistischen Genen, damit wir beim Kampf um den besten Partner die anderen aus dem Felde schlagen?
Was aber, wenn alles ganz anders wäre? Wenn sich die Natur nicht als seelenlose Mechanik eines großen Fressens enthüllte, sondern als Mosaik von Lust und von Betroffensein, von Sinn und schöpferischer Verwandlung? Wenn nicht nur Menschen eine Innenwelt hätten, sondern alles, was lebt? Könnten wir uns dann auf diesem Planeten nicht ein wenig mehr willkommen fühlen? Und läge in einem solchen Willkommenfühlen nicht Hoffnung für die von Öko- und Klimakrisen bedrohte Welt, und somit für uns?
Wenn alles fühlt, dann ist die Richtung klar, in der wir unsere Gesellschaft radikal ändern müssen: Hin auf eine Gegenseitigkeit mit allen anderen Wesen. Aufhören, diese als Dinge zu behandeln, und sie endlich als Gleichgestellte begrüßen – als Gleichempfindende, Gleichfreudige und Gleichleidende. Bis vor kurzem galt solche Hoffnung als sentimentale Schwärmerei. Heute aber wird sie immer stärker von klugen Denkern des Mainstreams propagiert.
Der Zusammenbruch des Klimas, wie wir es kannten, lehrt uns auf brutale Weise, dass die Idee, der Mensch sitze draußen, die Natur sei eine „black box“, mit er man möglichst effizient umgehen muss, an der Wirklichkeit zuschanden geht. Im Treibhaus gibt es kein draußen. Es gibt keine „Fitteren“, die nicht auch betroffen wären. Es gibt niemanden, der sich langfristig der Gegenseitigkeit entziehen kann, ohne dass alle dafür zahlen.
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Die Erkenntnis, dass Leben eine Innenseite hat, die auf Gegenseitigkeit drängt, macht gegenwärtig besonders die Biologie. Nachdem die Wissenschaft des Lebens lange die Metapher vom blinden Wettkampf vorangetrieben und in ihrer Beschäftigung mit dem Leben dieses auf die Gesetze des Toten zurückgeführt hat, begreift sie nun, dass diese Welt keine Maschine ist. Vielmehr zeigt sich die ökologische Wirklichkeit als ein aus Materie und Gefühlen, aus Strukturen und Bedürfnissen komponierter Tanz – ein zutiefst ausdrucksvolles und poetisches Geschehen. Sie ist ein Raum der Begegnung und Verwandlung, also ein Seelenraum.
Die Biologie gebiert sich wie keine andere Naturwissenschaft gerade selbst neu. Konzepte, die Biologen noch in den 1990er-Jahren so sicher galten wie Newtons Schweregesetz vor dem Einschlag der Relativitätstheorie, sind heute als Altlasten entsorgt. Biologen haben das Maschinenmodell der Wirklichkeit verabschiedet. Stattdessen erkennen sie, dass wir Einheimische einer Welt des miteinander geteilten Atems sind und nicht Ausländer zwischen Zombies in einem erbarmungslosen Überlebenskampf.
So ist das einst jedem Schüler eingebläute Dogma, das die Umwelt niemals die Gene beeinflussen kann, begraben. Mittlerweile weiß man, dass Traumata, die eine Großmutter erlebt hat, noch das Genom der Enkel durcheinanderbringen können. Botaniker entdecken ein geheimes Leben bei Pflanzen, die fühlen und kommunizieren wie wir, nur anders. Zoologen weisen Emotionen heute sogar bei so roboterhaft wirkenden Wesen wie der Hummel nach, die sowohl unter Verstimmung leiden wie Euphorie auszudrücken vermag. Gene sind für Entwicklungsbiologen nicht mehr codierte Befehle, sondern Partituren, die der Organismus je nach Verfassung anders interpretiert.
Die Biologie befindet sich auf dem Quantensprung. Wie Physiker vor hundert Jahren begreifen mussten, dass unendlich weit entfernte Partikel, wenn sie gemessen werden, sich verändern und somit unsichtbar mit den Beobachtern zusammenhängen, erkennen heute Biologen, dass es keine restlos voneinander getrennten Individuen gibt. Ihre wissenschaftliche Revolution ist nicht technisch, sondern sentimental. Denn wer Lebewesen erforscht, ist selber eins. Wer Leben untersucht, spricht immer auch sich selbst. Was gestern noch kühle Naturwissenschaft war, wird dadurch zur Biopoetik, zu einer Hermeneutik der Lebendigkeit in der ersten Person.
Und vergessen wir nicht die alte Lektion aus dem Bio-Unterricht, als der Zellstoffwechsel durchgenommen wurde. Alle Wesen, auch wir, wechseln den Stoff miteinander: Wenn wir einen Apfel essen, so wird der Stoff, aus dem er besteht, zu unserem Körper. Mit jedem Atemzug, den wir tun, wiederum, löst sich unser Körper in der umgebenden Luft auf. Das CO2, das die anderen einatmen, ist unser Körper, der sich an die Welt hingibt, um sich in den Körper der Bäume zu verwandeln. Bäume sind Atem, könnte man aus der Perspektive der poetischen Biologie sagen.
Die subversive Arbeit an unserem Naturverständnis leisten aber nicht nur Wissenschaftler, sondern derzeit vor allem die Dichter. In den letzten Jahren ist ein Genre auf dem deutschen Buchmarkt groß geworden, das noch vor einem Jahrzehnt niemand ernst nahm: das Schreiben über Natur. Vorläufiger Kulminationspunkt ist das „Geheime Leben der Bäume“ des Försters Peter Wohlleben, das ein echter
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Weltbestseller geworden ist, ein geradezu anthropozänischer Globalerfolg. Es zeigt, dass Pflanzen fühlen, miteinander kommunizieren, einander helfen – dass der ganze Wald eine einzige große Community ist, in der Individuen zum Ganzen beitragen, und dieses den einzelnen bei Krisen hilft.
Das ist eine Sichtweise, die lange aus dem vorgeblich objektiven Bild einer kalten, egoistischen Wirklichkeit verschwunden war. Doch Bäume richten sich nach ihr. Und viele Leser des Nature Writing auch. Sie finden sich wieder, fühlen ihre Lust an der Gegenwart anderer Lebensformen bestätigt, die Intuition, dass es Verbindung mit ihnen gibt, das Glück angesichts des Frühlings, die Rührung, wenn die Katze auf dem Schoß schnurrt. Das neue Genre des Nature Writing bestätigt, was wir eigentlich immer schon gefühlt haben. Vielleicht also sind die Empfindungen von Verbundenheit und Echtheit doch nicht so ganz aus der Luft gegriffen, wenn wir einen Bläuling um die Blütendolde flattern sehen. Vielleicht schläft ja doch ein Lied in allen Dingen!
Dieses Lied wieder zu hören, wäre eine solche unerhörte und radikale Änderung, wie sie der IPCC vorschlägt. Ein anderes Bild der Welt und unserer Rolle darin. Eine Welt, die nicht nur Körper ist, sondern auch Seele.
Stärker noch als die Revolution der Biologie bringt das neue Nature-Writing auf poetischem Weg die Jahrhunderte alte Gegenüberstellung des Humanen und der Anderen durcheinander und schleust eine neue Wirklichkeitssicht ein. Was sich dahinter abzeichnet, könnte etwas sehr Ernsthaftes sein: Das Bild einer Welt, in der wir Menschen unseren Platz wiederfinden. Nicht in der Heimat einer trivialen Idylle, sondern in einer radikalen Wechselseitigkeit, in der den nichtmenschlichen Mitspielern jene schöpferischen und emotionalen Qualitäten nicht fremd sind, die wir allein für unser eigenes Artmerkmal halten.
Denn Blümchen und Bäume haben mit dem Menschen eine entscheidende Eigenschaft gemeinsam. Sie sind verletzliche Körper, die aus dem unbekannten schwarzen Loch eines winzigen Keimes entstehen, eine eigene Geschichte mit Aufschwüngen und Rückschlägen erleben, sich mit anderen verbinden, um Nachkommen zu zeugen und Nahrung aufzunehmen, um sie selbst zu werden und wieder zu vergehen.
Andere Geschöpfe, ob Sommerlinden oder Mönchsgrasmücken, teilen, um es mit der Philosophin und Soziologin Hannah Arendt zu sagen, mit uns das Schicksal der Gebürtigkeit. Oder wie es eine andere unsentimentale Intellektuelle, die polnische Dichterin Wisława Szymborska, formulierte, sie werden vom „selben Stern in Reichweite gehalten“. Man könnte sogar den Ästhetik-Philosophen Theodor W. Adorno, Feind jeder trüben Eigentlichkeit, ins Felde führen, um die Hingezogenheit zu anderem Leben zu erklären, der sagt: „Liebe ist die Fähigkeit, Ähnliches an Unähnlichem wahrzunehmen.“
All das begleitet das Heraufdämmern einer Weltsicht, die uns für die Gestaltung einer unerhört neuen Gesellschaft – einer Gemeinschaft mit allem Lebendigen – inspirieren kann. Ein solcher neuer Bund ist unumgänglich, wenn wir den finalen Klimawandel abwenden sollten, aber er ist auch nötig, um das, was wir schon angerichtet haben, zu überleben.
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Dieser Bund folgt weniger Romantik als Realismus. Gleichwohl knüpft er da an, wo Hölderlin, Schelling, Wordsworth und Coleridge im 19. Jahrhundert aufhören mussten, nämlich bei der Idee, dass alles, was eine berührbare Außenseite hat, auch empfindsame Innenseite ist, genau wie wir. In der angelsächsischen Kultur ist dieser Boden anders als hier immer fruchtbar geblieben. Dort lebte mit Emerson, Thoreau und Whitman die Romantik bis ins 20. Jahrhundert fort. Die Sparten Ökophilosophie und Nature Writing gehen heute im angelsächsischen Denken fruchtbar ineinander über, setzen sich mit der Biologie auseinander und probieren neue Kommunikationsformen und eine radikal subjektive Sprache.
Was dort im Werk von Protagonisten wie Rebecca Solnit, Robert MacFarlane und Gary Snyder entsteht, ist eine poetische Wissenschaft in der ersten Person. Von dieser Forschung mit dem eigenen spürenden Körper als wichtigstes Messinstrument hatte sich die deutsche Kultur lange abgeschnitten. Das wird jetzt vorsichtig revidiert. Und noch haben wir einiges zu tun, gerade im deutschen Sprachraum.
Der schlechte Ruf der Romantik in Deutschland hat damit zu tun, dass der Philosph Fichte gewonnen hat und nicht sein Kollege Schelling. Für Fichte war das „Ich“ der Mittelpunkt, das aus sich selbst eine Welt konstruiert. Schelling hingegen galt der Kosmos als Ursprung, der das Bedürfnis verspürt, sich als „Ich“ zu fühlen und somit unweigerlich fühlende, begehrende Subjektivität hervorbringt. Fichte – die Welt, die um das Begehren des Ichs kreist. Schelling – das Ich, das Teil einer der Begegnung begehrenden Welt ist.
Das Erbe der Romantiker bestimmte somit hierzulande nicht die Leitidee eines schöpferischen Kosmos, der aus sich selbst Betroffenheit und Empfindung gebiert, weil er neugierig auf sich ist wie ein kleines Kind auf sein Spielzeug. Sondern die Vision eines Ich, das sich selbst als absolut entwirft, und in dieser Herrschaftsgeste weder auf einen verletzlichen Körper angewiesen ist noch auf die Gegenseitigkeit eines Ökosystems und der in ihm verteilten Gaben. Wegen dieses Erbes war gerade im Geburtsland der Romantik die Rede über Natur lange Zeit suspekt – und somit auch jeder Versuch, philosophisch zu einem neuen Miteinander der Wesen zu kommen.
Erst das Anthropozän liefert ein wirksames Antidot gegen die deutsche Furcht, dass Nature Writing, die Biopoetik in der ersten Person, nichts als verträumter Kitsch wäre, ein schaler Aufguss der ersten Romantik. Dieses Gegengift ist die Idee, mit der die historischen Romantiker damals stecken geblieben sind, die radikale Konsequenz ihres Denkens, die schnell vergessen wurde.
Wenn die Welt seelenförmig ist, dann ist Seelisches, Ausdruck, Schönheit, ja sogar Identität nicht der Triumph souveräner Subjektivität, sondern ein massiv distribuierter Prozess. Dann ist Sein immer nur Sein durch Teilen. Ein Wesen ist nicht eine Seele, die einen Körper bewohnt wie ein mehr oder weniger schickes Konsumgut, sondern ein Stück Welt, das nur blühen kann, wenn andere mit ihm solidarisch sind.
Was in einer solchen Sicht als erstes zu korrigieren ist, wäre dann die Rede von „der Natur“. Es würde helfen zu sehen, dass „die Natur“ ein Gewirr von sowohl lebensspendenden als auch tödlichen Gestaltungsprozessen ist, die Individuen formen wie die Meere ihre Wogen, und deren Essenzen wieder vermischen. Keiner ist einer, immer sind wir viele (was schon Goethe gewusst hat). Gut und schlecht sind unauflöslich vermengt. Wir alle sind Natur, weil wir alle Leben sind. Und wir alle
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sind nicht einer, sondern viele. Jedes Subjekt ist Gegenseitigkeit, bevor es Einheit ist.
Das ganze Lebensreich ist „queer“ – gebrochen, widersprüchlich, nicht auf den sauberen Nenner einer Individualität zu bringen. Wir selbst haben in unserem Körper mehr Gene von unseren Darmbakterien als eigene. Ein Fünftel unserer DNA stammt von Viren, die vor langer Zeit unsere entfernten Vorfahren umgebracht haben, bis diese das infektiöse Erbgut als etwas Neues, Nützliches eingemeindeten.
Eine solche Sicht kann auch helfen, die Skepsis der Gebildeten gegenüber den Naturliebenden und Naturliteraten abzubauen. Auch der Körper ist ein Sprachspiel, aber nicht, weil er Fiktion ist, sondern weil alles Körperliche existentielle Poesie und Bedeutung ist. Das zu sehen ließe uns verstehen, dass wir in einer Welt der graduellen Fremdheit und Verwandtschaft leben, nicht wir hüben und die drüben.
Wir stimmen mit uns selbst auch nicht zu hundert Prozent überein, mit der Partnerin vielleicht zu sechzig Prozent und mit unserem Hund zu dreißig – Ebenen der Überlappung, aus denen Sinn geschaffen werden kann, der freilich niemals erschöpflich ist.
Dieses Argument bringt der Ökophilosoph und Björk-Intimus Timothy Morton in seinem neuen Buch „Humankind“. Morton, bislang Star-DJ eines wilden Zynik-Slams gegen jede Natursentimentalität, stellt hier auf atemberaubende Weise die Romantik auf die Füße des Anthropozäns. Er zeigt: Was uns alle empfindungsfähig macht, ist das genuin Gebrochene, Unperfekte aller biologischen Individualität. Welt ist zersplittert, die der Tomaten, und unsere eigene.
Man könnte auch sagen: Wir sind berührbar, weil wir essbar sind. Und anders herum: Wir müssen uns essbar machen, um berührbar zu bleiben. Nur wer sich essbar macht, vermag zu blühen. Und nur wer sich essbar macht, ist auch küssbar.
In der Idee der Essbarkeit ist nicht nur die tiefe Gegenseitigkeit eines neuen Verständnisses von Leben enthalten, sondern bereits eine Ethik materieller Beziehungen. Essbar sein heißt, dass mir nichts allein gehört. Dass Leben nur fruchtbar wird im Tausch und Austausch. Die Natur ist nämlich ein Haushalt der Gemeingüter. Nichts ist in ihr Monopol, alles ist Open Source. Nicht das egoistische Gen ist die Quintessenz des Organischen, sondern der offenliegende Quelltext jeder genetischen Information.
Die DNA konnte sich in so viele Spezies verästeln, weil alle ihren Code nutzen dürfen, weil jeder das für ihn Sinnvollste daraus basteln kann. So wie es in der Natur kein Eigentum gibt, gibt es auch keinen Abfall. Alle Verfallsprodukte sind Nahrung. Jedes Individuum macht sich, wenn es stirbt, einem anderen zum Geschenk, so wie es selbst durch die Gabe des Sonnenlichts seine Existenz empfangen hat. Zwischen Geben und Nehmen herrscht ein Zusammenhang, in dem Produktivität Verlust bedingt.
Natur sie ist unendlich verwandelbar und lädt überall zur Teilhabe ein. Aber was sie nicht ist, ist effizient So verbrauchen Warmblüter über 97 Prozent ihrer Energie allein zur Unterhaltung des Körpers. Die Photosynthese erreicht einen lächerlichen Wirkungsgrad von fünf Prozent. Fische, Amphibien und Insekten müssen oft Millionen von Eiern legen, damit ein einziger Nachkomme überlebt.
Doch das Leben macht mögliche Verluste durch unvorstellbare Fülle und atemberaubende Verschwendung wett. Es ist nicht sparsam, weil die Grundlage aller
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Arbeit, die Sonnenenergie, als Geschenk vom Himmel fällt. Auch die Sonnenenergie ist essbar, was uns Pflanzen zeigen. Und Pflanzen zeigen uns auch: Die Innenseite der Essbarkeit ist die Empfindungsfähigkeit.
Die unaufhörliche Verwandlung des einen Individuums in das andere ist das große Geheimnis der Natur. In letzter Linie kann man sagen: Ökosysteme sind Liebesprozesse. Sie sind Liebesprozesse, nicht, weil in Wahrheit in der Natur alles nett und harmonisch wäre. Das ist es eben nicht. Aber alles ist Gegenseitigkeit, ein einander Durchmischen und ein gemeinsam sich Imaginieren. Das Individuum gedeiht nur dann, wenn es das Ganze nährt, und das Ganze nur dann, wenn das Individuum frei ist, es selbst zu sein.
Selbst fruchtbar sein, weil der andere fruchtbar ist, das ist für mich die Bedeutung des Liebens. Ökosysteme sind Liebesprozesse. Kein Wunder, dass wir uns in der Natur geliebt fühlen und uns dort auch nachweislich selbst mehr lieben – und andere. Die Baumblindheit des Sommers 2018 ist dann auch eine Liebesblindheit. Wer nicht essbar ist, ist nicht küssbar. Ich hoffe, dass Sie, liebe Zuhörer, bemerken, dass diese ökologische Idee von Liebe die Bereitschaft einschließt, für das Leben zu sterben. Wirklich werden heißt sterben lernen. Das kennen wir aus unseren seelischen Krisen. Es ist ein ökologisches Grundgesetz.
Wir können uns in dieser Wirklichkeit noch nicht wirklich zurechtfinden. Aber es ist die Sphäre, welche die Dutzende Millionen Leser von Wohllebens beseelter Waldwelt wiedererkennen, weil wir sie alle bewohnen. Die Wirklichkeit hat vielleicht nicht die simplistische Form, die solche Waldliteratur manchmal annimmt. Aber sie folgt doch einer Erkenntnis, die der Beginn einer neuen kulturellen Epoche sein könnte, und zwar in jeder Form des Austauschs, auch des ökonomischen: Wir alle, wir verletzlichen Körper, sind durch und ineinander, und dieses Durch- und Ineinandersein ist keine effizient absurrende Mechanik, sondern ein seelisches Geschehen intensivster Betroffenheit.
Was sich da abzeichnet ist kein Paradies, in dem die gute Mutter uns an ihre Brust nimmt, wenn wir nur brav Biotope schützen. Es ist ein Begehren, in dem jede Geburt einen Tod voraussetzt, in dem alles, was wir erhalten, von einem anderen erst losgelassen werden musste. Wir sehnen uns danach, zu empfangen, aber auch freizulassen, um zu geben. Wir sind lebendig, und die anderen sind es auch, und wir sind es nur miteinander, und durcheinander, in der Sehnsucht, zu blühen, indem mein Gegenüber blühen darf.
Jedes Individuum kann sein, weil seine Existenz einem anderen geschuldet ist. Menschen brauche Eltern und ein soziales Umfeld, um gesund heranzuwachsen, sie bedürfen der anderen Wesen, die sie nähren, der Luft, der Erde. “Ich bin, weil Du bist” ist ein grundsätzlicherer Satz als “Ich bin ich und du bist du.” Die Wirklichkeit kann nur fruchtbar bleiben, wenn diese Gegenseitigkeit gewahrt ist, wenn die Anderen heilig sind, und wenn das, was mir geschenkt ist, immer Anlass gibt zu einer Geste der Dankbarkeit.
Sich selbst diese Blüte zu erlauben und sie so dem anderen zu ermöglichen – das ist vielleicht die radikalste Haltung, mit der wir auf die IPCC-Forderung nach radikalen gesellschaftlichen Änderungen antworten können. Sich selbst die Blüte zu erlauben – statt Sachzwänge abzuarbeiten – ist nämlich der Standpunkt, das alles lebendig ist,
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und alles in Gegenseitigkeit blühen will, der Wille der Natur.
Plötzlich dreht sich alles um: die Sehnsucht nach Sinn, die für Jahrhunderte Zeichen einer einsamen Menschenwelt war, durchdringt nun jede Regung der Körper. Plötzlich verstehen wir, dass alles Blüte will, und dass für diese Blüte immer der andere notwendig ist. Sein ist stets teilen. Wollen wir wirklich sein, sind wir zur radikalen Gegenseitigkeit gezwungen.
Das ist das besonders Bittere am Insektensterben, des anderen gigantischen Schwindens – 80 Prozent der Insektenbiomasse in den letzten zwanzig Jahren –, von dem wir noch weniger ahnen als vom Gegenstand der Baumblindheit. Das Insektensterben ist ein Zusammenbruch der Gegenseitigkeit. Es ist damit auch das Erlöschen der Blüte.
Der einsame Schmetterling, dem wir an manchen Frühsommertagen begegnen, verkörpert unsere zerbrechliche Freude, die aufflackert, bevor sie von der Sachzwangmaschine unter schalen Vergnügungen begraben wird. Der Schmetterling ist die Blüte unserer Solidarität, als Leben mit dem Leben, und Leben, das ist das, was sich selbst will, indem es anderes, was auch sich selbst will, zu berühren vermag, zu streicheln, zu atmen, zu verdauen.
„Ich spiele Perlspanner, um die Lebensformen / der ganzen Welt in eine einzige zu bringen. / So dass ich dem Tode antworten kann, wenn er kommt...“ schreibt die dänische Lyrikerin Inger Christensen, auch sie eine der Kräfte hinter dem Comeback der Natur ohne Sentimentalität.
Schmetterlinge, das sind ja die Blüten der Luft, das, was Blumen wären, wenn sie fliegen könnten. Sie sind es, weil sie sich ganz in ihre eigene Verletzlichkeit geben und blind in Kauf nehmen, zu Billionen an Windschutzscheiben und Kühlergrills zu zerschellen, wenn man sie denn noch ließe. In ihnen bildet sich, wie in aller Poesie, die zentrale Einsicht ab, jene Einsicht des eigenen Körpers und des eigenen sommerlichen Jauchzens, die uns unsere Kultur immer noch so beharrlich verwehrt, dass wir den anderen brauchen, um blühen zu können, dass wir uns öffnen müssen, den anderen einlassen, und dass Schönheit kein Konsum ist, sondern ein Opfer, in dem die Welt zu unserem Atem wird.
Es ist der Atem dessen, was der Philosoph Morton in einem kühnen Schlenker, der den Pschoanalyse-Begründer Freud mit einem Federstrich abhakt, das „Symbiotisch Reale“ nennt: die Sphäre des Lebens, in der jeder des anderen Geist und jeder des anderen Echo ist. Das „Symbiotisch Reale“ ist das, was vom selben Stern in Reichweite gehalten wird. Es ist ein dauerndes Sehnen nach mehr Wirklichkeit und ein dauerndes Vergehen in der Wirklichkeit des anderen. Es ist kein Weg zur Rettung im Idyll, aber ein Grund zu fühlen. Es ist die Welt, in der wir essbar sind, und küssbar.
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Der Biologe und Philosoph Dr. Andreas Weber arbeitet als Schriftsteller und Journalist.
Internetseite:
htttp://www.autor-andreas-weber.de
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